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Die Orloffs

Die Quellenachweise der Zitate [Zahl] befinden sich am Ende des Kapitels. Re. Für Gutenberg

Fürst Nikolai Orloff trug einen in der Geschichte Rußlands berühmten Namen. Ursprünglich stammten die Orloffs vom kleinen Schwertadel ab; einer ihres Geschlechtes wurde der Überlieferung nach von Peter dem Großen während der blutigen Hinrichtungen, die auf die Militärrevolte der Strelitzen in Moskau folgten, wegen seiner unerschrockenen Haltung angesichts des Schafotts begnadigt. Im 18. Jahrhundert, unter der Herrschaft der Kaiserin Elisabeth, war ein Gregor Orloff Gouverneur von Nowgorod. Er hatte fünf Söhne, von denen besonders zwei, Alexis und Gregor, ihre Namen mit dem Ruhme der Herrschaft der großen Katharina vereinten. Alle fünf Brüder Orloff erhielten den Grafentitel, einer von ihnen, Graf Feodor Grigorjewitsch, hatte verschiedene Kinder aus einer Verbindung mit der Hofdame Elisabeth Popoff, einer geborenen Gusiatnikoff. Er erkannte diese Kinder an und übernahm ihre Erziehung; offiziell wurden sie als seine »Zöglinge« bezeichnet. Um ihre Lage zu regeln, legalisierte Graf Feodor sie schließlich und erlangte für sie im Jahre 1796 ein Dekret der Kaiserin, das ihnen das Adelspatent und den Namen Orloff ohne Titel verlieh. Eins dieser Kinder des Grafen Feodor, Alexis Feodorowitsch, sollte zu einer der hervorragendsten Persönlichkeiten der Regierung Nikolaus' I. werden. Er war, nach Bismarcks treffender Charakteristik, ein »selbstherrlicher und übertrieben ritterlicher Aristokrat«. Alexis Feodorowitsch Orloff wurde im Jahre 1786 geboren und nach der Mode der Zeit in einem Jesuiteninstitut in Petersburg erzogen. Mit 18 Jahren trat er in die militärische Laufbahn ein, und zwar in das Regiment der Gardehusaren. Es war dies zur Zeit des Beginns der glorreichen Epoche der napoleonischen Feldzüge, und er nahm von 1805 bis 1815 überall teil, wo die russischen Truppen eine Rolle spielten. Er schlug sich in all den Schlachten, deren Namen in die heroische Legende eingegangen sind, war bei Austerlitz, La Passarga, Heilsberg, Friedland, Vitebsk, Smolensk, Borodino, Krasnoie, Lützen, Bautzen, Kulm, Dresden, Brienne, Troyes, Arcis-sur-Aube, La-Frère-Champenoise und bei der Einnahme von Paris. Bei all diesen Gelegenheiten zeichnete er sich durch seine Tapferkeit aus, und bei verschiedenen empfing er Verwundungen, allein sieben am Tage von Borodino. Er war Inhaber aller russischen Auszeichnungen für Militärdienste, die so begehrten Orden des Goldenen Säbels und des St. Georgs-Kreuzes inbegriffen; er erhielt auch mehrere ausländische Auszeichnungen, darunter das preußische Eiserne Kreuz. Sein Avancement vollzog sich ungeheuer schnell; er war ein Offizier von großem Mut, ein unerschrockener Draufgänger, aber trotzdem sehr gebildet und von aufgeklärtem Geiste. Kein Geringerer als Puschkin hat ihm eine seiner Oden gewidmet, wo er ihn folgendermaßen anruft: »Du, ein russischer General, hast es verstanden, mit deiner glühenden und freien Seele Liebenswürdigkeit und aufgeklärte Vernunft zu vereinen ... Zögling der feurigen Bellona, nahe dem Thron, doch ein treuer Bürger!«

Im Jahre 1805 war er Leutnant bei den Husaren, doch das Ende der Regierungszeit Alexanders I. sah ihn als Generaladjutanten des Kaisers, als Kommandeur des Regiments der Gardekavallerie und der ersten Brigade der Garde-Kürassiere.

Unter Nikolaus I. sollte seine bis dahin rein militärische Laufbahn noch eine ganz andere Wendung nehmen. Der erste Tag dieser neuen Herrschaft wurde durch die Revolte der sogenannten »Dekabristen« mit Blut befleckt; an diesem verhängnisvollen Tage des 26. Dezembers 1825 führte General Orloff als einer der ersten sein Regiment an die Seite des Kaisers auf den Senatsplatz. Dort entschied sich das Schicksal des Kaiserreiches, und durch seine Treue und seine Energie trug Orloff kräftig dazu bei, den bedrohten Thron Nikolaus I. zu retten. Der Kaiser vergaß diesen Dienst niemals. – Am nächsten Tage empfing General Orloff den erblichen Grafentitel, und als persönlicher, ergebener Freund Nikolaus' I. wurde er dessen vertrauter Mitarbeiter und hatte Anteil an allen bedeutenden Unternehmungen seiner Regierung. Er ward oft mit außergewöhnlichen geheimen Missionen, sowohl diplomatischer wie administrativer Art, betraut; so wurde er mehrmals nach dem Ausland gesandt, nach Wien, Berlin, dem Haag und nach London. Als Kommandant einer Armeegruppe spielte er eine aktive Rolle im russisch-türkischen Krieg von 1828 bis 1829 und nahm an den Friedensverhandlungen von Adrianopel teil. Im Jahre 1833, während der Besetzung des Bosporus durch die Russen, wurde er bevollmächtigter Repräsentant und oberster Truppenkommandant. Man teilte ihm Missionen in Polen während der Revolte von 1830 zu und beauftragte ihn mit der Unterdrückung des Aufstandes der Militärkolonien. Er war Mitglied aller Ministerkomitees, und von 1836 an auch Mitglied des Staatsrats. Seit 1844 gewann seine Stellung noch mehr an Bedeutung, denn nun wurde er zum Kommandanten des kaiserlichen Hauptquartiers ernannt, sowie zum Chef der Reiterei und der berühmten »3. Division« der Militärkanzlei Seiner Majestät, welche zur Bekämpfung der nach Rußland vom Westen Europas her eindringenden revolutionären Ideen gebildet worden war. Am Vorabend des Krimkrieges wurde Graf Orloff in außerordentlicher Mission nach Wien geschickt, um die österreichische Neutralität in dem entstehenden Konflikt zu erwirken. Kaiser Nikolaus I. ernannte ihn kurz vor seinem Tode zu seinem Testamentsvollstrecker. Im Jahre 1856 war Orloff russischer Bevollmächtigter beim Friedenskongreß von Paris, wo er für sein besiegtes Land günstigere Bedingungen erreichte, als man jemals zu hoffen gewagt hatte. Bei seiner Rückkehr von Paris ernannte ihn Alexander II. zum Präsidenten des Ministerrats, und bei der Krönung des neuen Zaren empfing er den erblichen Fürstentitel. Seine letzte Tat bestand in seinem Anteil an den Vorarbeiten zur Befreiung der Leibeigenen. Im Jahre 1861 zwang ihn eine Gehirnerkrankung, sich zurückzuziehen, nach 56 Jahren treuen Dienstes unter drei Monarchen. Er starb am 8. Mai desselben Jahres im Alter von 75 Jahren.

Aus seiner im Jahre 1826 geschlossenen Ehe mit Olga Alexandrowna Gerebtzoff hatte er zwei Kinder, einen im Jahr 1827 geborenen Sohn Nikolai und eine Tochter, die in früher Jugend starb. Gemäß der Familientradition wählte der Sohn von Alexis Feodorowitsch die militärische Laufbahn. Nachdem er zu Hause erzogen worden war und von ausgezeichneten russischen und ausländischen Lehrern eine gute Bildung erhalten hatte, trat also Graf Nikolai Alexejewitsch mit 16 Jahren in das Pagenkorps ein, in jene militärische Eliteschule, deren Schüler auch Funktionen bei Hofe hatten und aus welcher die Mehrzahl der Gardeoffiziere hervorging. Im Jahre 1847 wurde er nach hervorragend bestandenem Examen als Leutnant in das Regiment seines Vaters, die Gardekavallerie, aufgenommen. Seine Militärlaufbahn berechtigte zu glänzenden Hoffnungen. Schon nach einem Jahre wurde er zum Adjutanten des Kaisers ernannt, was nach so kurzem Dienst eine hervorragende Gunstbezeugung war. Die Rolle der Adjutanten Seiner Majestät war zu dieser Zeit nicht nur eine Ehrenstellung: die Adjutanten wurden beständig zu Aufgaben der Kontrolle und Überwachung, nicht nur auf militärischem Gebiet, sondern auch auf dem der Verwaltung verwendet. Durch sie empfing der Zar seine Informationen in Fällen, wo er unter Ausschluß des langwierigen Dienstweges unparteiische Berichte brauchte. Auch waren die Adjutanten Nikolaus' I. beständig unterwegs und gewannen damit einen viel ausgedehnteren Überblick über die Regierungsangelegenheiten als die einfachen Offiziere. Graf Nikolai Alexejewitsch wurde so im Innern von Rußland mit verschiedenen Missionen betraut; er begleitete außerdem den Großfürsten Konstantin, den Sohn des Kaisers, der nach Deutschland kam, um sich eine Braut auszusuchen und sich dann am englischen Hofe vorzustellen. Durch diese Reise wurde Graf Nikolai mit Deutschland, Frankreich und England bekannt. Im Jahre 1849 empfing er die Feuertaufe. Er nahm an dem ungarischen Feldzug gegen die Insurgenten teil, wurde im Tagesbericht erwähnt und für sein Verhalten in der Affäre von Debreczin mit dem Kapitänsrang ausgezeichnet.

Als der Krimkrieg ausbrach, war er schon Oberst. Voller Eifer, an den Operationen teilzunehmen, erreichte er es, zu der russischen Armee geschickt zu werden, welche die türkische Festung Silistria belagerte. Mit der Belagerung stand es schlecht; die Türken hielten die Festung, in Petersburg wurde man ungeduldig und verlangte ihren Sturz, selbst um den Preis eines Blutbades. Der Generalstab der Belagerungsarmee zögerte: an Ort und Stelle erkannte man klar, daß, da ein Angriff zum sicheren Mißlingen verurteilt war, eine ordnungsgemäße Belagerung von Silistria ratsam sei. Angesichts der ungeduldigen Haltung in Petersburg, als deren Vermittler Graf Nikolai auftrat, entschied man sich schließlich für die verhängnisvollste Lösung, die möglich war: man unternahm einen schlecht gestützten und schlecht vorbereiteten Teilangriff gegen eines der Vorwerke der Festung. Der Sturmangriff fand in der Nacht vom 28. zum 29. Mai 1854 statt, und Graf Nikolai Alexejewitsch hielt es, obwohl nichts ihn dazu zwang, für seine Pflicht, an ihm teilzunehmen. Er marschierte an der Spitze der ersten Sturmkolonne, bestieg als einer der ersten die Mauer des feindlichen Forts und empfing im Verlauf weniger Sekunden eine Reihe schrecklicher Verwundungen: eine Kartätschenladung ins Gesicht, Kugeln in beide Arme, Säbelhiebe auf Kopf und Schultern; alles in allem 27 Wunden, die Mehrzahl auf Kopf und Hals. Der nächtliche Angriff scheiterte unter furchtbaren Verlusten, und der junge Gras Orloff blieb bewußtlos zwischen den Toten und Verwundeten, die am Fuße des Vorwerks lagen, zurück. Ein Soldat, den man zur Bergung der Opfer ausgeschickt hatte, wurde in den ersten Morgenstunden durch seine weiße Gardekavalleriemütze, die neben ihm lag, auf ihn aufmerksam. Als er sah, daß der Bewußtlose noch schwach atmete, trug er ihn aus seinem Rücken bis zu den russischen Linien und der Ambulanz und rettete ihm so das Leben.

Der Zustand des Verwundeten war schrecklich; die beiden Augen waren verletzt, das eine war bereits verloren, der rechte Vorderarm zerschmettert, Kopf, Hals und Schultern waren mit Wunden bedeckt; der Blutverlust war derartig, daß man wenig Hoffnung für ihn hatte. Sobald er den Transport ertragen konnte, wurde er nach Bessarabien geschafft, wo seine Mutter zu ihm stieß, die mit fliegenden Posten von Petersburg herbeigeeilt war. In kleinen Etappen führte sie ihren Sohn nach Kiew zurück, wo er ein paar Wochen ruhte, um Kräfte zu sammeln, und dann ging sie mit ihm nach verschiedenen deutschen Badeorten. Graf Nikolai hatte eine schwere Leidenszeit durchzumachen. Man bezweifelte selbst, das andere Auge noch retten zu können, er mußte monatelang mit verbundenen Augen im Dunkeln zubringen. Er pilgerte zu allen berühmten Augenärzten, und man bekommt einen Begriff von seinen Qualen, wenn man in einem Briefe, den er an seinen Vater diktierte, liest, daß ein Arzt ihn mit verbundenen Augen das Pferd besteigen und im Trab reiten ließ: »damit das Metallstück im Auge in Bewegung gerät und herauseitert«. Nach zweijähriger Behandlung war er soweit als eben möglich hergestellt. Aber er blieb doch leidend; das Auge war gerettet, aber die Sehkraft sehr geschwächt, und nur mit Hilfe eines Apparates konnte er sich seiner rechten Hand bedienen. Kaiser Nikolaus I. hatte ihm das St. Georgs-Kreuz zugedacht, und, um ihm seine Hochachtung zu bezeugen, schickte er ihm jenes Ordenskreuz, welches Alexander I. getragen hatte. Im Jahre 1856 wurde Graf Orloff zum General à la Suite Seiner Majestät befördert; aber seine militärische Karriere war dennoch zu Ende. Er erhielt Urlaub auf unbestimmte Zeit, um sich im Ausland von den Folgen seiner Verwundungen zu erholen. Als Graf Nikolai Alexejewitsch in den Staatsdienst eingetreten war, schien ihm die Zukunft zu lächeln; die hohe Stellung, die sein Vater im Kaiserreich einnahm, das Vermögen der Familie Orloff, alles schien ihn zu den größten Hoffnungen zu berechtigen. Einer aus anderem Stoffe hätte sich dadurch den Kopf verdrehen lassen, wäre vielleicht ein eitler, leerer Mensch geworden, – ein junger Offizier, wie er typisch für ein Gardekavallerie-Regiment ist, ein Säbelraßler, Trinker und Lebemann. Davor hatte ihn die strenge Erziehung seines Vaters bewahrt, dessen ganzes Wesen in dem Worte ›Dienst‹ beschlossen lag; dem Zaren und dem Vaterlande zu dienen gemäß dem Wahlspruch der Familie – fortitudo et constantia – unter völliger Selbstverleugnung, ohne Zögern bis zum Tode, das bedeutete ihm alles. Streng war die Disziplin, welche Graf Alexis seinem Sohne auferlegte: wegen eines Jugendstreiches weigerte er sich einmal monatelang, den Jungen zu sehen oder mit ihm zu sprechen, und erst als Nikolai die Uniform der Gardekavallerie empfing, söhnte sich sein Vater mit ihm aus. »Mein Wohltäter, der Kaiser, hat Dich für würdig befunden, seine Uniform zu tragen, also bist Du in meinem Herzen rehabilitiert«, sprach er zu ihm. Der italienische Maler Dusi hat diese Episode auf einem reizenden Bildchen festgehalten, welches ganz von der Atmosphäre der Zeit Nikolaus' I. erfüllt ist. Tiefes Pflichtgefühl und das Bewußtsein, daß von denen, denen viel gegeben wurde, auch viel gefordert wird, ist stets die Basis von Nikolai Alexejewitschs ganzem Charakter geblieben. Und da er mit großen Fähigkeiten begabt war, intelligent und klaren Geistes, nahm die Erfüllung seiner Pflicht gegen Herrscher und Vaterland nicht die Form einer blinden Servilität an, sondern die einer vernünftigen Betätigung, welche ihm den Respekt und die Achtung aller, die ihm nahe standen, eintrug.

Ich besitze umfangreiche Sammlungen der Korrespondenz des Grafen (seit 1856 Fürsten) Nikolai Alexejewitsch Orloff, meines Großvaters, von seiner Jugend bis zu seinem Tode. Es ist mir gelungen, Zeugnisse und Erinnerungen von vielen seiner Bekannten zusammenzubringen. Aus all diesen Berichten tritt seine Persönlichkeit klar hervor, und es ist unbezweifelbar, daß er außergewöhnlichen persönlichen Charme besaß, dem jeder unterlag, der sich ihm näherte. Alles stimmte darin überein, daß er ein Mann von edlem Herzen, von seltener Geradheit und doch Sanftheit des Charakters war, von so herzlicher und einfacher Umgangsart, daß man sich schon nach den ersten Worten von ihm eingenommen fühlte. Alle Welt liebte und schätzte ihn. Der Kreis seiner Beziehungen in Rußland war sehr ausgedehnt, denn er interessierte sich lebhaft für die geistige Bewegung, die sich am Ende der Regierungszeit Nikolaus' I. entwickelte, und nahm teil an den Reformen Alexanders II. Er stand mit den Schriftstellern und Historikern, die sich in Moskau um den Publizisten Katkoff sammelten, in engem Kontakt; er selbst hat Arbeiten über soziale Fragen veröffentlicht: zur Abschaffung der Körperstrafen, gegen die Verfolgungen der religiösen Sekte der Altgläubigen und über die Strafhandhabung. Bei der kaiserlichen Familie war er sehr beliebt. Er hatte dort den Spitznamen »Orlik«, d. h. der junge Adler, und war besonders befreundet mit dem Erbgroßfürsten Nikolai Alexandrowitsch und dessen Bruder, dem Großfürsten Alexander Alexandrowitsch, dem zukünftigen Kaiser Alexander III. Alexander II. bezeugte ihm ein ganz ungewöhnliches Vertrauen, als er ihn im Jahre 1857 nach Darmstadt kommen ließ, und ihn bat, der Vertraute und Führer des Thronerben Nikolai Alexandrowitsch zu werden. »Sage ihm alles frei heraus, was Du über unsere Politik denkst, selbst wenn es in Gegensatz zur Regierung oder meinen Maßnahmen steht«, sagte der Zar zu ihm. Und nach dem Briefwechsel zwischen dem Thronfolger und meinem Großvater sieht es so aus, als ob die Freundschaft, die sie verband, vielleicht manches an der russischen Geschichte hätte ändern können, wenn der Großfürst lange genug gelebt hätte, um den Thron zu besteigen; unglücklicherweise raffte ihn die Tuberkulose im Jahre 1865 hinweg.

Die bei Silistria empfangenen Wunden verändern das Leben Nikolais von Grund auf. Von einer Wiederaufnahme des aktiven Militärdienstes kann nicht mehr die Rede sein und auch dem harten russischen Winter ist seine Gesundheit nicht mehr gewachsen. Schon in den ersten Wochen nach seiner Verwundung quält ihn der Gedanke, daß er nun nicht mehr imstande sei, dem Kaiser und dem Vaterland zu dienen. Er klagt nicht über seine fürchterlichen Leiden, im Gegenteil, er schreibt seinem Vater, daß er sich freue, noch so gut davon gekommen zu sein. »Ich werde, wie ich hoffe, nicht vollkommen blind sein und danke Gott dafür.« Was ihn schreckt, ist nur die Aussicht, ein Invalide zu bleiben und unfähig, sich nützlich zu erweisen. Sein Vater tröstet ihn, indem er ihm schreibt, daß er alle seine Gedanken nur auf seine Heilung richten möge und daß sich nach seiner Wiederherstellung schon ein geeigneter Posten für ihn finden werde. So wandert er von Badeort zu Badeort, von Arzt zu Arzt, und im Jahre 1856 fühlt er sich schon stark genug, um nach einer neuen Stelle zu verlangen. Er spricht bereits davon, vielleicht zur Diplomatie übergehen zu wollen, einen Posten in einem milden Klima anzutreten, wo er sich völlig wieder erholen und dabei doch von Nutzen sein könne. Seine Eltern billigen diese Absicht; nur muß man, wie sein Vater ihm schreibt, eben auf etwas Geeignetes warten, und zunächst bietet sich diese Gelegenheit nicht. Außerdem hätten ihn seine Eltern vor seinem Eintritt in die Diplomatie gerne verheiratet gesehen. Sie haben schon eine Braut für ihn in Aussicht, die sehr reiche Comtesse Panin. Aber der Gedanke einer Geldheirat stößt ihn ab, und da die vorgeschlagene Braut ihn nicht anzieht, weist er diesen Plan entschieden zurück. Nun verbringt er mehrere Monate in Paris, wo die Behandlung des Dr. Labadie-Lagrave ihm sehr gut bekommt. Und während dieses Aufenthaltes lernt er die junge Prinzessin Katharina Trubetzkoi kennen, die großen Eindruck auf ihn macht.

Prinzessin Katharina, geboren im Jahre 1840, war die einzige Tochter des Fürsten Nikolaus Trubetzkoi und seiner Gattin, der geborenen Gräfin Anna Gudowitsch. Die Annahme mancher deutschen Autoren, daß die Fürstin Anna Trubetzkoi eine Deutsche aus dem Hause der Fürsten von Sagan gewesen sei, ist irrig. Die Trubetzkoi wohnten in der Umgebung von Fontainebleau, im Schlosse Bellefontaine, das der Fürst gekauft hatte; denn da er zum Katholizismus übergetreten war, was in der Zeit Nikolaus' I. nicht gern gesehen wurde, mußte er im Ausland leben. Fürst Trubetzkoi war ein tiefgläubiger Mann und interessierte sich nur für religiöse Fragen; dabei vernachlässigte er seine Besitzungen in Rußland, die er den Händen von Intendanten überließ. Die Fürstin Anna aber war im Gegensatze zu ihm Atheistin; sie litt an einer Nervenkrankheit und bildete sich ein, nur mit Schwierigkeiten gehen zu können. Sie verbrachte ihre Tage auf der Chaiselongue, und mein Vater hat mir oft von dem Schrecken erzählt, den er eines Tages als Kind bekam, als er unversehens in das Zimmer seiner angeblich lahmen Großmutter eintrat und sie ohne weiteres umhergehen sah. Im übrigen war die Fürstin Anna eine intelligente und belesene Frau. In ihrem Salon trafen sich alle berühmten Schriftsteller der Zeit, sowohl Russen wie Ausländer. Lamartine, Turgenjeff und Alexis Tolstoi waren in Bellefontaine wohlbekannt, und bestimmte Anzeichen machen es mir wahrscheinlich, daß Turgenjeff eine Neigung für die junge Prinzessin Katharina empfand.

Diese war in Frankreich, aber in der orthodoxen Religion aufgewachsen. Sie war schön und reizend und ihre Erziehung vorzüglich. Sie sprach ausgezeichnet Englisch, Deutsch und Französisch; die Sprache, die sie am wenigsten beherrschte, war das Russische, denn sie war noch niemals in Rußland gewesen und hatte nur selten Gelegenheit, ihre Muttersprache zu üben. Intelligent und geistreich, kannte sie die ausländischen Literaturen genau. Sie hatte ein musikalisches Talent, welches das Mittelmaß weit überstieg, und nahm mit Ernst und Eifer Klavierunterricht bei dem bekannten Meister Alcan; sie galt als wirklich gute Pianistin und hatte sich außerdem mit dem Studium der Harmonielehre und Komposition befaßt. Sie war sehr gläubig, aber ohne Bigotterie oder Fanatismus. Ihr Charakter war äußerst sanft und heiter, sie konnte auch sehr ausgelassen sein, denn sie hatte viel Humor. Sie besaß eine gewisse Dosis Empfindsamkeit und Romantik, und die liebenswürdige Persönlichkeit dieses jungen Fürsten Orloff, der von einer Aureole des Heroismus und des Leidens umgeben war, übte eine große Anziehungskraft auf sie aus. Er ist so charmant, daß die schwarze Binde, welche die leere Augenhöhle verbirgt, wie eine Auszeichnung mehr in diesem edlen Gesichte wirkt, dem das Leiden einen Zug sanfter Resignation aufgeprägt hat, der sich in einem guten und anziehenden Lächeln widerspiegelt. Überall, wohin er kommt, zieht der Fürst durch seine schöne Erscheinung die Aufmerksamkeit und die Sympathie aller auf sich, und die Prinzessin Katharina verliebt sich in ihn.

Im Juni 1857 schreibt Fürst Nikolai an seinen Vater: »Es wäre vielleicht übertrieben, wenn ich sagen wollte, daß ich die Prinzessin Katharina Trubetzkoi liebe; aber ich muß sagen, daß sie mir unendlich gefällt und daß ich Gelegenheit suchen werde, sie näher kennen zu lernen. Ihr Äußeres ist reizend, ihre Erziehung vollendet, sie ist die einzige Tochter und in unserer Religion aufgewachsen, der Priester der russischen Kirche in Paris ist ihr Beichtvater. Was ihr Vermögen anbetrifft, so weiß ich nichts davon ... ich bitte Sie um die Erlaubnis, diese Sache überlegen zu dürfen.« Die Fürstin Anna Trubetzkoi ist sich ganz klar darüber, daß ihre Tochter in den Fürsten Orloff ernstlich verliebt ist; sie fürchtet sogar, die Dinge könnten sich übereilt entwickeln. Daher führt sie, wie der Fürst seinem Vater berichtet, eine Unterredung mit ihm herbei: »Sie hat mir gesagt, ... daß sie weder mich noch ihre Tochter durch eine vorzeitige Verlobung zu binden wünsche, daß sie die Zuneigung ihrer Tochter für mich bemerkt habe, daß aber dies Gefühl auch nur der Eitelkeit entspringen könne, und daß sie mich daher bäte, nicht als Bewerber, sondern als Freund zu kommen, da sie die Gefühle ihrer Tochter, die in diesem Winter viel ausgehen und viele Leute kennen lernen wird, erst prüfen müsse; sie habe die Sache schon in der letzten Saison gemerkt, aber ihre Tochter absichtlich gehindert, mir zu oft zu begegnen, aus Furcht, sie möge mir zu sehr entgegenkommen.« Doch im Juli 1857 hat Fürst Nikolai schon seine Entscheidung getroffen und teilt sie dem Vater mit, um seine Erlaubnis zu dem förmlichen Heiratsantrag zu erhalten: »Zur Ehe bedarf es einer gegenseitigen Unabhängigkeit, die auf einem ausreichenden Vermögensstand gegründet ist; wenn im übrigen meine Entscheidung nicht das Resultat einer unbesonnenen Verliebtheit ist, so ist sie noch viel weniger die Folge einer pekuniären Berechnung. Sie ist das Ergebnis einer wahren, liebenden Sympathie, die, falls sie von ihr geteilt wird, das Pfand eines echten und dauerhaften Glückes ist, dessen bin ich gewiß ... Die junge Prinzessin wird Ihrer Zuneigung würdig sein, sie könnte sich wohl zu einer der vollendetsten Frauen unserer Zeit entwickeln.« Einen Monat später hat sich sein Gefühl noch weiter entfaltet, jetzt ist sein Herz ergriffen, er liebt die Prinzessin Katharina: »Das Mädchen ist entzückend, voller Geist und Heiterkeit, von einer Einfachheit und Vornehmheit, wie ich es nur selten gesehen habe. Es ist schwer, sich ihr zu nähern, ohne sie zu bewundern und zu lieben, und ich befinde mich völlig im letzteren Fall ... Manchmal ergreift mich die Furcht, daß es egoistisch sein könnte, ein so vollkommenes Wesen an die Existenz eines Invaliden zu fesseln.« Anfang November wird die Verlobung öffentlich bekannt gegeben. Die Hochzeit findet am 14. Mai 1858 zu Paris in der russischen Kirche statt. Der alte Fürst Orloff kommt aus Petersburg, um ihr beizuwohnen, und bringt den Segen und die Glückwünsche Kaiser Alexanders II. mit.

Siehe Bildunterschrift

Bildnis des Fürsten Nikolai Orloff mit seinen Eltern

Der Übergang des Fürsten Nikolai in den diplomatischen Dienst wird vom Zaren gebilligt, es handelt sich nur noch darum, einen freien Posten für ihn zu finden. Zunächst ist von Lissabon die Rede, aber das zerschlägt sich wieder; endlich im Jahre 1859 kommt seine Ernennung zum russischen Gesandten in Brüssel zustande. Anfang 1860 überreicht er dem belgischen König sein Beglaubigungsschreiben, und im selben Jahre noch geht er nach Petersburg, um sich mit seiner jungen Gattin bei Hofe vorzustellen. Zum erstenmal seit seiner Verwundung bei Silistria kehrt er nach Rußland zurück; Fürstin Katharina aber hat ihre Heimat überhaupt noch nie zuvor gesehen. Das junge Paar läßt sich dann in Brüssel nieder, ist jedoch oft auf Reisen. Die Fürstin besucht häufig ihre Eltern in Bellefontaine, und da die Gesundheit ihres Gatten Meerbäder verlangt, sieht man sie im Sommer und im Herbst oft am Strande von Trouville und von Biarritz. Eine zärtliche Liebe vereinigt die beiden. Wenn die Prinzessin nicht bei ihm ist – denn von Zeit zu Zeit muß er nach Rußland, wo er besonders seit der Krankheit und dem Tode seines Vaters auch viel mit den Besitzungen zu tun hat schreibt sie ihm fast alle Tage. Und diese Briefe sind voller Anbetung für ihn, außer ihm existiert nichts für sie, sie ist nur glücklich, wenn sie mit ihm zusammen ist, und zählt ungeduldig die Tage bis zu seiner Rückkehr. Nur ein Schatten liegt auf ihrem Glück: es scheint, daß sie ihrem Gatten niemals Kinder schenken werde, und dieses Gefühl ist, wie sie in ihren Briefen klagt, furchtbar für sie. Im Sommer des Jahres 1862 ist sie einmal so verzweifelt, daß sie schreibt: »Ich sage mir, daß mir das Schicksal, falls ich nicht selbst Mutter werde, eines Tages zum Troste ein Kind in die Arme legen wird, das ich adoptieren kann und durch das ich die Mutterfreuden kennen lernen werde.«

Im selben Sommer 1862 beschließen sie, einige Wochen in Biarritz zu verbringen. Später wollen sie der Mutter des Fürsten einen Besuch in Italien abstatten, denn diese hat sich seit einigen Jahren in Florenz niedergelassen und einen Palazzo dort gekauft. Der Zufall will, daß die jungen Orloffs im Hotel de l'Europe absteigen und daselbst Seiner Exzellenz dem Herrn von Bismarck-Schönhausen, dem preußischen Gesandten in Paris, begegnen, der auch dort wohnt.


Quellenachweise

1. Briefe an Braut und Gattin S. 427

2. Gedanken und Erinnerungen S. 233

3. Ebenda S. 236

4. Briefe an Braut und Gattin S. 434

5. Ebenda S. 435

6. Gedanken und Erinnerungen S. 239-241

7. Briefe an Braut und Gattin S. 332

8. Ebenda S. 428

9. Ebenda S. 436/437

10. Ebenda S. 437

11. Ebenda S. 438

12. Ebenda S. 439

13. Ebenda S. 441

14. Ebenda S. 442

15. Ebenda S. 443

16. Ebenda S. 444

17. Ebenda S. 319

18. Ebenda S. 445

19. Ebenda S. 346


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