Edward Phillips Oppenheim
Menschenjagd
Edward Phillips Oppenheim

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11.
Die Entführung

Mit einer trüben Vorahnung im Herzen hieß Benskin den Chauffeur vor Lady Muriels Haustür anhalten. Immer noch unruhig, stieg er die kurzen Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Er traf die junge Dame bei bestem Wohlsein an.

»Warum, um Gottes willen, haben Sie sich einen so entlegenen Wohnort ausgesucht?« erkundigte sich Peter. »Hier kann Ihnen irgend etwas zustoßen, ohne daß es jemand merkt.«

Lady Muriel lachte.

»Bisher ist mir ja noch nichts passiert«, sagte sie, anscheinend ohne zu bemerken, daß er noch immer ihre Hand festhielt. »Ich wünsche mir sogar, daß ich endlich einmal ein Abenteuer erlebe.«

Sie war eben jetzt nahe daran, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Im selben Augenblick aber öffnete der Chauffeur die Haustür und unterbrach dadurch die Spannung, die zwischen den beiden jungen Leuten entstanden war.

Seufzend verabschiedete sich der Besucher.

»Auf Wiedersehen morgen«, sagte er, als er sich abwandte.

Lady Muriel besaß den natürlichen Mut der Jugend, konnte sich aber in diesem Augenblick, als sie Peters Auto sich entfernen hörte, eines gewissen Angstgefühls kaum erwehren. Sie trat auf den Korridor hinaus. Nichts deutete auf die Gegenwart eines Fremden hin. Sie wollte eben ihre Hand ausstrecken, um die Briefe an sich zu nehmen, die mit der letzten Post gekommen waren, als sie eine Hand auf ihrem Mund fühlte, die ihren erschreckten Ausruf erstickte. Sie drehte sich um und blickte in die Augen eines Unbekannten.

»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte der Eindringling höflich. »Ich weiß, daß mein Eindringen in Ihre Behausung ein unentschuldbares Vergehen ist, aber ich mußte Vorsorge treffen, daß Ihr Freund nicht unnötig alarmiert und hierher zurückgebracht wird.«

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« fragte Lady Muriel.

»Ich bin der Mann mit den hundert Namen«, stellte er sich vor und trat zwischen sie und die Tür. »Nennen Sie mich einfach Mathew.«

Merkwürdig genug: so gefährlich auch ihre Lage schien – Lady Muriel empfand keinerlei Furcht mehr. Er war größer, als sie sich ihn vorgestellt hatte. Seine Augen hatten eine merkwürdige graugrüne Farbe. Sein Mund war klein, die Mundwinkel zogen sich in scharfen, Brutalität verratenden Kurven nach unten. Das leicht angegraute schwarze Haar war weit über die hohe, bleiche Stirn zurückgestrichen. Seine Kleidung entsprach in allen Einzelheiten der letzten Mode.

»Sie sind Mathew? Waren Sie nicht vorgestern abend im Florida-Tanzpalast?«

»Gewiß«, bestätigte er ihre Vermutung. »Ich kam nur hin, um Sie zu sehen, Lady Muriel. Könnten Sie nicht Benskin veranlassen, einen Tanzkursus zu besuchen?«

»Ich glaube nicht, daß er ihn nötig hat«, gab sie kühl zurück. »Ich tanze sehr gern mit ihm. Wie sind Sie denn hier hereingekommen?«

Er lachte, als mache ihm die Frage riesigen Spaß.

»Mir stehen alle Türen offen«, brüstete er sich.

Verstohlen musterte sie ihn. Zeitweise nahmen seine Augen etwas Weiches, Zärtliches an.

»Ich glaube«, sagte sie endlich, »es wird Zeit, daß Sie wieder verschwinden, Mr. Mathew. Sie sind doch bestimmt nicht hierhergekommen, um mich zu bestehlen, nicht wahr? Dazu bin ich zu arm. Andererseits pflege ich abends keine Herrenbesuche zu empfangen.«

»Ihr Eigentum ist mir heilig«, erwiderte er. »Darf ich zehn Minuten bleiben, um unsere Bekanntschaft ein wenig zu vertiefen? Darf ich Platz nehmen? Um einen Whisky bitten?«

Sie setzte sich, denn sie wußte nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Er schenkte sich das gewünschte Getränk selbst ein.

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagte sie. »Sie wissen aber doch wohl, daß ich nicht einen Augenblick zögern würde, Sie festnehmen zu lassen, wenn zufällig jemand hereinkäme.«

»Das wäre unrecht von Ihnen, Lady Muriel. Ich bin wirklich nur gekommen, um Ihre Schönheit zu bewundern.«

»Ich bin doch sicherlich nicht die erste Frau, die Sie anbeten, nicht wahr?« gab sie kühl zurück.

Er seufzte.

»Leider haben Sie recht«, gab er zu. »Niemals hat aber eine Frau einen derartigen Eindruck auf mich gemacht wie Sie. Vielleicht dachten Sie an diese schöne Römerin, als Sie eben von anderen Frauen, die ich liebte, sprachen. Ich hätte alles für sie getan; ja, ich habe sogar ihren Gatten auf die Seite gebracht, um sie von den lästigen Ehefesseln zu befreien. Aber – sie verriet mich! Es war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich wirklich in Gefahr schwebte, gefangen zu werden. Sie hatten mich im Grand-Hotel umzingelt, sieben Mann hoch, und trotzdem bin ich ihnen entkommen.«

»Was Ihnen bisher anscheinend stets gelungen ist«, stellte sie fest.

»Ja, so ist es. Ich fürchte mich nie, und das ist meine Rettung. Darf ich mir noch ein Glas einschenken? Danke. Und Sie? Wollen Sie nicht auch eine Kleinigkeit genießen?«

Sie erhob sich.

»Höchstens ein Glas Soda«, sagte sie.

Er füllte ihr ein Glas mit der gewünschten Erfrischung. Dann ergriff er ihre Hand und zog sie näher zu sich heran. Seine Stimme, die gewohnt war, Tod zu verkünden, wurde sanft und zärtlich.

»Sie sind ein herrliches Wesen, Lady Muriel«, flüsterte er. »Warum verlassen Sie nicht Ihre langweilige gesellschaftliche Sphäre und folgen mir? Niemand wird uns je dort finden, wo wir hingehen werden.«

Sie suchte sich freizumachen, aber er hielt sie fest.

»Sind Sie wahnsinnig geworden?« fragte sie. »Ich weiß, wer Sie sind; weiß, welche entsetzlichen Taten Sie verübt haben . . . Eines Tages werden Sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden, Mathew.«

Sein Lächeln verschwand, aber seine Augen blickten so zärtlich wie vorher.

»Mein liebes Kind«, murmelte er, »was habe ich verbrochen? Ich habe die Hindernisse beseitigt, die sich mir bei meinen Plänen in den Weg stellten. Sie haben meine Abwehr herausgefordert. Was kann ich dafür, wenn man mich einen Verbrecher nennt? Ich kann Ihnen viele nennen, die noch schlimmere Taten verübt haben und geachtet in der Gesellschaft leben, ohne daß ihnen jemand einen Vorwurf machte. Ich bin wenigstens kein Heuchler, wenn ich auch ein Verbrecher sein mag. Wollen Sie mir folgen, Lady Muriel? Darf ich dich holen, Geliebte?«

»Niemals! Wasser und Feuer werden niemals zusammenkommen. Lassen Sie mich los!«

Er schien nicht die geringste Kraft aufzubieten, sie festzuhalten, aber seine Arme umfaßten sie wie Klammern von Stahl. Vergeblich versuchte sie, sich seiner Umarmung zu entwinden. Näher und näher beugte er sich zu ihr herab, bis sie plötzlich den Druck seines Mundes auf ihren Lippen fühlte. Die Kräfte drohten sie zu verlassen, und sie wäre, als er sie jetzt losließ, beinahe gefallen. Sie hielt sich mit einer Hand am Kaminsims fest und streckte die andere verlangend nach dem Trinkglas aus, das er ihr reichte.

»Sie sind ein entsetzlicher Mensch«, sagte sie atemlos. »Wie können Sie es wagen, mich zu küssen? Wissen Sie nicht, daß seit langer Zeit mein ganzes Trachten darauf hinausgeht, Sie unschädlich zu machen?«

Er seufzte.

»Ich glaube, es ist tatsächlich so. Bisher waren Sie aber, wie Sie ja selbst wissen, nicht sehr erfolgreich in Ihren Bemühungen, nicht wahr? Wenn Sie mich unschädlich machen wollen – bitte, dort drüben ist Ihr Telefon. Rufen Sie Ihren Freund Benskin an. Ich werde Sie nicht hindern.«

Sie wußte, daß sie seiner Aufforderung keine Folge leisten würde.

»Bitte, gehen Sie«, bat sie mit erstickter Stimme. »Ich glaube, ich werde hysterisch.« Wieder fühlte sie die unselige Schwäche in ihren Gliedern.

»Sie werden mich, auch wenn ich fern von Ihnen bin, nicht vergessen; Lady Muriel«, sagte er ruhig. »Diesmal kam ich, um Sie kennenzulernen; das nächste Mal hole ich Sie mir.«

»Ich werde meine Wohnung Tag und Nacht bewachen lassen«, drohte sie. »Wenn Sie hierherkommen, werden Sie in eine Falle geraten.«

Nachdenklich musterte er sie.

»Wer weiß! Ihr Frauen vollbringt merkwürdige Dinge. Bei Leuten, wie jener Benskin es ist, fühlen Sie sich wohl; und mit einem Mann, der Ihnen wirkliches Leben versprechen könnte, wollen Sie nichts zu tun haben. Sie werden sich ewig Vorwürfe machen, wenn es Ihnen wirklich gelingt, mich ins Unglück zu stürzen, Lady Muriel.«

Er nahm seinen Zylinder auf, den er bei seinem Eindringen auf den Tisch gelegt hatte. Mit einer tiefen Verbeugung schritt er dem Ausgang zu.

»Niemals werde ich diesen ersten Besuch bei Ihnen vergessen. Sie erfüllen alle Voraussetzungen, die ich an eine Frau, die ich liebe, stellen würde. Wenn Sie Scotland Yard jetzt anrufen, werden mir kaum zehn Minuten zum Entkommen bleiben. Auf Wiedersehen, Lady Muriel.«

»Gute Nacht«, antwortete sie leise. »Bitte, gehen Sie.«

»Auf Wiedersehen«, wiederholte er und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Sie war froh, als sie am nächsten Morgen Benskin nicht antraf; sie hatte sich nach Scotland Yard begeben, um Major Houlden von dem gestrigen Besuch Mathews in Kenntnis zu setzen. Der Chef hörte ihr aufmerksam zu und lächelte, als sie ihre Schilderung beendet hatte.

»Das nenne ich wirklich einen Mann«, sagte er bewundernd.

Hilflos lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.

»Er muß manchmal seine guten Stunden haben«, fuhr der »Vize« fort. »Er hätte Sie gestern abend, allein mit Ihnen, ganz anders anfassen können, nicht wahr, Lady Muriel? Und Benskin? Auch ihn hat er ziemlich nett behandelt, als er ihn in Lesser Widerness Hall in seiner Gewalt hatte. Ich werde einen unserer Leute abkommandieren, Ihre Wohnung ständig im Auge zu behalten. Es wird zwar wenig Zweck haben, aber wir brauchen uns dann keine Vorwürfe zu machen. Bleiben Sie immer mit uns in Verbindung. Vielleicht hilft uns diese neue Entwicklung der Dinge mehr, als wir heute ahnen. Das einzige Mal, wo man Mathew beinahe wirklich erwischt hätte, war bei jener von ihm erwähnten Gelegenheit in Rom, als ihn seine Geliebte verriet. Derartige Ereignisse pflegen sich zu wiederholen.«

»Ich werde Sie auf dem laufenden halten«, versprach Lady Muriel ohne die gewohnte Begeisterung.

In Whitehall traf sie Benskin, dem sie ihr Erlebnis vom gestrigen Abend schilderte. Er wurde ernst.

»Mir wird doch nichts anderes übrigbleiben«, sagte er bedrückt, »als mich um einen Posten als Verkehrsschutzmann zu bewerben.«

»Seien Sie nicht so mutlos«, bat sie ihn und strich leise über seine Hand.

»Seit zwei Nächten besuche ich jeden Nachtklub, um dem Mann auf die Spur zu kommen. Gestern abend saß er neben mir. Er wußte, wer ich war; aber ich fand seine Identität erst heraus, als es zu spät war. Ich werde den Chef bitten, einen anderen Mann für die Verfolgung Mathews zu bestimmen.«

»Unsinn! Sie wissen, welchen Ruf er genießt. Es ist unmöglich, ihn in seinen dauernd wechselnden Masken zu erkennen.«

»Das ändert nichts an der Tatsache, daß ich ihm wie ein kleines Kind in Lesser Widerness Hall in die Hände lief. Selbst jetzt vermag ich mir noch nicht zu erklären, wie es kam, daß ich ihn dort nicht gleich erkannte, obwohl ich wußte, wer er war. Der Mann von Norfolk und der, neben dem ich gestern abend saß, ähnelten einander nicht mehr, als ich Ihnen ähnele. Es ist fürchterlich, Lady Muriel! Wir sind nicht hinter einem Mann, sondern hinter fünfzig her.«

»Verlieren Sie nur nicht den Mut, Peter«, bat sie ihn wieder. »Ich habe etwas an ihm bemerkt, wovon ich auch dem Chef nichts gesagt habe. Der Mantel, den er trug, war zwar von erstklassigstem Material, aber dort, wo man sonst die Firma des Schneiders eingenäht findet, war ein schwarzer Stofffleck aufgenäht.«

»So? Vielleicht gibt uns das eine Spur«, meinte der Inspektor etwas hoffnungsvoller.

»Ich glaube kaum«, fuhr Lady Muriel fort, »daß man in London mehr als sechs Schneiderfirmen finden wird, die einen Mantel anzufertigen verstehen, wie ihn Mathew gestern abend anhatte. Wenn Sie sich auf die Beine machen und diese Maßschneider besuchen, wird es Ihnen bestimmt gelingen, den ausfindig zu machen, der Mathews Mantel angefertigt und seine eigene Firmenreklame zugenäht hat.«

»Sofort gehe ich los«, versprach Peter.

Sie verabschiedeten sich voneinander. Während Benskin sich dem Westen zuwandte, um die neue Spur zu verfolgen, schlug Lady Muriel den Weg in die Stadt ein. Einige Häuser weiter hatte, ohne daß sie es bemerkte, eine große Limousine gehalten, die ihr nun langsam folgte. Endlich bestieg Lady Muriel einen Omnibus.

»Folgen Sie dem Omnibus Nummer dreiundvierzig«, befahl der Insasse des Autos seinem Chauffeur.

 

Schon beim dritten Schneider, einer bekannten Firma in der Savile Row, hatte Benskin Erfolg.

»Wir haben verschiedene amerikanische Kunden«, teilte der Geschäftsführer ihm auf seine Erkundigung mit, »die nicht wünschen, daß wir unsere Firmenetiketten in den für sie gefertigten Kleidungsstücken anbringen. Ich glaube, es ist eine Zollangelegenheit, die sie dazu veranlaßt. Dann haben wir noch einen Kunden hier, der denselben Wunsch geäußert hat. Er ist uns ein Rätsel, aber ein ausgezeichneter Kunde. Hoffentlich werden Sie sich nicht zu sehr mit ihm befassen.«

»Warum hoffen Sie das?« wollte Benskin wissen.

»Weil er seit zehn Jahren, und auch jetzt noch, unser bester Abnehmer ist.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Leider nicht.«

»Sie kennen seinen Namen nicht?« wunderte sich der Inspektor.

»Es mag befremdend klingen«, gab der andere zu, »beruht aber auf Wahrheit. Wir haben, wie ich Ihnen sagte, schon viele Kleidungsstücke aller Art für ihn angefertigt, aber noch nicht ein einziges Mal seinen Namen nennen gehört. Sie wollen wohl gern wissen, wie das kommt?«

»Ich bin außerordentlich gespannt auf Ihre Erklärung«, gab Benskin zu.

»In unregelmäßigen Zeitabständen, sagen wir, alle zwei bis drei Monate, werden wir von einer Südfruchtimportfirma hier am Platz – Gonzalez & Ardron heißt sie – angerufen und gebeten, einen unserer Zuschneider mit Mustern nach dem Firmensitz, Plumers's Buildings, Riverside Street, zu senden. Der betreffende Kunde wählt dann meistens eine größere Zahl verschiedener Anzüge oder Mäntel aus und nennt uns einen Platz, wo die Anprobe stattzufinden hat. Einmal hat er unseren Mann nach Cowes, einige Male nach Greenwich, wieder ein anderes Mal nach dem Ritz und so weiter bestellt. Unser Zuschneider traf ihn jedesmal pünktlich an, wurde aber nie unterrichtet, wie der Kunde heißt.«

»Wie sieht Ihr Abnehmer aus? Können Sie ihn mir beschreiben?«

»Wir schickten immer denselben Zuschneider«, gab der Geschäftsführer Auskunft, »aber sooft ich ihn auch befragte, er war immer sehr oberflächlich in seiner Beschreibung. Von seinem Standpunkt als Schneider genügt es ihm, wenn die betreffende Kundschaft regelmäßig gebaut ist. Soviel ich weiß, handelt es sich um einen Herrn in mittleren Jahren, glattrasiert und unstreitig englischer Abstammung, obwohl die Südfruchtfirma, mit der er in Verbindung steht, fremdländisch klingt. Wollen Sie unseren Zuschneider sprechen? Ich lasse ihn gerne rufen.«

Benskin hielt ihn zurück.

»Danke, das genügt mir für den Augenblick. Bitte erwähnen Sie dem Zuschneider gegenüber nicht, daß ich mich erkundigt habe.«

»Der Mann arbeitet seit dreißig Jahren für uns, Sir«, machte der Geschäftsführer Benskin aufmerksam.

»Gleichwohl bitte ich Sie zu schweigen«, entgegnete der Inspektor. »Der Mann, den wir suchen, ist mit allen Wassern gewaschen und würde, ohne mit der Wimper zu zucken, zehntausend Pfund demjenigen geben, der ihn benachrichtigt, daß ich seinen Schneider ausfindig gemacht habe. Mich interessiert für den Augenblick hauptsächlich, ob Sie gegenwärtig einen Auftrag dieses Kunden vorliegen haben.«

Der Geschäftsführer warf einen Blick in sein Auftragsbuch.

»Mr. Harding, der Zuschneider, von dem ich sprach, ist für morgen vormittag um halb zwölf nach der Riverside Street zur Anprobe bestellt. Unser Kunde ist außerordentlich peinlich. Er wartet niemals auch nur eine Minute über die bestimmte Zeit hinaus. Harding dürfte also gegen elf Uhr hier wegfahren, damit er pünktlich eintrifft.«

Benskin erhob sich mit einem triumphierenden Leuchten in seinen Augen.

»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar«, wandte er sich an den liebenswürdigen Geschäftsführer. »Ihre Auskunft war recht wertvoll für mich.«

»Hoffentlich verlieren wir dabei nicht unseren besten Kunden«, quittierte der andere diese Anerkennung und lachte.

Benskin begab sich sofort zu Major Houlden und erstattete Bericht.

»Es klingt recht aussichtsreich«, urteilte der Chef.

»Ja«, bestätigte Benskin, ohne besondere Freude zu verraten.

Der Major blickte ihn forschend an.

»Was ist los, Benskin?« fragte er.

Der Gefragte trommelte nervös auf die Tischplatte.

»Ein kleiner Nervenzusammenbruch, Sir«, meinte er. »Bisher ist es uns nicht ein einziges Mal gelungen, den Menschen zu fassen. So vielversprechend die neue Spur auch sein mag, ich –«

»Sie halten alles für eine Falle?«

»Nein, das nicht. Ich glaube, es wird nur einer seiner vielen Schlupfwinkel sein, und Mathew wird uns genau so wie bisher entkommen.«

Der andere lachte.

»Einmal muß es uns doch gelingen, Benskin«, tröstete er seinen Untergebenen. »Halten Sie sich heute den ganzen Tag über versteckt. Ich werde einige Leute, die die Gegend dort unten genauer kennen, hinschicken und versuchen, einen Lageplan zu bekommen. Hier ist übrigens wieder ein Brief für Sie eingegangen. Er wurde vor kurzer Zeit für Sie abgegeben.«

Houlden reichte Benskin ein fliederfarbenes Kuvert, auf dem in Maschinenschrift die Adresse des Inspektors stand. Peter riß den Umschlag auf und warf einen Blick auf die wenigen Zeilen. Plötzlich sprang er mit einem Fluch auf und warf den Brief auf den Tisch. Neugierig las ihn nun auch der Chef:

Mein lieber Benskin,

Sie sollten eine Dame wie Lady Muriel niemals allein einen Omnibus benutzen lassen. In dieser entsetzlichen Großstadt kann ihr jeden Augenblick etwas zustoßen.

Mathew.

»Der Mann besitzt wirklich eine mehr als gewöhnliche Frechheit«, rief Houlden aus.

Benskin griff hastig nach seinem Hut.

»Ich muß mich sofort überzeugen, wie es ihr geht«, meinte er. »Als ich sie verließ, wollte sie gleich in ihre Wohnung zurück, um sich für den Empfang heute nachmittag vorzubereiten.«

»Der Bursche hat Humor«, sagte Houlden. »Aber das Bluffen versteht er gleichfalls aus dem Effeff.«

 

Erst am Abend suchte Benskin seinen Chef wieder auf.

»Kommen Sie, Benskin, und setzen Sie sich«, begrüßte ihn Houlden. »Eben ist Brooks zurück. Er hat Erfolg gehabt. Gonzalez & Ardron ist eine wohlbekannte Firma. Sie besitzt zwei eigene Frachtdampfer und scheint gute Geschäfte zu machen. Auch die Bankauskunft ist erstklassig. Hier haben Sie eine kleine Skizze der örtlichen Lage. Gleich wenn Sie aus der Tooley Street herauskommen, finden Sie in der Riverside Street die Baulichkeiten, zu denen man durch ein eisernes Tor Zutritt erhält. Auf der anderen, der Flußseite, liegen die Ladeeinrichtungen für die Dampfer. Die vorderen Tore sind tagsüber offen. Kurz vor ihnen befinden sich andere Türen, die zu zehn oder zwölf Lagerhäusern führen. Diese Baulichkeiten stehen auf einem freien Platz, der nur durch ein Dock vom Fluß getrennt ist.

Das erste und größte Lagerhaus gehört der Firma Gonzalez & Ardron. Gegenwärtig ist man, wie Brooks berichtet, eifrig damit beschäftigt, zwei nach Barcelona bestimmte Schiffe zu beladen. Die ganze Nachbarschaft ist bestens geeignet, als Unterschlupf für Verbrecherbanden zu dienen. Neben den Gebäuden der Firma Gonzalez liegen zwei leere Lagerhäuser, die mehr als ein Dutzend Notausgänge haben. Noch weiter östlich breitet sich eine Kolonie ärmlichster Wohnhäuser aus, von denen man durch rückwärtige Ausgänge auf die Merton Street gelangt, während die Haustüren auf die Riverside Street führen.«

Benskin nickte, ohne zu antworten. Er war eifrig damit beschäftigt, sich den Lageplan einzuprägen.

»Jeden Morgen«, fuhr der Chef fort, »versammelt sich dort eine Anzahl Arbeitsloser in der Hoffnung, etwas zu tun zu finden. Es sind immer gegen zwanzig bis dreißig Menschen, die sich dort regelmäßig herumtreiben. Morgen werden es noch mehr sein, denn unsere eigenen Leute werden sich ebenfalls dort aufhalten. Außer Sicht, doch ganz in der Nähe halte ich weitere Reserven bereit, so daß die ganze Gegend dauernd überwacht wird.«

»Haben Sie einen Plan?«

»Der Zuschneider wird gegen elf Uhr dreißig dort ankommen. Solange er nicht eingetroffen ist, wird sich von unseren Leuten niemand sehen lassen. Erst wenn er das Lagerhaus betreten hat, wird das Signal gegeben werden, den Platz zu umzingeln. Einige unserer Leute werden dann das Lagerhaus stürmen. Haben Sie irgendwelche Vorschläge zu machen?«

»Wir müssen annehmen, daß das Personal der Firma Gonzalez an diesen Schiebungen beteiligt ist. Wie viele Leute mögen es sein?«

»Vierzehn. Wir dagegen werden etwa vierzig Leute dort haben. Finden wir Widerstand, dann werden unsere Reserven eingreifen. Wollen Sie gleich mit den Vorbereitungen beginnen?«

»Sie können sich darauf verlassen«, gab Benskin zurück.

Plötzlich erkannte der Chef die mühsam unterdrückte Erregung seines Inspektors.

»Was ist mit Lady Muriel?« fragte er.

»Ich habe sie den ganzen Nachmittag vergeblich gesucht, Sir. In ihrer Wohnung ist sie nicht gesehen worden; auch dem Empfang, den sie besuchen wollte, ist sie fern geblieben.«

»Mein Gott! Sie glauben doch nicht etwa . . .

»Ich habe es noch nicht gewagt, überhaupt etwas zu glauben«, unterbrach ihn Benskin. »Der Omnibusschaffner wird von mir verhört werden. Man hat ihn auf meinen Wunsch hin vor der Zeit abgelöst, und er wird mich in einer halben Stunde an der Endstation erwarten.«

»Merkwürdig! Halten Sie es wirklich für möglich, daß in einer Großstadt wie London um elf Uhr vormittags ein Mädchen entführt werden kann?«

Das Telefon läutete, und Houlden nahm den Hörer ab.

»Sie werden vom Fernamt verlangt, Benskin«, wandte er sich dann an den Inspektor. »Es klingt wie eine Damenstimme.«

Hastig nahm der Inspektor den Hörer an sich. Eine zitternde Stimme drang an sein Ohr.

»Hier ist Lady Muriel. Ich habe keine Zeit für Erklärungen; mir stehen nur wenige Augenblicke zur Verfügung. Lesser Widerness Hall! Haben Sie verstanden? Kommen Sie sofort! Schnell, schnell! Mathew hat mich in seiner Gewalt. Ich habe so entsetzliche Angst!«

»Wo sind Sie jetzt?« beeilte sich Benskin zu fragen.

»Auf dem Weg dorthin. Wir hatten eine Panne, und ich telefoniere von einer Drogerie aus. Ich gab vor, mich krank zu fühlen. Philipp, machen Sie schnell! Bringen Sie ein paar Leute mit. Die Jagdtreiber sind wieder in Lesser Widerness Hall. Bitte, schnell!«

Benskin legte auf. In kurzen Umrissen berichtete er dem Major den Inhalt des Gesprächs.

»Was werden Sie tun?« erkundigte sich Houlden entsetzt.

»Ich bleibe, wo ich bin, und werde Mathew in London suchen, wo er sich augenblicklich befindet. Man hat versucht, Lady Muriels Stimme nachzuahmen. Sie weiß aber, daß ich Peter und nicht Philipp heiße, wie man mich eben genannt hat. Bisher hatte ich noch Zweifel, daß wir morgen Erfolg haben würden; jetzt weiß ich, daß Mathew sich in der Riverside Street befindet. Wenn ich ihn nicht lebend fassen kann, werde ich ihn mir als Toten holen.«

 

Genau zwanzig Minuten vor zwölf am folgenden Mittag hielt vor dem Haupteingang der Firma Gonzalez & Ardron ein Lastauto an, dem vier Männer entstiegen. Ohne zu zögern, stießen sie die Schwingtür zu den Lagerräumen der Firma auf und drangen ein. Houlden und Benskin warfen einen raschen Blick in den Raum, in dem sie sich befanden. An einem Tisch saß ein Mann – unstreitig ein Ausländer – und prüfte einige Apfelsinen, die vor ihm auf der Platte lagen. Er hatte einen blaugrauen Schutzmantel an und trug eine Arbeitshose. Sein Gesicht war unrasiert. Im Augenblick unterhielt er sich mit einem kleinen Herrn über den Preis von Südfrüchten.

»Ich schwöre Ihnen, Mr. Isaak«, sagte er eben, als die Beamten eintraten, »ich kann Ihnen die Apfelsinen nicht billiger geben. Ich verliere sowieso Geld daran. Wenn Sie sie nicht nehmen, muß ich sie an die Großmarkthalle zu verkaufen suchen. Neunzig Schilling, nicht mehr und nicht weniger.«

»Das heißt also«, lachte der andere, »daß ich sie für achtzig bekommen werde, wie?«

Ein Lagerarbeiter trat auf Houlden und Benskin zu.

»Der Chef ist gerade beschäftigt«, antwortete er auf die Frage des Beamten. »Er hat einen Kunden bei sich.«

Houlden wies auf eine Tür, die die Aufschrift »Privatbüro« trug.

»Wer ist dort drin?« fragte er den Mann.

»Der andere Chef. Er ist aber auch nicht frei.«

»Ich möchte ihn sprechen.«

Als Mr. Gonzalez die kleine Karawane bemerkte, starrte er ihr offenen Mundes nach.

»He? Was wollt ihr dort drinnen?« fragte er.

Niemand antwortete ihm. Benskin stieß die Tür zum Privatbüro auf. Ein großer, muskulöser Mann stand in der Mitte des Raumes. Vor ihm kniete der Zuschneider. Auf allen Stühlen hingen halbfertige Kleidungsstücke. Beide Männer, die eifrig mit der Anprobe eines Mantels beschäftigt waren, blickten überrascht auf sie. Sie sahen sich den Mündungen von vier Pistolen gegenüber.

»Hände hoch!« befahl Benskin.

Der Schneider war erschrocken zurückgefahren, während der Anprobierende zu wissen schien, um was es sich handelte, denn er streckte, ohne zu zögern, die Arme hoch.

»Was soll das bedeuten?« fragte er.

Inspektor Benskin trat näher, um ihn sich besser anzusehen.

»Was ist los?« wiederholte der Überraschte, und der Beamte glaubte, ein höhnisches Lächeln um seine Lippen zucken zu sehen.

Benskin wandte sich an den Zuschneider.

»Sie können Ihre Arme herunternehmen«, sagte er. »Sind Sie der Mann von Platt, Savile Row?«

»Jawohl, Sir. Ich möchte bemerken, daß ich nicht gewohnt bin, mich Revolvermündungen gegenüberzusehen.«

»Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun«, beruhigte ihn der Detektiv. »Ist das der Herr, bei dem Sie schon früher Anproben machten?«

»Nein, Sir. Ich habe diesen Herrn noch nie in meinem Leben gesehen. Die Kleidungsstücke sind auch nicht für ihn, und ich weiß kaum, wie ich sie passend machen soll. Ich kam hierher, um unseren Kunden zu treffen, wurde aber zu diesem Herrn hier geschickt . . .«

Ohne einen Augenblick zu zögern, sprang Benskin ans Fenster, durch das gerade das Geheul einer Schiffssirene an sein Ohr drang. Ein Dampfer hatte eben losgemacht und trieb langsam den Strom hinab. Über die Reling lehnte ein Mann, der dem am Fenster stehenden Inspektor einen ironischen Gruß zuwinkte. Es war Gonzalez, der Mann, den Benskin im Lagerraum mit dem Obstkäufer hatte verhandeln sehen.

»Burton«, rief Benskin in den Lagerraum hinaus, wo seine Leute auf die weitere Entwicklung der Dinge warteten, »rufen Sie alle Flußpolizeiwachen an, daß man die ›Juanita‹, die eben ausgelaufen ist, anhalten soll. – Er war wieder einmal klüger als wir, Sir«, wandte er sich dann an Houlden.

»Wer denn?«

»Mathew-Gonzalez! Verdammt noch einmal, welch eine Kunst, sich zu maskieren!«

Burton kehrte zurück.

»Alle Telefone sind außer Betrieb, Sir«, berichtete er atemlos.

»Suchen Sie die nächste Telefonzelle auf«, befahl ihm Houlden. »Die Räume sollen geschlossen werden; jeder einzelne, der sich hier befindet, ist der Polizeiwache zuzuführen.«

 

Eine halbe Stunde später legte sich ein Flußtorpedoboot quer vor den Bug der »Juanita«. Auf einen Anruf des Kommandanten wurde eine Leiter ausgeworfen, und Benskin stieg mit Houlden an Bord. Niemand schien zu wissen, warum der Dampfer angehalten worden war. Der Lotse beugte sich über die Brücke.

»Warum hält man uns hier fest, meine Herren?« fragte er erstaunt.

»Wir suchen jemand auf Ihrem Schiff. Wir sind von Scotland Yard.«

»Was soll ich tun?« fragte der andere.

»Führen Sie den Dampfer an die Anlegestelle zurück.«

Ein Steward kam heran.

»Wo ist Mr. Gonzalez?« erkundigte sich Benskin.

»Ich nicht verstehen Englisch«, gab der Steward zurück.

Ohne ihn weiter zu beachten, traten die Beamten in die nächste Kabine. Sie war leer. Erst als sie einige Schritte weitergegangen waren, drang ein unterdrückter Hilferuf an ihr Ohr. Die Tür zur Kabine, aus der er gedrungen war, war verschlossen. Ein kurzer Anlauf Benskins, und das Holz zersplitterte. Vor den Männern stand Lady Muriel und streckte ihnen leise schluchzend ihre Arme entgegen.

»Ist Ihnen etwas passiert?« war die erste Frage Benskins.

»Nein. Aber, dieser Teufel! Ich glaubte schon, ich sei unrettbar in seiner Hand.«

Immer noch schluchzend, wies sie auf einen großen Koffer, der geöffnet auf dem Boden des kleinen Raumes stand und weibliche Kleidungsstücke enthielt.

»Meine Sachen«, erklärte das Mädchen. »Ich hatte den Schlüssel zu meiner Wohnung in der Tasche, aber das hat ihn nicht gestört. Er lachte nur, als ich es ihm sagte, und meinte, er brauche keine Schlüssel, um in meine Wohnung zu gelangen.«

Auf der Rückfahrt an den Landungsplatz schilderte Lady Muriel ausführlich, wie sie in die Gewalt Mathews gelangt war.

»Ich stieg in den Omnibus und verließ ihn in der Bond Street. Ich hatte kaum meinen Fuß auf die Straße gesetzt, als ein älterer Herr, der wie ein Arzt aussah, mich erst anstarrte und dann ansprach. Er teilte mir mit, daß ihm meine Ähnlichkeit mit meiner Kusine Millie Trotman aufgefallen sei. Sie habe einen kleinen Unfall gehabt und könne nicht zu dem Empfang kommen, den wir beide besuchen wollten. Er fragte mich, ob er mich in das Krankenhaus, in dem sie liege, begleiten dürfe. Ich war dumm genug, ihm zu folgen. Wie sollte ich auch ahnen, daß jemand meine Beziehungen zu Millie und unsere Absicht kannte, zum Empfang zu gehen? Ich stieg also in seinen Wagen und – wachte erst hier wieder auf.«

»Was ist mit Mathew?« erkundigte sich Benskin.

»Ich habe ihn heute früh nur eine Minute gesprochen. Er kam, um sich zu entschuldigen und mir mitzuteilen, daß er mir weitere Erklärungen geben werde, sobald wir uns auf hoher See befänden.«

Benskin stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Darf ich Sie jetzt verlassen, Lady Muriel? Ich muß dabei sein, wenn man ihn dingfest macht.«

»Wen?«

»Mathew-Gonzalez. Wir fanden zu spät heraus, daß wir wieder genarrt worden waren.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie glauben doch nicht etwa«, sagte sie, »daß Mathew an Bord geblieben ist, wo er doch wußte, daß Sie hinter ihm her waren? Wir waren kaum fünfzig Meter vom Land entfernt, als er bereits von einem kleinen Boot aufgenommen wurde, das ihn einem anderen Schiff zuführte. Ich weiß nicht, wie es hieß, aber das tut nichts zur Sache, denn auch von ihm wurde er gleich darauf wieder abgeholt. Hier an Bord werden Sie ihn bestimmt nicht mehr finden.«

»Ich weiß jedenfalls, daß er noch in London ist«, knirschte Benskin. »Entweder steckt er in einer seiner vielen Landhöhlen, oder er beobachtet uns von einem der Boote aus. Ist denn der Mensch unüberwindlich? Unsere besten Pläne werden zu Wasser. Gonzalez! Wie meisterhaft war diesmal seine Maske!«

Es klopfte.

»Hier ist ein Brief für die Herren«, meldete der eintretende Steward auf spanisch.

Benskin riß den Umschlag auf und las:

Mein lieber Benskin,

ich habe mich bisher mit Ihnen aufs beste amüsiert; diesmal aber haben Sie mich ernstlich erzürnt. Sie haben die herrlichste Episode in meinem abwechslungsreichen Leben zunichte gemacht. Sie haben mich des prächtigen Gemäldes, aller meiner Kleidungsstücke und des besten Schneiders, den ich je in meinem Leben hatte, beraubt. Warum zum Teufel, haben Sie den Wunsch Lady Muriels, nach Lesser Widerness Hall zu fahren, nicht erfüllt?

Von nun an bitte ich Sie, Ihre Pistole stets schußbereit zu halten. Meine Geduld ist zu Ende.

Mathew.

Erst jetzt erinnerte sich Benskin des Gainsborough. Lady Muriel wies auf einen Schrank. Er enthielt eine Rolle, die sich beim Öffnen als das geraubte Bild erwies.

»Der Gainsborough!« rief Benskin aus.

Lady Muriel nickte.

»Er hatte recht«, sagte sie. »Ich sehe diesem Bild ähnlich. Es ist nämlich das Porträt meiner Urgroßtante Lady Amelia Holcombe.« Nachdenklich starrte sie einen Augenblick auf die meisterhaft wiedergegebenen Züge der längst Verstorbenen. Dann fuhr sie fort: »Es sollte ein Geschenk für mich sein. Ehe er von Bord flüchtete, trat er hier nochmals ein. ›Wir werden das Bild bald gemeinsam bewundern können, Muriel‹, sagte er. Dann eilte er hinaus. Kurz darauf hörte ich ihn von Bord gehen.«

Benskin seufzte.

»Verlieren Sie nicht den Mut, Peter«, tröstete ihn das Mädchen. »Sie haben einen Sieg errungen, indem Sie ihn aus seiner letzten Zufluchtsstätte getrieben haben. Er ist ein Flüchtling, wie er es noch niemals war. Sie haben mich ihm entrissen und auch das verlorene Bild wiederbekommen. Das sind doch Erfolge, die zählen.«

Houlden nickte.

»Lady Muriel hat recht. Wir haben ihm einen bösen Schlag versetzt.«

Nur Benskin war skeptisch.

»Was wir an Erfolgen zu verzeichnen haben«, sagte er, »ist allein Ihnen zuzuschreiben, Lady Muriel. Hätten Sie uns nicht auf seine Spur gebracht, indem Sie uns auf seinen Schneider hinwiesen, dann stünden wir noch immer da wie Kinder. Wir haben ihn aber entkommen lassen. Das müssen wir uns vor Augen halten.«

»Trösten Sie sich, Benskin«, meinte Lady Muriel. »Das Ende ist nahe.«

Überrascht starrte Houlden sie an.

»Sie wissen noch etwas?«

»Ja«, nickte sie. »Fragen Sie mich bitte jetzt noch nicht danach. Welches Datum haben wir heute?«

»Den neunzehnten Oktober«, gab ihr Benskin Auskunft.

»Am zweiten November, meine Herren«, flüsterte sie eindringlich, »wird sich Mathews Schicksal erfüllen.«

 


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