Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 28.
Exchester.

Die nächsten Tage vergingen ereignislos, aber ich empfand sie wie die unheildrohende Ruhe vor dem Sturm. Als der Tag näher kam, an dem mein Vater nach Exchester kommen wollte, hoffte ich immer sehnlicher, von Alice eine Nachricht zu erhalten, daß er seine Absicht aufgegeben hätte, nach Northshire zu gehen. Aber ich wartete vergeblich. Als sie schließlich schrieb, war ich aufs höchste überrascht.

»Du wirst dich freuen, zu hören, daß Vater gestern abend zurückgekommen ist. Er sieht viel besser aus, obwohl er sehr abgenommen hat. Er schien noch nicht gewußt zu haben, daß du schon definitiv zu Mrs. Fortreß gegangen bist, und er war sehr enttäuscht, dich nicht zu sehen. Aber wenn ich bedenke, daß du ihn nicht fragtest, bevor du gingst, und daß man über deinen Schritt verschiedener Meinung sein kann, muß ich sagen, daß er deine Abwesenheit verhältnismäßig leicht erträgt. Es wäre ihm lieb, wenn du nächste Woche auf ein paar Tage kommen würdest. Sicher kannst du das einrichten. Auf alle Fälle mußt du am Sonntag hier sein. Wie du dir denken kannst, habe ich sehr viel zu tun gehabt. Aber die Wohnung hier ist jetzt entzückend. Die alte Eichentäfelung ist wunderbar schön, und es gibt soviel lauschige Ecken und Winkel in dem Hause. Komme möglichst bald.

Mit herzlichen Grüßen

Deine Schwester Alice.«

Als ich an einem sonnigen Morgen die Hauptstraße von Exchester entlang ging, wußte ich, daß die Krise nahe war. Die letzten Tage waren ruhig verlaufen. Ich hätte mich selbst überreden können, daß die Ereignisse der letzten Monate nur ein böser Traum gewesen waren. Man konnte sich kaum vorstellen, daß sich schwere Gewitterwolken über diesem altertümlichen, fast klösterlichen Pfarrhaus auftürmten, das im Schatten des Domes lag. Mein Vater war zweifellos wieder vollkommen ruhig und ausgeglichen und trug sein neues Amt mit der ihm angeborenen Vornehmheit und Würde. Alice fühlte sich glücklich in ihrer neuen Umgebung. Ihr Vater war nun Kanonikus am Dom, und sie war seine Tochter. Ein glückliches Leben schien vor ihnen zu liegen. Aber das gelassene, furchtlose Auftreten meines Vaters und Alices zufriedene Sorglosigkeit kamen mir unnatürlich vor. Ich konnte kaum atmen, während sie mit größtem Interesse von ihrer neuen Umgebung und den größeren Ausdehnungsmöglichkeiten sprachen, die sich ihnen jetzt boten. Aber am meisten beunruhigte es mich, daß mein Vater nicht mit mir über die letzten Ereignisse sprach. So oft ich das Gespräch darauf lenken wollte, hinderte er mich entschieden daran. Auch von meinem neuen Leben wollte er nichts hören. Allmählich erkannte ich den Grund seines Verhaltens. Ich hatte mich für meine Mutter erklärt, als ich ihn verlassen hatte und zu ihr gegangen war. Was ich ihm früher bedeutet hatte, galt nichts mehr. In seinen Augen war ich nicht länger seine Tochter. All seine Sorgen und seinen Kummer verschwieg er mir. Es war mir nicht einmal mehr vergönnt, ab und zu einen Blick in sein Inneres zu tun. Meine Verantwortung wurde allerdings geringer, je weniger ich wußte. Aber dieser Gedanke brachte mir keinen Trost. Ich hatte das Gefühl, als ob ich einen tapferen Mann im Stich gelassen hätte.

In meiner Unruhe unternahm ich einen Spaziergang. Als ich auf dem Rückwege an dem alten Hotel in der Hauptstraße vorbeiging, begegnete mir plötzlich Bruce Deville. Er war tadellos gekleidet, und sein Wesen war ruhig und maßvoll. Als er mich sah, blieb er stehen und streckte mir die Hand entgegen.

»Das ist aber ein glücklicher Zufall!« rief er und vergaß scheinbar einen Augenblick, meine Hand loszulassen. »Ich hörte, daß Sie hergekommen sind, und wollte Ihnen eben einen Besuch machen. Aber es ist viel angenehmer, daß ich Sie hier getroffen habe.«

Ich fühlte mich unglücklich und elend. Unsere alten Beziehungen schienen sich plötzlich geändert zu haben.

»Wir können gleich nach Hause gehen – es ist nicht weit.«

Aber er hielt mich zurück.

»Nein, ich wollte nur Sie sehen und sprechen. Es wäre möglich, daß ich in Ihrem Hause nicht allein mit Ihnen reden könnte. Vielleicht gestattet Ihr Vater auch nicht, daß ich die Wohnung betrete. Wollen Sie nicht einen kleinen Spaziergang mit mir machen? Ich weiß einen sehr schönen Weg durch die Felder. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Ich ließ mich nur allzu gern überreden. Es lag etwas Bezwingendes in dem entschlossenen Ton seiner Stimme, in der Berührung seiner starken Hand und in dem offenen und doch ein wenig ängstlichen Blick seiner kühlen, grauen Augen. Er schien den Weg genau zu kennen. Bald lag die Stadt hinter uns, und wir gingen einen einsamen Waldweg entlang.

»Wo ist Miß Berdenstein?« fragte ich.

Sein halb freundlicher, halb belustigter Blick verwirrte mich. Aber plötzlich verstand ich: Olive hatte ihm alles gestanden. Sie hatten eine entscheidende Unterredung gehabt.

»Ich glaube, daß sie nach London gegangen ist. Fühlen Sie nicht, daß Sie mich um Verzeihung bitten müssen?«

Ich sah ihn verstohlen an.

»Warum denn?«

Er lächelte.

»Hatten Sie sich nicht mit Miß Berdenstein gegen mich verschworen?«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe. Sicherlich war ich nicht die Urheberin.«

»Nein, aber Sie haben sich an dem Komplott beteiligt. Ich weiß alles, Sie können es ruhig eingestehen. Miß Berdenstein sollte keine weiteren Nachforschungen nach Philip Maltabar anstellen, und Sie sollten dafür so schlecht und herzlos als möglich zu mir sein. Das war doch wohl die Verabredung? Sehen Sie, daß ich im Bilde bin? Aber dieses Abkommen ist jetzt hinfällig. Ich habe mich mit Miß Berdenstein verständigt.«

»Haben Sie sich mit ihr verlobt?« fragte ich mit stockender Stimme.

»Nein!« erwiderte er gelassen. »Ich hätte vielleicht besser sagen sollen: wir hatten eine Auseinandersetzung.«

»Sagen Sie mir sofort die ganze Wahrheit«, forderte ich.

»Das will ich ja tun. Sie war nicht mehr ganz bei Sinnen. Sie wurde sentimental, und ich habe sie ausgelacht. Als sie aber gar nicht mit sich reden ließ, habe ich ihr den Kopf zurechtsetzen müssen. Das war gestern abend. Sie redete sich in eine fürchterliche Aufregung und Leidenschaft hinein, und aus ihren zusammenhanglosen Worten erfuhr ich, warum Sie in den letzten Tagen im Pfarrhaus so unzugänglich waren. Deshalb bin ich heute morgen um sechs Uhr aufgestanden und direkt nach Exchester geritten.«

»Sie sind heute morgen erst aufgebrochen?«

»Es sind ja nur fünfzig Kilometer. Und ich mußte Sie sehen.«

Ich schwieg einige Sekunden. Das war allerdings eine Neuigkeit. Ich wagte die Folgen dieses Vorfalls nicht auszudenken.

»Wo ist sie?«

»Jetzt wird sie wohl in London angekommen sein.«

Ich atmete erleichtert auf. Die Gewißheit, sie auch nur auf einige Zeit loszusein, bedeutete schon eine Erlösung für mich.

»Ich glaube, sie will nach Paris zurückkehren.«

Das war vielleicht das Beste, was geschehen konnte. Diese Enttäuschung mußte ihr England verhaßt gemacht haben, und sicher würde sie nicht so bald wieder hierherkommen. Meine Gesichtszüge hellten sich auf.

»Hoffentlich begegnet sie uns nie wieder«, sagte er ruhig. »Aber trotz ihres aufgeregten Wesens und ihrer schrecklichen Phantasien hat sie mir ein wenig Hoffnung gemacht. Ich weiß, daß ich nicht gut genug für Sie bin.« Seine Stimme zitterte leicht. »Aber Sie haben mich bisher nur von der schlechten Seite gesehen. Glauben Sie, daß Sie mich ein wenig liebhaben könnten? Wollen Sie es nicht versuchen?«

Ich hätte stark sein sollen, aber ich fühlte mich entsetzlich schwach. Verzweifelt suchte ich nach Worten. Er war so ruhig, so sicher, so zuversichtlich. Wie konnte ich ihm widerstehen?

»Es ist unmöglich«, sagte ich schließlich. »Sie wissen doch, wer ich bin. Ich werde niemals heiraten.«

Er lachte verächtlich.

»Wenn Sie weiter nichts dagegen haben«, sagte er und nahm plötzlich meine Hände, »lasse ich Sie nicht eher gehen, als bis Sie mir versprochen haben, die Meine zu werden.«

»Aber – ich –«

Dann wurde er sehr kühn, und ich hätte sehr böse auf ihn sein sollen, aber ich war es nicht. Er schaute sich um, und als er niemand in der Nähe sah, zog er mich an sich und küßte mich. Seine Arme schlossen sich wie Stahl um mich, ich konnte mich nicht wehren. Ich war bestürzt und verwirrt über mich selbst, aber ich fühlte mich unendlich glücklich.

Die Stadt lag im Halbdunkel, als wir wieder durch die engen, traulichen Straßen wanderten. In meinen Augen standen Tränen.

Mein Liebster – ich wagte es heimlich, ihn so zu nennen – begleitete mich nach Hause. Es war mir, als ob ich auf Wolken wandelte. Ich vergaß alles um mich her und gab mich ganz dem Glücksgefühl hin. Sorgen und Kummer, die auf mir lasteten, schwanden dahin.

Aber am Eingang zu dem Pfarrhaus trafen wir eine düstere Gestalt, und das Blut erstarrte plötzlich in meinen Adern. Der Traum meines Glücks zerfloß in nichts, als ich dieses Gesicht sah. Sie wäre ohne ein Wort an mir vorübergegangen, wenn ich sie nicht durch eine Geste angehalten hätte.

»Was tun Sie hier?« fragte ich. »Was wollen Sie?«

Sie lächelte teuflisch.

»Ich wollte Ihren Vater besuchen – unglücklicherweise war er wieder nicht zu Hause. Aber das macht nichts. Ich werde immer wieder kommen, bis ich ihn gesehen habe. Ich habe keine Eile, Exchester zu verlassen. Es ist eine interessante Stadt!«

Es war, als ob sie mit eisernen Krallen nach meinem Herzen gegriffen hätte. Sie sah von einem zum andern, und ihre Augen sprühten Haß und Wut. Ihr feines Gefühl hatte ihr die Wahrheit verraten.

»Darf ich Ihnen gratulieren?« fragte sie ironisch. »Das ist wohl sehr schnell gekommen?«

Wir antworteten nicht. Ich konnte keine Worte finden, und Bruce hüllte sich in ein grimmiges und verächtliches Schweigen.

»Wundervoll! Wie glücklich Sie beide aussehen! Aber ich will Sie nicht aufhalten. Ich werde später wiederkommen.«

Wie ein dunkler Schatten glitt sie von dannen und verschwand. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen und stöhnte. Das Schicksal sollte sich also doch erfüllen. Alle früheren Opfer waren nutzlos. Die nackte Verzweiflung starrte mich an.

 


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