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Siebentes Kapitel.
Die Erbeutung der Sobralia mystica

In der Stadt der Quäker – George Snappers erster Bericht – An der Lagune – Verlust des Amuletts – Das Fest der Motilons – Die Zeremonie des Dorado – Ein verhängnisvoller Schuß – Am Fundort der Sobralia – Erbeutung der Wunderorchidee – Zusammenstoß mit den Indianern und Flucht – Vergiftete Pfeile – Bolivars Tod


Während sich diese Ereignisse in der Wildnis des fernen Kolumbiens abspielten, in der verzehrenden Glut der Tropensonne, inmitten der bunten Farben einer von Üppigkeit strotzenden Vegetation, lastete über der »Stadt der brüderlichen Liebe«, wie sich die Quäkerstadt Die Quäker, d. h. »Zitterer«, die sich selbst »Freunde« nennen und die neuerdings durch ihr menschenfreundliches Wirken auch in Deutschland allgemein bekannt geworden sind, gehören zu den ältesten und einflußreichsten Sekten Nordamerikas. Die Sekte wurde im 17. Jahrhundert in England begründet, war anfangs starken Verfolgungen ausgesetzt und verlegte ihre Haupttätigkeit bald nach Amerika, wo ihr der große Staatsmann William Penn, der selbst der Quäkergemeinde beitrat, in dem nach ihm benannten Staate Pennsylvanien volle Freiheit verschaffte. Die Quäker begründeten Philadelphia, die Hauptstadt Pennsylvaniens. Das Ideal der Quäker ist ein sittenstrenges, einfaches Leben im Geist des Urchristentums. Sie spielen in Philadelphia noch heute eine wichtige Rolle, viele der ältesten und angesehensten Familien der Stadt gehören der Gesellschaft der »Freunde« an. Philadelphia, die Stadt William Penns und Benjamin Franklins, gerne nennt, noch die bleierne Schwere eines trübseligen Nachwinterhimmels. Die schnurgeraden Straßen der in schachbrettartiger Regelmäßigkeit angelegten City, der Geschäftsstadt, waren von einem häßlichen, atembeklemmenden Brodem aus Nebel und Rauch erfüllt, und auf dem von Nässe glänzenden Asphalt eilten die in dicke Überzieher und Gummimäntel gehüllten Fußgänger schnell dahin, um aus der unbehaglichen Atmosphäre möglichst rasch unter Dach und Fach, ins Trockene und Warme zu kommen.

Es war heute ein besonders unerfreulicher, naßkalter Morgen, als einer der Chefs der Firma Sander & Fox, Mr. Sander, auf der Broad-Street-Station dem Zuge entstieg, der ihn aus seinem Vorort in die Stadt gebracht hatte, und mit hoch aufgeschlagenem Mantelkragen, die Hände fröstelnd in den Taschen vergraben, hurtigen Schrittes seinem in der Nähe gelegenen Geschäftshaus zustrebte. Da schlugen an einer Straßenecke Worte an sein Ohr, die ihn veranlaßten, seinen Gang plötzlich zu hemmen. Hier stand einer der zahlreichen Zeitungsjungen mit einem Stoß der Morgennummer der »Pennsylvania-Post« unter dem Arm und rief, um Käufer anzulocken, nach Landessitte die Titel der Hauptartikel aus. Im Vorübergehen fing Sander die Worte auf: »Sensationelle Abenteuer George Snappers in Kolumbien – auf der Jagd nach der Wunderorchidee ...«

Es fuhr dem ehrenwerten Herrn Sander wie ein Dolchstoß durchs Herz. Der sonst so gelassene Mann entriß dem Jungen die noch von Druckerschwärze feuchte Zeitung, entfaltete sie und überflog im Gehen die fettgedruckten » head-lines«, die Überschriften, die nach amerikanischer Sitte jedem Hauptartikel vorangesetzt sind und in kurzen packenden Worten seinen Inhalt angeben. Mit stockendem Atem las der Orchideenzüchter: »Auf der Suche nach der legendenhaften heiligen Orchidee – Der gejagte Blumenjäger – 1000 Meilen durch die kolumbische Wildnis – Ein Wettrennen um die Prämie von 50 000 Dollar – usw. usw.«

Dem wohlbeleibten Mr. Sander schwamm es beinahe vor dem Auge, und er wußte kaum, wie er das Geschäftshaus erreichte. Im Privatkontor saß sein Sozius Fox bereits am Schreibtisch, ebenfalls in die »Pennsylvania-Post« vertieft.

»Haben Sie schon gelesen, Fox? Was sagen Sie dazu?« rief Sander in heller Empörung.

Fox nickte resigniert und sprach: »Nun, man hat uns eben überlistet. Dieser Snapper ist zwar ein Kujon, aber ein fixer Bursche, das muß man ihm lassen.«

»Sie scheinen eine merkwürdig ruhige Auffassung von der Sache zu haben,« erwiderte Sander etwas gereizt. »Läßt es Sie denn gleichgültig, wer die Sobralia entdeckt, ob Albert Forster oder der Reisende unserer Konkurrenz?«

»Gleichgültig ist es mir keineswegs, lieber Sander. Aber wie die Dinge nun einmal liegen, müssen wir uns mit der vollendeten Tatsache, daß Snapper und Harland uns ein Schnippchen schlagen, abzufinden suchen. Es hat keinen Zweck, darüber zu weinen. Übrigens glaube ich nicht, daß Forster bei dem Wettlauf den kürzeren zieht. Sollte er die Orchidee nicht finden, so wird er zum mindesten dafür sorgen, daß auch Harland sie nicht bekommt.«

Sander vertiefte sich jetzt in größerer Ruhe in die Lektüre des Zeitungsartikels. Es war der erste Bericht vom Verlauf der Expedition, den George Snapper seinem Blatt gesandt hatte. Der Journalist schilderte darin mit offenbar starken Übertreibungen, aber in sehr geschickter Weise und mit jenem drastischen Witz, den der Amerikaner liebt, den ersten Abschnitt seiner Reise in Harlands Gesellschaft von Barranquilla bis zur Sierra von Perija und verbreitete sich ausführlich über die Mission Albert Forsters und die Jagd nach der geheimnisvollen Orchidee. Er schloß seinen Bericht mit der prahlerischen Verheißung, daß er und John Harland die heilige Orchidee, falls sie überhaupt existieren sollte, sicherlich entdecken und sich die von Joshua Lovendaal ausgesetzte Prämie verdienen würden.

Sander hatte Snappers Artikel gerade zu Ende gelesen und blies ärgerlich dichte Tabakswolken aus seiner Stummelpfeife, als Joshua Lovendaal in der Türe erschien und die Herren mit den Worten begrüßte:

»Nun, liebe Freunde, was sagen Sie zu der reizenden Überraschung in der ›Pennsylvania-Post‹?«

Wer etwa erwartet hatte, der alte Orchideenfanatiker wäre über Snappers groben Vertrauensmißbrauch und seine skrupellose Ausbeutung eines erlauschten Geheimnisses erzürnt, der befand sich im Irrtum. Das Gegenteil war der Fall. Der Gnom schien allerbester Laune zu sein, trippelte mit meckerndem Lachen im Zimmer herum und rieb sich die dürren Greisenfinger, daß sie in den Gelenken knisterten und knackten.

»Unser Mißgeschick scheint Sie ja sehr zu erheitern,« sagte Sander vorwurfsvoll mit finsterer Miene.

»Keine Spur von Mißgeschick, lieber Sander!« rief Joshua Lovendaal. »Es ist Sport, ausgezeichneter Sport, und ich zweifle nicht daran, daß unser Favorit Albert Forster das Rennen gewinnt.«

In Wirklichkeit war der Alte keineswegs davon überzeugt. Es war ihm auch sehr gleichgültig, wer die Wunderorchidee entdeckte, wenn sie nur überhaupt entdeckt wurde und in seinen Besitz kam. Und er war über diese Wendung der Dinge erfreut, weil er sich sagte, daß die Aussichten um so besser waren, je hartnäckiger die beiden Nebenbuhler das Ziel verfolgten. Gleichviel, wie der Wettkampf auch ausgehen mochte, ob zu Forsters oder zu Harlands Gunsten – er, Joshua Lovendaal, würde von den verdoppelten Anstrengungen der Orchideenjäger den Vorteil haben.

*

Der Tag, an dem die religiöse Zeremonie von »El Dorado« die Motilons und ihre stammverwandten Gäste an der Lagune im Hochgebirge vereinigen sollte, war angebrochen. Soeben stieg der Glutball der Sonne über die Wipfel des Waldes empor, der das Tal umschloß, als die Indianer zu mehreren Hunderten und in festlicher Tracht sich bereits zu einem langen Zuge formierten, um den Marsch zur Kultusstätte anzutreten. Sämtliche Männer nahmen daran teil, nur die Frauen und Kinder und einige hinfällige Greise, wie Mayas Großvater, blieben in der Niederlassung zurück. Die Frauen und Mädchen waren inzwischen mit der Bereitung des festlichen Mahles beschäftigt, das nach der Rückkehr der Indianer den fröhlichen Abschluß der ernsten Feier bilden sollte.

An der Spitze des Zuges ritten auf schön geschmückten Maultieren, von togaähnlichen Festgewändern umwallt, der Zipa, der Oberpriester und die Vornehmsten der Gäste, darunter Tortuga. Alle anderen Indianer gingen zu Fuß. Sie schritten in langer Reihe, immer zu zweien, und waren mit Speeren, Bogen und Pfeilen bewaffnet; einige trugen verhüllt die geweihten metallenen Geräte, die Teppiche und die Decken, die bei der religiösen Handlung gebraucht wurden. Der Marsch auf dem schmalen Waldpfade bergan vollzog sich, wie es uraltes Herkommen war, in ernstem Schweigen, kein Wort wurde laut.

Trotz der frühen Morgenstunde und obwohl der nahe bevorstehende Götterdienst das ganze Denken der Indianer beherrschte, hatte der Zipa sich doch bereits nach dem Verbleib der Deutschen erkundigt. Zu seiner Genugtuung waren die ausgesandten Boten mit der Meldung zurückgekehrt, daß die Gasthütte leer stand und Forster und Brockhusen, wie Maya erzählte, mit ihren Dienern schon um Mitternacht aufgebrochen waren, um die zweite Hälfte der hellen kühlen Mondnacht zur Weiterreise in die Niederungen der Llanos zu benützen.

In Wirklichkeit hatte der Naturaliensammler mit seinen Begleitern die Paßstraße nur eine Strecke weit verfolgt und war dann auf einem tags zuvor ausgeforschten Nebenpfade durch den Wald wieder in die Nähe der Ansiedlung zurückgekehrt. Übrigens war die Gefahr, daß man die Reisenden nachts überwachte und überraschte, nicht allzu groß. Bei ihrer außerordentlich abergläubischen Veranlagung und ihrer Furcht vor Gespenstern wagen sich die Motilons ohne dringendste Veranlassung nachts nicht gern aus ihren Behausungen hervor. Auf demselben Wege, auf dem sich jetzt der Festzug der Indianer bewegte, waren die Deutschen dann im Gebirge weiter hinauf bis in die Nähe der Lagune gelangt, und als der Morgen zu dämmern begann, hatten sie schon ihr Ziel erreicht.

Die Lagune, ein nahezu völlig kreisrunder Teich von einigen hundert Meter Durchmesser, lag in einem kesselförmigen engen Hochtal und sah beinahe so aus, als ob es der mit Wasser gefüllte Krater eines ehemaligen Vulkans wäre. Hinter dem mit Gras bewachsenen Uferstreifen des Wasserbeckens erhob sich, allmählich ansteigend, dichter Wald, und hinter diesem wiederum stieg sehr steil das wild zerklüftete Gestein der mächtigen Felsenmauern auf, die den Talkessel umgaben. Man hätte sich jedenfalls für ein Schauspiel, das an oder auf dem Wasser stattfinden sollte, keine wirkungsvollere Naturszenerie ausdenken können als diesen weltentrückten, in erhabenster Bergeinsamkeit liegenden kleinen See mit seiner feierlich ernsten Umgebung. Es war ohne weiteres erklärlich, weshalb dieser Hochgebirgskessel mit seinem zauberhaft stillen Gewässer schon die Urbevölkerung des Landes anziehen und sie geradezu einladen mußte, den See und sein Gestade zum Schauplatz ihres geheimnisvollen religiösen Kultus zu machen.

Die Reisenden näherten sich der Lagune von oben, auf dem Felsenrande des Talkessels, und stiegen hier, wo sich der Pfad in Windungen steil zum Ufer des Gewässers zu senken begann, aus dem Sattel. Die Maultiere führend, bahnten sie sich durch das zerklüftete Felsenlabyrinth einen Weg bis zu einer möglichst versteckten und schwer zugänglichen Stelle, von der sie, hinter einer wie mit Schießscharten durchlöcherten Steinwand stehend, den unter ihnen liegenden See mit seinem Gestade völlig überblickten, ohne selber von unten gesehen werden zu können. Jetzt, in aller Frühe, lag die Wasserfläche, wie überhaupt das ganze Tal, noch im Dämmerlicht da, aber sobald die Sonne hoch genug gestiegen war, konnte es dem Schauspiel, das sich an der Lagune entfalten sollte, nicht an wirkungsvoller Beleuchtung fehlen.

»Wir haben zweifellos ein paar Stunden Vorsprung, können also in aller Ruhe frühstücken und uns ausruhen,« sagte Albert Forster.

Als die Reisenden sich auf dem mit kargen Grasbüscheln bestandenen Felsboden ausstrecken wollten, rief Walter Brockhusen plötzlich erschrocken:

»Mein Amulett! Ich habe mein Amulett verloren.«

Der junge Mann hatte die uralte Silberplatte mit ihren geheimnisvollen Zeichen beständig an der Brust getragen, weil er die Wirkung ihres Anblicks auf die Eingeborenen kannte, vielleicht aber auch, weil etwas von dem seltsamen Zauber, der diesen Talisman umwitterte, auf ihn selber übergegangen war. Trotz allem Suchen ließ sich die Plakette auf dem Lagerplatz und in seiner nächsten Umgebung nicht finden; sie mußte sich schon vorher auf dem Marsch von der Schnur losgelöst haben, um irgendwo auf dem weichen Waldboden spurlos zu verschwinden.

»Es ist sehr schade um das schöne Andenken und die wertvolle Antiquität,« sagte Forster. »Aber trösten Sie sich, lieber Brockhusen. Sie haben die Silberplatte unter höchst sonderbaren Umständen entdeckt, und wer weiß, ob nicht einer unserer Nachfahren dieses Überbleibsel einer längst entschwundenen Kulturperiode in ein paar Jahrhunderten abermals auf ähnlich abenteuerliche Weise findet. Alles wiederholt sich einmal, und alles bleibt, wie schon der alte Heraklit gelehrt hat, im ewigen Fließen.«

Walter Brockhusen war trotzdem sehr niedergeschlagen. Nicht nur, daß er dem verlorenen Amulett nachtrauerte, konnte er sich auch nicht des Gedankens erwehren, daß dieser Verlust von böser Vorbedeutung für ihn und seinen Kameraden war ...

*

Der Sonnenball war gerade so hoch emporgestiegen, daß seine blendend lodernde Glut über den Felsenrand des Talkessels den Wasserspiegel dort unten mit eigentümlich grünlichen Lichtern aufleuchten ließ, als auf dem Pfade, den die Reisenden hinaufgekommen waren, der Festzug der Indianer erschien und sich gleich darauf zum See hinunter schlängelte. Als die Spitzengruppe der Berittenen am Gestade der Lagune angelangt war, stiegen die Würdenträger aus dem Sattel und scharten sich unter Vorantritt des Zipa und des Oberpriesters allmählich um einen kanzelähnlichen Felsen, der von den untergeordneten Priestern mit geflochtenen Matten und gestickten Decken ausgeschmückt wurde. Der Naturaliensammler faßte die Szene durch sein Fernglas schärfer ins Auge und konnte deutlich Mayas Orchideendecke erkennen. Dann wurden mit größter Behutsamkeit und Andacht einem der mitgebrachten Körbe blühende Orchideen entnommen und über die Kanzel gestreut. Es waren die wundervollen weißen und rötlichen Blüten der Sobralia mystica.

Inzwischen hatten sich die Indianer am Ufer des Sees zu beiden Seiten des Kanzelfelsens in langen Reihen niedergelassen und harrten erwartungsvoll der kommenden Dinge. Vor dem Kanzelfelsen befand sich ein abgeplatteter Steinblock, der, wie sich bald herausstellen sollte, als Opfertisch diente. Während der Zipa und die untergeordneten Priester, das Antlitz unter der weißen Stirnbinde hoch empor zur Sonne gewendet, mit erhobenen Händen inbrünstig Gebete sprachen, deren Strophen von der versammelten Gemeinde im Chor hin und wieder laut wiederholt wurden, brachte der Oberpriester persönlich die mitgeführten, mit bunten Bändern geschmückten weißen Ziegen vor der Kanzel den Göttern zum Opfer, so daß der steinerne Tisch bald vom roten Blut der Tiere gefärbt war.

Nach Beendigung der Gebete und der Opferungen, die sich geraume Zeit hinzogen, kam der Höhepunkt der Zeremonie. Aus dem Gebüsch wurde ein dort bereits verborgen gewesenes, mit Girlanden und Blumen verziertes kleines Floß hervorgeholt und ins Gewässer der Lagune geschoben. Der Zipa und der Oberpriester begaben sich in Gesellschaft einiger anderer Priester und Würdenträger auf das Floß und ließen sich ein Stück in den See hineinrudern. Hier entledigte sich der Oberpriester seines togaähnlichen weißen Gewandes, so daß er von oben bis zum Gürtel entblößt war. Während die Festgemeinde am Ufer wiederum in halb singendem Ton litaneihafte Gebete sprachen, bestrich der Zipa den Oberkörper des höchsten Priesters mit einer Salbe und bestreute ihn dann mit einem goldig glänzenden Pulver, das er einer goldenen Büchse entnahm. Der reine Goldstaub – denn um solchen handelte es sich zweifellos – blieb an der mit Salbe eingefetteten Haut haften, so daß der Körper des Oberpriesters im strahlenden Sonnenlicht glänzte und funkelte. So stand »El Dorado«, der vergoldete Mann, heute wie vor Hunderten und vielleicht schon vor Tausenden von Jahren lange Zeit mit hoch erhobenen Händen da, das Antlitz in Verzückung der großen Schöpferin alles Seins, der gütigen Spenderin alles Lichtes und Lebens, der Sonne, zugewendet, während die anderen Männer auf dem Floß sowie die Indianer am Ufer des Sees in stummer Verehrung und Andacht niedergekniet waren und mit glänzenden Augen auf den Vergoldeten starrten.

Auch Forster und Brockhusen konnten aus ihrem Versteck heraus nicht die Augen von dem seltsamen Schauspiel wenden. Es war weniger die Handlung an sich, die so fesselnd wirkte, denn ohne den wunderbar stimmungsvollen Landschaftsrahmen, den großartigen Ernst der Felsenwände ringsum, den zauberhaft leuchtenden Wasserspiegel und das farbige Spiel der Lichter wäre sie vielleicht eher absonderlich und grotesk als schön und erhebend gewesen. Aber die Gedanken, die sich daran knüpften, das Bewußtsein, daß sie hier, vielleicht als die ersten Europäer, geheime Beobachter eines uralten heiligen Kultus waren, wie er sich zur Zeit der spanischen Konquistadoren ebenso oder doch in ganz ähnlicher Weise abgespielt hatte, Zeugen eines Schauspiels, das damals den Anlaß zur Legende von »El Dorado« und dem fabelhaften Goldlande bot und Tausende von Köpfen verwirrte, Tausende von Seelen mit dem »fluchwürdigen Hunger nach Gold« vergiftete, der Ansporn zu unerhörten Anstrengungen, die Ursache namenlosen Jammers und Elends war – das hatte etwas Packendes, Faszinierendes ... Und während die beiden Reisegenossen die einzelnen Vorgänge dort unten verfolgten, war es ihnen, als ob die Zeit stehengeblieben wäre, als ob sie ein Zauberspruch aus dem zwanzigsten Jahrhundert zurückversetzt hätte in jene Tage, wo Queseda, Belalcázar und ihr Landsmann Nikolaus Federmann in diesem Gebirge dem Dorado nachjagten, einem Phantom, einer Illusion, an der sie zugrunde gehen sollten – wie auch so unendlich viele andere Sterbliche lockende Trugbilder verfolgen und sich in unfruchtbarer Sehnsucht nach ihnen erschöpfen und verzehren ...

Jetzt stieg der Oberpriester, von den Nebenstehenden dabei unterstützt und gehalten, vom Floß ins Wasser hinab und spülte den vergoldeten Leib in den kühlen Fluten der Lagune ab. Der Goldstaub, der für diesen immerhin ziemlich bedürftigen Indianerstamm sicherlich ein kleines Kapital bedeutete, verflüchtigte sich in dem Wasser, und als der Priester wieder auf dem Floß erschien und sich mit dem weißen Gewande umhüllte, war den Göttern das zweite wertvolle Opfer dargebracht und die eigentliche Zeremonie damit beendigt.

Langsam wurde das Floß wieder zum Ufer zurückgesteuert.

»Es ist höchste Zeit, daß wir aufbrechen, ehe die Motilons den Rückweg antreten,« sagte Albert Forster zu Brockhusen und trat von den Felsenscharten, durch die sie das Schauspiel unten verfolgt hatten, zurück.

In diesem Augenblick geschah etwas Unvorhergesehenes, Außerordentliches ...

Unmittelbar hinter Forster und Brockhusen krachte ein Schuß. Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sich einer der beiden Jagdkarabiner, die Bolivar soeben vom Boden aufheben wollte, entladen hatte. Wie das trotz der Sicherung möglich gewesen war, ließ sich im Augenblick nicht feststellen, und es blieb dazu auch keine Zeit übrig. Denn mit einem Blick durch die Löcher in der Felsenwand überzeugte sich Forster davon, daß der Schuß, wie man auch nicht anders erwarten konnte, auf die Festgemeinde am See im höchsten Grade alarmierend gewirkt hatte. Die Indianer befanden sich in größter Erregung, und bei dem feinen Unterscheidungsvermögen ihres Gehörs waren sie sich auch nicht im geringsten darüber im unklaren, aus welcher Richtung der Knall zu ihnen gedrungen war. Aller Augen richteten sich genau auf jene Stelle des Kesselrandes, wo die Reisenden standen, so daß sich der Naturaliensammler unwillkürlich auf den Boden duckte, obwohl es von unten kaum möglich war, ihn durch die kleinen Felsenöffnungen hindurch zu sehen.

»Schnell auf und davon!« rief Albert Forster. »Wir haben immerhin eine gute Viertelstunde Vorsprung, so lange brauchen sie zum Erklimmen der Kesselwand.«

Es blieb, wie gesagt, jetzt keine Zeit zur Untersuchung übrig, was das Losgehen des Unglücksschusses verursacht hatte. In aller Eile wurde der Rückmarsch angetreten, der sich zum Glück unbemerkt von den Indianern vollziehen konnte, da die Reisenden durch die Felsenkette des Kesselrandes vor den Blicken von unten geschützt waren und dann sogleich im Walde verschwanden. In der Nähe der Ansiedlung begegneten sie zwar vereinzelten Männern und Frauen, die jedoch, als sie die Europäer in so wildem Tempo ankommen sahen, erschrocken davonliefen.

Das Tal und die Niederlassung der Motilons auf kaum wegsamen Waldpfaden in weitem Bogen umschreibend, trachtete der Naturaliensammler nun so rasch wie möglich den Fundort der Sobralia zu erreichen. Er sowohl wie die andern glaubten ihres Weges sicher zu sein, aber nachdem eine weitere halbe Stunde vergangen war, ohne daß man auf die Felsenschlucht stieß, in der sie gestern den Jaguar verfolgt hatten, wurde es ihnen klar, daß sie doch eine falsche Richtung eingeschlagen hatten. So verstrich beim Umherirren und Suchen kostbare Zeit, und Albert Forster wurde von immer größerer Unruhe erfüllt. Denn daß die Indianer ihn und seinen Kameraden sogleich in Beziehung zu dem alarmierenden Schuß gebracht hatten und jetzt die Umgegend nach ihm durchsuchten, daran glaubte er nicht zweifeln zu dürfen.

Nach längerem Hin und Her in dem schwierigen Waldgelände glückte es endlich, die Fährte von gestern und bald darauf auch die Schlucht wiederzufinden. In fieberhafter Hast vorwärts stürmend, mußten die Reisenden nun noch die Felsenbarre, hinter der sich der Fundort der Orchideen befand, umgehen, und das nahm, da sich überall neue Hindernisse entgegenstellten, wiederum lange Zeit in Anspruch. Aber schließlich war auch die letzte Schranke überwunden, und in Schweiß gebadet, vor Anstrengung keuchend, erkannten die Deutschen in dem hier lichteren Wald nicht weit von ihnen jenen eigentümlich gestalteten Felsen, den sie gestern durch den Spalt in der Höhlenwand gesehen hatten und von dessen oberer Kante weiße Blüten herüberschimmerten. Das war der Felsen mit der Sobralia, sie befanden sich am Ziel.

Man ließ hier die Diener mit den Maultieren und dem Gepäck zurück, und Walter Brockhusen wollte voller Ungeduld sofort auf den Felsen zueilen. Aber der Naturaliensammler hielt ihn mit den Worten zurück:

»Nicht so hastig, mein Lieber. Wir müssen uns zunächst gegen die Insektenstiche schützen, sonst könnte es uns schlecht ergehen.«

Forster hatte schon am vergangenen Tage die nötigen Vorbereitungen getroffen und aus gewissen Bestandteilen seiner Reiseapotheke eine Tinktur zusammengestellt, die bereits seit vielen Jahren als bestes Abwehrmittel gegen bösartige Insekten erprobt war. Mit dieser ungemein scharf und nicht gerade angenehm duftenden Essenz rieben sich die beiden alle unbedeckten Körperstellen, Gesicht, Nacken und Hände, kräftig ein, und erst dann eilten sie auf jene Stelle zu, wo der verlockendste Traum des Orchideenjägers endlich in Erfüllung gehen sollte.

Ja, das war der Felsen, der Fundort des so sehnlich Gesuchten, und dort oben, das waren die Blüten, die großen, prachtvollen Blüten der heiligen Wunderblume mit ihrer eigentümlichen Blätterstellung, die an die Form eines Kreuzes erinnerte, mit ihrem leuchtenden, gelblich angehauchten, blutrot übersprenkelten Weiß! Das war sie, die schönste und seltenste aller Orchideen, die Krone aller Blütengewächse der Welt, das bisher unerreichbar gewesene Sehnsuchtsziel aller Blumenjäger! Und er, Albert Forster, sollte der Auserwählte, der vom Glück Bevorzugte sein, dem es vergönnt war, als erster Weißer seine Hand nach dem so sorgfältig verheimlichten Schatz der Motilons auszustrecken, als erster die Sobralia mystica zu erbeuten und in die weite Welt zu entführen ...

Ein dichter Schwarm hummelähnlicher großer Insekten umwogte den Felsen in schwebendem Tanz und stürzte sich nun beim Herannahen der Männer mit zornerfülltem Gesumm auf die Frevler, die es wagen wollten, sich am Heiligtum der Natur zu vergreifen. Unwillkürlich prallten Forster und Brockhusen zurück. Aber die Einreibung mit der Tinktur versagte ihre Wirkung nicht. Der durchdringende, den Tieren höchst widerwärtige Geruch hielt sie in respektvoller Entfernung, so daß sie sich damit begnügen mußten, die beiden jetzt Weiterschreitenden mit unaufhörlichem wütenden Gesumm zu umkreisen. Ohne das Abwehrmittel wäre es den Deutschen ganz unmöglich gewesen, sich dem Felsen zu nähern, die Insekten hätten sie in lebensgefährlicher Weise zerstochen und in die Flucht gejagt.

Der sonst äußerlich so gelassene Naturaliensammler schien sich förmlich in einem Rausch zu befinden, als er, sich an dem Felsen emporreckend, mit glänzenden Augen die Hand nach den weißen Blumen ausstreckte. Aber was auch in seinem Innern vorgehen mochte und wie stark auch seine Ergriffenheit war, die geschickte, vieltausendmal erprobte Hand versah ihren Dienst doch auch in diesem Augenblick mit derselben Ruhe und Sicherheit wie stets. Sie zerrte nicht ungeduldig an den empfindlichen Gewächsen, verletzte keine Blüte, knickte keinen Stengel, sondern grub mit ihrem durch lange Erfahrung verfeinerten Tastgefühl die Pflanze behutsam mit allen Blättern und Wurzeln aus der dünnen Humusschicht des Felsens aus.

Einige Orchideen hatte Forster bereits dem neben ihm stehenden Kameraden gereicht und dieser hatte sie auf den Boden gelegt, als ein Geräusch im Walde, das stärker war als das Summen und Brummen des aufgeregten Insektenschwarms, Walter Brockhusen aufhorchen ließ.

Kein Zweifel, es waren Menschen, die dort nahten, und wer anders konnte es sein als die Indianer? ... Wenige Sekunden nur, und zwischen den Bäumen, nicht weit vom Orchideenfelsen, schlichen in halbgeduckter Stellung braune Gestalten herbei, ihnen voran ein Priester mit Stirnbinde und weißem Gewand. Die Motilons, vier oder fünf, hielten Speere, Bogen und Pfeile kampfbereit in der Hand und starrten in, wie es schien, halb ungläubiger Empörung auf das Schauspiel, das ihren weit aufgerissenen, funkelnden Augen der Orchideenraub der Fremden bot.

Wenn die Indianer sich nicht sofort auf die Frevler stürzten, so lag es wohl nur daran, daß sie durch den Insektenschwarm, der sich jetzt drohend gegen sie wandte, am weiteren Vordringen verhindert wurden. Nur ihr Oberpriester und einige wenige andere Bevorzugte besaßen ja, wie es hieß, das Schutzmittel gegen Stiche. Und daß die Leute nun sehen mußten, wie diese Fremden trotz ihrer Missetat von den bösartigen Insekten, den Hütern des Schatzes, gar nicht belästigt wurden, das verknüpfte sich in ihrem von abergläubischen Begriffen erfüllten Hirn sofort mit bestimmten Vorstellungen von Zauberei und übernatürlicher Macht. So wurden sie nicht nur durch die Insekten, sondern auch durch ihre Dämonenfurcht zurückgehalten.

Albert Forster hatte den anschleichenden Indianern wohl einen flüchtigen Blick zugeworfen, völlig hingerissen aber von dem, was jetzt seine Seele erfüllte, den ganzen Anhalt seines Sinnens und Trachtens ausmachte, schien er von dem Ernst der plötzlich veränderten Lage keine richtige Vorstellung zu haben und ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören.

»Nur noch zwei oder drei Stück, dann ist es genug,« murmelte er.

Jetzt sah Brockhusen weitere Indianer im Buschwerk zwischen den Bäumen auftauchen, er sah und hörte, wie der Priester die Leute anfeuerte, ihre Pfeile auf die Fremden abzuschießen. Ohne weitere Überlegung griff der junge Mann zum Revolver, um seinen Genossen und sich selbst zu schützen Siehe das bunte Umschlagbild. [Der Umschlag fehlt leider in unserem Exemplar]. Aber als der Naturaliensammler die Waffe in der erhobenen Hand Walters bemerkte, rief er:

»Nicht ohne allerdringendste Veranlassung schießen, Brockhusen! Kein unnützes Blutvergießen, am allerwenigsten in diesem Augenblick! Das Werk ist übrigens vollbracht, wir können gehen.«

Damit sprang er vom Felsen zurück, hob die erbeuteten Orchideen auf und legte sie sorgfältig zusammen.

Dem Jüngling war das Verhalten seines alten Freundes und Meisters unfaßbar. Zum erstenmal in der ganzen Zeit ihres Zusammenseins verspürte er Lust zur Auflehnung und zu einer heftigen Erwiderung. »Wir können gehen ...« Forster tat ja gerade, als ob sie sich irgendwo im friedlichsten Parke der zivilisierten Welt befänden und nicht in der Wildnis und in einer Lage, die von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher wurde und fast schon verloren schien. Denn da man die Diener kaum mitzählen konnte, so standen hier zwei Männer allein einer fortwährend wachsenden Überzahl von kräftigen und fanatisierten Eingeborenen gegenüber, die als Speerwerfer und Bogenschützen, womöglich mit vergifteten Pfeilen, Vorzügliches leisteten. Und da wollte Forster ihm den Gebrauch der Schußwaffe untersagen? Da sprach er so gemütlich von »Gehen«? Ob es denn überhaupt noch einen Ausweg aus der Mausefalle gab?

Als die Reisenden jetzt genötigt waren, sich unter der ständigen Bedrohung durch die Speere und Pfeile der Indianer dorthin zurückzuziehen, wo Bolivar und Antonio mit dem Gepäck und den Maultieren warteten, erwachte der Orchideenjäger aus seinem eigentümlichen Traumzustand und zeigte wieder die alte Umsicht und Energie. An der Felsenbarre entlang schleichend und nach Möglichkeit jede Deckung benützend, hielten Forster und Brockhusen, halb nach rückwärts gewendet, die Indianer mit erhobenen Revolvern im Schach. Aber wunderbarerweise zögerten diese, ihnen zu folgen, und begnügten sich damit, ihnen einige Pfeile nachzusenden, die zum Glück ihr Ziel verfehlten und sich in dem dichten Buschwerk verfingen.

Erst als die Deutschen beim Halteplatz angelangt waren und, die vor Angst schlotternden Diener zu stärkster Eile anspornend, sich in die Sättel schwangen, rafften sich die Indianer, durch neuen Zuzug verstärkt, zu tatkräftigem Handeln auf und stürmten auf die Gruppe der Reisenden los.

Aber sie hatten mit ihrem Angriff zu lange gezögert. Ihr wildes Geschrei übte nur eine beschleunigende Wirkung auf die Maultiere aus, so daß sie so schnell, wie es in dem schwierigen Wald- und Felsengelände eben möglich war, das Weite zu gewinnen suchten. Aus der Reichweite der ihnen nachgesandten Pfeile konnten die Fliehenden freilich doch nicht schnell genug gelangen. Ein Schmerzensruf ward laut: eines der Geschosse hatte den Mulatten getroffen und sich in seine Schulter gebohrt.

Forster zog, neben Bolivar reitend, den Pfeil aus der Wunde. Gleich darauf war man durch eine Biegung um die hier aufhörende Felsenbarre den Blicken und Schüssen der Verfolger entrückt. Einstweilen in größerer Sicherheit, suchten und fanden die Flüchtlinge wieder den auf der gestrigen Jaguarjagd benützten Schluchtweg, und nach einer halben Stunde kamen sie in der Nähe von Mayas Hütte aus dem Walde heraus ins offene Tal. Forsters Befürchtung, daß ein Teil der Motilons hier versuchen würde, ihnen den Weg zur Paßstraße abzuschneiden, erwies sich als unbegründet. Weit und breit war kein Eingeborener zu sehen; die Reisenden erreichten ungestört die Paßhöhe und hätten ihren beschleunigten Rückzug dort unter günstigeren Umständen sogleich fortsetzen können, wäre nicht mit Rücksicht auf Bolivars Zustand eine Unterbrechung der Flucht notwendig geworden.

Der Mulatte konnte sich nicht mehr auf seinem Tiere halten und sank ohnmächtig aus dem Sattel. An sich wäre die Verwundung nicht gefährlich gewesen, denn der Pfeil hatte keine volle Kraft mehr gehabt und war nur um ein Geringes in die Schulter eingedrungen. Aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß die Spitze des Geschosses offenbar mit einem jener furchtbar wirkenden Gifte bestrichen gewesen war, in deren Bereitung die südamerikanischen Indianer von jeher eine verruchte Meisterschaft entwickelt hatten.

Das Giftigmachen der Hieb-, Wurf- und Schußwaffen mit gewissen Pflanzensäften oder tierischen Zersetzungsstoffen, um ihre tödliche Wirkung nach Möglichkeit zu sichern, ist freilich keine südamerikanische Spezialität. Schon die Völker des klassischen Altertums haben, wie uns aus Mythologie und Geschichte bekannt ist, große Erfahrung darin besessen und scheuten, wie das Beispiel des Odysseus zeigt, keineswegs vor der Anwendung solcher tückischen, unritterlichen Kampfmittel zurück. Auch in Hinterindien wurde und wird noch heute starker Gebrauch von vergifteten Waffen gemacht, und ebenso sind die vielen Völker Afrikas von jeher sehr erfinderisch in der Bereitung von Pfeilgiften gewesen. Bei den Urvölkern Südamerikas finden verschiedene, oft auf sehr seltsame und geheimnisvolle Art gewonnene Gifte Anwendung. Die Goajiroindianer im äußersten Nordosten Kolumbiens bestreichen die Pfeilspitzen mit einem Schlangengift, das aus verwesten Schlangen, Kröten, Eidechsen, Skorpionen und Taranteln hergestellt werden soll, also an das bekannte schauerliche Rezept der Hexen in Shakespeares Macbeth erinnert. Die an der kolumbischen Küste des Stillen Ozeans ansässigen Chocoindianer benützen die Ausschwitzung eines Laubfrosches. Das bekannteste und furchtbarste Pfeilgift Südamerikas aber ist das berüchtigte Kurare; es wird hauptsächlich von den Eingeborenen in den Stromgebieten des Orinoko und Amazonas gebraucht, findet aber auch in Kolumbien und Peru Anwendung. Es ist ein Pflanzengift und wird aus dem Saft verschiedener Strychnos-Arten gewonnen, zum Teil unter Zusatz anderer vegetabilischer und tierischer Gifte. Wenn Kurare in die Wunde gelangt, lähmt es die Bewegungsnerven, so daß der Verwundete, obwohl er bei Bewußtsein bleibt, keine Bewegungen mehr machen kann; durch weitere Lähmung der Brustmuskeln und Aufhebung der Atmung bringt es dann den Tod. Ist die Giftmenge nur gering, so kann ihre Wirkung durch künstliche Erhaltung der Atmung überwunden und der Kranke gerettet werden.

Albert Forster konnte nicht sogleich erkennen, um welches Pfeilgift es sich bei Bolivars Verwundung handelte, aber soviel war sicher, daß es für diesen Mann keine Rettung mehr gab. Die Reisenden betteten den Mulatten, der anscheinend bereits in den letzten Zügen lag, am Waldesrand auf Gras und Moos. Nein, da gab es nichts mehr zu helfen. Bolivars Glieder waren zum Teil schon starr und kalt, der Strom des Lebens sickerte nur noch tropfenweise, um bald zu versiegen. Als Forster die trockenen Lippen des Mulatten mit Wasser benetzte, schlug dieser die Augen auf, erkannte seinen Herrn und begann leise etwas zu flüstern. Forster neigte das Ohr tief zu seinem Munde hinab und vernahm in abgerissenen Worten folgende Beichte:

»Da ich sterben muß, Herr, möchte ich mein Gewissen erleichtern und Ihnen gestehen, daß ich Sie um Geldes willen betrogen und verraten habe. In John Harlands Auftrag habe ich ihm in Valle de Upar, dann noch einmal unterwegs und zuletzt hier nach unserer Ankunft bei den Motilons im geheimen Nachrichten über Sie, Ihre Pläne und unsere Reiseroute zukommen lassen. Ich habe wie ein Elender an Ihnen gehandelt und bedaure es tief. Der Himmel hat mich bestraft. Verzeihen Sie mir.«

Albert Forster wollte noch hören, ob Bolivar wüßte, wo John Harland sich jetzt befand. Der Mulatte konnte jedoch keine Antwort mehr geben – und nach wenigen Sekunden tat er den letzten Atemzug.

Jetzt hatte der Naturaliensammler eine Erklärung für vieles, das ihm vorher unerklärlich gewesen war. Aber zu langen Betrachtungen fehlte es gegenwärtig an Zeit. Das Gebot des Augenblicks erforderte schleunige Fortsetzung der Flucht, um sich den Motilons, die bei ihrer ausgeprägten Nachsucht sicherlich die Verfolgung aufgenommen hatten, so rasch wie möglich zu entziehen.


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