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Jugend und Reife

Die Quellenachweise der Zitate [Zahl] befinden sich am Ende des Kapitels. Re. Für Gutenberg

Während seines ersten Aufenthaltes in Biarritz, im Sommer 1862, wurde Bismarck mit dem Fürsten Nikolai Orloff und seiner Gattin, der Fürstin Katharina, näher vertraut.

Dieses Jahr 1862 ist ein Markstein, ein entscheidender Wendepunkt in Bismarcks Leben: er wird auf den Posten des leitenden Ministers berufen, wird damit Herr der Geschicke Deutschlands und beginnt sich zu der großen politischen Gestalt Europas zu entwickeln. In diesem Zeitpunkt ist er 47 Jahre alt; die Hälfte seines Lebens liegt schon hinter ihm, aber er steht erst an der Schwelle seiner Laufbahn, oder wenigstens jenes Teiles, dem er seinen Platz in der Geschichte verdankt.

Die Photographien aus dieser Zeit zeigen Bismarck als einen Mann auf der Höhe seiner Kraft, von athletischem Körperbau, den das Alter noch nicht schwerfällig gemacht hat. Der Kopf ist fein geformt und erscheint ein wenig zu klein für die breiten Schultern. Der überwältigenden Maske dieses Antlitzes, die mit den buschigen Brauen auf den vorspringenden Augenbögen etwas Gewaltsames hat, ist hohe Energie eingeprägt. Doch wird der ganze Ausdruck durch ein leichtes ironisches Lächeln gemildert, das um die Mundwinkel zu schweben scheint und sich im Blick der großen blauen Augen widerspiegelt, einem Blick, der ebenso ernst wie scharf und durchdringend zu glänzen, als auch sich vage und undurchdringlich zu verschleiern vermag. Alles in allem eine auffallende Erscheinung, der es weder an Haltung noch an Wirkung gebricht.

Die psychologische Seite ist nicht weniger eindrucksvoll. Dieser Mann hat eine vielfach zusammengesetzte Natur. Er sagt selbst, daß sich mehrere Seelen in ihm streiten, und es ist schwierig zu entscheiden, welche die vorherrschende ist.

Vor allem ist er Aristokrat: er kann sein Geschlecht bis über das 12. Jahrhundert hinaus zurückverfolgen, und er ist stolz darauf. Es ist eine Aristokratie besonderer Art, der er angehört, nämlich die der sächsischen Kolonisatoren, welche über die Nordmark auf dem linken Ufer der Elbe vordrangen, um sich dann auf dem rechten Ufer auszubreiten. Hartnäckig haben sie im Laufe der Jahrhunderte ihre Besitzungen und Rechte vor aller Welt verteidigt, zuerst gegen die slawische Bevölkerung, später gegen die Einmischung der Königsgewalt. Eine rauhe Rasse, treue Vasallen, aber auch Frondeure, wilde Krieger, die von der Kaiserzeit an bis zu den Kriegen Friedrichs des Großen und den Freiheitskriegen von 1813–1815 Leben und Blut für ihre Könige ließen. Ein erdhafter Adel, der wenig Sinn hat für die Kunst und ähnliche Dinge, dafür aber durch seine Ländereien und seine Waldungen tief mit der Scholle verhaftet ist. Der Wald mit dem feudalen Vorrecht, das zu ihm gehört, der Jagd, ist eng mit ihrer Existenz verbunden; er ist ihr eifersüchtig gehütetes Erbteil. Von seinen Ahnen hat Bismarck die tiefe Liebe zur Natur, zu den Dingen der Erde und zum Wald. Kraft eines eingeborenen Sinnes versteht und kennt er die Natur. Er hat einmal gesagt: »Ein Mensch, der die Natur nicht liebt, ist mir eine Enttäuschung, fast mißtraue ich ihm.« [1] Immer steht für ihn die Natur im Vordergrund, und in die kleinen Kalender der Brüdergemeinde, welche die religiösen Texte für seine tägliche Lektüre enthalten, schreibt er von Tag zu Tag seine Beobachtungen auf: Jeglichen Wechsel in der Natur verzeichnet er da, die jeweilige Witterung, die Temperatur, den Stand des Wachstums und der Ernte, den Verlauf der Feldarbeiten, das Erscheinen der ersten Frühlingsanzeichen wie des ersten Schnees, den Fall der ersten Blätter, die ersten Fröste, die Ankunft oder die Abreise der Zugvögel, den Sang der Nachtigallen und der Amseln. Selbst in der Stadt bleibt er stets in Fühlung mit der Natur und beschäftigt sich immer mit ihr. Doch ist er nicht nur Beobachter, er erfaßt die Natur auch mit dichterischem Sinn, seine Briefe sind voll von Beschreibungen, die wahre kleine Meisterstücke sind. Immer wieder kehrt er, um eine Zuflucht, einen Trost in den Mühen des Lebens zu finden, zur Natur zurück, besonders zum Walde, der sein Tempel und sein Heiligtum ist. Tief in ihm verankert ruht der Kult der Bäume – sie sind seine Freunde, »Ahnen« nennt er sie. Und es ist keineswegs nur ein absonderlicher Einfall, wenn er einmal sagt, daß er es lieber hätte, wenn sein Leichnam dereinst, statt in der Erde begraben, an den Wipfel einer Eiche gebunden würde, wie es bei manchen Naturvölkern geschieht. In seine Wälder kehrt er auch am Ende seiner Tage zurück, und er verbringt seine Zeit damit, sie zu durchstreifen und die geliebten Bäume vor der Axt des Försters zu hüten. Von dieser Liebe zur Natur kommt auch seine Leidenschaft für die Jagd, die dem Deutschen nicht bloß Erlegung des Wildes bedeutet, sondern eine Kunst, die tiefe Kenntnis aller Naturdinge und innige Anteilnahme an ihnen zur Voraussetzung hat. Mit voller Überzeugung sagt Bismarck zu Keudell, dem Freunde der Familie: »Das Jägerleben ist eigentlich das dem Menschen natürliche.« [2]

Man begreift, daß dieser Mann tiefe Abneigung gegen die Bürokratie und die »ledernen Sitzkissen« hat. Bei der Verwaltung seiner Güter gerät er mit den Verwaltungsbeamten und dem Fiskus fortwährend in Konflikt; er verachtet den »streitsüchtigen Professor« ebenso wie den »von Aktenstaub und Paragraphen lebenden Juristen«. Er selbst braucht körperliche Bewegung und frische Luft: er ist ein gewaltiger Schwimmer, ein glänzender Schütze und hervorragender Reiter. Und wenn ihn seine Laufbahn an den Schreibtisch zwingt, sucht er zu entrinnen, so oft er die Möglichkeit hat. Bei all dem ist er aber ein Mann von hoher Bildung. Er ist enorm belesen, und seine geniale Intelligenz hat Gewinn aus dieser Lektüre gezogen. Er spricht sechs Sprachen mehr oder weniger gut, und es wäre schwer, genau anzugeben, wo er sie gelernt hat. Seine Briefe sind überreich an Zitaten aus ausländischen Schriftstellern, besonders englischen. Wiederholte Reisen haben ihm europäischen Schliff verliehen. Er bewegt sich mit Leichtigkeit in der Gesellschaft, ist ein brillanter Causeur – mehr als jeder Pariser, hat die Kaiserin Eugenie von ihm gesagt – und seine Unterhaltung ist geistreich, anziehend und voller Schwung. Dennoch ist er kein Salonmensch. Der eigentliche gesellschaftliche Betrieb ist sein Schrecken, und er beteiligt sich an ihm nur, soweit sein amtliches Leben es erfordert. Er macht sich nichts aus der Etikette, sein Haushalt ist stets mit soliden und bequemen Möbeln ausgestattet, ohne Anspruch auf Eleganz oder künstlerischen Wert; alles atmet die Atmosphäre bürgerlicher Gewichtigkeit. Er sieht gern Menschen bei sich, seine Gastlichkeit ist wieder ganz die des Landedelmannes – voller Zwanglosigkeit und Bonhomie. Der Amerikaner Motley, sein Jugendfreund, hat uns eine Beschreibung des Lebensstils hinterlassen, der in Bismarcks Hause in Frankfurt herrschte und für ihn typisch ist: »Das ist eines der Häuser, wo jeder tut was er mag. ... Die Privaträume sind hinten und gehen auf einen großen Garten. Alles ist da beisammen: Jung und Alt, Großeltern, Kinder, Hunde; hier wird gegessen, getrunken, geraucht, Klavier gespielt, und im Garten wird mit Pistolen geschossen, alles zu gleicher Zeit. Es ist ein Haus, wo alles angeboten wird, was es überhaupt zu essen und trinken gibt: Portwein, Selterswasser, Bier, Champagner, Burgunder, Bordeaux, alles ist in Reichweite, und die besten Havanas für jedermann.« [3] Sich in die große Welt zu begeben, ist für ihn ein Frondienst, dem er sich stets nur »sehr übellaunig und voll bittrer Betrachtungen über die Sonderbarkeit der geselligen ›Vergnügungen‹ in der europäischen Welt« [4] unterzieht. Jedoch ist Bismarck keineswegs der Mann, der ein saloppes Sichgehenlassen begünstigt hätte. Im Gegenteil, seine persönlichen Ansprüche sind sehr hoch: alle seine Sachen, alles, was er im Gebrauch hat – seine Kleider, Wäsche, sein Tafelsilber, seine Waffen, Wagen, Weine, Zigarren –, all das muß so gut als möglich sein; er duldet nichts Mittelmäßiges. Ebenso ist es mit den Menschen: Leute der guten Gesellschaft hat er gern, sofern es sich um Menschen handelt, mit denen man natürlich und frei, ohne Etikette und mondäne Albernheiten umgehen kann; schlechte Erziehung und Unhöflichkeit sind sein Schrecken. Seine Briefe aus Frankfurt enthalten scharfe Kritiken über die Laxheit, die in gewissen diplomatischen Kreisen herrscht.

Ein Aristokrat des Blutes und des Geistes, das ist Bismarck. Doch seine Aristokratie ist gesund und lebensvoll, denn sie beruht auf den lebendigen Traditionen von Geschlechtern, für die der Zusammenhang mit dem Boden seine ganze Macht behalten hat. Trotz Politik und Diplomatie bewahrt Bismarcks Wesen immer seine ganze Ursprünglichkeit. Wie die Wurzeln der geliebten Bäume, so sind auch Bismarcks Wurzeln tief in die Heimaterde versenkt, und aus ihr schöpft er eine lebendige Kraft, die seinem Geiste die Frische und den ganzen Zauber bewahrt.

Bismarck hat eine bewegte Jugend gehabt, und sein Geist ist durch eine unruhige Entwicklungsperiode hindurchgegangen, die von seiner Jünglingszeit bis ungefähr zu seinem 30. Jahre gedauert hat. Schon in dem Knaben entdeckt man Züge, die einen Charakter von ungewöhnlicher Kraft bekunden. Und die ersten Berührungen dieses Charakters mit der Umwelt, während seiner Universitätsjahre, nehmen kämpferische Formen an. An den Mitgliedern der Burschenschaft mißfielen ihm, so hat er später erzählt, »ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntnis der vorhandenen, historisch gewordnen Lebensverhältnisse beruhte, von denen ich bei meinen 17 Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meisten jener durchschnittlich ältern Studenten: ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung.« [5] Es ist ihm unmöglich, sich diesem Milieu anzugleichen, er wird Korpsstudent, und indem er seinem angeborenen Herrscherwillen freien Lauf läßt, schafft er sich von Anfang an eine Ausnahmestellung. Er zwingt sich allen auf, er erdrückt sie alle mit seiner Persönlichkeit, seiner Kühnheit und seinem Stolz. Er hat in seinem ersten Semester 25 Duelle, die alle siegreich verlaufen, er kleidet sich in einer phantastischen Weise, studiert wenig, gerät wegen seines auffallenden Benehmens einige Male in Konflikt mit den Autoritäten der Universität, trinkt wacker und macht tolle Streiche. So erwirbt er sich den Ruf eines Originals und Waghalses und hebt sich damit von der Masse seiner Kameraden ab. Aber hinter der Mauer, die er um sich errichtet, unter all dieser Unzähmbarkeit spürt man einen Kern, der völlig anders ist; er versteht es, einen kleinen Kreis erwählter Freunde um sich zu scharen, bei denen er ernsthafte Gespräche sucht, über Geschichte, Philosophie und Literatur diskutiert; mit zweien dieser Gruppe – dem Balten Keyserling und dem Amerikaner Motley – knüpft er eine Freundschaft auf Lebenszeit.

Sein junger gärender Geist drängt nach einem Tätigkeitsfeld, und schon in seiner Jugend fühlt er das Richtige voraus: die Diplomatie ist es, die ihn anzieht. Doch um zu ihr zu gelangen, muß man eine Stellung im Staatsdienst erreicht haben. Mit 21 Jahren, nachdem er schlecht und recht die Universität absolviert hat, tritt er in die Verwaltung ein. Zuerst in Berlin, dann bei der Regierung in Aachen. Aber in seiner eingeborenen Abneigung gegen die Bürokratie verachtet er seinen Dienst: In seinen Erinnerungen äußert er sich mit beißendem Spott über die Geistesenge des Durchschnittsbeamten. Das Leben von Aachen trägt dazu bei, ihn seinem Beruf zu entfremden. Denn Aachen ist ein modischer Badeort und zugleich eine Grenzstadt, es ist voll von Fremden, die von den Spielsälen angezogen werden; eine gefährliche Umgebung für diesen jungen Landjunker, der so wenig Geld in der Tasche hat! Hier gibt es Versuchungen von allen Seiten, und mit dem Feuer, mit dem er alles anpackt, stürzt er sich mitten ins Abenteuer hinein. Der Gegenstand seiner ersten großen Leidenschaft ist eine Engländerin, Miß Laura Russell, die Nichte eines Lords. Er ist ganz bezaubert von ihr und denkt gleich an Verlobung. Im folgenden Jahr ein neues Abenteuer, das ernstere Folgen hat: wieder handelt es sich um eine Engländerin, eine bemerkenswerte Schönheit, sie heißt Isabella Loraine und ist die Tochter eines Pfarrers; diesmal gibt es eine Verlobung, und als die Braut nach der Schweiz abreist, hängt Bismarck, nichtachtend der möglichen Folgen, seinen Dienst an den Nagel und fährt mit ihr. Er hat nur wenig Geld; die Versuche, seinen Finanzen durch das Spiel aufzuhelfen, enden damit, daß er das wenige, das er besitzt, verliert, Schulden häufen sich auf Schulden. Als Isabella Loraine ihn einige Monate später in der Schweiz im Stiche läßt, um einen alten, einarmigen, aber mit Renten gesegneten Oberst zu heiraten, ist er zum richtigen verlorenen Sohn geworden und kehrt buchstäblich ohne einen Pfennig ins Vaterhaus zurück.

Den Posten in Aachen nach diesem formlosen Abschied wieder einzunehmen, ist offenbar unmöglich. Er geht also zur Regierung in Potsdam, aber nur für wenige Monate, denn er muß sein Militärjahr vollenden. Dann nimmt er Urlaub aus dem Staatsdienst und reicht schließlich, im Herbst 1839, seinen Abschied ein, um auf das Land zurückzukehren. Er übernimmt mit seinem Bruder die Verwaltung der pommerschen Güter und läßt sich auf Kniephof nieder, der Stätte seiner Kindheit. Sechs Jahre später, nach dem Tode des Vaters, siedelt er nach Schönhausen an der Elbe über. Die Jahre des Landjunkerlebens verstärken die Bindung an die Scholle, und doch erinnert die Kniephofer Zeit in manchem an das Leben auf der Universität. Da gibt es wilde nächtliche Galoppaden auf seinem Lieblingspferd »Caleb« – sie enden ein paarmal mit gefährlichen Stürzen –, gewagte Wetten, lange Sitzungen vom Abend bis zum Morgen um den Tisch, der sich unter dem Gewicht der Flaschen biegt, und Pistolenschüsse in die Zimmerdecke, um die Freunde morgens aus dem Bett zu jagen. Aber obwohl er »der tolle Bismarck« heißt, achten ihn alle seine Freunde, denn all dieser Torheit liegt nichts Tadelnswertes zugrunde, er ist ein Ehrenmann, ist weder ausschweifend noch schamlos, ist auch ein ausgezeichneter Haushalter, der es versteht, in einigen Jahren das gefährdete Besitztum auf die Höhe zu bringen. Die Männer lieben seine Gesellschaft, denn er gilt als Spaßvogel und geistreicher Plauderer, als heiterer und offener Kamerad. Für die pommerschen jungen Damen aber gewinnt dieser originelle junge Kavalier, der beste Schütze und unermüdliche Walzertänzer, einen Reiz mehr durch den Ruf des »Viveur« und des »gefährlichen Mannes«, der ihn umgibt.

In Wirklichkeit beginnt für Bismarck, als er in die Einsamkeit von Kniephof eintritt, eine Periode geistiger Gärung, eine Zeit des Zweifels, der Verwirrung und des Überdrusses. Er liest ungeheuer viel, seine Lektüre umfaßt Geschichte, Staatswissenschaft, Philosophie, Dichtung, er verschlingt alles. Denn seinem drängenden Geist genügt nicht die Arbeit des Gutsherrn. Eine neue Verlobung, mit dem pommerschen Edelfräulein Ottilie von Puttkamer, zerbricht am Widerstande der Mutter seiner Erwählten. Der abermals Enttäuschte, jetzt bitter und resigniert, geht auf Reisen ins Ausland, nach England, Frankreich und in die Schweiz. Nach seiner Rückkehr ergreift ihn der Überdruß in erhöhtem Maß, er träumt von romantischen Reisen nach dem Orient, von Kriegsdienst in Indien sogar; und er macht mit 29 Jahren seinen letzten Versuch, den Verwaltungsdienst wieder aufzunehmen, den er diesmal aber schon nach 14 Tagen wieder aufgibt. Ganz entschieden ist er nicht zum Bürokraten geschaffen, er läßt alles im Stich, indem er beim Verlassen des Büros zu dem verdutzten Portier sagt: »Sagen Sie dem Herrn Oberpräsidenten von mir, ich wäre fortgegangen, aber ich käme auch nicht wieder.«

Wie er den Beruf nicht findet, der ihn ausfüllt, so ringt er lange vergeblich um eine befriedigende Weltanschauung. Den Gottesglauben der Kindheit hat er früh verloren; aber er braucht doch den Glauben an eine höhere Ordnung, die allem menschlichen Tun erst den rechten Sinn verleiht. So führt das Bedürfnis seiner eigenen Natur ihn langsam zum Gottesglauben zurück, unter Kämpfen und Zweifeln. Bei diesem Ringen um inneren Frieden begegnet er einem weiblichen Wesen, das anders und tiefer als alle früheren auf sein Inneres wirkt.

Einer seiner Kameraden aus der Kindheit, Moritz von Blanckenburg, ist mit einem jungen Mädchen verlobt, mit Marie von Thadden, die auch Bismarck in seiner Kindheit gekannt hat. Die Welt, der diese beiden angehören, ist sehr verschieden von der Bismarcks. Sie sind Pietisten, religiöse Träumer, ein bißchen naiv und exaltiert. Blanckenburgs Vetter, Roon, sagt von Marie von Thadden, daß sie immer auf Superlativen herumklettere. Sie ist auch schön, vor allem aber ist sie eine übersensible und hochgespannte Natur. Zusammen mit ihrem Verlobten versucht sie, Bismarck zu bekehren und diese »verlorene Seele« auf den Weg des Heils zurückzuführen. Zwischen Bismarck und ihr stellt sich schnell eine tiefe, gefühlvolle Freundschaft ein; es ist sogar wahrscheinlich, daß sie für ihn mehr als bloße Freundschaft empfindet.

Seltsam ist diese Verbindung zweier so verschiedenen Mentalitäten, der hochgespannten Mystik Mariens und der rationalistischen Skepsis Bismarcks. Zu dem Einfluß Mariens kommt ein Anderes hinzu: »... Ich sah, daß die Angehörigen dieses Kreises, in ihren äußeren Werken, fast durchgehends Vorbilder dessen waren, was ich zu sein wünschte. Daß Zuversicht und Friede bei ihnen wohnte, war mir nicht überraschend; denn daß diese Begleiter des Glaubens seien, hatte ich nie bezweifelt, aber der Glaube läßt sich nicht geben und nehmen, und ich meinte, in Ergebung abwarten zu müssen, ob er mir werden würde ...« [6] Es hat Bismarck also eingeleuchtet, daß er, wenn er diesen Glauben annimmt, des Seelenfriedens teilhaftig werden wird, den er so nötig hat. Es ist eine praktische Lösung; aber sie zu der seinigen zu machen, fehlt ihm noch die Überzeugung, der Glaube. Und die Offenbarung wird ihm zuteil.

Marie von Thadden, nun Marie von Blanckenburg, hat ihre Verheiratung kaum zwei Jahre überlebt: sie wird nach kurzer Krankheit von einer Gehirnentzündung hinweggerafft. Dieser Tod macht auf Bismarck einen erschütternden Eindruck. Zum erstenmal seit seiner Kindheit hat er gebetet um das Leben seiner Freundin. Und als sie dennoch stirbt, sagt Bismarck zu dem Gatten der Hingegangenen: »Das ist das erste Herz, das ich verliere, von dem ich wirklich weiß, daß es warm für mich schlug: jetzt glaube ich an eine Ewigkeit!« Die Haltung der Angehörigen der Verstorbenen macht tiefen Eindruck auf ihn: sie klagen nicht, sie sehen in diesem Tode nur den Heimgang in ein Land, wo sie sich alle eines Tages wiederfinden werden. Jetzt ist auch in seiner Seele der Glaube lebendig geworden; und jetzt wird er ihn für sein ganzes Leben bewahren. Es ist ein Glaube, der weit von dem hochgespannten Mystizismus Mariens entfernt ist, doch ein willensmäßiger und darum um so stärkerer Glaube.

Einzig der Glaube an die Ewigkeit und an Gott ist imstande, ihm auch den Glauben an einen höheren Sinn des menschlichen Lebens zu geben. Und nur diese Gewißheit ist ihm eine tragfähige Grundlage des Sittengesetzes. Für Bismarck verschmilzt Irdisches und Göttliches in einer einzigen Welt: Gott ist allgegenwärtig, und seine Gesetze regieren alles. Nur indem man diese Gesetze als Basis des eigenen Handelns anerkennt, kann man Nützliches schaffen, auch in der Politik. Einmal im Alter liegt Bismarck auf seiner Chaiselongue, raucht und liest die Zeitungen. Seine Schwiegertochter, die Gräfin Wilhelm Bismarck, ist bei ihm. Plötzlich läßt er seine Zeitungen fallen und sagt: »Kind, Politik ist keine Wissenschaft!« – Sie antwortet: »Politik ist wohl mehr Gefühlssache, wenn Du auch nie sentimentale Politik gemacht hast.« – Schweigen. – Einige Pfeifenzüge. Und plötzlich die wunderbare Deutung: »Politik ist, daß man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, einen Zipfel seines Mantels zu fassen.« [7]

Ein andermal, als man ihn zu politischen Erfolgen beglückwünscht, meint er: »Ich will Ihnen etwas sagen: ich bin froh, wenn ich merke, wo unser Herrgott hin will, und wenn ich dann nachhumpeln kann.« [8] Das ist Bismarcks Glaube. Ganz gewiß ist er weder orthodox noch dogmatisch, noch fanatisch. Es ist ein ganz persönlicher Glaube. Ein Autor hat ihn gut definiert, indem er sagt, daß Bismarck nur gerade so viel von den Schätzen des Glaubens an sich genommen habe, als er brauchte, um damit der Verwirrung und der Leere des Lebens ohne Gott, das er durchgemacht hatte, zu entgehen. Und manchmal stellt er in der Tat recht hintergründige Betrachtungen an, so wenn er eines Tages sagt: »Ich habe eben oft das Gefühl, daß unser Schöpfer und Herr nicht immer alles selbst tut, sondern die Führung gewisser Gebiete anderen, seinen Ministern und Beamten überläßt, die dann Dummheiten machen. Sehen Sie, wie unvollkommen wir sind! Und darauf sollte gleich Gott selbst kommen? Das glaube ich nicht.« [9] Aber sein Glaube ist beständig gegenwärtig von der Zeit seiner Verlobung und Heirat an bis zu seinem Tode. Man lese seine Briefe, und man wird fast auf jeder Seite den niemals abreißenden Faden seiner Überzeugung von der Existenz Gottes wiederfinden! Man prüfe daraufhin seine Andachtsbücher und seine Hausbibel nach, in denen er die Stellen unterstreicht, die ihm besonders anwendbar auf den Tagesverlauf oder auf seine seelische Verfassung scheinen; man denke an seine Reden und Gespräche! Überall, auf Schritt und Tritt, wird man dem Ausdruck seines Gottesglaubens begegnen, dem Bestreben, Seine Gesetze und Seinen Willen zu erkennen und sich ihnen anzugleichen. ...

Und man erinnere sich auch der Worte, die er – wohl als sein letztes Gebet – einige Wochen vor seinem Tode gesprochen hat: »O Gott, nimm mein schweres Leiden von mir oder nimm mich auf in Dein himmlisches Reich. Behüte meine Geliebten und behüte auch mein Land und laß es nicht verloren gehen!« [10]

Gott, seine Nächsten und sein Vaterland: die Summe seines Lebens!


Quellennachweise.

1. A. O. Meyer, Bismarcks Glaube S. 17

2. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck S. 89

3. J. L. Motley, The Correspondence, Bd. I S. 177

4. Briefe an Braut und Gattin S. 290

5. Gedanken und Erinnerungen S. 39

6. Briefe an Braut und Gattin S. 3

7. A. O. Meyer, Bismarcks Glaube S. 64

8. Ebenda S. 7

9. Gesammelte Werke, Bd. IX S. 324

10. A. O. Meyer, Bismarcks Glaube S. 62


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