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Erstes Kapitel.
Im Sturmjahre zu Berlin.

Wenn man vom Brandenburger Thore unter die Linden tritt und die Neue Wilhelmsstraße auf dem Trottoir zur Linken überschritten hat, trifft man zwischen dem Ministerium des Innern und der Schadowstraße (jetzt dem Aquarium) ein Privathaus, das sich dadurch auszeichnet, daß es keine Läden im Parterre hat. Ein hoher eichengeschnitzter Thorweg schließt das Haus; der zur Portierwohnung führende Zug ist von Porzellan und trägt den Namen »Baron de Hirschstein«. Wurde der Thorweg geöffnet, so fand man sich auf einer großen Hausflur, über welche ein in Eichquadern gemauerter Fuhrweg zu den Remisen und Ställen im Hofraume führte. Rechts stieg man zwei Stufen von schwarz-weißcarrirtem Marmor zu einem Perron empor, welcher vor den Wohnungen der Dienstleute herlief und im schönen Treppenhause ausmündete, das Winter und Sommer mit Blattpflanzen, Blumen und Statuetten geschmückt war. Die Marmortreppen waren mit einem reichgezierten Treppengeländer aus Bronze eingefaßt, am Fuße ragte ein vielarmiger Candelaber mit Glocken von mattem Porzellan empor, der auf der ersten Treppenwendung einen zweiten, beim Eingange in die erste Etage einen dritten Bruder hatte. Die Marmortreppe war mit feinen brüsseler Teppichen belegt, über welchen ein Läufer von Kokosfasern zur Schonung ausgebreitet war. War man durch die Glasthüren in die erste Etage getreten und in das große Empfangszimmer zur Rechten eingeführt, so wurde das Auge unwillkürlich durch eine schöne Landschaft von Andreas Achenbach, Sonnenuntergang am Rhein, gefesselt, die über dem Sofa hing. An der entgegengesetzten Seite sah man neben der Thür, die in das Arbeitscabinet des Barons führte, zwei Porträts, die eines Herrn und einer Dame. Wenn das Porträt zur Linken, wie nicht zu zweifeln war, den Hausherrn vorstellte, so trug es keine Spur von Aehnlichkeit mit seinem Bruder, dem Commerzienrath in Heustedt. Dieser war groß, stark, robust, schwarz, mit großer jüdisch gebogener Nase, glatt rasirt, mit dicken aufgeworfenen Lippen, welche Hang zur Sinnlichkeit andeuteten, feurigen schwarzen Augen. Jenes Porträt dagegen stellte einen feinen Kopf mit beinahe englischem Gesichtsschnitt dar, mit klugen grauen Augen, von sanfter Röthe angehauchtem Gesicht, spärlich blond rothem Haare und einem Cotelettbarte von gleicher Farbe, zwischen dem ein breites Kinn, ein kleiner Mund mit schmalen Lippen, eine schöngeformte Nase voll Selbstbewußtsein der Welt Trotz zu bieten schienen.

Ueber das schwarzsammtene Gilet hing an einem Gummibande ein Lorgnon von Schildpatt; außer einer einfachen goldenen Uhrkette und dem Trauringe trug der Baron keinen Schmuck, im Gegensatze zu seinem Bruder, dessen Hände von Diamant- und Siegelringen prangten und dessen massiv goldene Uhrkette mit einem halben Dutzend allerliebster Nippes, einer Locomotive, einem Kompaß, einem Porträt seiner Frau, einem goldenen Herzen u. dgl. beschwert war.

Die Dame auf der rechten Seite trug ein weißseidenes Atlaskleid und hielt einen Orangeblütenstrauß in der Hand, ihre Schultern waren in eine schwarze Spitzenmantille eingehüllt, welche die Weiße des Nackens und Halses hervorhob. Ihr Gesicht, von langen schwarzen Locken umrahmt, hatte orientalische Züge, es war weder hübsch noch häßlich, ein jugendlich frisches Alltagsgesicht; aber ihre großen braunen, etwas chinesisch zugeschnittenen Augen, mit den schönen Brauen und den langen schwarzen Augenwimpern, hatten eine ungemeine Tiefe und deuteten auf ein sehnsuchtsvolles Gemüth.

Beide Porträts waren von Karl Sohn in Düsseldorf gemalt, wie man an dem Costüm sah vor etwa zwanzig und einigen Jahren, vielleicht vor oder kurz nach der Hochzeit des Paares.

Wenn es wahr ist, daß man daraus, wie jemand wohnt, einen Schluß auf seinen Charakter und Geist machen kann, so wollen wir die Zeit, wo der Hausherr auf der Börse, Mutter und Tochter aber bei Gerson oder in einem andern Laden sind, um Einkäufe zu machen, benutzen, uns die Wohnräume näher anzusehen.

Das Arbeitscabinet des Hausherrn war nicht sehr groß, es hatte nur zwei Fenster nach den Linden hinaus, in der Mitte des Zimmers stand ein großer Schreibtisch von Eichenholz mit reicher Schnitzarbeit, an allen vier Seiten des Schreibtisches hohe eichene Stühle, Rücken und Sitze gepolstert und mit grünem Rips überzogen. Eine Chaiselongue von ähnlichem Stoffe und zwei hohe bequeme Lehnstühle, in deren Mitte ein runder Tisch mit einer grünen Tuchdecke, bildeten hinter dem Kamin eine trauliche Ecke in der Tiefe des Zimmers. An der Hinterwand hingen nur zwei größere Aquarelle, den Löwenhof in der Alhambra in Granada und den Eingang zum Saale der zwei Schwestern in demselben Prachtbau darstellend. Am rechten Fenster der Seite stand ein Stehschreibpult im Stil der Stühle und des Tisches, gegenüber ein eiserner feuerfester Schrank in demselben Stil wie die übrigen Möbel und in Eichenholzfarben.

Auf dem Schreibtische waren englische, französische und deutsche Zeitungen sorgfältig auseinandergefaltet und durch allerlei Briefbeschwerer vor Unordnung bewahrt. Curszettel und andere Papiere lagen wohlgeordnet, jedes auf seinem ihm ein für allemal angewiesenen Platze. Eine Pendule in Bronze, ein Thermometer, ein Tintenfaß und ein Behälter für Federn, alles schien einen bestimmten Platz zu haben. Man sah kein Sandkorn, kein Stäubchen weder auf Tisch noch Papieren, es war dies das Zimmer eines durchaus accuraten und ängstlich auf Ordnung haltenden Geschäftsmannes.

An dieses Geschäftszimmer stieß ein großer parketirter Gesellschaftssalon mit wiener Flügel von Jacarandaholz und gleichen Möbeln, die Wände mit rothen Sammttapeten bekleidet, von denen sich auf der fensterlosen Ostseite drei Porträts, die des Hausherrn, seiner Frau und einer etwa achtzehnjährigen Tochter, in den glänzendsten Goldrahmen hervorhoben. Die Aeltern waren hier um zwanzig Jahre älter als in dem ersten Zimmer, die Tochter ein Ebenbild der Mutter, nur der Haarschmuck war moderner, die Augen noch schmachtender.

Auf der Wandseite nach Westen hing das Bild eines hohen schlanken blonden Ulanenlieutenants, es war der Sohn, welcher sich schon früh zum Cavalier ausgebildet hatte, und da er zu den Geschäften des Vaters keine Neigung zeigte, in das Militär eingetreten war, wo ihm das Geld des Vaters den Weg bahnte.

Neben diesem Empfangssalon befanden sich noch zwei kleine Boudoirs, wie dieser selbst mit niedrigen Causeusen und weichen Fauteuils beinahe überladen.

Der Salon zeigte mehr Pracht als feinen Geschmack, und da er unzweifelhaft seine Anordnung der Hausfrau verdankte, so ließ dies einen Schluß auf ihren Schönheitssinn machen.

Neben dem Salon nach Norden fand sich noch ein achteckiger Speisesaal, pompejanisch decorirt. Die Frauengemächer lagen nach hinten, dem Speisesaale gegenüber in einem Flügel, der sich bis zu dem Garten hinter dem Hause erstreckte. Das Entréezimmer zu den Damengemächern war zugleich Bibliothek und verbarg hinter Glasschränken die Werke deutscher und französischer Classiker, auch englische Bücher nebst unzähligen Gedichtsammlungen in Goldschnitt und reichvergoldeten Einbänden.

Dann folgte das Cabinet der Hausfrau, das mit unzähligen Nippsachen, Statuetten, Büsten, Gipsabgüssen nach antiken und modernen Compositionen überladen war, sodaß man trotz zahlreicher kostbarer Plüschfauteuils, Causeusen, amerikanischer Wiegestühle, nirgends ein gemüthliches Plätzchen fand. An dieses Boudoir stieß ein Musiksalon mit Pianino und Harfe, daran das Boudoir der Tochter vom Hause, der schönen Eva. Es war dies ein reizendes Gemach, ein Halbrundbau mit großen halbrunden, bis zum Fußboden reichenden Fenstern und Thüren. Um diesen Rundbau, der im Westen in einen Nachbargarten hineinragte und nach Norden und Osten in den eigenen Garten, zog sich ein Balkon, von welchem man außer dem Nachbargarten den Garten des Ministeriums des Innern und die Gärten bis zur Dorotheenstraße überschaute. Eine eiserne Wendeltreppe führte zu einer geschmackvollen Veranda und in den Garten hinab. Das Zimmer war mit seegrünem Seidenstoffe, in welchen goldene Sterne eingewirkt waren, tapeziert, dunkelgrüne schwere damastene Vorhänge vor Fenster- und Balkonthüren, neben feingestickten weißen Mullgardinen machten es möglich, dem Zimmer jeden Grad der Helligkeit zu geben. Die Möbeln waren Rococo, die Fauteuils mit grünseidenem Stoff, in welchen bunte Blumenbouquets eingewirkt waren, bezogen. Aber welch malerisches Chaos aus Tischen, Stühlen und Sofas!

Da war kein Sitz leer, hier lag eine angefangene Aquarellzeichnung, dort ein aus dem Musiksalon mit herübergebrachtes Notenheft, ein aufgeschlagenes Album hier, ein Dutzend verschiedener Bücher aus der Bibliothek waren zum Theil auf dem Fußboden herumgeschleudert, wenn sie das Interesse der Leserin nicht mehr hatten fesseln können. Angefangene Stickereien, halbvollendete Briefe, Bleistiftzeichnungen, Schmuckgegenstände, Manschetten, alles wüst durcheinander. Wenn es im Köpfchen der Herrin ebenso wie in diesem Zimmer aussah, wenn sie so sehr im Gegensatze zu der Ordnungsliebe des Vaters lebte, so konnte das Familienverhältniß schwerlich ein glückliches sein. Daß die schöne Eva unbeständig, launisch, veränderlich sei, ließ sich bei dem Anblicke ihres Zimmers nicht in Zweifel ziehen.

Der neugebackene Baron, das sah man aus dem ganzen Hause wie aus jedem einzelnen Zimmer, mußte ein sehr reicher Mann sein; es waren ihm von einem Juwelier für die Benutzung der untern Räume des Hauses zu Läden große Summen geboten, ja er selbst hätte mehr als 1000 Thaler jährlich ersparen können, wenn er das eigene Comptoir von der Königsstraße unter die Linden verlegt hätte, aber es schien ihm unfein, in seinem Privathause ein Geschäft zu treiben, er wollte da nichts von Handel und Wandel, Soll und Haben wissen. Der Baron war der jüngere Bruder des Commerzienraths; während dieser dem Vater beinahe von Kindheit auf in seinem Productengeschäft, Wollhandel und Korneinkäufen, wie im Negocengeschäfte behülflich gewesen und wenig Sinn für Erlernung fremder Sprachen zeigte, hatte jener französisch, holländisch, englisch mit Leichtigkeit erlernt, war einige Jahre in Amsterdam auf einem großen Comptoir, dann über fünf Jahre in London gewesen, wo er sich ganz nach seinem Principal, einem angesehenen Bankier, gebildet und englisches Wesen angenommen hatte.

Nach Deutschland zurückgekehrt, hielt es ihn in Heustedt nur wenige Wochen, er begründete mit dem Vermögen, das er von der Mutter ererbt, und dem, was ihm der Vater vorläufig gab, ein Geschäft in Berlin. Da er seine Sache verstand, ordentlich und solid war, vorläufig nur auf Erwerb ausging, erwarb er sich in kurzer Zeit guten Ruf an der Börse und hatte das Glück, daß sich die schwarzlockige Tochter eines Inhabers von Millionen, die liebesbedürftige Judith Meyer, in ihn verliebte. Er erheirathete mit ihr das Haus unter den Linden und lebte lange Jahre glücklich mit derselben, nur bei dem Heranwachsen der Kinder ergaben sich Unebenheiten in der Ehe. Die Mutter war es, welche von frühester Jugend an die Neigungen des Sohnes auf die bunten Uniformen lenkte, indem sie ihn schon als kleinen Knaben mit einer Husarenuniform beschenkte und immer mit ihm von dem freien schönen Leben eines Offiziers sprach, das Bankgeschäft als etwas nicht Gentlemanlikes darstellend. Dann hatte der Sohn früh, ehe er die deutsche Sprache richtig verstand und das Französische mühsam erlernte, ein Pferd geschenkt bekommen und Reitunterricht erhalten. Als Gymnasiast schon pflog er mit Cavalerieoffizieren Umgang und tractirte dieselben mit Hülfe der Goldfüchse, die ihm die Mutter heimlich zusteckte; der Vater konnte ihn auf dem Comptoir nicht gebrauchen, er verstand weder zu rechnen, noch hatte er Sinn für Staatspapiere, Actien, Curse.

Die Tochter ärgerte den Vater durch ihr unordentliches, flüchtiges Wesen, und er zankte mit der Mutter, daß sie Eva nicht zur Ordnung und Beständigkeit gewöhnen könne. Aber Judith war schwach gegen die Kinder, gegen ihr Ebenbild erst recht schwach.

Hirschsohn war schon ein gemachter Mann, ehe sein Schwiegervater verstarb und der Tochter ein Vermögen hinterließ, das man auf mehr als eine Million anschlug; seitdem rechnete man ihn auf der Börse zu den Sternen dritter Größe, aber in gewisser Beziehung war und blieb er Börsenkönig. Es gab auf der ganzen Börse keinen schweigsamern Mann als unsern Hirschsohn, er sprach selten auch nur ein Wort. Er saß steif und stumm an seinem Platze in der alten Börse neben dem Dom im Lustgarten, klemmte dann und wann das Lorgnon zwischen seine Augen und betrachtete sich das Gewühl. Es drängte sich eine Masse Agenten, Makler, Anfänger im Geschäft regelmäßig um seinen Platz und überhäuften ihn entweder mit Anerbietungen oder wollten kaufen. Er fertigte sie mit Augenblinzeln oder Schütteln mit dem Kopfe ab; machte man ihm aber ein annehmliches Gebot, so nickte er, zog das Notizbuch aus der Tasche und merkte sich den Verkauf. Wollte er im Laufe der Börse kaufen, so winkte er mit den Augen einen der immer bereit stehenden Agenten herbei, riß ein Blatt aus dem Notizbuche und notirte seinen Auftrag kurz und bündig. Entfernte sich dann der Agent zu einem andern Platze, um einen Verkäufer aufzusuchen, so konnte man sicher sein, daß ein Dutzend Judenjünglinge dem Agenten folgten und zu erforschen suchten, zu welchem Curse Hirschsohn kaufe. Ein solcher Kauf hob für das betreffende Papier den Curs sofort in der Börsenmeinung um ein halbes Procent, denn man traute dem Schweigsamen mehr als gewöhnlichen Börseninstinct und Verbindungen mit auswärts zu. Es kamen damals noch nicht wie heute die Curse von London, Paris, Wien, Frankfurt gleichzeitig durch Telegramm auf die Börse.

Nach dem Tode des Schwiegervaters heirathete sein Schwager eine Freifrau von so und so und wurde in den Adelstand erhoben. Hirschsohn haßte diesen Schwager, weil er von ihm bei der Erbtheilung hintergangen war oder sich hintergangen glaubte, und er, der bis dahin kaum einen andern Gedanken gehabt hatte, als wie er sein Geld vermehre, dachte nun unaufhörlich an Standeserhöhung, Rang, Verbindung mit hohen Personen.

So war das Jahr 1848 gekommen. Als es anfing in Italien unruhig zu werden, verwandelte Hirschsohn noch zur rechten Zeit seine sämmtlichen Métalliques in englische Consols und entäußerte sich auch sonst aller zweifelhaften Papiere. So konnte er, als die Sündflut gekommen war, einem der jüngern Prinzen mit größern Vorschüssen aushelfen, der Bank sich gefällig erzeigen. Der Vermittler bei dem ersten Geschäfte war ein Major Graf von Bruckheim, ein armer Edelmann ohne Vermögen. Dieser vermittelte auch die vom Uebertritt zum Christenthume abhängig gemachte Baronisirung und hielt dann um die Hand der schönen Eva an, die, ohne lange zu zaudern, einwilligte, Gräfin und Frau des stattlichen Ulanenmajors zu werden.

Eva war ein wunderliches Kind, von rascher Empfänglichkeit und Auffassung, aber ebenso schnellem Ueberdruß an dem soeben mit Enthusiasmus Unternommenen, ein Kind ohne Ruhe und Rast. Eva, die Jungfrau, hatte alle Fehler des Kindes beibehalten, nur mit dem Lack der Convenienz und Bildung überkleistert. Sie konnte in wenig Minuten traurig und lustig, sentimental und fromm und wieder frivol und Freidenkerin sein.

Wenn wir in dem Boudoir der jungen Dame uns unter den auf Tischen und Stühlen umherliegenden Skizzen und Zeichnungen umsehen, so werden wir den Versuch desselben Bildes in mehrern Anfängen, in Kreide, Federzeichnung, Sepia und Silberstift finden. Man sieht in einer Straße eine Barrikade, neben der mehrere Verwundete liegen, auf der Barrikade steht ein Jüngling mit langflatternden Locken, in der linken Hand die schwarz-roth-goldene Fahne, in der rechten den Säbel. Die Cavalerie, welche einen Angriff gemacht hat, aber zurückgeschlagen ist, zieht sich im Hintergrunde der Straße in Unordnung zurück.

Es war das eine Scene aus der Wirklichkeit, die Eva selbst erlebt hatte. Sie war am 18. März 1848 mittags in der Friedrichsstadt, als man Barrikaden zu bauen anfing. Vergeblich hatte sie versucht, von der Behrenstraße durch die Kleine Mauerstraße unter die Linden zu gelangen, sie mußte umkehren und den Durchgang durch die Friedrichsstraße suchen; hier war aber, wo sich diese nach den Linden zu verengt, nahe der Behrenstraße eben jene Barrikade erbaut, die sie mehrfach skizzirt hatte. Eva trat gerade aus der Behren- in die Friedrichsstraße, als ein Angriff der Dragoner abgeschlagen wurde, – der junge Mann auf der Barrikade kam ihr vor wie ein Held – ja es mußte außerdem ein Dichter sein, denn als er sie über die Erhöhung hinweghob, sah er sie mit seinen großen blauen Augen so schwärmerisch, so poetisch an, wie das noch nie ein Mensch gethan hatte.

Der Jüngling schwebte darauf wochenlang vor ihrer Phantasie, sie fing hundertmal an, ihn zu zeichnen. Aber er war seit dem 18. März verschwunden, war er gefallen, war er gefangen oder verwundet? War er entflohen? Wie sollte sie ihn finden? Sie kannte weder Namen noch Stand. Sie war nach dem Friedrichshain hinausgefahren und hatte unter den Gräbern gesucht, sie hatte Erkundigungen nach dem Namen des Unbekannten angestellt und anstellen lassen, aber niemand, der in der Umgegend des Orts der Begegnung wohnte, kannte den Muthigen. Die einen sagten, es sei ein Student, die andern, es sei ein Maler gewesen. Ein Interesse, das sie länger als vier Wochen fesselte, hatte das junge Mädchen noch nicht gehabt; als der Mai kam, wurden die Bilder und Skizzen, bis auf ein paar der bestgelungenen, zerrissen, das Denken an den unbekannten Helden hörte auf. Bald darauf trat die schmeichelnde Vorstellung, Baronesse, Gräfin zu werden, an der Seite eines schönen Offiziers in der Oper und dem Schauspielhause zu erscheinen, dem Hofe vorgestellt zu werden, im Weißen Saale mit weißer Atlasrobe zu erscheinen, im Thiergarten neben dem Gemahl einen Spazierritt zu machen, von allen Jüdinnen beneidet zu sein, der Schwägerin Freifrau es an Pracht und Herrlichkeit zuvorzuthun, an die Stelle aller andern Phantasien.

Jetzt, Anfang October, war das Wetter schon wieder umgeschlagen, der Ulanenoffizier und Graf war ihr etwas Altes, Gewohntes, Abgethanes; er hatte keinen Reiz mehr für sie, sie zeigte sich kalt und launisch gegen ihn. Hatte sie doch ihren Helden wiedergesehen, als sie jüngst über den Gensdarmenmarkt fuhr, wo sich Volkshaufen vor dem Schauspielhause gesammelt hatten, um den Ausgang der Abgeordneten aus dem Concertsaale zu erwarten. Da hatte der Fahnenträger auf der Treppe des Schauspielhauses gestanden und zum Volke geredet, das ihm Beifall zujauchzte. Was er geredet, konnte sie nicht verstehen; sie fragte danach nichts, ihr war es genug zu wissen, daß er nicht todt, nicht gefangen, nicht verwundet war. Ihr Ideal war ein Held des Volks, ein Demokrat – Eva wurde Demokratin und vertrat dem Bräutigam wie dem Vater gegenüber die Rechte des Volks, schwärmte für Ruge, D'Ester, Waldeck und die Helden der äußersten Linken, und suchte die Barrikadenscene wieder hervor, um sie endlich wenigstens einmal zu vollenden. – –

So war das Haus, das waren die Menschen, die Sidoniens Ankunft erwarteten, und die Zeit, in welcher diese Ankunft erwartet wurde, war die ungünstigste, die sich denken läßt. Nicht daß das Wetter schlecht gewesen wäre, vielmehr war nach Mitte October noch ein schöner Nachsommer eingetreten, aber die Geister waren wie von Aequinoctialstürmen gejagt. In Wien war alles außer Rand und Band, die Anarchie, der Bürgerkrieg war eingezogen, die Stadt belagert; in Berlin war es unheimlich, der Sturm wollte losbrechen. Die Majorität der Versammlung im Concertsaale hatte das »von Gottes Gnaden« bei dem Titel des Königs gestrichen; der König hatte der ihm zum Geburtstage gratulirenden Deputation, die er freundlichst empfing, unter anderm gesagt: »Meine Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam, wir besitzen noch eine angestammte Obrigkeit von Gottes Gnaden, welche mit voller Macht ausgestattet ist.«

Das war der Demokratie zu viel; man stachelte die Massen, hetzte die Arbeiter auf, es kam zwischen Arbeitern und Bürgerwehr zum blutigen Kampfe.

Zwei Tage vor diesem Kampfe kehrte der Commerzienrath mit Frau und Tochter bei seinem Bruder, dem Baron, unter den Linden ein; als nun nach jenem Zusammenstoße die Leichen der Arbeiter in den Straßen herumgetragen wurden und am Abend in der Alten Jakobsstraße von neuem eine Barrikade aufgerichtet wurde, vor der es abermals zum Kampfe kam, und von beiden Seiten Todte blieben, fand es der Commerzienrath nicht mehr geheuer in Berlin, er reiste nach Heustedt zurück, während Frau Bettina mit Sidonie zurückblieb.

Wien war erobert, an demselben Tage, an dem die demokratischen Clubs und der Mob Berlins es versuchten, die Constituirende Versammlung in Berlin zu zwingen, den Wienern zu Hülfe zu eilen. Eva hatte anspannen lassen, sie hoffte, ihren Fahnenschwinger wiederzufinden, die Tante und Cousine aus Heustedt waren neugierig, sie hatten noch keine berliner Volksversammlung gesehen. Als man aber auf der Jägerstraße über den Gensdarmenmarkt fahren wollte, fing man an das Wagniß zu bereuen, die Menschenmasse wurde immer größer und dichter, die Art der Menschen nach Anzug und Physiognomie immer abschreckender; wahre Bassermann'sche Gestalten tauchten neben dem Wagen auf und grinsten zähnefletschend durch die Spiegelscheiben der mit der Baronenkrone gezierten Equipage.

Als diese im langsamen Schritt so weit vorgefahren war, daß man die Freitreppe des Schauspielhauses und den jetzigen Schillerplatz übersehen konnte, wurde das Gedränge so groß, daß der Kutscher anhalten mußte. Bettina und Sidonie schwebten in tausend Aengsten und verwünschten ihre Neugierde. Eva hatte nur Augen für die Freitreppe, da war ihr Barrikadenheld wieder, die schwarzumflorte schwarz-roth-goldene Fahne in der Hand; neben ihm stand der wohlbekannte große, fette, rothumbartete Volksredner Held und redete mit seiner Riesenlunge und Feuerzunge zu der tobenden Menge, Gehör bittend für ein Mitglied der Deputation des Arbeitervereins aus Wien, welcher die Hülfe der Berliner für die von den Kroaten bedrängte Kaiserstadt erbitten wollte. Karbe, Ottensosser und andere Lieblinge der souveränen Menge standen zur Rechten. Einige Radicale aus der constituirenden Versammlung, D'Ester und andere, hielten sich mehr im Hintergrunde, gleichsam, als schämten sie sich der Gemeinschaft mit den vorn auf der Freitreppe Stehenden. Von dem, was Held sprach, konnte man im Wagen nichts verstehen, bei jedem Schlagworte aber erscholl ein Hurrah oder Bravo, das die Fenster des Schauspielhauses erschütterte. Die Rede war zu Ende, das Volk kam in Bewegung, es sehnte sich nach »Thaten«, zu welchen der Redner aufgefordert hatte.

»Hier ist Gelegenheit!« schrie ein kleiner schiefer Kerl und schlug mit einem dicken Prügel in die Fenster der Equipage, sodaß Eva, welche dem Fenster am nächsten saß und nach ihrem Ideal mit dem schwarz-roth-goldenen Banner starrte, von Glassplittern überschüttet wurde und mehrere Wunden ins Gesicht bekam, »hier ist Aristokratenbrut, hängt sie!«

Eine Abtheilung Bürgerwehr, die neben der Freitreppe stand, da, wo an Markttagen Strohmatten, Holzwaaren u. dgl. zum Verkaufe ausgestellt zu sein pflegen, versuchte nach der Equipage vorzudringen. Allein die Menge warf sich nun gegen sie, dadurch bekamen die Pferde etwas Luft.

Als das Proletariat nach Westen drängte, sah der Kutscher von seinem hohen Bocke, daß die Räume vor ihm nach der Markgrafenstraße zu von unbewaffneten Maschinenbauern eingenommen waren, unter denen er seinen Bruder, einen Cyklopen von hervorragender Größe und vielem Einfluß bei den Genossen, erkannte. Er rief diesem zu und bat um Platz, gleichzeitig ließ er die Pferde anspringen und beseitigte dadurch noch ein paar Dutzend Proletarier, welche den Wagen von den Maschinenbauern trennten. Letztere theilten sich und ließen den Durchpaß nach der Markgrafenstraße frei; waren sie doch überhaupt nur erschienen, um, wo nöthig, eine Art Vermittlerrolle zwischen Bürgergarde und Arbeitern zu spielen.

Die Insassen des Wagens athmeten erst auf, als dieser um die Hedwigskirche und neben dem Opernhause den Linden zufuhr.

Es kann nicht die Aufgabe unserer Erzählung sein, die sich überstürzenden Ereignisse der nächsten Tage und Wochen zu schildern, aber wir müssen sie kurz andeuten, um zu motiviren, daß der Zweck, um dessen willen Sidonie nach Berlin gekommen war, in jenen Tagen keine Aussicht hatte erfüllt zu werden. Der Tag, von dem wir sprachen, war der 31. October, ein Dienstag, – die Constituirende hatte an diesem Tage unter Zustimmung Pfuel's den Adel wie die Orden und Ehrenzeichen abgeschafft; – man hielt einen Demokratencongreß ab, in dem man in Fractur sprach; in der Abendsitzung der Constituirenden, die bis zur Nacht dauerte, wurde die Unterstützung Wiens durch Vermittlung der selbst machtlosen Centralgewalt beschlossen, – für Waldeck gab es damals kein Deutschland ohne Oesterreich; am 1. November gab von Pfuel den Vorsitz im Cabinet und das Portefeuille des Krieges auf, der König nahm das an und berief den Grafen Brandenburg zur Bildung eines neuen Ministeriums; am folgenden Tage beschloß die Constituirende eine Deputation von fünfundzwanzig Mitgliedern an den in Sanssouci weilenden König und eine Adresse mit der Bitte um ein volksthümliches Ministerium. Der Minister »der bewaffneten Reaction« suchte Zuflucht in Jung's Wohnung, der diesen Namen erfand. – Bei der Audienz am 3. November spricht Jacoby, sich die Rolle des Präsidenten anmaßend, zum Könige: »Es ist das Unglück der Könige (und die Ursache ihres Falles?), daß sie die Wahrheit nicht hören wollen.« Die Hoffnungen auf ein Ministerium Rodbertus, von Unruh, Harkort, von Berg erweisen sich vergeblich. Am 6. November geht Bassermann als Reichscommissar nach Berlin. – Am 9. wird Robert Blum in Wien standrechtlich erschossen. Die Constituirende wird vertagt und nach Brandenburg verlegt.

Die Majorität erklärt sich für permanent. Die Linke erklärt in Aufrufen an das Volk das Vaterland in Gefahr, die Rechte scheidet aus.

Am 10. November rückt Wrangel mit zwanzigtausend Mann in Berlin ein; Truppen besetzen in der Nacht den Concertsaal. Den folgenden Tag setzt die Linke unter dem Präsidenten von Unruh ihre Sitzungen im Hotel-de-Russie, nachmittags im Schützenhause fort.

Man fürchtet in Berlin jeden Augenblick den Ausbruch eines neuen Barrikadenkampfes. Die Bürgerwehr wird aufgelöst. Am 12. November: Berlin wird in Belagerungszustand erklärt; 13. November: der Rest der Constituirenden Versammlung erklärt das Ministerium des Hochverrats schuldig und wird aus dem Schützenhause durch Wrangel vertrieben – »gegen Demokraten helfen nur Soldaten«; constituirt sich am folgenden Tage noch einmal im Hotel Milenz und decretirt die Steuerverweigerung; 20. November: die Nationalversammlung in Frankfurt erklärt diese für ungültig; 28. November: die Constituirende Versammlung in Brandenburg wird eröffnet.


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