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Am anderen Tage erzählte Dieter der Traute seinen Traum. »Ich kann dir sagen, das war eine pfundige Sache. Rekorde und Tierkörper purzelten nur so durch die Luft. So etwas Aufregendes habe ich noch nicht erlebt. Schade, daß es in Wirklichkeit keine Tierolympiade gibt. Man sollte etwas Ähnliches vielleicht doch einmal veranstalten, das wäre eine Sache, sage ich dir, so!!! Und der Gepard kann laufen, der ist bestimmt in Ordnung. 100 m in 5 Sekunden! Mädchen, da kann sich Lloyd la Beach, der seit Oktober 1950 den 100-Meter-Weltrekord im Laufen mit 10,1 Sekunden hält, eine Scheibe von abschneiden. Wir müssen unbedingt nach Afrika oder Indien. Doktor Kleinermacher muß uns dazu verhelfen, oder ich fresse einen Besenstiel.«
Offenbar hatte Dieter alle guten Vorsätze wieder vergessen. Oder war er zum Angeber geworden?
So gingen die Kinder zu ihrem alten Freunde Doktor Kleinermacher. Der Doktor wohnte noch immer in der stillen Gasse in dem alten Haus. Die Stufen knarrten wie beim ersten Besuch, und es war noch immer so halbdunkel in den Zimmern der Wohnung. Wie früher standen Geräte, Instrumente, Bücher und Flaschen umher. Und mitten drin saß der freundliche, kleine Doktor Kleinermacher, der die beiden Kinder lächelnd empfing.
Wenn Dieter sich viel vorgenommen hatte und von großen Erlebnissen beeindruckt war, dann stellte er sich immer kerzengerade auf und hielt eine kleine Ansprache. Er glaubte, in großen Momenten müsse man die Menschen mit langen Reden überfallen, dann könne niemand widerstehen.
»Mein lieber Doktor Kleinermacher«, begann er, »ich hatte heute einen seltsamen Traum. Adler brachten mich im Fluge nach Afrika. Du warst dabei und Traute fehlte auch nicht. Der König der Tiere, der Löwe, hatte uns eingeladen, an einer Veranstaltung teilzunehmen. Er hatte eine Tierolympiade einberufen. Die schnellsten Läufer und die stärksten Kämpfer sollten ermittelt werden. Es war einfach toll. Du mußt es ja eigentlich wissen, denn du warst ja dabei.« Und dann erzählte Dieter den ganzen Traum. Zum Schluß sagte er: »Lieber Doktor, du hast uns früher schon unsere heimatliche Natur gezeigt. Es war riesig interessant. Aber jetzt möchten wir Afrika sehen, da ist viel mehr los. Doktor, bringe uns nach Afrika!«
Der Doktor lächelte immer noch. Er lächelte nicht etwa spöttisch. Nein, nein, dazu war er viel zu gütig. Aber eine freundliche Überlegenheit verbarg sich doch hinter seinem Lächeln: »Mein lieber Junge, du meinst, ich hätte euch unsere heimatliche Natur gezeigt? Das ist ja gar nicht wahr. Eine ganz kleine Probe unserer Natur habt ihr nur gesehen, das meiste ist euch noch verborgen geblieben. Wir haben nur willkürliche, zufällige Streifzüge kreuz und quer durch die Natur gemacht. Es gibt ja noch so viel zu sehen. Ich glaube, ich werde nie fertig mit unserer Heimat. Glaubt ihr etwa, ihr kennt alle Tiere in meinem Hause? Ich sage euch, mein Haus ist ein ganzer zoologischer Garten mit vielen, vielen Tieren, davon habt ihr gar keine Ahnung. In meinem Hause gibt es Käfer, Säugetiere, Spinnen, Krebse ... vom Keller bis zum Dach ist es eine einzige Arche Noah.«
Dieter war enttäuscht: »Aber lieber Doktor Kleinermacher, meinst du etwa die ausgestopften Tiere in deinen Schränken? Die kennen wir doch alle schon. Wir möchten lebendige Tiere sehen, Tiere, die kämpfen, rennen, fliegen und leben, solche Tiere wollen wir sehen. Führe uns bitte, bitte, nach Afrika. Doktor Kleinermacher, ich bin ganz toll auf Afrika. Wenn du uns nicht nach Afrika mitnimmst, dann lege ich mich auf die Erde, strampele mit den Beinen und schreie ganz laut, damit alle Leute zusammenlaufen.« Dabei lächelte Dieter, denn das würde er bestimmt nicht tun, so ungezogen konnte er gar nicht sein.
Traute fühlte wohl, daß sie ihrem Dieter, ihrem besten Freunde helfen müsse, aber seine Art zu bitten gefiel ihr nicht. Sie hatten dem Doktor schon so viel zu verdanken, daß sie es unrecht fand, ihn zu quälen. So schmeichelte sie: »Lieber Doktor Kleinermacher, wenn der Dieter so ungezogen bittet, so darfst du ihm das nicht übelnehmen. Er meint es bestimmt nicht so schlimm. Ich weiß, daß er immer gut von dir spricht und dir bestimmt sehr dankbar ist. Doktor Kleinermacher geht ihm über alles, nicht wahr, Dieter? Aber er ist so voll von Afrika, daß er sich nicht zurückhalten kann. Wenn du ihn nicht nach Afrika führst, dann – so fürchte ich – geht er allein los, und ich muß dann mit ihm gehen, denn er will mich ja später einmal heiraten, und jedes Mädchen muß mit dem Manne mitgehen, der es ernsthaft heiraten will. Nicht wahr, Doktor, das weißt du ja, das hast du mir schon selbst erzählt. Die ausgestopften Tiere in den Schränken sind ja sehr schön, aber sie leben nicht mehr. Dieter will lebende Tiere sehen. Und was die Männer wollen, das möchten wir Frauen doch unterstützen. Sei so gut, lieber Doktor Kleinermacher, und führe meinen Dieter nach Afrika, er gibt ja sonst doch keine Ruhe. Die Männer haben alle so einen dicken Kopf.«
Der Doktor lächelte immer mehr: »Ihr seid zwei putzige Freunde, man muß euch wirklich liebhaben. Aber zu Haus bleiben wir doch. Wo denkt ihr hin, meine ausgestopften Tiere sollt ihr ja gar nicht sehen, lebende Tiere will ich euch zeigen. Das wird sehr interessant. Mein ganzes Haus ist – wie ich schon sagte – ein einziger zoologischer Garten. So, nun kommt hinunter in den Keller, da unten beginnt die Wanderung.«
Dieter und Traute waren zwar noch immer nicht überzeugt, aber was sollte man gegen den Doktor machen? Der blieb ja doch immer der Klügere. Der Doktor zündete eine Laterne an und führte die beiden Kinder in den Keller. Die Laterne, die nur einen schwachen Lichtschimmer verbreitete, stellte er mitten im Keller ab. Daneben legte er drei winzige Gewehre, so groß wie Streichhölzer und passende Munition dazu. Die Kinder kannten die Gewehre schon von früheren Abenteuern. Die hatte sich der Doktor gebastelt. Und sie schossen so gut wie die großen Gewehre der Jäger im tiefsten Afrika. Er hatte von den Gewehren Sorten in allen Größen. Dann stellte er auf den Kellerboden noch drei kleine Laternen. Eine selbstleuchtende Masse gab den Laternen eine Leuchtkraft, die zu jeder Zeit abgeschirmt, also verringert werden konnte. Rings um den Keller lief in halber Höhe eine kleine Galerie aus Holz, die sich der Doktor gebaut hatte. Es war, als ob die Mäuse hier ihren Spaziergang machen sollten. Zum Kellerfenster führte eine schier unendlich kleine Strickleiter. Wozu brauchen die Mäuse Strickleitern?
Schließlich stellte der Doktor noch die außer ihm nur den beiden Kindern bekannte Wunderflasche auf den Fußboden. Ein Schluck aus jener Flasche ließ sie vorübergehend so klein wie Zwerge werden. Je mehr man aus der Zauberflasche trank, desto kleiner wurde man. Es war das berühmte, in der Zusammensetzung geheimgehaltene, eine Art Antiwuchshormone enthaltende Zauberwasser des Doktor Kleinermacher. Daher der Name Kleinermacher.
Die Kinder wußten sofort, daß diese Vorbereitungen zu neuen Abenteuern führen mußten. Der halbdunkle Keller – draußen war es noch etwas hell -, die Gemäuer ohne Putz, die Ecken und Winkel: es war romantisch. Die Abenteuerlust ergriff die Kinder mit aller Macht, und Dieter vergaß dabei ganz, daß er eigentlich nach Afrika gewollt hatte. Dann gab der Doktor seinen Gästen vorsichtig je einen Schluck aus der Wunderflasche zu trinken, und auch er nahm, da er größer war, einen herzhaften Schluck. Durch die Körper rieselte ein sonderbares Gefühl, es prickelte und zuckte in allen Gliedern, dann schrumpften die Körper zusammen, bis sie alle drei winzigste Zwerge waren, so groß etwa wie Sicherheitsnadeln. Dabei hatten sie das Gefühl, als ob der Keller immer größer würde, unendlich wüchse, sich zu einer riesigen Halle ausdehnte, viel größer und gewaltiger als das Innere des Kölner Doms.
Als die drei ihre vorgesehene Zwergengröße erreicht hatten, ergriffen sie die bereitgelegten Gewehre, die Munition und die drei Laternen. »Auf zu neuen Abenteuern!« Der Doktor rannte auf die Strickleiter zu und kletterte vorsichtig empor. Traute ging hinterher, und zum Schluß kletterte Dieter hinauf. Als Traute auf halber Höhe in die Kellertiefe sah, wurde ihr fast schwindlig, sie wollte aufschreien und die Strickleiter loslassen, aber Dieter hielt das kleine Mädchen fest und sagte: »Traute, nicht nach unten blicken, immer nur nach oben, und vor allen Dingen immer gut festhalten.« Traute zitterte zwar noch etwas, dann hielt sie sich aber tapfer fest und kam, immer hinter dem Doktor kletternd, glücklich oben auf dem Kellerfenster an. Der Doktor zog das Mädchen empor und Dieter schob von hinten. Nun standen sie alle drei auf dem Fenstersims.
Von draußen kam noch so viel Licht herein, daß sie gut sehen konnten. Das Dunkel des Kellers mischte sich mit dem Hell der freien Natur drinnen auf dem Platz vor dem Kellerfenster. Der Doktor hielt kurze Umschau, dann entdeckte er schon sein erstes Tier auf dem Spaziergang in der Wildnis seines zoologischen Gartens zwischen Keller und Dach.
In einer Ecke hatte eine Kellerspinne ihr Netz gesponnen. Es war ein eigenartiges Netz. Aus Spinnenweben hatte die Kellerspinne eine seidenartige Röhre gesponnen, und das Innere der Röhre noch mit weiterem Gewebe austapeziert. Da lebte die Kellerspinne in ihrer Mörderwohnung. Zu beiden Seiten war die Röhre – wie es aussah – offen. Beim genaueren Hinsehen entdeckte man jedoch feine, klebrige Fangfäden, die vor den Öffnungen ausgespannt waren. Hier sollten offenbar Insekten klebenbleiben und sich fangen.
Die drei gingen näher auf die Spinnenröhre zu und sahen sich das Räuberkunstwerk genauer an. Wirklich, es war ein Meisterwerk und sauber gearbeitet. Zwar hatte der Staub des Kellers das Netz etwas verdreckt, aber dafür konnte die Spinne nichts.
»Zähl mal die Beine«, flüsterte Doktor Kleinermacher Traute zu. Aber Traute konnte sich noch nicht recht an den Anblick gewöhnen. Aus ihrer Zwergenschau sah die Spinne nämlich so groß und eklig aus, daß sie alle Kraft zusammennehmen mußte, um sich nicht abzuwenden. Dann aber zählte sie tapfer die Beine und sagte: »Acht Beine hat das Insekt.«
Der Doktor verbesserte mit leichtem Vorwurf: »Aber Traute, Traute! Insekten haben doch sechs Beine. Käfer, Mücken, Fliegen, Schmetterlinge, Libellen ... und alle anderen Insekten haben immer sechs Beine. Wenn du bei der Spinne acht Beine zählst, dann sind Spinnen also keine Insekten.«
Dieter hatte etwas anderes entdeckt. Auf der Stirn der Spinne sah er sechs fast gleich große Augen, die beinahe in einer Reihe standen. Er war sonst gewöhnt, bei Tieren dieser Art große Facettenaugen zu finden, so groß, daß sie fast den ganzen Kopf einnahmen, wie bei den Fliegen und Libellen. Die Spinne hier aber hatte nur sechs kleine Punktaugen. Der Doktor erläuterte nun, daß die Spinnen wahrscheinlich nicht gut sehen, obgleich sie sechs Augen hätten. Dafür sei aber der Tastsinn sehr gut entwickelt. Die Spinne merke genau, ob eine Fliege in ihrem Netz stecke oder ein Mensch mit einem Stäbchen das Netz berühre, ob der Wind den Faden in Bewegung bringe, oder ein dicker Brummer. Die Spinne habe ein ausgesprochen feines Tastgefühl.
Als der Doktor so noch mitten im Erzählen war, näherte sich eine Wespe. Sie kam von draußen, die Honiggläser im Keller zogen sie wahrscheinlich an, vielleicht aber auch die Würste? Da sich die Wespe in der Dunkelheit des Kellers nicht recht orientieren konnte, ließ das Unglück nicht lange auf sich warten. Mit Schwung sauste die Wespe gegen die Fangfäden des Spinnennetzes und zappelte dort nun ganz jämmerlich. Aber je mehr die Wespe zappelte, desto mehr verklebte sie sich in den Fangfäden.
Sofort wurde die Spinne in der Röhre munter. Wie aus der Pistole geschossen, rannte sie auf die Wespe zu, und obgleich die Wespe einen gefährlichen Stachel hatte, obgleich die Wespe erheblich größer war als die Spinne, zog die Räuberin die Wespe mutig und tollkühn in ihre Röhre hinein und tötete sie. Da standen der Doktor und Dieter staunend um den Kampfplatz. Sie wollten sich keinen Augenblick des Kampfes auf Leben und Tod entgehen lassen und ließen daher Traute ganz außer acht. Diese hatte zwar schon viele Gefahren erlebt und sich immer mutig benommen. Aber das letzte Abenteuer lag doch wohl schon zu lange Zeit zurück, so daß sich Traute erst wieder langsam an die Gefahren gewöhnen mußte. Ihre Nerven wurden durch den Anblick des Kampfes so sehr mitgenommen, daß sie auf dem schrägen Gesims vor dem Kellerfenster ausrutschte, hinfiel und – o weh – mitten in das Fangnetz der Kellerspinne hineingeschleudert wurde. Entsetzt schrie sie laut auf, und auch Dieter und der Doktor konnten einen Schrei nicht unterdrücken. Die Kellerspinne spürte die neue Beute sofort. Mit Windeseile war sie bei Traute, ließ die Wespe Wespe sein und wollte das kleine Mädchen schon in ihre Wohnröhre zerren.
Dieter und der Doktor wurden bleich und weiß wie Kalk. Traute in Lebensgefahr! Die Abenteuer fangen ja gut an. Das darf nicht sein. Beide rissen sich zusammen, legten gleichzeitig die Gewehre an, und von zwei Kugeln tödlich getroffen, hielt die Spinne in ihrem Bemühen inne. Dieter und der Doktor warfen die Gewehre beiseite, eilten zu Traute und zerrten – vorsichtig jede Berührung mit den Fäden vermeidend – an dem kleinen Mädchen, um sie von den klebrigen Fäden zu lösen. Aber die Fäden waren zu elastisch, zu gummiartig. Sie konnten Traute wohl mit sich ziehen, aber auch die Fäden dehnten sich und ließen Traute nicht los. Sollte das erste Abenteuer so niederschmetternd enden? »Wir müssen die Traute freibekommen!« rief der Doktor. Die beiden zogen immer kräftiger. Aber auch die Fäden dehnten sich länger aus und ließen Traute nicht los. Endlich löste sich langsam, sehr langsam ein Klebetropfen nach dem anderen von der Traute, und als sich der letzte Leimtropfen ablöste, schnellte das Fangnetz wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Kein Loch war im Netz, es war nirgends beschädigt, so zäh und elastisch sind Spinnenfäden.
Dieter wollte nach der Rettung Traute freudig umarmen, aber der Doktor rief: »Achtung, Dieter, die Traute nicht anfassen, dann bleibst du daran kleben, und ich kann euch allein nicht auseinanderreißen.« Der Doktor fand etwas Wasser in einer Vertiefung und reinigte das kleine Mädchen vorsichtig. So ein Pech mit der Traute, die Sache fängt ja gut an. Traute schluckte heimlich einige Tränen hinunter. »Kinder, hab' ich eine Angst überstanden. Ich dachte schon, die häßliche Spinne würde mich töten und auffressen.« Doch auch Dieter war noch aufgeregt, und seine Angst war nicht geringer. »So eine Spinne, so ein Satan!« fluchte er.
Aber bald hatten sich die drei wieder beruhigt. Dieter fing sogar an, ein wenig zu spötteln und fragte vorsichtig: »Sage mal, Doktor, sind die Tiere in deinem zoologischen Garten alle so gefährlich? Ich denke, deine Tiere sind dressiert und fressen aus der Hand?« Traute lachte schon wieder mit, und so ging es mit frischem Mut die Strickleiter wieder hinunter.
Als sie auf die Galerie kamen, krabbelte gerade ein Käfer auf dem Holz entlang. Als ob er die Gicht hätte, so schwerfällig und langsam schlich der Bursche seinen Weg dahin. »Ist denn der Käfer da krank?« fragte Traute.
Der Doktor antwortete: »Der ist nicht krank, der Bursche läuft immer so, als ob er sich kaum bewegen könne. Es ist der Toten- oder Trauerkäfer. Seine Larve sieht ungefähr so aus, wie ein Mehlwurm. Sie hat keine Augen, ist aber außerordentlich lebenszäh. Ihr wißt ja, Unkraut vergeht nicht. Wenn sich die Larve zum Käfer verpuppt, dann gräbt sie sich irgendwo tief in die Erde ein. Ihr müßt nicht dran glauben, aber die Begegnung im Keller mit dem Toten- oder Trauerkäfer soll – wie es heißt – Unglück bringen.«
Dieter meinte: »Das Unglück haben wir ja schon weg, nun kann uns bestimmt nichts mehr passieren. Im übrigen bin ich nicht abergläubisch.«
Traute war dem Käfer etwas näher gekommen. Jetzt hielt sie sich die Nase zu und rief: »Pfui, Spinne, der Käfer stinkt ja wie die Pest. Was ist denn das für ein ekelhafter Geruch?« Der Doktor lachte laut. »Ja, meine liebe Traute, wenn man so unappetitliches Zeug frißt, wie der Totenkäfer, dann kann man nicht nach Kölnisch Wasser duften.«
»Was frißt denn der?«
»Das kann ich euch so nicht sagen. Da muß ich mich schon lateinisch ausdrücken. Der Totenkäfer frißt Exkremente. Darum ist er auch oft auf einem gewissen Ort zu treffen. Ihr versteht mich schon.«
Traute und Dieter rückten entsetzt aus, und der Doktor lief lächelnd hinterher. Sie schlugen die entgegengesetzte Richtung auf der Holzgalerie im Keller ein.
Plötzlich blieb der Doktor stehen und zeigte auf ein Tier, das etwas kleiner aussah als eine Schabe. Das Tier hatte eine graue Färbung, war platt und breit gedrückt und bewegte sich auf vielen Beinen. Jedenfalls waren es mehr Beine als sechs wie bei den Insekten oder acht wie bei den Spinnen. »Was ist denn das?«
Traute übersah sofort die vielen Beine. Ein Insekt konnte es also nicht sein, auch keine Spinne. Das wird sicher ein Tausendfüßler sein. »Ein Tausendfüßler!« platzte sie heraus.
»Falsch geraten«, berichtigte der Doktor, »es ist ein Krebs.«
»Ein Krebs?« staunten beide Kinder zu gleicher Zeit, »aber Doktor Kleinermacher, das ist doch kein Krebs, Krebse sehen ganz anders aus!«
»Habt ihr eine Ahnung, wie verschieden Krebse aussehen können. Da gibt es welche, die sehen wie Muscheln aus, andere wie Läuse und andere wieder wie Würmer. Der Krebs hat eine riesige Verwandtschaft. Das hier ist auch ein Krebs, eine sogenannte Kellerassel. Die Tiere gehen an die Gemüsevorräte des Kellers und fressen sich da satt. Merkwürdige Wesen sind das. Wie alle Krebse häuten sie sich. Wenn aber ein Weibchen keine Mutter geworden ist, wenn es Jungfrau bleibt, dann erfolgt keine Häutung. Noch merkwürdiger sind die Beine der Kellerasseln, mit etlichen von ihnen können sie nämlich atmen. Denkt euch mal an, wenn ihr mit euren Beinen tief Luft holen solltet. Wäre das nicht putzig? Und ihre Kinderwagen führen sie auch an den Beinen mit sich herum. Sie haben kleine Bruttaschen an ihren Gliedern, und da kommen die Eier hinein. Ist das nicht eine praktische Kinderwiege? Seht mal dort die Kugelassel, die kann sich sogar zu einer Kugel wie eine Erbse zusammenrollen.«
Krebse im Keller, das ist ja urkomisch, dachte Dieter, und dabei sehen die Krebse gar nicht aus wie Krebse, sondern wie Flundern mit Beinen. Das wird ja immer bunter mit dem Doktor Kleinermacher. Schließlich zeigt er mir noch Tiere, die aussehen wie Käfer, und dann behauptet er, die Tiere seien den Walfischen verwandt. Aber man muß es dem Doktor Kleinermacher schon glauben.
Bei ihrem Rundgang auf der Galerie näherten die drei sich den Kartoffel- und Gemüsevorräten des Kellers. Aber sie blieben nicht lange allein auf dieser Wanderung, eine schlanke Kellerschnecke strebte dem gleichen Ziele zu. Die Kellerschnecke ist keine Hausbesitzerin, von ihrem Häuschen auf dem Buckel war nichts weiter übriggeblieben als ein verkümmertes Hornplättchen. Die Kellerschnecke gilt als sogenannte Nacktschnecke. Das graue Wesen hatte eine schwarze Längsstreifung auf dem Körper. Manchmal zog sich die schleimige Masse bis auf die halbe Länge zusammen und wurde breiter und dicker, aber bald nahm die Kellerschnecke wieder ihre schlanke, lange Linie ein.
»Wieviel Beine hat denn die Schnecke?« fragte Traute schelmisch den Doktor. Doch der Doktor merkte nicht, daß die Traute ihn foppen wollte und antwortete ernsthaft: »Die Schnecke läuft auf einer Sohle. Sie breitet vor sich eine schleimige Bahn aus, und auf der Schleimbahn gleitet sie mit ihrer Sohle hinweg. Sieh, da hinter der Schnecke ist das Schleimband zu einem feinen Häutchen erstarrt. Die Schnecke baut sich im Wandern gleichsam ihre eigene Straße. Da wundert man sich immer, warum Schnecken so langsam sind. Kommen Straßenbauer sonst etwa schneller vorwärts?
Vielleicht glaubt ihr, eine Schnecke, so ein formloser Schleimklumpen, sei nur ein paar Gramm Sülze? Habt ihr eine Ahnung! In der Schleimmasse liegen alle Organe sauber geordnet und aufgebaut, selbst Lungen sind vorhanden. Denn die Kellerschnecke atmet durch Lungen.
Wie fast alle Schnecken sind auch die Kellerschnecken Zwitter, d. h. Männchen und Weibchen getrennt gibt es bei den Kellerschnecken nicht, jedes Tier ist Männchen und Weibchen zugleich. So etwas nennt man Zwitter. Da vorn in das Gemüse, am liebsten in faulende Reste, da legt die Kellerschnecke ihre 200 bis 300 Eier. Nützlich sind die Schnecken gerade nicht. Ich werde hier mal später Kalk streuen, den pflegen die Schnecken zu meiden.
Seht nur, wie sie ihre beiden Fühler dem Gemüse zuwendet. Sie scheint das Gemüse zu ahnen. Zwar hat die Kellerschnecke auf ihren beiden Fühlern Augen, man glaubt aber, daß sie damit schlecht sehen kann. Die Gelehrten streiten sich noch darüber, ob die Kellerschnecke mit ihren Fühlern besser sehen, tasten oder riechen kann. So etwas hat schon unser Altmeister Goethe geahnt.«
Dieter wußte schon, daß jetzt bald ein Goethezitat kommen würde. Wenn der Doktor beim Staunen war, dann pflegte er immer Goethe zu zitieren. So lernte Dieter den Dichter gesprächsweise genauer kennen. Der Doktor brauchte nur zu sagen unser Altmeister, oder unser Meister, oder der große Dichter, immer war Goethe gemeint, ein Irrtum blieb ausgeschlossen.
Der Doktor erzählte: »Goethe läßt in seinem Faust von einer Schnecke sprechen:
Siehst du die Schnecke dort?
Sie kommt herangekrochen;
Mit ihrem tastenden Gesicht
Hat sie mir schon was abgerochen.
Da habt ihr es. Goethe wußte auch nicht, ob Gesicht, Tastsinn oder Geruch bei der Schnecke am besten entwickelt ist.«
Inzwischen hatte die Schnecke das Gemüse »gesehen, gerochen oder ertastet«. Ihre Reibzunge war mit vielen kleinen Zähnchen besetzt, und so schabte sie munter in dem Gemüse herum, um sich daran sattzufressen.
Aber hallo! Da kam eine große Kröte angewatschelt. Längs über dem Rücken der Kröte zog sich ein schwefelgelber Streifen hin. Sonst war der Rücken grünbraun, der Bauch schien grau zu sein. Die Kröte sprang nicht, wie ihr Vetter der Frosch, sondern sie watschelte auf allen vieren durch den Keller. Es war eine Kreuzkröte, wie der Doktor erläuterte. Die Kreuzkröte kann klettern und schwimmen, aber hopp, hopp, so springen wie die Frösche können Kröten nicht. Die Kröten werden alt, erzählte der Doktor noch, sie können bis zu 50 Jahre alt werden, mit 4 oder 5 Jahren sind sie erst erwachsen.
Jetzt war die Kröte der Schnecke nahe gekommen. Die Schnecke war aufs höchste beunruhigt. Aber sie hatte kein Häuschen, um sich darin zurückzuziehen. Die Schnecke wollte fliehen. Aber so geht es den Sohlenschleichern, Schnelligkeitsrekorde können sie nicht aufstellen. Die Kröte war da, schnappte zu, und im Keller war eine Kellerschnecke weniger. Anne Schnecke, die Kröte hat mit dir kurzen Prozeß gemacht. Der Doktor jedoch war zufrieden. Kröten sind sehr nützlich, man muß sie pflegen und willkommen heißen, fressen sie doch den Keller von allem Ungeziefer frei.
Die drei kamen auf ihrer Galerie der Kröte etwas näher und wollten sie von nahem besehen. Da zog die Kröte ihre Rückenhaut zusammen, die zahlreichen Drüsen auf der Rückenhaut wurden zusammengepreßt und eine schleimige Flüssigkeit kam zum Vorschein. Pfui, Kröte, das stinkt ja erbärmlich. »Nach abgebranntem Pulver riecht es hier«, sagte Dieter, mit der Nase in der Luft schnüffelnd. Sie konnten den Gestank nicht lange aushalten und machten sich auf die Flucht. Das war der zweite Stänker im Keller.
Bis auf die Kaninchen da hinten im Verschlag, werden wir wohl nun alle Tiere im Keller kennengelernt haben, dachten die Kinder. Aber der Doktor wollte sich in keine Erörterungen einlassen, gebot Ruhe und schaute immer aufmerksam in den Keller hinein. Jetzt raschelte es verdächtig dort unten. Richtig, die Ratten, wie konnte man nur die Ratten vergessen. Jetzt, war auch eine Ratte zu sehen. Kinder, war das ein großes Biest, da müßten ja selbst die Katzen Angst bekommen. Der Schwanz war beinahe so lang wie der Körper, und deutlich konnte man an dem Schwanz die Schuppenringe erkennen. Bräunlichgrau war die Ratte, oder richtiger Wanderratte, gefärbt. Sofort witterte das Tier die Nahrung im Kaninchenverschlag. Wittern und sich darüber hermachen war eins; denn der Zugang durch den Verschlag bot keinerlei Schwierigkeiten. Das Kaninchen war im ersten Moment so verdutzt, daß es erschreckte. Dann wollte sich das Tier nicht von dem kleinen Wesen verdrängen lassen und ging mutig auf die Ratte los. Aber die Ratte sprang dem Kaninchen frech ins Gesicht und biß zu, so daß das Haustier ängstlich zurückzuckte. Die Ratte konnte am Grünzeug weiterknabbern, und das große Tier saß blutig und ängstlich in der Ecke. So frech sind die Ratten! Sie springen sogar Kühen ins Gesicht und verjagen die großen Tiere von deren Futtertrog.
Nun kamen noch mehr Ratten an und bevölkerten den Keller. Aber was ist denn das? Was hat denn der Doktor für Vorrichtungen im Keller aufgestellt? Sollten das Rattenfallen sein?
In der Mitte des Kellers stand eine Waschschüssel. Schräg an der Wasserschüssel lehnte ein Brett. Auf dem Brett über dem Wasser lag ein Stück Brot. Eine Ratte kreiste wie ein Raubtier um die Vorrichtung, machte ihre Kreise immer enger. Ratten sind verdammt schlau, aber auch sehr gierig. Jetzt betrat die Ratte vorsichtig das Brett und schob sich langsam dem Brot zu. Langsam, sehr langsam kam die Ratte vorwärts, immer näher dem Brot; jetzt wollte die Ratte zuschnappen, da verlor das Brett das Gleichgewicht und plumpste mit dem Stückchen Brot und mit der Ratte ins Wasser.
Der Krach veranlaßte alle Ratten, den Keller zu verlassen. Rattenstill war es jetzt unten im Hause, nur die Geräusche der schwimmenden Ratte im Wasser waren zu hören. Ratten können sehr gut schwimmen, aber wo sollte die Ratte landen? Schüsselufer sind steil und glatt, mal mußte die Ratte ja ermüden und ersaufen. Der Doktor haßte die Ratten, sie bringen uns die Pest und die Trichinose, sagte er, aber er wollte kein Tier unnütz quälen. Er legte seine Flinte an, zielte und schoß. Wie ein Stein sackte die Ratte im Wasser ab. Das gebissene Kaninchen war gerächt.
Unter der Galerie hatte der Doktor außerdem einen großen Topf in die Erde gegraben. Auch die Wände des Topfes waren glatt und steil. Eine weitere Rattenfalle. Fett, verdünnten Honig und gebratenen Speck hatte er in den Topf getan, damit die Gerüche den Ratten lieblich um die Nase gingen.
Es war der Schuß noch nicht lange im Keller verhallt, als die Ratten schon wieder hervorkamen. Ein freches Gesindel, das Rattenvolk. Die Gerüche taten auch bald ihre Wirkung. Eine Ratte kam dem Topf immer näher, immer näher. »Der Geruch ist so schön, nur einmal riechen, vielleicht wird man vom Geruch allein schon satt. Oder ob hier wieder die Menschen ihr Teufelswerk ersonnen haben?« dachte sie vielleicht. Jetzt konnte sich die Ratte nicht mehr beherrschen. Kopfüber stürzte sie sich in den Topf, um das duftende Zeug zu naschen. Sie fraß und fraß. Dann wollte sie wieder hinaus. Aber wo ist denn der Ausgang? Liebe Leute, hier hat man vergessen, einen anständigen Ausgang anzubringen. Das ist doch wieder so ein verwünschtes Menschenwerk. Ich habe es ja gleich gerochen, daß hier eine Menschenhand dabei war. Die Ratte versuchte noch immer, die glatte Wand emporzuklettern, da stürzte sich schon die zweite Ratte in die Falle. Armer Bruder, auch du wirst dich sattfressen und den Heimweg nicht mehr finden. Es ist erbärmlich mit den Rattenfallen.
Die drei Menschenzwerge sahen von oben den Versuchen der Ratten zu, die Freiheit wiederzugewinnen und dachten schon daran, das Leben der beiden gefangenen Ratten mit zwei Gewehrschüssen abzukürzen. Da stürzte durch das Kellerfenster etwas Helles herein, kaum größer als eine Ratte, sprang wie ein Blitz mitten unter die Ratten auf den Kellerboden, erfaßte eine Ratte im Genick und biß sie tot. Ein Wiesel hatte sich seine Beute geholt. Flink wie ein Wiesel sagt man, wirklich, flink wie ein Wiesel! Ehe sich die drei von ihrem Erstaunen erholen konnten, waren Wiesel und tote Ratte schon aus dem Keller wieder verschwunden.
Jetzt aber genug mit den Ratten, jetzt beginnt eine Rattenschlacht, daß die Kellerwände hallen. Der Doktor, Dieter und Traute legten an und schossen im Schnellfeuer auf die Ratten, daß der Keller dröhnte. Aber sie hatten nicht lange zu schießen. Drei tote Ratten lagen auf der Kellererde und alle anderen waren verschwunden. Das war den Ratten zuviel. Schüsse, Rattenfallen, ein Wiesel und dann noch das Schnellfeuer, sie ließen sich für lange Zeit nicht mehr sehen, nur die beiden gefangenen Ratten im Topf versuchten, noch immer springend den Topfrand zu erreichen.
Die drei lehnten sich an die Brüstung der Galerie und überschauten das Schlachtfeld. War jetzt nicht bald ihre Zeit um, mußten sie nicht bald wieder größer werden? Das Wunderwasser wirkte ja nur für eine bestimmte Zeit, bald mußte die Kraft des Zauberwassers vorüber sein, und dann begann das Wachsen, das Größerwerden.
So warteten die drei auf das Wachstum, und um die Zeit zu verkürzen, erzählte der Doktor von den großen Biestern, den Wanderratten.
»Früher gab es bei uns nur Hausratten, die waren etwas kleiner. Dann kamen aus Asien die großen Wanderratten und bissen alle Hausratten tot. Seit dieser Zeit sind die Hausratten sehr selten geworden, nur unter Dächern halten sie sich gelegentlich noch auf. Wie lange, dann werden sie von ihren stärkeren Brüdern auch von dort vertrieben sein. In der Schweiz gab es um 1570 beide Arten. Im Jahre 1732 kamen dann die ersten Wanderratten auf Schiffen mit nach England, im Jahre 1755 waren sie schon in Nordamerika, in Südamerika dagegen schon früher. Selbst auf verlassenen Inseln siedelten sich die Kreaturen an. Auf Ozeanschiffen machen sie ihre Reisen und bereiten den Matrosen das Leben zur Hölle. Wenn sie durstig sind, klettern sie selbst am Tage die Takelage empor und saufen das im Segeltuch angesammelte Regenwasser. Auf einem Polarschiff war die Plage einst so groß, daß die Polarforscher ihr Schiff verließen, die Mannschaft aufs Eis ging und das Schiff ausräucherte. Aber die Ratten überstanden diese Angriffe und blieben nahezu alle am Leben. Jetzt schickte man Hunde in das Schiff, die unter den Ratten aufräumen sollten. Nach einiger Zeit jaulten die Hunde und kamen blutend wieder heraus. Beinahe hätten die Ratten die Hunde gefressen. Erst Polarfüchse machten der Qual ein Ende und bissen die Ratten zu Hunderten tot.
Ja, Kinder, Ratten sind gefährlich, sie lassen sich selbst durch dicke Balken aus Eichenholz nicht zurückhalten und knabbern sich sogar durch Wände. Sie haben schon Gänse totgebissen, Schweinen Löcher in den Bauch geknabbert und sollen selbst kleine schlafende Kinder angefallen haben. Bei Hagenbeck sind früher einmal drei junge Elefanten eingegangen, weil Ratten den schlafenden Tieren die Fußsohlen durchgebissen haben, so daß die Elefanten verbluteten.
Früher war es üblich, Verbrecher auf einsamen Inseln auszusetzen. Auf den Inseln gab es aber manchmal mehr Ratten als Menschen und Bäume. Wenn die Verbrecher sich zum Schlafe niederlegten, dann mußten sie 6 bis 8 Katzen um sich herum haben, da die Schlafenden ohne Katzen nicht mehr aufgewacht wären.
Ihr wißt sicher von der Schule her, daß Napoleon seine letzten Tage als Gefangener auf der Insel Sankt Helena verbringen mußte. Sankt Helena war aber voller Ratten, und es kam vor, daß der Kaiser kein Frühstück bekam, weil es die Ratten gestohlen hatten. Wenn Napoleon seine Mahlzeiten hielt, besuchten ihn die frechen Tiere sogar mitten am Tage. Geflügel konnte der kaiserliche Haushalt nicht halten, Ratten erkletterten selbst die Bäume und holten sich das schlafende Geflügel herunter. Napoleons letzte Tage waren Rattentage. So starb der einst mächtigste Kaiser der Franzosen.
Die Ratten sind schrecklich. Unter ihnen fallen Väter ihre eigenen Kinder an und fressen sie auf. Selbst Mütter sollen sich am Kindsmord beteiligen. Trotzdem werden die Ratten nicht weniger. Eine Ratte bringt auf einmal 5 bis 22 blinde Junge zur Welt, und das drei- bis fünfmal im Jahr! Ihr könnt euch vorstellen, daß so die Rattenpest kein Ende nimmt. Und wenn Eulen, Raben, Wiesel, Katzen, Rattenpintscher und Iltisse sich noch so viel Ratten holen, die Ratten werden nicht weniger. Dabei gehen keineswegs alle Katzen an Ratten heran, obwohl schon der Katzengeruch die Ratten verängstigen soll.
Wir Menschen müssen fleißig bei der Rattenvertilgung helfen. Zwei einfache Rattenfallen habt ihr schon gesehen. Man kann auch Meerzwiebeln auslegen, wirksam, aber grausam ist es auch, den Ratten Speisen mit ungelöschtem Kalk zu geben. Die durstigen Tiere trinken, der Kalk erstarrt und verstopft die inneren Organe. Die Ratten gehen bestimmt ein. Es gibt aber auch weniger grausame Mittel, Ratten zu vertilgen.«
Jetzt lenkte Dieter ab: »Gibt es eigentlich Rattenkönige? Wenn acht oder sechzehn Ratten am Schwanz zusammengewachsen sind, soll man das einen Rattenkönig nennen. Er wird von den anderen Ratten gepflegt und gefüttert. Ich habe so etwas mal gehört.«
Der Doktor erwiderte: »Sicher ist das letztere Schwindel. Alles was krankhaft ist, hassen die Tiere in der Freiheit. So einen Rattenkönig würde man sicher auffressen und nicht pflegen und füttern. Die Wildheit der Natur kennt kein Krankenhaus. Man hat aber tatsächlich Ratten gefunden, die so zusammengewachsen waren, wie du es beschrieben hast. Sicher sind die Tiere nicht so geboren worden, vielleicht haben Hautausschwitzungen die Schwänze verklebt, auf keinen Fall aber ...«
Traute schrie plötzlich: »Doktor, ich wachse.« Alle drei verspürten ein Kribbeln in ihren Körpern, jeden Moment muß das Wachstum beginnen. Bald wurden die Körper größer, die kleine Holzgalerie konnte die schwerer werdenden Körper nicht mehr halten, und die Holzbalken begannen schon verdächtig zu knacken. »Schnell über das Geländer in die Tiefe springen, die Galerie bricht«, rief der Doktor. Die Kinder machten es ihm nach und stürzten sich in die Tiefe. Noch im Fallen wuchsen sie mit unheimlicher Geschwindigkeit und erreichten sicher und ohne Beschwerden in menschlicher Größe den Fußboden des Kellers. Der Doktor nahm die winzigen Gewehre und Laternen an sich, ergriff die große Laterne und wollte den Keller verlassen. Da hörte er ein jämmerliches Quietschen. Die drei Abenteurer hatten ja ganz die beiden gefangenen Ratten vergessen. Der Doktor beugte sich über die Falle und sah gerade, wie die stärkere der Ratten über die schwächere herfiel und sie auffraß. »Kannibalen!«, knurrte er verabscheuend nur, dann verließ der Doktor mit den beiden Kindern den Keller.
Es war spät geworden. Die Straßen lagen schon im Dunkeln. Der Doktor begleitete die Kinder bis nach Hause, dann suchte er selbst sein Bett auf. Vor dem Einschlafen murmelte er: »Erst wollte der Dieter unbedingt nach Afrika, jetzt hat er kein Wort mehr von Afrika gesagt. Wenn man es geschickt anfängt, dann lassen sich Kinder sehr einfach von ihren Ideen abbringen. Nur geschickt muß man sein!« Da gähnte er und schlief traumlos ein.