Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 3.
Mr. Bruce Deville.

Die erste Predigt meines Vaters war ein großer Erfolg. Wie gewöhnlich war seine Rede gut durchgearbeitet und erfüllt von originellen Gedanken; er sprach einfach und schlicht, aber seine Worte fesselten die Hörer. Es lag kein Manuskript vor ihm, er hatte sich nicht einmal Notizen gemacht. Besonders achtete er darauf, nichts zu sagen, was seiner kleinen Gemeinde unverständlich bleiben konnte.

Lady Naselton hielt mich an, als ich aus der Kirche ging, und gab ihrer Bewunderung unverhohlenen Ausdruck.

»Was hat Ihren Vater nur bewogen, in diesen entlegenen Ort zu kommen?« sagte sie, als wir durch die Kirchentür in die freie, sonnenbeschienene Natur hinaustraten. »Er ist ja ein glänzender Redner! Er müßte in einem Dom predigen! Ich habe noch nie einen Pastor gehört, der mir besser gefallen hätte. Ist es nicht zu schade, daß diese herrliche Predigt nur vor dieser kleinen Gemeinde gehalten wurde?«

Ich pflichtete ihr dankbar bei.

»Ich wundere mich nur, daß Sie es zugelassen haben, daß er sich mit dieser Begabung in einen so weltabgeschiedenen Ort vergräbt.«

»Ich konnte nicht viel dabei tun«, erwiderte ich. »Sie vergessen, daß ich fast immer auswärts lebte. Erst vor acht oder neun Monaten bin ich nach Hause gekommen.«

»Nun, dann hätte Ihre Schwester ehrgeiziger sein müssen! Aber das ist natürlich nicht meine Sache. Ich werde jeden Sonntag zur Kirche gehen, um seine Predigten zu hören.«

Ihr Wagen fuhr ab, und ich ging über den Kirchhof zu dem Pfarrhaus. In einiger Entfernung konnte ich in dem Park von Deville Court die große Gestalt eines Mannes erkennen, der an einem Tor lehnte. Er hatte mir den Rücken zugewandt und rauchte eine Pfeife. Er bot keinen angenehmen Anblick, und diese Art, den Sonntagmorgen zu verbringen, sagte mir wenig zu.

Ich wurde wieder an ihn erinnert, als ich auf das Haus zuging. Einige Schritte vor dem Fenster unseres Eßzimmers lag ein Jagdhund an der Ecke eines Blumenbeetes. Als ich näherkam, winselte er und sah mich hilfeflehend mit seinen braunen Augen an. Ich erkannte die Rasse sofort – es war einer von Mr. Devilles Hunden. Er hatte die eine Vorderpfote ausgestreckt, und als ich mich bückte, um sie zu streicheln, wedelte er schwach mit dem Schwanz, aber er machte keine Anstalten, aufzustehen. Offenbar war das Bein gebrochen.

Ich holte etwas Leinen aus dem Hause und begann den Fuß zu verbinden, so gut es mir möglich war. Der Hund lag ganz ruhig, winselte nur und leckte dann und wann meine Hand. Als ich beinahe fertig war, wurde mir bewußt, daß sich jemand dem Garten näherte. Ich hörte einen festen, schweren Schritt auf dem Rasen, und im nächsten Augenblick erklang dicht neben mir eine rauhe Stimme.

»Entschuldigen Sie, aber ich glaube, einer meiner Hunde ist hier.«

Die Worte waren zwar höflich, aber der Ton war schroff und abstoßend. Ich sah mich um, ohne den Verband loszulassen. Die Erscheinung unseres Nachbars war wirklich nicht anziehend. Er trug einen alten, fadenscheinigen Jagdanzug, den man besser einem Lumpensammler gegeben hätte, und ein graues Flanellhemd mit umgelegtem Kragen. Ein düsterer, fast wilder Zug entstellte sein Gesicht. Er hatte widerwillig die Hand an seine Mütze gelegt, um zu grüßen, und seine grauen Augen blickten unter schweren Brauen düster auf mich nieder.

Ich nahm meine Beschäftigung wieder auf.

»Das ist zweifellos Ihr Hund«, sagte ich ruhig. »Aber Sie müssen warten, bis ich mit dem Verband fertig bin. Sie sollten sich mehr um Ihre Tiere kümmern, Sie wissen vielleicht nicht, daß er ein gebrochenes Bein hat.«

Er ließ sich sofort auf ein Knie nieder, ohne mich anzusehen. Er schien mich plötzlich ganz zu vergessen.

»Lawleß«, rief er mit leiser, sanfter Stimme. »Mein kleiner, lieber Kerl, was hast du denn angefangen?«

Das Tier machte sich sofort undankbar aus meinen Händen los und begrüßte seinen Herrn mit großer Freude. Mr. Deville dachte nicht mehr an mich, und ich konnte ihn ruhig beobachten. Sein Gesicht und seine Stimme hatten sich wie durch einen Zauber verwandelt. Seine Züge waren kraftvoll und sympathisch, obwohl unregelmäßig, und sein unansehnliches Flanellhemd war auf alle Fälle sauber. Er nahm den Hund in seine Arme und untersuchte zärtlich die gebrochene Stelle.

»Armer kleiner Lawleß! Wahrscheinlich bist du in eine dieser bösen Fallen von Harrison geraten. Ich werde diesen Burschen eines Tages noch umbringen!« sagte er wild.

Da er mich in keiner Weise beachtete, erhob ich mich und wischte mein Kleid ab. Meine Geduld war zu Ende.

»Sie sind hier willkommen«, sagte ich gelassen.

Zweifellos hatte er meine Gegenwart vollständig vergessen, denn er fuhr auf. Lady Naselton hatte wirklich recht. Er sah sehr häßlich aus.

»Entschuldigen Sie. Ich wußte nicht, daß Sie noch hier waren. Ich dachte, Sie wären schon fortgegangen. Ich danke Ihnen, daß Sie sich um meinen Hund bemüht haben. Der Verband wird halten, bis ich ihn nach Hause gebracht habe.«

»Bis Sie ihn nach Hause gebracht haben!« wiederholte ich. »Ich danke Ihnen für das Kompliment! Glauben Sie denn, daß Sie einen besseren Verband als diesen anlegen können?«

Ich sah verächtlich auf seine unbeholfenen Hände. Aber waren sie wirklich so ungeschickt? Sie waren groß und braun, aber trotzdem schöngeformt. Und sie schienen auch stark und kräftig zu sein. Er ertrug meinen Blick gleichmütig und zog dann die beiden Enden des Leinens fester an.

»Wenn ich nach Hause komme, werde ich den Knochen in die richtige Lage bringen. Als Dilettantin haben Sie Ihre Sache ganz nett gemacht. Also ich danke Ihnen – guten Morgen.«

»Guten Morgen, Mr. Deville.«

Er sah über die Schulter zurück.

»Sie kennen meinen Namen!«

»Gewiß. Kennen Sie den meinen nicht?«

»Nein.«

»Dann darf ich mich wohl selbst vorstellen. Ich bin Miß Ffolliot – das blasse Ding«, fügte ich ironisch hinzu. »Mein Vater ist der neue Pastor.«

Ich stand vor ihm und hatte die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. Er betrachtete mich vom Kopf bis zu Fuß, und ich konnte den Blick nicht von ihm wenden.

Es ging wieder eine Veränderung in seinem Wesen vor, und er sah mich jetzt mit wirklichem Interesse an. Die Linien um seinen Mund wurden scharf und hart, und sein Gesicht war dunkel wie eine Gewitterwolke.

»Ffolliot?« wiederholte er langsam. »Wie schreiben Sie Ihren Namen?«

»Zwei f, o, zwei I, i, o, t. Es ist ein schöner Name, obwohl er Ihnen nicht zu gefallen scheint. O, hier kommt mein Vater. Wollen Sie nicht bleiben und ihn kennenlernen?«

Mein Vater, der von der Kirche zurückkam, hatte gesehen, daß ein Fremder mit mir sprach, und näherte sich uns langsam. Mr. Deville wandte sich um, und die beiden Männer standen sich plötzlich gegenüber: mein Vater ernst, würdig und korrekt, Bruce Deville unordentlich, schlecht gekleidet, mit düsterem Gesichtsausdruck und blitzenden Augen. Aber trotzdem lag eine gewisse Vornehmheit in seiner Haltung, und er hielt den Blick meines Vaters ruhig aus.

»Ich brauche mich Mr. Ffolliot nicht vorzustellen«, sagte er fest. »Es tut mir leid, daß ich Sie in Northshire nicht willkommen heißen kann. Das ist eine Überraschung für mich.«

»Ich habe auch keinen Willkommengruß von Ihnen erwartet. Hätte ich gewußt, daß Sie hier in der Nähe wohnen, so wäre ich selbst für noch so kurze Zeit nicht hergekommen.«

»Unsere Gefühle füreinander sind wohl die gleichen. Immerhin können wir uns ja möglichst aus dem Wege gehen. Guten Morgen.«

Er hob seine Mütze ein wenig. Dieser Gruß sollte wahrscheinlich mir gelten, obwohl er mich nicht ansah. Dann ging er mit großen Schritten über den Rasen und trat rücksichtslos auf unsere Blumenbeete. Mein Vater sah ihm düster nach. Er legte die Hand auf meinen Arm, und ich fühlte, daß sie heiß war. Verwundert schaute ich in sein ruhiges, stilles Gesicht. Es war erstaunlich, daß ein Mann sein wahres Empfinden hinter einer solchen Maske verbergen konnte.

»Woher kennst du ihn?« fragte ich leise. »Wer ist es?«

Mein Vater atmete schwer.

»Dieser Mann«, erwiderte er langsam, »war mit der unglücklichsten Zeit meines Lebens eng verbunden. Aber das liegt weit zurück und spielte sich ab, bevor du alt genug warst, es zu verstehen. Aber als ich ihn jetzt wieder vor mir sah, war es mir, als ob alles erst gestern geschehen wäre. Es sind so viele Jahre vergangen – aber die Wunde schmerzt immer noch.«

Er preßte die Hand krampfhaft auf die Seite und schaute Deville nach. Sein Gesicht war blaß und hatte einen müden, gequälten Ausdruck. Fieberhaft glänzten die Augen in dem hageren Gesicht, so daß selbst ich, von Natur aus teilnahmlos und kalt, Mitleid mit ihm fühlte. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.

»Dieses dunkle Kapitel deines Lebens liegt hinter dir«, sagte ich freundlich. »Denke nicht mehr daran, Vater.«

Er betrachtete mich einen Augenblick schweigend. Welches Geheimnis mochte er hüten? Eine böse Ahnung bedrückte mich. War dieses Kapitel seines Lebens wirklich für immer abgeschlossen? Gehörte das Geheimnis zwischen diesen beiden Männern ganz der Vergangenheit an, oder warf es seine Schatten auch auf die Gegenwart? Mein Vater wurde ein großes Rätsel für mich.

 


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