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Zweites Kapitel.
Die Stromschnellen des Guatapuri

In der Vorstadt von Barranquilla – Albert Forster und sein junger Landsmann – Der Nebenbuhler – Durch die Wildnis der Sierra Nevada von Santa Marta – Eine Floßfahrt mit Hindernissen – Unglücksfall in den Stromschnellen des Guatapuri – An der Insel gestrandet


»Salon zur Perle des Magdalenenstromes – Treffpunkt der eleganten Gesellschaft«, so leuchtete es von einem hölzernen Schild mit farbig gemalten Riesenbuchstaben weithin durch die glühende Luft unter dem dunstiggraublauen Himmel.

Wer nicht an echt kolumbischem Größenwahn litt, konnte sich unmöglich darüber täuschen, daß der »Salon« nichts weiter als eine elende Bretterbude war, in deren nur wenige Quadratmeter großem Raum hinter einigen aufeinander gestapelten Kisten, die eine Art Schanktisch bildeten, ein gelbhäutiger alter Mestize mit Flaschen und schmutzigen Gläsern hantierte. Hin und wieder warf er durch die offenstehende Tür Blicke voll Haß und Wut zu seinem Konkurrenten auf der anderen Seite der Straße hinüber, dem Inhaber des »Salons zur Lilie des Orients«, einem vierschrötigen Neger, der rauchend am Eingang seiner Baracke lehnte und jedesmal, so oft er einen der Dolch- und Giftblicke des Mestizen auffing, in weitem Bogen verächtlich über die Straße spie. Es schien zwischen den beiden Kollegen leider nicht das beste Einvernehmen zu herrschen.

Vor dem Perlensalon waren auf Stangen alte Sackleinwandlappen ausgespannt, und unter diesem Sonnendach hatte sich an rohgezimmerten Tischen ein halbes Dutzend Vertreter der »eleganten Gesellschaft« von Barranquilla und Umgegend niedergelassen, Hafenarbeiter, Herumtreiber, dazu ein Indianer, der in der Stadt Einkäufe gemacht zu haben schien. Sein abgetriebenes Eselchen mit den gefüllten Markttaschen zu beiden Seiten der Satteldecke stand trübselig neben ihm und hatte seine liebe Not, sich des blutgierigen Geschmeißes zahlloser Fliegen, Bremsen und Mücken zu erwehren.

Ein paar von den Leuten würfelten um Kupfergeld, die anderen starrten stumpfsinnig vor sich hin, alle trugen, genau wie die beiden feindlichen Wirte, eigentlich nur Lumpen am Leibe, auf dem Kopf aber, als Stolz und höchste Zierde des Kolumbiers, mächtige Filzhüte mit breitgeschwungener Krempe und versilberter Troddel. Der Indianer hatte sich, gleich als ob ihn trotz der Sonnenglut fröre, in seinen buntgestreiften Poncho gehüllt, ein großes Wollentuch, das nationale Kleidungsstück des südamerikanischen Volkes.

Auf der ungepflasterten, fußtief mit Staub bedeckten Straße war eine Schar schwarzer Aasgeier eifrig damit beschäftigt, die Unrathaufen auf freßbare Stoffe zu untersuchen, und da ein Aasgeier nicht wählerisch ist und den Begriff des Ungenießbaren ebensowenig wie den des Unappetitlichen kennt, fehlte es den häßlichen, aber nützlichen Vögeln keineswegs an manchem verlockenden Happen. Sie bewegten sich, schwerfällig hüpfend, zwischen den Menschen in völliger Unbesorgtheit und Ruhe, denn da sie überall in den heißen Ländern Amerikas die Straßenreinigung besorgen, werden sie von der Obrigkeit beschützt; niemand würde es wagen, einem Aasgeier ein Leid anzutun.

Jetzt kam träge schlendernden Schrittes ein Haufe nachlässig gekleideter, barfüßiger junger Leute, fast noch Knaben, die Straße herab. Einige trugen am Riemen über der Schulter Gewehre. Rote Aufschläge am Ärmel und Käppis kennzeichneten sie als Angehörige der republikanischen Heeresmacht. Die unerschrockenen Verteidiger der kolumbischen Unabhängigkeit warfen sehnsüchtige Blicke auf den Salon zur Perle und den Salon zur Lilie, aber da ihre Barschaft zum Besuch der Schankstätten nicht zu reichen schien, trotteten sie ergebungsvoll bis zum nahen Schiffahrtskanal weiter und ließen sich dort, um sich von den Strapazen des Nichtstuns zu erholen, plaudernd und lachend im Schatten eines zerfallenen Gemäuers nieder.

Wir befinden uns hier, wie schon erwähnt, in Barranquilla, dem kurz vor der Mündung des Magdalenenstromes in das Karibische Meer gelegenen größten Handelsplatz der Republik Kolumbien. Der Rio Magdalena, der zwischen zwei parallel laufenden Gebirgszügen der Kordilleren den ganzen nördlichen Teil Kolumbiens von Süden nach Norden durchfließt, würde eine ideale, tief ins Innere des Landes führende Wasserstraße bilden, wäre seine Schiffbarkeit nicht durch Stromschnellen, Untiefen und sonstige Hindernisse erschwert. Nur flachgehende Dampfer, deren einziges Schaufelrad hinten am Heck angebracht ist, können auf ihm verkehren. Sie kommen wegen der starken Strömung und der großen Treibholzmassen nur langsam vorwärts, so daß sie für die 1000 Kilometer lange Strecke von Barranquilla stromauf bis Honda, unweit der Landeshauptstadt Bogotá, sieben Tage benötigen. Ein noch größeres Hindernis für den Wasserverkehr ist aber die Mündungsbarre des Magdalena. Der Strom wälzt nämlich ungeheure Massen Sand und Schlamm aus dem Hochland der Kordilleren ins Flachland hinunter, und diese Niederschläge stauen sich im Karibischen Meer vor der Mündung derartig an, daß sich dort eine ausgedehnte Barre gebildet hat, die das Ein- und Ausfahren von Schiffen unmöglich macht. Denn das Wasser ist bei der Barre im allgemeinen kaum anderthalb Meter tief. Schon manchem Fahrzeug ist die tückische Untiefe verhängnisvoll geworden. So stieß einmal vor einer Reihe von Jahren einem deutschen Dampfer das Mißgeschick zu, daß er beim Ansteuern der Küste zu dicht an die Barre und auf Grund geriet. An der Seite des Schiffes, die dem Ausfluß des Magdalenenstromes zugewandt war, sammelten sich nun rasch so ungeheure Massen von Sand und Schlamm an, daß eine Insel von 200 Fuß Breite entstand, mit der das Schiff bald förmlich verwachsen war. Sechs Monate lag so der Dampfer fest, sechs Monate lang mußten seine Insassen unter Entbehrungen aller Art in dieser öden, von Kaimans und Moskitos wimmelnden, von Fieberkeimen durchsetzten Deltagegend an Bord des Schiffes verharren, bis die Regenzeit endlich einen höheren Wasserstand bewirkte und die Abschleppung möglich war.

So wenig landschaftliche Reize das flache, öde Mündungsgebiet des Magdalena zu bieten hat, so nichtssagend ist auch die nähere Umgebung von Barranquilla, und nur die aus weiter Ferne im Osten herübergrüßenden Schneegipfel der Sierra Nevada von Santa Marta bringen wohltuende Abwechslung in das eintönige Bild.

Von solchen Gedanken schien auch der tiefgebräunte, kräftige Mann bewegt zu sein, der soeben, auf einem Maultiere reitend und von einem ebenfalls berittenen Peon (eingeborenen Diener) begleitet, um die Ecke am Schiffahrtskanal in diese Vorstadtstraße von Barranquilla einbog und hier aus dem Sattel stieg, denn nachdem er die armseligen Hütten kurz gemustert hatte, warf er einen langen Blick zu den silberglänzenden Höhen des fernen Gebirges hinüber. Dann stand er noch eine Weile neben dem Tier, anscheinend unschlüssig, welcher der beiden Schenken er den Vorzug geben sollte, um seinen brennenden Durst zu löschen. Die feindlichen Wirte, der Mestize und der Neger, hatten den Caballero schon bemerkt und ihn mit dem sicheren Blick des Einheimischen trotz seiner indianerhaft braunen Gesichtsfarbe als Fremden erkannt. Sie stürzten auf die Straße hinaus und luden den Ausländer mit tiefen Verbeugungen und pomphaften Gebärden zum Nähertreten ein.

»Belieben Exzellenz in meinem Salon einen Refresco (Erfrischung) einzunehmen,« sagte der Mestize so einschmeichelnd, wie es ihm bei seiner verrosteten Kehle möglich war.

»Nur bei mir finden Hoheit die besten Getränke,« sprudelte der Neger mit seiner gequetschten Gaumenstimme hervor.

»Exzellenz mögen sich vor Giftmischern hüten,« sagte wiederum, mit einem haßerfüllten Blick auf seinen Nebenbuhler, der Mestize.

»Und noch mehr vor gelbhäutigen Schuften, die schon längst eine Kugel verdient haben,« rief der Schwarze.

Damit der Streit um seine Person nicht noch in eine Schlägerei ausartete, entschied sich der Fremde mit einer besänftigenden Gebärde rasch für die »Perle des Magdalenenstromes« und wurde von dem alten Mestizen im Triumph dorthin komplimentiert, während sich der vierschrötige Neger mit einem zwischen den Zähnen gemurmelten »Gringo« Gringo ist eine in Südamerika häufig gebrauchte verächtliche Bezeichnung des dort ansässigen Ausländers. enttäuscht nach fernem »Salon« zurückbegab.

Der Fremde, ein Mann von ungefähr vierzig Jahren mit dunkelblondem kurzen Vollbart, nahm den vom Wirt gebrachten Refresco ein und vertiefte sich in ein Zeitungsblatt. Plötzlich fuhr er zusammen, denn er hörte seinen Namen rufen. Er blickte auf und sah auf der Straße einen jungen Herrn, der gleich darauf, den feingeflochtenen großen Panamahut schwenkend, mit fröhlichem Lachen auf ihn zutrat und ihn mit den deutsch gesprochenen Worten begrüßte:

»Hallo, Herr Forster, wie geht's? In welchem primitiven Ausschank muß ich Sie treffen? Was führt Sie hierher?«

»Nichts weiter als der Durst, mein lieber Herr Brockhusen,« lautete die Antwort. »Ich bin aus meinem Luftkurort soeben in Barranquilla eingetroffen und wollte nur einen Augenblick rasten, ehe ich bei Ihrem Chef, Herrn Carrasca, vorspreche und meine sonstigen Geschäfte in der Stadt besorge. Vermutlich hatten Sie am Kanal zu tun?«

»Ja, einer unserer Magdalenadampfer ist von Honda angelangt, da mußte ich die Löschung der Ladung überwachen, damit nicht mehr gestohlen wird, als eben unvermeidlich und erträglich ist.«

»Wenn Sie jetzt ins Kontor zurückgehen, begleite ich Sie gleich. Sie können das Maultier meines Peons benutzen. Aber ein paar Minuten haben Sie wohl noch Zeit, um mir hier ein bißchen Gesellschaft zu leisten und ein Glas auf unsere beiderseitige Gesundheit zu trinken.«

»Ach, Sie wissen, Herr Forster, in Colombia hat man immer Zeit. Wenig Geld, noch weniger Arbeitslust, aber ungeheuer viel Zeit,« sagte der Jüngling lachend und ließ sich neben dem Älteren nieder, während der Mestize mit geschäftigem Eifer ein zweites Glas und eine neue Flasche auf den Tisch stellte.

Walter Brockhusen, ein junger Mann zu Anfang der Zwanziger mit einnehmenden, offenen Zügen, war der Sohn eines angesehenen und begüterten Bremer Kaufmanns und befand sich, seitdem er im väterlichen Geschäft seine erste Ausbildung erhalten hatte, seit einem Jahr als Angestellter des Exporthauses José Carrasca in Barranquilla. Es läßt sich denken, mit welcher Begeisterung er damals in die weite Welt hinausgefahren war, mit welcher Spannung er den Eindrücken und Erlebnissen entgegengesehen hatte, die ihm der Aufenthalt im fernen Tropenlande bescheren sollte. War das Erhoffte und Geträumte auch nicht ganz in Erfüllung gegangen, so hatte er doch in diesem ereignisvollen Jahre Gelegenheit gehabt, im Hause José Carrasca – dessen Inhaber schon seit langem ein guter Geschäftsfreund von Walters Vater war – nicht nur sein Fachwissen zu bereichern, sondern auch Land und Leute von Kolumbien ordentlich kennenzulernen. Denn die Firma Carrasca, eines der ersten Geschäftshäuser des Landes, beschränkte ihren Wirkungskreis keineswegs auf Barranquilla allein, ließ vielmehr mit ihrer eigenen Dampferflottille den Magdalenenstrom in seiner ganzen Ausdehnung befahren und besaß an den wichtigsten Punkten Niederlassungen und industrielle Werke. Walter Brockhusen hatte deshalb im Dienste des Hauses wiederholt das Innere des Landes bereist, er war bis zur Hauptstadt Bogotá und über die Kordilleren bis ins Stromgebiet des Orinoko gelangt, und da er gewohnt war, Augen und Ohren stets offen zu halten, bestand die geistige Ausbeute dieser Fahrten in einem schon recht achtbaren Schatz von Kenntnissen mannigfaltiger Art.

»Gedenken Sie längere Zeit in Barranquilla zu bleiben, Herr Forster?« fragte Brockhusen.

»Nein, ich befinde mich unmittelbar vor dem Antritt meiner neuen Expedition, die diesmal ziemlich ausgedehnt und wahrscheinlich von beträchtlicher Dauer sein wird. Ich habe hier nur noch einige Vorbereitungen zu treffen. Fürs erste will ich jetzt in Ihrem Hause nach der inzwischen für mich eingetroffenen Post fragen und ein paar Sachen abliefern, die Herr Carrasca an Sander & Fox in Philadelphia weiterbefördern soll. Wenn alles klappt, trete ich meine Reise schon in den nächsten Tagen an.«

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Deutsche Orchideenjäger in Bogotá, Kolumbien, bei Antritt einer Expedition
Die käfigartigen Behälter dienen zum ersten Transport der Pflanzen aus dem Gebirge zum Verpackungsort.

Dem jungen Mann schien etwas auf dem Herzen zu liegen. Er starrte wiederholt ins Leere und gab im weiteren Verlauf der Unterhaltung so zerstreute Antworten, daß es dem Naturaliensammler endlich auffiel und er lächelnd fragte:

»Sie sehen auf einmal so beklommen aus, mein lieber Herr Brockhusen. Ist Ihnen vielleicht, wie man zu sagen pflegt, etwas über die Leber gelaufen oder übt der Refresco dieses gelbhäutigen alten Giftmischers verheerende Wirkungen auf Ihr Inneres aus?«

Jetzt blickte der Jüngling dem Älteren frei und offen ins Gesicht und sagte in seiner gewohnten frischen Art:

»Herr Forster, ich habe einen großen Wunsch. Lachen Sie mich meinethalben aus. Also, ohne Umschweife: bitte, nehmen Sie mich mit auf die Reise! Lassen Sie mich Ihr Begleiter sein. In welcher Eigenschaft, das ist mir ganz gleichgültig. Als Famulus, als Faktotum, als Gepäckträger, Koch oder was Sie wollen. Nur, bitte, nehmen Sie mich mit. Was guter Wille vermag, um Sie zufriedenzustellen, das soll geschehen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Der Naturaliensammler blickte den Sprecher verwundert an. Das hatte er freilich nicht erwartet, der Antrag kam ihm völlig überraschend. Er besann sich ein Weilchen und sagte dann:

»Aber Sie dürfen doch nicht so ohne weiteres, von heute auf morgen, Ihre Stellung verlassen. Und dann vor allem – nehmen Sie mir ein freies Wort nicht übel – weiß ich ja gar nicht, ob Sie bei Ihrer großen Jugend die unbedingt nötigen Eigenschaften zu Unternehmungen solcher Art besitzen. Vielleicht unterschätzen Sie doch auch ein wenig die Schwierigkeiten einer Expedition in Gebiete, die bisher der Fuß eines Weißen kaum betreten hat. Das ist keine Vergnügungsreise, wahrhaftig nicht. Das heißt Strapazen und Entbehrungen ertragen können, Gefahren aller Art ins Auge sehen, das verlangt einen gestählten, erprobten Körper, einen elastischen, nicht so bald erlahmenden Geist, schließlich auch einen gewissen Bestand an Kenntnissen und Erfahrungen –«

Der junge Mann vermochte seine Lebhaftigkeit nicht länger zu zügeln und fiel jetzt dem Älteren ins Wort:

»Ich bin mir allentdessen durchaus bewußt, Herr Forster, und finde es selbstverständlich, daß Sie starke Bedenken haben. Aber gestatten Sie mir einige Einwendungen zu meinen Gunsten. Was meinen Posten bei Carrasca betrifft, so bedeutet er kein Hindernis. Denn die Zeit meiner Tätigkeit dort läuft, wie es schon seit langem festgesetzt war, ohnehin in den nächsten Tagen ab. Es war eigentlich meine Absicht, auf größeren Umwegen durch die mittelamerikanischen Staaten allmählich nach Europa zurückzukehren. Ich bin also ganz frei und zweifle nicht im geringsten daran, daß mein Vater gegen einen Anschluß an Sie nichts einzuwenden haben wird. Selbstverständlich sorge ich für alles, dessen ich bedarf, aus eigenen Mitteln. Die Schwierigkeiten Ihrer Expedition unterschätze ich wahrhaftig nicht. Ich kann mir wohl denken, welche Ansprüche an die Leistungsfähigkeit da gestellt werden. Aber außer allem guten Willen, von dem ich beseelt bin, bringe ich auch einen kräftigen, sportlich gedrillten Körper mit. Ich beherrsche die Landessprache und bin auch mit den Gewohnheiten und dem Charakter der eingeborenen Bevölkerung einigermaßen vertraut. Und daß ich mich Ihrer Führung, Ihren Weisungen vollkommen unterordne, daß ich mich so nützlich wie möglich zu machen versuchen werde, dieser Versicherung bedarf es wohl kaum.«

Albert Forster blickte sinnend vor sich hin. Sonderbar, wie sich das Anliegen des jungen Landsmannes mit seinen eigenen geheimen Wünschen kreuzte! Denn schon seit längerer Zeit hatte er oft daran denken müssen, welche Vorteile und Annehmlichkeiten es böte, wenn ihn auf seinen Reisen außer den eingeborenen Dienern ein junger Kamerad und verständnisvoller Helfer begleiten möchte. Nun führte ihm die Gunst des Zufalls eine geeignete Persönlichkeit zu, obendrein noch einen Landsmann von sehr gewinnender Art. Denn Walter Brockhusen hatte dem Reisenden schon bei seinem vorigen Besuch im Hause Carrasca sehr gut gefallen, und er glaubte als geübter Menschenkenner dessen sicher zu sein, daß ihm der junge Mann keine Enttäuschung bereiten würde.

»Schön, Herr Brockhusen,« sagte Forster endlich, »ich möchte mir Ihren Vorschlag bis morgen durch den Kopf gehen lassen, und inzwischen können Sie sich die Sache ja ebenfalls noch einmal überlegen. Aber wenn es Ihnen recht ist, brechen wir jetzt auf, denn ich bin doch gespannt, was für Nachrichten mich in Ihrem Geschäft erwarten.«

Die beiden Deutschen bestiegen die Maultiere und ritten, während der Peon ihnen zu Fuß folgte, langsam in die Stadt. Unterwegs klagte Brockhusen über die Eintönigkeit des Lebens in Barranquilla. »Hätte ich nicht,« sagte er, »so häufig Gelegenheit zu Reisen ins Innere gehabt, so wäre es mir sauer angekommen, in diesem Nest ein ganzes Jahr auszuhalten.«

Es ist wahr, daß Barranquilla und seine Umgebung nichts an sich hat, was für den Fremden sehr verlockend wäre und ihn zu langem Verweilen einladen könnte. Die Stadt, der Hauptstapelplatz der Magdalenaschiffahrt, liegt nicht unmittelbar am Strom, sondern einige Kilometer davon und ist mit ihm durch mehrere Schiffahrtskanäle verbunden, ferner durch eine kurze Schmalspurbahn mit dem benachbarten Puerto Colombo, dem wichtigsten Seehafen der Republik. Der Ankömmling, der hier zum erstenmal südamerikanischen Boden betritt und Landschaftsbilder von tropischer Üppigkeit erwartet, fühlt sich vermutlich stark enttäuscht. Denn Kolumbien, sonst so reich an Naturszenerien erhabenster Art, zeigt sich hier im Flachland des unteren Magdalenenstromes von einer spröden und wenig gewinnenden Seite. Besonders jetzt im Januar, in der Trockenzeit, die insofern an den Winter der nördlichen Zonen erinnert, als dann die Laubbäume größtenteils entblättert sind und in ihrer silberig glänzenden Kahlheit fast einen winterlichen Eindruck erwecken. Der Lehmboden ist von der trockenen Hitze, die von Ende November bis April anhält, doppelt ausgedörrt, rissig und braun gebrannt. Nur einige immergrüne Gewächse, mit Staub bedeckte, phantastisch geformte Kakteen und die Palmen, die hier jedoch ziemlich unansehnlich sind, erinnern in dieser erschreckenden Dürre an die südliche Vegetation, die sich erst im April, wenn ungeheure Güsse die Regenzeit einleiten, wieder zu entfalten beginnt.

Im Geschäftshause José Carrasca angelangt, wurde der Naturaliensammler vom Inhaber der Firma herzlich begrüßt. Er bekam einen ganzen Stoß der inzwischen für ihn eingelaufenen Post eingehändigt, oben drauf lag ein Telegramm. Albert Forster öffnete es und las:

»Mit allen Ihren Dispositionen einverstanden, wünschen glückliche Reise und guten Erfolg. Joshua Lovendaal setzt eine Prämie von 50 000 Dollar für Auffindung der Sobralia mystica aus. Betrag ist hinterlegt und wird dem Überbringer der Pflanze gezahlt. Sander & Fox.«

Forster steckte das Telegramm mit einem seltsamen Lächeln ein, einem Lächeln, aus dem man mit einiger Einfühlungsgabe vielleicht entnehmen konnte, daß der hohe Lohn, der dem Reisenden da winkte, keinen übermäßig starken Eindruck auf ihn machte, und daß er seine eigenen Ansichten über den Wert irdischer Güter zu haben schien ... Er durchflog die übrige Post und besprach dann mit dem Chef des Hauses alles, was vor Antritt der Reise noch zu besprechen war.

Als Albert Forster eine Stunde später durch die Hauptstraße ging, um Besorgungen zu machen, stutzte er einen Augenblick. Er glaubte auf der anderen Seite der Straße wiederum, wie vor einigen Wochen in Puerto Colombo, den Mann zu erkennen, der ihm schon die untrüglichsten Beweise seines Übelwollens und eines gehässigen Neides geliefert hatte. Nein, diesmal war kein Zweifel möglich, diesmal irrte er sich nicht: es war John Harland, der Reisende der Blumenzüchterei Strongfield & Smith, sein Nebenbuhler und Widersacher. Neben ihm schritt ein schmächtiger junger Mann von ausgeprägtem Yankeetyp. Und jetzt hatte auch John Harland den Deutschen erkannt. Ein boshafter Blick aus seinen Augen schoß hinüber, ein häßliches Lächeln zuckte um seinen Mund – gleich darauf war er samt seinem Begleiter im Gedränge verschwunden.

*

Vierzehn Tage waren seit diesem Ereignis vergangen.

Im Hochgebirge der Sierra Nevada van Santa Marta, dort wo das Plateau zu den Niederungen des Rio Cesar, eines Nebenflusses des Magdalenenstromes, abzufallen beginnt, hatte die Morgensonne soeben über die letzten Nachzügler der fliehenden Finsternis gesiegt. Zu weißlich wogenden Wolkenmassen zusammengeballt, verkroch sich der Nebel in die Schluchten und Kessel des wildzerklüfteten Gebirges, dessen von ewigem Schnee bedeckte Gipfel sich über den Páramos hell leuchtend vom Himmel abhoben. Unter »Páramos« versteht man in Kolumbien jene Hochebenen der Sierra, die über der Baumregion liegen, also bei ungefähr 3000 Meter Höhe beginnen und auf deren weiten, von kalter Höhenluft und oft von stürmischen Winden bestrichenen Grasflächen und Mooren die Flüsse entspringen, um bald darauf in wildem Lauf, von zahllosen kleinen Gerinnseln gespeist, zur Tiefe zu eilen.

Unsagbar einsam ist dieser Teil der Sierra Nevada. Der Eingeborene meidet die Páramos, er liebt nicht die Kälte, obwohl er sie beim Überschreiten der Gebirge für kürzere Zeit ohne Schaden gut verträgt. Auch wäre das Gras der geröllreichen Hochebene zu spärliche Nahrung für sein Vieh, und von der Ausbeutung der reichen Schätze des Waldes, der bald unter den Páramos beginnt, versteht er nichts, das überläßt er lieber den fremden Unternehmern. Er beschränkt deshalb seine Siedelungen auf die fruchtbaren warmen Täler am Rande des Gebirges und überläßt das Innere der Sierra den kleinen Indianerstämmen, die als halbwilde Nomaden von Jagd, Fischerei und dem Herstellen feiner Flechtarbeiten leben und sich, da ihrer im ganzen nur ein paar Tausende sind, in dem großen Gebirgsland völlig verlieren.

Aber wie einsam an dieser Stelle der Sierra, dicht unterhalb der Páramos, die Natur auch zu sein schien – völlig von Menschen verlassen war sie augenblicklich doch nicht. Denn im Schutz eines überhängenden Felsens, in einer Art Grotte, lagerten auf zusammengetragenem Laub, in ihre Ponchos gewickelt, rings um eine glimmende Feuerstätte vier Männer. Der eine von ihnen, ein bärtiger Weißer in Wollenhemd, wildledernen Kniehosen und Gamaschen, erhob sich jetzt und warf ein Armvoll Reisig in die beinahe erloschene Glut, so daß sie wieder Nahrung erhielt und alsbald knisternde Flammen emporzüngeln ließ.

Durch das Geräusch und das Gefühl wohliger Wärme ermuntert, wickelten sich nun auch die andern, ein zweiter, junger Weißer, ein Indianer und ein Mulatte, aus den dicken wollenen Decken heraus und sprangen empor.

»Puh, was für eine grimmig kalte Nacht,« sagte der junge Mann, seine Gliedmaßen reibend und dehnend. »Und da gibt es bei uns zu Hause unzählige Menschen, die beim Wort ›Tropen‹ immer nur an Gluthitze denken und keine Ahnung davon haben, wie unangenehm kühl es auch in diesen gesegneten Zonen sein kann. Wollen Sie wissen, wovon ich geträumt habe, Herr Forster? Von meinem Leibgericht: Hamburger Aalsuppe. Die stand auf dem Tisch und duftete wie Ambrosia, aber als ich mich hinsetzte und gerade zulangen wollte, versank das lockende Traumbild in nichts.«

Der Altere lächelte ein wenig melancholisch und erwiderte: »Ja, so ist es nicht nur im Traum, sondern gewöhnlich auch in der Wirklichkeit. Wenn wir gerade zulangen wollen, wird uns das Schöne meistens weggeschnappt. Aber da Ihnen die Aalsuppe entgangen ist, lieber Brockhusen, haben Sie vermutlich doppelt guten Appetit zum Frühstück. He, Antonio, tummle dich und hol' Wasser, und du, Bolivar, pack' den Eßkoffer aus.«

Antonio, der braune Peon, ein behender Bursche mit dem breiten fleischigen Gesicht der Kordilleren-Indianer, hatte seine Morgentoilette, wenn man von einer solchen überhaupt sprechen konnte, bereits vollendet und eilte mit den zusammenlegbaren ledernen Eimern zum Fluß, der sich unweit der Lagerstätte mit starkem Gefälle brausend durch eine Wildnis von palmenähnlichen Baumfarnen mit zartgegliederten Wedeln ergoß. Der hagere Mulatte aber, der sich den stolzen Namen Bolivars Simon Bolivar, der Befreier Südamerikas, war und ist noch heute in Kolumbien und Venezuela der gefeiertste Held des Volkes. 1783 in Caracas in Venezuela geboren erwarb er sich auf Reisen in Europa und Nordamerika eine umfassende Bildung und wurde 1812 der Führer im Befreiungskriege der Venezolaner und Kolumbier gegen die Spanier, zu deren Kolonialreiche damals beide Staaten (Kolumbien unter dem Namen Provinz Neugranada) gehörten. Nach jahrelangen schweren Kämpfen mit wechselndem Glück, die ihn vorübergehend einmal zur Flucht nach Jamaika und Haiti nötigten, gelang es Bolivar 1824, die Spanier endgültig zu vertreiben. Er herrschte nun als Diktator über den ganzen Norden Südamerikas, wurde aber von seinen Anhängern allmählich im Stich gelassen und zog sich 1830 mit einem Ruhegehalt ins Privatleben zurück. Noch in demselben Jahr ist Simon Bolivar bei Santa Marta gestorben, seine Asche wurde nach Caracas gebracht und dort feierlich beigesetzt. angeeignet hatte, breitete auf einer der Decken das Eßgeschirr aus und traf alle Vorbereitungen zur Herstellung eines einfachen, aber kräftigen Frühstücks.

Fast zwei Wochen bereits war die kleine Expedition nun unterwegs. Forster war mit seinen Begleitern von Puerto Colombo zu Schiff nach Santa Marta gefahren, der kleinen Küstenstadt am Westabhang des Gebirges, und hatte von dort aus in anstrengenden, nur durch einen einzigen Ruhetag unterbrochenen Märschen auf kaum erkennbaren Pfaden die ganze Sierra durchquert. Die Sierra Nevada (d. h. Schneegebirge), mit ihrer nähern Bezeichnung nach der Stadt Santa Marta benannt, ist der isolierte nördlichste Ausläufer der kolumbischen Kordilleren und gehört, da sie bis zu 5100 Meter, also zu größerer Höhe als der Montblanc aufsteigt, zu den höchsten Gebirgen Amerikas. Vom Meere aus gesehen, an das sie im Westen und Norden unmittelbar herantritt, bietet die Sierra Nevada von Santa Marta mit ihren steil emporsteigenden, dicht bewaldeten Abhängen einen ungemein großartigen Anblick dar; über den kleineren Höhen erhebt sich weiter im Innern des gewaltigen Massivs eine von ewigem Schnee bedeckte Kette mit elf Gipfeln, deren höchster von einem grünlich glänzenden Jochgletscher gekrönt ist. Zahlreiche Bergströme, vom Schneewasser der Firne und von starken Niederschlägen gespeist, bahnen sich mit tosendem Lauf durch wild zerrissene Schluchten abwärts ihren Weg«

Im Geiste blickte Albert Forster noch einmal auf die vergangenen Tage und die Gebirgswanderung zurück. Seinen in Barranquilla rasch gefaßten Entschluß, den Wunsch Walter Brockhusens zu erfüllen und ihn als Begleiter mitzunehmen, hatte er noch keinen einzigen Augenblick zu bereuen gehabt. Der Jüngling erwies sich als so willig, anstellig und ausdauernd, daß dem Naturaliensammler der Gedanke, sich später wieder einmal von ihm trennen zu müssen, jetzt schon unbehaglich war. Immer heiter und guter Dinge, immer auf dem Posten, wenn es irgendwo galt, Hand anzulegen, dabei dem Alten und Erfahrenen gegenüber von bescheidener Zurückhaltung, so war Brockhusen wirklich ein idealer Helfer und Kamerad. Auch mit Antonio, dem Peon, durfte Forster zufrieden sein. Der braune Bursche tat seine Pflicht, und auf seine etwas einfältig blickenden, aber treuen Augen war zweifellos Verlaß. Was Bolivar betraf, der sich dem Reisenden in Barranquilla angeboten hatte, so erwies er sich zwar als willig und intelligent; aber Albert Forster wußte, durch manche unerfreuliche Erfahrung gewitzigt, wie vorsichtig man in der Beurteilung der Halbblütigen sein muß, und er wollte deshalb den Mulatten erst noch einige Zeit hindurch beobachten und erproben, ehe er ihm volles Vertrauen entgegenbrachte.

Der Marsch durch die Sierra Nevada war nur der Anfang der Expedition, die nun weiter nach den Kordilleren von Perija führen sollte. Es hatte Albert Forster gereizt, dieses bisher nur von einzelnen Forschern besuchte Hochgebirge näher kennenzulernen und sich einen Überblick über die Pflanzenwelt zu verschaffen. Die Ausbeute war befriedigend, wenn auch nicht gerade glänzend. Einer der Tragkörbe barg eine größere Anzahl von Knollen, Schößlingen, Sämereien usw. und sollte von der nächsten Stadt, Valle de Upar, an Carrasca zur Weiterbeförderung nach Philadelphia gesandt werden.

Forster vertiefte sich nach dem Frühstück mit Brockhusen ins Studium der vor ihnen ausgebreiteten Karte. Er sprach:

»Die Karte wimmelt von Unrichtigkeiten, was bei der vorläufig noch sehr lückenhaften Erforschung des Gebirges auch nicht wundernehmen kann. Aber daran ist nicht zu zweifeln, daß wir uns hier am Guatapuri befinden, der gleich hinter Valle de Upar in den Rio Cesar mündet. Der Pfad, auf dem wir hierher gelangt sind, soll immer am Guatapuri entlang bis Valle de Upar führen. Bis dahin sind es ungefähr fünfzig Kilometer. Da es in mäßigem Gefälle ständig bergab geht, könnten wir wohl ohne Überanstrengung morgen nachmittag unten anlangen.«

Der kleine Trupp machte sich alsbald auf den Weg. Das Gepäck, das man bei dieser Gebirgswanderung auf die allernotwendigsten Gegenstände beschränkt hatte – zwei kleine Zelte, Schlafdecken, Kochgeschirr, Konserven usw., auch zwei Jagdkarabiner –, wurde verteilt, wobei der Hauptanteil auf den Peon entfiel. Es wäre ihm aber nicht eingefallen, darüber zu murren, er hätte auch eine weit schwerere Last kaum gespürt. Die indianischen Träger der Kordillerenländer sind von klein auf gewöhnt, Bürden zu tragen, die man einem Weißen nicht zumuten dürfte, und es ist in Kolumbien gar nichts Ungewöhnliches, Eingeborene zu sehen, die zu zweien ein Piano oder ein Bufett stundenlang bergan schleppen, ohne große Ermüdung merken zu lassen.

Der Abstieg ging auf dem nur schwach erkennbaren Pfade, der anscheinend nur selten betreten wurde, unmittelbar neben dem brausenden, schäumenden Strom anfangs glatt von statten. Je tiefer man kam, desto schöner und üppiger wurde der Wald. Riesige Mahagoni-, Feigen- und Seidenwollbäume, dazwischen die wundervollen Baumfarne und alles durch ein Gewirr von Schlinggewächsen und Unterholz miteinander verknüpft, traten wie undurchdringliche, lebendige Riesenmauern bis dicht ans Ufer heran, so daß zwischen Wasser und Wald oft nur ein ganz schmaler Raum von wenigen Fuß Breite zum Durchschlüpfen blieb. Aus dem Dickicht ertönte das Konzert der gefiederten Urwaldbewohner. Die Papageien taten sich dabei besonders hervor und ließen sich durch das Gekreisch der zänkischen Affen durchaus nicht in ihrer Unterhaltung stören. Die »Stille des Urwaldes«, von der man so häufig fabeln hört, existiert in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil, zu jeder Tages- und Nachtzeit ist es im Tropenwalde lebendig, immer rumort und lärmt es im Buschwerk und in den Wipfeln, und selbst in den Stunden der verhältnismäßig größten Ruhe, wenn die Sonne am höchsten steht und die meisten Geschöpfe ein Nachmittagsschläfchen halten, sorgen unruhige Geister dafür, daß der Dauerkonzertbetrieb keine Unterbrechung erleidet.

Aber nach einer Stunde flotten Marsches sahen die Reisenden sich plötzlich vor einem Hindernis, das einen bösen Strich durch ihre Rechnung machte und alle Pläne über den Haufen warf. Ein Hindernis, auf das man in solchen kaum erschlossenen Urwaldregionen freilich immer gefaßt sein muß.

Der schmale Pfad zwischen dem Strom und dem steil ansteigenden Wald war versperrt – versperrt durch einen Wall von entwurzelten Baumstämmen, von Geäst, von großen Steinen und von steinhart gewordenem trockenem Schlamm. Bis weit in den Fluß hinein erstreckte sich diese gigantische Barrikade der Natur, so daß auch die Flut sich plötzlich vor einem Hindernis sah und, gleichsam empört über die Störung, mit verdoppelter Wut und verstärktem Tosen durch das verengerte Bett dahinschoß.

Es fiel dem kundigen Auge nicht schwer, die Ursache dieser Verriegelung zu erkennen. Das chaotische Durcheinander von Baumleichen und Felstrümmern war von einem jener Wildbäche, die nur in der Regenzeit größere Wassermengen führen, dann aber zeitweilig zu mächtigen Strömen anschwellen, angeschwemmt worden. Ein furchtbares Unwetter von elementarer Gewalt hatte offenbar in der letzten Regenperiode diese entwurzelten Bäume und dieses Geröll hinabgespült, und hier, an der Mündung des Baches in den Guatapuri, hatte sich die Masse festgesetzt und angestaut – solange, bis vielleicht in der nächsten Regenzeit eine neue Hochflut herniederkommt und den Wall mit unwiderstehlicher Wucht endlich ins Wanken und Gleiten bringt.

»Eine schöne Bescherung,« sagte Albert Forster lakonisch und setzte sich auf einen Felsblock, um darüber nachzudenken, was zu tun war.

Auf dreierlei Weise konnte man die. Überwindung des Hindernisses versuchen. Das Nächstliegende war natürlich, darüber hinwegzuklettern. Aber auch die gewandtesten Turner hätten das nicht vermocht. Eher wäre es möglich gewesen, die höchste Gefängnismauer ohne Leitern und Stricke zu nehmen. Denn diese überhängende, viele Meter hohe Wand bot nirgends brauchbare Stützpunkte für Hand und Fuß. Vielleicht ließ sie sich auf der Landseite umgehen? Aber auch das erwies sich als unmöglich. Denn hier strebten wieder unüberwindliche Felsen empor, in engster Verbindung mit einem undurchdringlichen Gestrüpp von so zäher Art, daß da die Buschmesser nicht das geringste ausrichten konnten. Blieb also nur noch die dritte Möglichkeit eines Versuchs übrig, die Umgehung der Barre auf dem Wasserwege. Aber wie? Ans Hineinwaten in den tiefen und reißenden Fluß war nicht zu denken, und selbst einem sehr geübten Schwimmer wäre es schwerlich geglückt, durch die tosenden Wasser um die Riesenbuhne herumzuschwimmen. Wie hätte man auch das Gepäck befördern sollen? Und ein Boot besaß man leider nicht.

Nachdem das alles eingehend untersucht und festgestellt war, sagte der Naturaliensammler:

»Unsere Lage ähnelt genau derselben, in der ich mich einmal mit zwei Trägern im südlichen Mexiko befand, und wenn wir nicht wieder bis zu den Páramos zurückgehen und einen mehrtägigen Umweg machen wollen, so bleibt uns kein anderes Mittel als mein damaliges übrig, nämlich ein Notfloß zu bauen und uns damit um die Barre herumzuschmuggeln. Die Konstruktion eines Flosses ist gar nicht so umständlich, wie es Ihnen im ersten Augenblick vorkommen mag. Das geht sehr rasch. Wir haben in der Balsa, die hier reichlich wächst, das denkbar beste Baumaterial zur Hand. Sie kennen die Balsaflöße zweifellos vom Magdalenenstrom her, sie sind ja das einfachste und beliebteste Wasserfahrzeug der Eingeborenen.«

Die Balsa, von welcher Forster sprach, ist ein zu den Malvengewächsen gehöriger Baum mit Ästen von weidenähnlicher Biegsamkeit und einem Holz, so leicht wie Bambus. Man verwendet sie deshalb in den Kordillerenländern gern zur Herstellung von Flößen und Kähnen, indem man die geschmeidigen Aste und Zweige miteinander verflicht und die Lücken mit dem zähen Bast sowie dem dickflüssigen Harz, das aus dem entrindeten Holze fließt, abdichtet. Da das Flechtwerk im Wasser aufquillt und sich dann noch fester zusammenschließt, eignet es sich für diese Zwecke vorzüglich. Selbst die sehr großen Fischer- und Wohnboote der südamerikanischen Seen werden fast ausschließlich aus Balsageflecht gebaut und deshalb einfach »Balsas« genannt.

Ohne Zögern machten sich die Männer mit ihren langen, scharfen Hiebmessern ans Werk, und im Verlauf weniger Stunden war ein Floß von etwa zwanzig Quadratmeter Flächenraum fertig, gerade groß genug, um den Reisenden samt ihrem Gepäck hinlänglichen Platz zu gewähren, aber auch nicht zu klein, um nicht zum hilflosen Spielzeug der Wellen zu werden. Das gesamte Gepäck wurde in der Mitte des Flosses auf einer erhöhten Unterlage verstaut und befestigt und dann mit Decken verhüllt und umschnürt, so daß es nach Möglichkeit vor dem Naßwerden durch überspülendes Wasser geschützt war. Man stellte aus jungen Stämmen auch einige lange Stangen zum Lenken des Flosses und zum Fortstoßen von Hindernissen her. Schließlich entledigten sich die Männer der Fußbekleidung, um diese trocken zu halten, und brachten dann das leichte, aber zähe Fahrzeug vorsichtig zu Wasser.

Sie hatten sich zu diesem Zweck ein gutes Stück stromaufwärts begeben, damit sie sich beim Passieren der Barre in der Mitte des Flusses befänden und nicht in den gefährlichen Strudel an der Spitze der Barre gerieren oder an dem Gehölz, das sich dort festgesetzt hatte, hängen blieben. Es waren kritische Augenblicke von dramatischer Spannung. Alles vollzog sich in wenigen Sekunden. Die Männer gruppierten sich kauernd um das Gepäck, die Stangen fest in der Hand. Kaum war das Floß von der Strömung ergriffen worden, so schoß es auch schon stürmisch dahin. Gleich darauf befand es sich an der verengten Stelle des Flußbettes, wirbelte, vom Strudel gepackt, zwei- oder dreimal im Kreise herum, so daß den Insassen der Atem verging, blieb dann irgendwo hängen, ward von den Wellen überspült – riß sich zum Glück alsbald wieder los und raste im wilden Taumel der Flut davon. Ehe Forster und die Seinigen noch recht zur Besinnung gekommen waren, lag der Engpaß bei der Barre mit seinem hoch aufspritzenden Gischt schon hinter ihnen, und das Fahrzeug trieb auf dem nun wieder ruhiger gewordenen Strom mit verlangsamter Geschwindigkeit dahin.

Man hätte nun wieder landen, das Floß im Stich lassen und den Fußmarsch fortsetzen können. Aber als der Naturaliensammler sah, wie ausgezeichnet sich das Fahrzeug bewährte und wie schnell man damit vorwärts kam und da überdies mit der Möglichkeit weiterer Versperrungen des Uferpfades gerechnet werden mußte, entschied er sich dafür, die Floßfahrt so lange fortzusetzen, wie es eben ging, d. h. bis unüberwindliche Hindernisse zur Landung nötigten. Gefahrlos war das Unternehmen freilich durchaus nicht. Denn abgesehen von den zahlreichen Geröllblöcken im Flußbett, die dem Fahrzeug leicht verhängnisvoll werden konnten, mußte auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß es plötzlich in einen Raudal (Stromschnelle) oder einen Katarakt geriet und dort kenterte oder zerschellte. Aber Forster wollte das Wagnis doch unternehmen und auch sein junger Kamerad hatte den lebhaften Wunsch, die Reise zu Wasser fortzusetzen.

Es war eine aufregende Fahrt, die von den Insassen des winzigen Flosses volle Geistesgegenwart und gespannteste Aufmerksamkeit verlangte. Mit Hilfe der Stangen wurde das Floß nach Möglichkeit in der Mitte des Stromes gehalten, weil hier das Wasser am tiefsten und infolgedessen die Gefahr des Auflaufens am geringsten war. Mit unheimlicher Schnelligkeit schoß das leichte Fahrzeug auf den brausenden, zischenden, gurgelnden Wassern zwischen den steil ansteigenden, dicht bewaldeten Ufern dahin. Wo das Flußbett ohne Krümmung verlief und sich auf eine größere Strecke übersehen ließ, durften sich die Reisenden dem Gefühl einer gewissen Sicherheit überlassen; allzu oft aber machte der Guatapuri jähe Wendungen, und das waren dann immer Augenblicke atembeklemmender Spannung, mußte man doch mit der Möglichkeit rechnen, daß hinter der Kurve plötzlich ein Katarakt begann und das Floß, noch ehe man es ans Ufer lenken konnte, in seinen verderblichen Strudel hineinriß.

Walter Brockhusen dachte, wie es bei seiner Jugend erklärlich war, wenig an die Gefahr und gab sich aus voller Seele, ohne es deshalb an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen zu lassen, dem Genuß dieser kühnen Wasserfahrt, dieses schönen sportlichen Erlebnisses hin. Wären die beiden Diener nicht gewesen, auf die er als weiße Respektsperson Rücksicht nehmen mußte, so hätte er wohl seinem Hochgefühl durch laute Juchzer Luft gemacht, ungefähr wie vor Jahr und Tag, als er im tiefverschneiten deutschen Gebirge auf seinen Skis talwärts fuhr ...

Da auf einmal befahl Forsters lautes Kommando, ans rechte Ufer zu steuern, und zugleich stemmte sich der Naturaliensammler mit ganzer Körperkraft gegen seine Lenkstange, um das Floß aus der Flutrinne herauszubringen. Nicht weit vor den Reisenden lag eine neue Kurve, und von dort her mahnte verstärktes Brausen zur Vorsicht. »Ein Raudal, Herr!« rief der Peon, der schon manche Floßfahrt auf reißenden Gebirgsströmen hinter sich hatte und Bescheid wußte. Alle vier stemmten sich aus Leibeskräften gegen die Stangen, um das Fahrzeug ans Ufer zu drücken, aber ehe sie es noch erreichten, wurden sie von der rasch zunehmenden Strömung mit unwiderstehlicher Gewalt wieder in die Mitte des Flusses gerissen, und ein paar Sekunden später hatten sie die Biegung passiert. Der Fluß verengerte sich hier plötzlich auf fast ein Drittel seiner bisherigen Breite, mit entsprechend erhöhter Geschwindigkeit schoß die zusammengepreßte Flut in rasenden Wirbeln dahin, und das Fahrzeug drehte sich bisweilen, von einem Strudel gepackt, wie ein Kreisel um sich selbst, so daß die Reisenden sich an das Gepäck anklammern mußten, um nicht ins Wasser geschleudert zu werden.

Soviel war jedem von ihnen klar, daß sie sich jetzt auf Gnade oder Ungnade in der Gewalt des entfesselten Elements befanden. Jeden Augenblick konnte das Floß an das felsige Ufer geschleudert werden und dort zerschellen, oder es konnte mit einem der zahlreichen treibenden Stämme zusammenstoßen und kentern, jeden Augenblick konnte die Stromschnelle in einen Wasserfall übergehen, der das Schicksal des Fahrzeugs und seiner Insassen endgültig besiegelte. Überdies zeigte es sich jetzt auch, daß die Bastverbände der Balsa, die bisher so vorzüglich gehalten hatten, durch die Erschütterungen locker zu werden begannen.

Immer ungestümer brausten und tosten die Wasser dahin. In der Vegetation der Ufer trat jetzt der Bambus vorherrschend auf, seine kraftvollen hohen Rohre mit den palmblattähnlichen Büscheln bildeten dort förmliche Wände und beugten sich stellenweise tief über den Strom. Bald machte der Guatapuri abermals eine Biegung – und als das Floß die Kurve genommen hatte, stießen die Männer wie aus einem einzigen Munde unwillkürlich einen lauten Schrei aus. Denn kurz vor ihnen, keine zwölf Meter entfernt, sahen sie die mächtigen Rohre einer riesigen Bambusstaude quer über dem Fahrwasser so tief herabhängen, daß es kaum möglich erschien, darunter hinwegzukommen ...

Was nun folgte, spielte sich in der Schnelligkeit weniger Sekunden ab. Forster, der sich auf der linken Seite des Flosses befand, duckte sich rechtzeitig, so daß er gerade noch knapp unter den Bambusstangen hinwegglitt. Bolivar, der auf dem Gepäckaufbau saß, erhob sich im kritischen Augenblick und sprang mit einer Gewandtheit, die jedem Akrobaten zur Ehre gereicht hätte, über die Rohre hinweg. Sehr schlimm erging es Walter Brockhusen. Auf dem rückwärtigen Teil des Flosses stehend, hatte er nicht mehr rechtzeitig Deckung gefunden und wurde von einem der Bambusrohre ins Wasser geschleudert. Antonio, der neben ihm gehockt hatte und von dem Rohre nur oberflächlich gestreift worden war, streckte den Arm nach dem in den Wellen treibenden Deutschen aus, um ihn wieder aufs Floß hinaufzuziehen. Aber vergebens, er konnte ihn nicht mehr erreichen ...

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Als Albert Forster sich wieder aufrichtete und umwenden konnte, sah er zu seiner Erschütterung den Platz, den Walter Brockhusen eingenommen hatte, leer und den jungen Mann bereits weit hinter dem Floß mit dem Strudel ringen. Er schleuderte ihm eine der Ruderstangen zu, verlor aber gleich darauf, da der Guatapuri abermals eine Biegung machte, den Verunglückten aus den Augen.

Bange Minuten verstrichen, angefüllt mit immer erneuten, aber stets fruchtlosen Versuchen, das Fahrzeug ans Land zu lenken, das sich immer weiter entfernte, da der Strom jetzt wieder an Breite zunahm. So verstrich eine Viertelstunde und mehr, und in der Aufregung, in der sich die Männer befanden, in dem krampfhaften Bemühen, sich dem Ufer zu nähern, bemerkten sie gar nicht, daß der Guatapuri sich kurz vor ihnen in zwei Arme teilte, die eine flache Insel umschlossen. Da auf einmal fuhr mit gewaltigem Stoß, der das ohnehin schon hoffnungslos gelockerte Fahrzeug zerbersten ließ, das Floß auf die Spitze der Insel auf. Forster und seine Begleiter stürzten vornüber an Land, hatten aber noch so viel Geistesgegenwart, die Gepäcklast aus ihrer Verschnürung zu reißen und aufs Trockene hinaufzuzerren.

Dann blieben sie, zu Tode erschöpft und halb besinnungslos, dort liegen, wohin das Schicksal sie verschlagen hatte.


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