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Wieder einmal saßen die beiden Kinder beim Doktor Kleinermacher und unterhielten sich munter, diesmal ausnahmsweise aber nicht über Tiere. Dieter hatte in der vergangenen Woche Trautes Gedichtband gelesen, war begeistert, lobte die kleinen Reime sehr und wollte immer wieder wissen, wie man so etwas anfange. Eine Sehnsucht, zu dichten, überkomme ihn zwar manchmal auch, aber immer, wenn er Reime und Zeilen zusammenstelle, dann merke er, daß es nichts Vernünftiges werde, und dann verliere er die Lust. Die Gefühle seien schon groß, und die ihn übermannende Stimmung sei oft so herrlich. Das Gedicht aber werde immer elender Murks. Mit dem Singen gehe es ihm genau so. Er träume sogar gelegentlich davon, ein großer Sänger zu sein. Dann bilde er sich ein, durch Wald und Feld zu gehen, immer zu singen, ganz laut und schön, so daß alle Menschen stehenblieben. Wenn er aber wirklich einmal singe, dann bekäme er es selbst mit der Angst. Mit sehnsuchtsvollem Augenaufschlag seufzte er, wie gern er ein großer Sänger oder ein großer Dichter sein möchte. Aber aus beiden Sachen werde nie etwas, das sei ihm völlig klar. Mit dem Naturforscher scheine es – zu seinem Trost – aber bestimmt etwas zu werden.
Der Doktor sagte: »Zum Singen fühle ich mich auch nicht geboren. Ich singe zwar sehr gern, dann darf aber niemand zuhören. Ich habe nämlich eine jammervolle Stimme. Gedichtet habe ich auch noch nicht. Oder – wartet mal. Doch, einmal habe ich doch Verse geschmiedet. Wir saßen in einer Gesellschaft zusammen. Irgend jemand schlug vor, daß wir alle Gedichte schreiben und dann zur allgemeinen Erheiterung vorlesen sollten. Ich war dagegen und viele andere auch. Der Mann mit dem Vorschlag ließ aber nicht locker und meinte, wir sollen alle ähnliche Gedichte schreiben, indem jeder die gleichen Reime bekäme. Die Zeilen vor den Reimen sollte jeder selber finden. Wir ließen uns schließlich darauf ein, und so machten wir denn alle unsere Gedichte, jeder mit den gleichen Reimen.«
Dieter stöhnte: »Dabei muß ja eine schöne Sache herausgekommen sein!«
Der Doktor aber war anderer Meinung: »Das sage nicht, Dieter, ich habe selbst gestaunt, was wir alle für ein vernünftiges Zeug zusammenschrieben. Die Erfindungen der einzelnen Wettbewerber waren wirklich köstlich. Auch mein Gedicht, es war das erste selbstgemachte Gedicht, war gar nicht so übel. Ich hätte mir das – offen gesagt – gar nicht zugetraut.«
Traute wurde immer gespannter und wollte zu gern Näheres von dem Dichterwettbewerb wissen. Schließlich schlug sie vor: »Machen wir doch auch einmal so einen Dichterwettstreit.«
Der Doktor war damit einverstanden. Auch Dieter ließ sich überreden. Der Doktor holte einen zufällig gegriffenen Gedichtband aus seiner Bibliothek, schlug eine beliebige Seite auf und las die Endreime des dort stehenden Gedichtes vor. Jeder bekam ein Blatt Papier und schrieb sich die Worte auf. Der Doktor las:
Mann | bieder |
an | Lieder |
Zeitvertreib | schweigen |
Weib | Geigen |
Schaben | Klang |
haben | lang |
Glücke | Klagen |
dicke | wagen |
Schöne | helle |
stöhne | Geselle |
Dann machte sich jeder ans Dichten. Die Hirne arbeiteten angestrengt, und bei Dieter und Traute mußten sogar die Lippen und Zungen mitwirken. Dieter schaute immer zur Decke, als wenn die Worte, die er suchte, da oben ständen. Lange dauerte es, ehe er den Anfang fand. Als er gerade beim zweiten Vers war, legte Traute ihren Bleistift hin und sagte: »Fertig!«
Das war eine Beleidigung für Dieter: »Wie kann man nur so schnell fertig sein?« murrte er. »Das ist gar nicht nett. Jetzt habe ich keine Lust mehr, weiter zu dichten.« Aber der Doktor beruhigte ihn schnell, und Dieter dichtete weiter. Nach einiger Zeit war auch der Doktor fertig. Um Dieter aber nicht zu beunruhigen, tat er so, als wenn er noch weiter denken und schreiben müsse. Als Dieter endlich fertig war, legte auch der Doktor seinen Bleistift hin: »So, nun können wir ja vorlesen. Wer fängt an?« Traute meinte, »das Alter habe den Vortritt«. So begann denn der Doktor: »Also Kinder, ich habe von Tieren gedichtet.« Dieter und Traute unterbrachen aufgeregt: »Ich auch. Hoffentlich haben wir nicht alle über das gleiche Tier gedichtet?
Der Doktor fuhr fort: »Und zwar habe ich die Verse den Schaben gewidmet. Die Überschrift heißt:
Münchhausen war ein Schwindelmann.
Er führte alle Leute an.
Das Lügen war ihm Zeitvertreib.
Er log wie manches böse Weib.
Wenn ich berichte von den Schaben,
Denkt ihr, ich muß gelogen haben.
Ich wählt als Vorbild, mir zum Glücke
Münchhausen, doch den hab' ich dicke.
Die Wahrheit ist das Minder-Schöne.
Ich Sprech' von ihr, ach nein, ich stöhne.
Münchhausen log so keck und bieder,
Ganz anders tönen meine Lieder.
Die Schaben wollen es verschweigen.
Doch ich will euch die Wahrheit geigen.
Die Stiefelwichse – – – welch ein Klang,
Die fressen Schaben stundenlang!
Feinschmecker hör' ich öfter klagen,
Man soll beim Kochen vielmehr wagen.
Wie wär's, dazu drei Mollen, helle,
Mit Stiefelfett? Probier's Geselle.«
Dieter mußte herzhaft lachen und lobte das Gedicht. Aber der Doktor war mit sich und seinem Gedicht noch unzufrieden. »Ich habe die Worte und die Gedanken zu sehr gepreßt. Es fehlt die flüssige Form, das Gefällige. Mein Gedicht ist zu gedanklich. Aber nun, Dieter, jetzt kannst du uns dein Werk vorlesen. Du bist dran.«
Dieter legte los: »Ich habe mir den Ohrwurm ausgesucht. Der Ohrwurm gilt doch als sehr stark, und dabei ist er so ängstlich und feige. Er wagt sich niemals an für ihn gefährliche Tiere heran. Er kraucht noch nicht einmal den Menschen in die Ohren! Darüber habe ich mein Gedicht gemacht.
Nun macht mal Platz, jetzt kommt ein Mann,
Der sieht sich seine Muskeln an
Und spielt damit zum Zeitvertreib.
Ja, das sind Sachen, staune, Weib!
Ich töte Käfer, Wanzen, Schaben,
Und jeden Feind, den muß ich haben.
Nimm mich zum Mann, nimm mich zum Glücke.
So tat der Ohrwurmherr sich dicke.
Frau Ohrwurm, die Insektenschöne,
Hört das Gebrülle, das Gestöhne.
Sie glaubt ihm alles, treu und bieder
Hört sie sich an die Heldenlieder.
Der Mann ist stark, nicht zu verschweigen.
Man sollte ihm jedoch mal geigen:
Die Tapferkeit gibt erst den Klang.
Und dahin ist der Weg noch lang.
Du bist sehr feige, muß ich klagen.
Mit deiner Kraft mußt du mehr wagen.
Du aber scheust den Tag, das Helle,
Der Mut fehlt dir, du Nacht-Geselle.«
Der Doktor war außerordentlich zufrieden mit der wirklich überraschenden Leistung seines jungen Freundes: »Nun sieh einer an, der Dieter. Da behauptet er immer, er könne nicht dichten. Du hast es besser gemacht als ich. Vor allem hast du nicht so viel Gedankenballast in das Gedicht hineingesteckt. Es hat mir Spaß gemacht, zu hören, daß du mit dem Geigeninstrument auch nichts anfangen konntest. So hast du wie ich den Berliner Ausdruck ›geigen‹ benutzt. Dem werde ich mal was geigen, dem werde ich mal was erzählen. Davon wird er nicht erbaut sein. – Sehr nett, Dieter, wirklich sehr nett. Aber jetzt kommt Traute ran, unsere Berufsdichterin. Jetzt bin ich aber gespannt.«
Traute nahm ihr Blatt und las vor:
Am Herde sitzt ein kleiner Mann.
Er schaut sich die Umgebung an.
Was fehlt mir nur zum Zeitvertreib?
Was ich vermisse, ist ein Weib.
Geselligkeit ist für die Schaben.
Ich möchte meine Ruhe haben.
Mir fehlte nichts zu meinem Glücke.
Doch hab' ich das Alleinsein dicke.
»Wo bist du, unbekannte Schöne?
Ach höre, wie ich nach dir stöhne.«
Ein Heimchen-Jüngling, brav und bieder,
Zirpt seine schönsten Liebeslieder.
Mein Mund bleibt stumm, der kann nur schweigen.
Doch meine Flügel, wie die Geigen,
Sie zirpen ihren Liebesklang,
Und zirpen, zirpen – – – stundenlang.
Sie zirpen Freude, zirpen Klagen.
Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen?
Die Nacht vergeht, bald wird es helle,
Ein Zirp noch ... armer Junggeselle.
Der Doktor war begeistert: »Also Traute, du hast es am schönsten gemacht. Du bist doch unsere kleine wirkliche Dichterin. So einfach sind deine Reime und darum so schön. Die größten Dichter haben immer einfach gedichtet. Man muß die Poesie dem Volke ablauschen. Du kennst doch sicher das Heideröslein von Goethe. So einfach und so schön. Oder denke an den Heidedichter Hermann Löns. Das sind Lieder!
Rosemarie, Rosemarie
Sieben Jahre mein Herz nach dir schrie,
Aber du hörtest es nie.
Oder:
Röslein auf der Heiden
War so jung und morgenschön.«
Der Doktor war wirklich begeistert. Er konnte kein Ende finden, und die Kinder ließen sich von seiner Begeisterung anstecken. So wurden den Kindern die Dichter, deren Reime der Doktor hersagte, ernsthaft wertvoll. Man sollte in der Schule weniger auswendig lernen, sondern mehr inwendig, damit den Kindern die Klassiker nicht vergrault werden. Sonst stehen später die dicken Klassikerbände mit dem wertvollen Inhalt nur in den Bücherregalen. Kein Mensch schlägt sie dann mehr auf. Und wenn das Gespräch auf Schiller kommt, dann stöhnt jeder: »Hört auf, kennen wir, das haben wir schon als Kinder gelernt:
Fest gemauert in der Erden ...
Vor allem sollte man keine Grammatik mit den Werken der Dichter treiben, oder daraus die schmückenden Beiworte seitenlang aufzählen lassen. Damit sind schon vielen Menschen die Dichter für das ganze Leben verleidet worden.
Die drei saßen noch lange zusammen und tauschten ihre Gedanken über Dichter und Dichtkunst aus. Dann jedoch unterbrach der Doktor die Unterhaltung: »Aber wir haben ja ganz vergessen, warum wir eigentlich zusammengekommen sind! Ich wollte euch ja noch zu einem Abenteuer mitnehmen. Nun aber los, ehe es zu spät ist. Wir müssen uns schrecklich beeilen. Also, ich mache es kurz. Unser heutiges Abenteuer bestehen wir im – Küchenschrank. Jawohl im Küchenschrank.«
Der Doktor hatte schon vorher am Küchenschrank einen winzig kleinen Fahrstuhl, der bis an die Decke führte und seitlich durch Schienen gehalten wurde, aufgebaut. An jedem Fache des offenen Küchenschrankes hatte er ein Brettchen angebracht, damit man überall aussteigen konnte. Parallel zu den Schienen hatte der Doktor – wie beim Paternoster – zwei Zwirnsfäden angebracht, die leicht aus dem offenen Fahrstuhl erreichbar waren und von denen der rechte zum Halten und der linke zum Anfahren bestimmt war. Man brauchte nur leicht daran zu zupfen, dann reagierte der Fahrstuhl sofort. »Mir ist es lieber, wenn wir zusammenbleiben«, erläuterte der Doktor. »Außerdem habe ich alle erforderlichen Sicherheitseinrichtungen angebracht, damit nichts passieren kann. Wenn wir den Fahrstuhl, der ja richtiger ein Fahrschrank ist, betreten oder verlassen wollen, dann müssen wir vorher das den Zugang abschließende Gitter öffnen. Der Fahrstuhl fährt aber nur an, wenn das Gitter geschlossen ist.«
»Das wäre ja alles in bester Ordnung«, staunte Dieter. Die drei tranken wieder ihren sorgfältig abgemessenen Schluck aus der Wunderflasche, und dann wurden sie so klein wie Fliegen. Das war gerade die richtige Größe, um den Aufzug zu benutzen. Vorher hatte der Doktor das Uhrwerk noch in Gang gebracht, und dann stiegen sie in den Fahrschrank ein. Der Doktor bediente den Fahrstuhl. Als er am linken Zwirnsfaden nach oben zupfte, setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. »Wenn ich nach unten will, muß ich nach unten zupfen«, erläuterte er noch. Dann waren sie schon im zweiten Stock angelangt, wo die Teller und Schüsseln und das Bunzlauer Tongeschirr standen.
Die Tageshelle hatte bereits etwas abgenommen, und die drei führten wieder ihre Laternen und Gewehre mit sich. Dieter sah beim Vorüberfahren in das große erste Fach des Küchenschrankes. Dort standen große braune Schüsseln ineinander, und die blanke Politur der Schüsseln sah aus der Fliegenperspektive aus, wie ein Felsengebirge aus blankem Gestein, in dem man sich spiegeln konnte. Auch schwarze große Ungetüme lagen herum, Kochtöpfe, gewaltige Kochtöpfe. Mitten drin stand ein Turm aus Aluminium. Es war eine Milchkanne. Als Dieter immer höher fuhr, blickte er sich das Gebirge von oben an, es war ein seltsamer Anblick, wie ein Geschirr von Riesen. Dann mußte er am zweiten Fach zusammen mit dem Doktor und Traute aussteigen.
Tüten und Töpfe standen hier herum, Teller und Schüsseln und das Bunzlauer Geschirr. Die Verzierungen und Blümchen auf dem Geschirr erschienen wie eine Riesenarbeit. Von weitem wirkten die Verzierungen gewaltig, näher besehen durfte man aber die großen Bilder nicht, denn dann erschien dem Dieter alles wie Pfuscharbeit. Die Künstler hatten die Arbeiten offenbar nicht für den Anblick von Fliegen geschaffen. Die Fliegenperspektive war jämmerlich. Hier lief Farbe über, dort fehlte ein Stück Farbe, die Linienführung war liederlich, und dort mischten sich sogar zwei benachbarte Farben so unsauber, daß es einem wehe tat. Wirkliche Zwerge dürfen sich Künstlerarbeiten nicht ansehen, die Fliegenperspektive wird den Kunstwerken niemals gerecht.
Der Doktor überließ den Dieter nicht lange seiner Kunstbetrachtung. Auf eine kleine Untertasse hatte er lange vor Beginn des Abenteuers als Köder etwas Mehl geschüttet, und die drei sahen sich nun dem großen Mehlberg gegenüber, wie dem großen Buddelberg auf dem Kinderspielplatz. Als sie näher kamen, sahen sie, daß der inzwischen verdorbene Mehlberg voller Leben war. Er kribbelte und krabbelte. Ungetüme von Lindwürmern durchwühlten den Berg.
Die Lindwürmer waren die Larven des sogenannten Mehlkäfers. Gelbbraun, glänzend, drehrund waren die Ungetüme, und ihre Haut war wie von Leder. Mitten im Berg lagen noch leere Lederhüllen, als wenn irgendein Feind die Tiere vollkommen ausgefressen hätte. Die Köpfe hatten keine Augen, die Mundöffnung am Kopfe war nach unten gerichtet, und die Lindwürmer fraßen und fraßen. Sehr kurze Fühler waren am Kopfe noch zu beobachten und unter dem Leib sechs kleine Beine. Aber es war noch mehr zu sehen. Gebilde, zarter und weißer als die Maden, aber sich kaum bewegend lagen im Mehl. Was waren das nun wieder für Tiere?
Mitten im Betrachten störte ein Käfer, der im Dunkeln angesaust kam und sich am Mehl niederließ. Der Käfer war dunkelbraun und etwas kleiner als die Maden.
»Sicher wird der Käfer die Würmer fressen?« fragte Traute. Aber der Doktor erklärte: »Nein, denn der Käfer ist die Mutter, und die Maden sind seine Kinder. Mehlkäfer heißt der Bursche, und die Maden nennt man Mehlwürmer. Es sind keine eigentlichen Würmer, sondern Käferlarven. Da sich die Tiere so rasch vermehren, hat man schon künstliche Zuchten von ihnen angelegt. Unsere Stubenvögel fressen nämlich die Mehlwürmer leidenschaftlich gern. Die Mehlwürmer dagegen fressen nicht nur Mehl und Kleie, sie nagen sich selbst durch Lumpen und Papier hindurch, sie fressen Brotkanten und selbst tote Tiere und Taubenmist. Wenn man den Mehlwürmern eine tote Maus vorlegt, dann fressen sie das Fleisch so säuberlich ab, daß nur noch die blanken Knochen übrigbleiben. Wenn sie – fünfzehn bis zwanzig Monate – genug gefressen haben, dann verpuppen sie sich. Die weißen zarten Gebilde dort sind die Käferpuppen. Aus denen kommen die fertigen Käfer. Die sehen zuerst blaß und gelb aus, später werden sie dann braun und dunkelbraun. Auch sie sind langlebig und werden über vier Monate alt. – Aber wir wollen weitergehen, ich habe euch noch mehr zu zeigen.«
Der Doktor führte die beiden Kinder zu einer anderen Puppenschüssel. Dort hatte er vor einiger Zeit als Lockspeise Getreidekörner offen ausgebreitet. Lange konnten die Kinder an den Getreidekörnern nichts Besonderes entdecken. Bis plötzlich ein Getreidekorn in Bewegung geriet. »Nanu, sind denn Getreidekörner lebendig?« staunte Dieter. Aus einem Getreidekorn zwängte sich jetzt mit Mühe und Not ein entsetzliches Geschöpf.
Es war ohne Zweifel wieder ein Käfer. Der Geselle war dunkelbraun gefärbt, und seine Flügeldecken erschienen sehr hart. Punktstreifen führten über den Käferrücken. Wie ein Elefant hatte der Käfer einen Rüssel, der etwas nach unten gebogen war. Von dem Rüsselanfang gingen im Knick zwei Fühler aus. Ein höchst sonderbarer Geselle! Was es doch alles für merkwürdige Burschen unter den Tieren gab!
Der Doktor wußte zu erklären: »Schaut euch die komische Figur genau an. Es ist der Kornrüsselkäfer. Etwa 150 Eier legt der Käfer in die Getreidekörner. Und zwar in jedes Korn ein Ei. Die Körner werden mit dem Rüssel, an dessen Spitze die Mundwerkzeuge sitzen, angebohrt, dann dreht sich der Käfer herum, schiebt das Ei hinein und schließt das Loch wieder gut, so daß es schwer zu finden ist. Die Larve, die aus dem Ei schlüpft, frißt das ganze Korn aus. Hat sie alles aufgefressen, dann verpuppt sie sich. Später krabbelt dann der Käfer heraus. Die Nahrung des fertigen Käfers ist wieder Getreide jeder Art. So schädigt der Bursche unsere Nahrungsvorräte. Aber es gibt ein Mittel gegen ihn. Die Kornvorräte müssen luftig gelagert und oft umgeschaufelt werden, Störung und Luftzug verträgt der Weichling nicht, dann geht er ein. Im Freien kann er sich nicht vermehren, da muß er sterben. Drum Getreide umschaufeln, immer wieder umschaufeln. Ich habe diese Körner hier absichtlich einige Zeit ruhig liegen lassen. Man nimmt an, daß der sonderbare Geselle aus dem Morgenlande eingeschleppt wurde. – Aber weiter, eine Etage höher, wir wollen noch den ganzen Küchenschrank sehen.«
Die Kinder gingen mit ihm zum Fahrstuhl und stiegen ein. Die nächste Station war die große freie Plattform in der Mitte des Küchenschrankes. Zur Rechten und zur Linken der ungeheuren großen Halle waren Schubfächer angebracht, die die Zwerge nicht öffnen konnten. Der Doktor wollte sie auch nicht dahin führen. Er zeigte ihnen die Brotkiste. Neben der Brotkiste lag wieder auf einer Untertasse eine trockene harte Scheibe Brot.
Dieter sah die Risse und Löcher im Brot und sagte zu Traute scherzend: »Sieh mal, hier hat der Bäckermeister seine Frau durchgejagt.« Dabei wollte er Traute in ein Loch hineinschubsen. Aber Traute schrie erregt auf. Ein rötlichbrauner walzenförmiger Käfer kam aus dem Loch heraus. Das Tier war etwas kleiner als die Zwerge. Was krabbelte denn hier nun schon wieder herum? Käfer, Käfer, nichts als Käfer!
Der Doktor lachte: »Ich habe euch noch mehr Käfer im hier absichtlich ungepflegten Teil meines Küchenschrankes zu zeigen. Das hier ist der Brotkäfer. Seine Made frißt sich Gänge im alten Brot, und auch der erwachsene Käfer nascht von Brot, Mehl, Graupen, Grieß, Nudeln oder Suppenwürfeln, geht auch an Kaffee, Tee, Schokolade, Tabak und ist einer der schlimmsten Vorratsschädlinge. Er frißt sich auch durch Papier, wenn etwas Stärkekleister daran ist, er geht selbst an scharfe Gewürze, und im Schiffszwieback haust er auch ganz gerne, der kleine Allerweltsherr. übrigens ist es ein naher Verwandter der Totenuhr.«
Die Kinder gingen vorsichtig um die Brotscheibe herum, und jetzt mußte auch Dieter erschreckt aufschreien. Da lag eine riesige Raupe, voller Stacheln und Haare. Pfui, eine eklige braune Raupe. »Was ist denn das, Doktor?«
Der Doktor antwortete: »Das ist keine Raupe, sondern offenbar eine Käferlarve, und zwar die Larve des Speckkäfers. Das ist ein Räuber, kann ich euch sagen! Was ist denn da los? Die Larve bewegt sich so eigenartig.«
Die drei blickten gespannt auf die Larve, die sich selbst von innen entzwei riß. Dann zwängte sich ein Käfer aus der Larvenhülle. Der neugeborene Käfer war von dunkler Gestalt, hatte aber ein breites, braunes Querband, das mit schwarzen Punkten versehen war.
Der Doktor rief: »Aha, das ist die Lösung des Rätsels. Ein frischer Speckkäfer kommt zur Welt. Die sogenannte Larve, die wir hier gesehen haben, war gar keine Larve mehr. Sie hatte sich schon verpuppt, und zur Verpuppung benutzt der Speckkäfer oft seine raupige Larvenhaut. Ich kann euch sagen, der Speckkäfer, das ist ein Allerweltsfresser. Ich wüßte nicht, was der Speckkäfer nicht frißt. Er liebt fetthaltige Nahrungsmittel, frißt aber auch trockene Waren, wie jenes alte Brot. Selbst über Polster und Wollstoffe macht er sich her, der Freßsack. In den Teppich nagt er oft fingerdicke Löcher, und in meiner Insektensammlung hat er auch schon herumgewütet.
Er verschmäht nichts, der Bursche, er knabbert an Mumien herum und benagt sogar heilige Hostien. Um den Gottesfrevel kümmert er sich nicht, der Gottlose. Man will sogar schon beobachtet haben, daß er junge Tauben im Nest benagte. Am leichtesten erwischt man ihn am Käse.«
»Da ist noch so ein Freßsack, Doktor! Was ist denn das für ein Käfer?« fragte Dieter.
Der Doktor antwortete: »Der Käfer-Zoo im Küchenschrank ist reichhaltiger als ich erwartet hatte. Aber nehmen wir den Burschen noch mit. Das ist der Kräuterdieb, oder kurz der Dieb genannt. Seht nur die langen, dünnen Fühler, damit spürt er sich an alle Nahrungsmittel heran. Der Bursche ist auch so ein Allesfresser, genau wie seine Larve. Schaut nur, wie langsam er ist, man kann fast sagen, faul und gefräßig. Der Dieb gilt gleichsam als Faultier unter den Insekten. Man kann ihn sehr gut einfangen, wenn man feuchte Lappen auslegt. Darin sammeln sich die Tiere, dann kann man sie bequem vernichten.
Nun aber weiter. Ich habe genug von den Käfern. Ab, zum Fahrstuhl! Auf der fünften Station steigen wir aus, da, wo das weiße Kaffeeservice steht.«
Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Die Laternen verbreiteten nur einen schwachen Schein. Der Doktor stieg zuerst ein, dann Traute und zuletzt der Dieter. Im Dunkeln fuhr der Fahrstuhl langsam aufwärts. Jetzt sah Dieter in die vierte Station hinein. Riesige Teller waren darin zu einem chinesischen Palast aufgetürmt. Ein Kaffeeservice stand als blaues Gebirge klobig da, und Butter-, Zucker- und Marmeladendosen waren die kleinen Hügel in der merkwürdigen Alpen-Landschaft. Der Schmalznapf erschien von oben wie ein gefrorener See. Dieter konnte sich an der merkwürdigen Landschaft nicht sattsehen, da störte ihn ein gellender Schrei. Was ist mit Traute los? Traute wollte auch sehen, beugte sich zu weit aus dem offenen Fenster, verlor das Gleichgewicht, stürzte und hielt sich noch im letzten Moment mit den Händen am Rand des Fahrstuhls fest. Gewehr und Laterne flogen weg und schlugen unten auf dem Boden auf. Dieter zog kurz entschlossen die Leine, und der Fahrstuhl hielt an. Damit war aber Traute noch nicht gerettet. Sie baumelte außen am Fahrstuhl, konnte nicht wieder hineinklettern und schwebte so zwischen Küchendecke und Fußboden.
»Traute, um alles in der Welt, halte dich fest.« Dann stellte Dieter kurz entschlossen seine Laterne und sein Gewehr ab und kletterte mutig aus dem zweiten Fenster. Der Doktor griff ebenfalls zu. Wenn Traute nur bei Kräften blieb, wenn sie nur nicht loslassen würde. Immer näher kam der außen am Fahrstuhl kletternde Dieter der Traute. Seine Kräfte waren selbst sehr beansprucht. Aber es reichte noch, um Traute von unten unter Mühen wieder in den Fahrstuhl zu schieben. Mit letzter Kraft und mit Unterstützung des Doktors konnte sich Dieter dann selbst wieder in den Fahrstuhl schwingen.
»So, das ging noch einmal gnädig ab. Aber was machen wir nun?«
Der Doktor atmete erlöst auf. Aber er ersparte sich Vorwürfe und setzte den Fahrstuhl wieder schweigend in Bewegung. Traute war durch das erschreckende Erlebnis bestraft genug. Im fünften Stockwerk mit dem weißen Kaffeeservice stiegen sie aus. Dann wurde die Fußreise zwischen den riesigen Kaffeetassen aufgenommen. An einem Schüsselchen hielt der Doktor an. Hier lagen Pflaumen, wenn man diesen flüssigen Matsch noch Pflaumen nennen konnte. Traute war nach der überstandenen Angst noch sehr kleinlaut, aber Dieter war schon wieder ganz bei der Sache. »Ein Glück, daß wir unsere kleine Dichterin wieder bei uns haben.«
»Aber Dieter, was nutzt es mir, wenn ich besser dichten kann als ihr. Mutiger und kräftiger bist du bestimmt. Was hat mir meine Dichterei im Fahrstuhl schon geholfen?«
Dieter wollte antworten, aber der Doktor hatte keine Zeit. Er trieb zur Eile, denn er fürchtete das Größerwerden. Er machte auf Maden in den Matschpflaumen aufmerksam, die sich durch die gärende Flüssigkeit hindurcharbeiteten.
»Diesmal sind es keine Käfer, sondern Fliegen. Ihr seht hier die Larven der sogenannten Essigfliege. Man nennt sie auch Taufliege, und die Wissenschaft gab ihr sogar den poetischen Namen Drosophila, das heißt Tau-Freundin. Aber den Tau liebt sie gar nicht so sehr. Obst, in Gärung übergegangen, oder auch die Flüssigkeit von sauren Gurken, das ist schon eher etwas für die Taufliege. Hier werden die Eier abgelegt. Zuweilen krauchen schon nach wenigen Stunden die Larven heraus. Die leben so ungefähr fünf bis zehn Tage, dann verpuppt sich die Fliegenlarve, und das herauskommende Insekt fliegt etwa 2½ bis 3½ Monate herum.
Ich muß von der Taufliege noch etwas Merkwürdiges erzählen. Sie wird in Massen gezüchtet, und zwar in wissenschaftlichen Instituten. Die Gelehrten erforschen an der Taufliege nämlich die Erbgesetze. Die Gesetze der Vererbung, an der Taufliege beobachtet, können dann auf Mensch, Tier und Pflanze angewendet werden. Das klingt seltsam, es ist aber so. Das Nähere kann ich euch nicht erklären, das führt zu weit.
Auf jeden Fall ist die kleine Taufliege, etwas kleiner als unsere Stubenfliege, zum Haustier der Erbforscher geworden. Es gibt Zoologen, die sich in ihrem ganzen Leben mit nichts weiter als mit Taufliegen beschäftigen. Mein Freund, der Doktor Jim, ist so ein Fliegendoktor.
Aber weiter, weiter Kinder, wir müssen uns beeilen. Der zoologische Garten des Küchenschrankes wächst uns schon über den Kopf. Einsteigen, und im sechsten Stock, da wo die Likörgläser stehen, aussteigen.«
Diesmal ging alles glatt. Nur das verlorengegangene Gewehr und die Laterne konnten nicht wieder beschafft werden.
Beim Doktor herrscht im Küchenschrank wirklich keine gute Ordnung. Mitten zwischen den Likörgläsern und den Kristallgebirgen stand ein Teller mit einem riesigen Käseberg. Dieter wollte einen Witz machen und sagte, wie denn eigentlich die Löcher in den Käse kämen? »Die schießt der Schützenverein hinein«, antwortete Traute. Aber der Doktor hatte jetzt keinen Sinn für Humor. Er untersuchte den großen Käseberg von allen Seiten, und jetzt schien er etwas gefunden zu haben. Hier lag neben dem Käse ein graublaues Pulver. Das Pulver bestand aus kleinen ekligen Tieren mit acht Beinen und voller Stacheln und Borsten. Neben den Tieren lagen leere Häute, offenbar hatten die Tiere sich gehäutet, vereinzelte Tierstücke und Kotballen. Pfui! Und so etwas soll man essen?
Aber der Doktor war anderer Meinung:
»Auch diesmal ist es kein Käfer, sondern eine Milbe, die sogenannte Käsemilbe. Die Milben sind den Spinnen sehr nahe verwandt. Die Käsemilben, die nur etwa einen halben Millimeter lang werden, leben besonders an hartem Käse, den sie allmählich durch ihr Fressen zu Staub verwandeln. Feinschmecker meinen manchmal, Hartkäse ohne Milben schmecke gar nicht richtig und impfen frischen Hartkäse absichtlich mit Käsemilben. Jeder muß nach seiner Fasson selig werden. Nun aber abwärts, es ist höchste Zeit. Jeden Moment denke ich, das Kribbeln beginnt, dann wachsen wir, und der Küchenschrank fällt um. Also absteigen, aber vorsichtig, Traute.«
Die drei fuhren durch das Dunkel der Küche abwärts. Sie kamen alle glücklich unten an. Und kaum waren sie unten, da begann das, was der Doktor schon befürchtete. Die drei wuchsen zu ihrer normalen Größe heran.
»Nun aber nach Haus, Kinder, sonst verbieten euch eure Eltern jeden Ausgang, und mit den Abenteuern hat es dann ein Ende.«
Wie gewöhnlich begleitete der Doktor seine kleinen Freunde bis an die elterliche Haustür, um dann sinnend wieder zurückzuwandern. Ihm ging Trautes Unfall durch den Kopf. Wie leicht hätte das ernsthaft schief gehen können. Der Doktor machte sich schon Vorwürfe. Dann beschloß er, den Fahrstuhl nie wieder mit den Kindern zu benutzen. Er hatte schon eine bessere Idee ...