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Major Houlden erwartete ungeduldig den Besuch Benskins, den er hatte rufen lassen. Endlich trat der sehnlichst Erwartete ein. Der Chef händigte ihm mit einem ironischen Lächeln einen Brief ein, den er bisher in der Hand gehalten hatte.
»Der Kerl mag ein blutdürstiger Geselle sein«, meinte er, »aber Mutterwitz hat er.«
»Mathew?« rief Benskin ärgerlich aus.
Houlden nickte. Benskin glättete den Bogen und begann zu lesen.
London, den 17. September
Ritz-Hotel
Mein sehr verehrter Herr Präsident,
nur einige kurze Zeilen, um Ihnen und Ihrem brillanten Mr. Benskin mitzuteilen, daß ich mich in London befinde und mich hier außerordentlich wohl fühle. Sie haben mir tatsächlich einen besseren Zeitvertreib verschafft, als ich anfangs für möglich gehalten hätte. Gleichzeitig muß ich zugeben, daß die Ehren des Siegers Ihnen in weit höherem Maß zuzusprechen sind als mir.
Die unselige Endale-Sache macht mir viel Kopfzerbrechen. Es war ein schwerer Schlag für mich, daß ich den größten Teil des Ertrages eines wohlgelungenen Einbruchs so mir nichts, dir nichts verloren habe. Die Ellacot-Juwelen sind jedoch bedeutend mehr wert, als ich dachte, und ich muß mich eben mit ihnen zu trösten versuchen. Auch bei Howson war meine Arbeit nicht ganz vergeblich.
Erst kürzlich hatte ich die Absicht, bei Ihnen persönlich vorzusprechen, sah dann aber doch lieber davon ab. Ich kann Ihnen Ihre Sehnsucht, mir zu begegnen, nachfühlen und bin gewillt, Ihnen die Gelegenheit dazu zu bieten. Heute abend gibt Madame de Grignolle in ihrem Haus am Grosvenor Square einen Empfang, zu dem, soviel ich gehört habe, zahlreiche ausländische Würdenträger eingeladen worden sind. Ich habe die Absicht, gleichfalls zu erscheinen. Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir beim Pförtner eine Blanco-Einladungskarte zu hinterlegen? Den Namen werde ich selbst einsetzen. Wenn Sie jedoch Madame nicht so gut kennen sollten, wie ich glaubte, und Ihnen die Hinterlegung der erbetenen Einladungskarte unmöglich ist, will ich versuchen, ohne eine solche ins Haus zu gelangen. Ich brenne darauf, einen Blick auf die herrlichen Schätze zu werfen, die Madame in Gestalt von Juwelen mit sich herumschleppt.
Auf Wiedersehen, mein lieber Herr Vizepräsident! Selbstverständlich ist es, falls ich weiter vom Pech verfolgt werden sollte, nicht ausgeschlossen, daß Sie als Gastgeber und ich als Gast uns wiedersehen, aber – man muß seinem Glücksstern auch ein wenig vertrauen.
Mathew.
»Halten Sie diesen Brief für Prahlerei?« fragte Houlden.
»Nein, keineswegs«, erwiderte Benskin. »Ich kenne Mathews Gewohnheit, Briefe zu schreiben, nun schon zur Genüge. Er will uns verwirren und glaubt, daß wir dann ungeschickt vorgehen werden.«
»Selbstverständlich werde ich die Gräfin vor dem beabsichtigten Besuch Mathews warnen«, erklärte Houlden.
»Und was wollen Sie ihr mitteilen?« fragte der andere.
»Nur, daß wir Grund haben, zu befürchten, ein internationaler Juwelendieb werde sich in irgendeiner Maske in ihre Gesellschaft einzuschleichen versuchen.«
»Sie können ihr sogar noch mehr mitteilen«, meinte Benskin. »Vielleicht erreichen Sie, daß sie Ihnen eine Blanco-Einladungskarte aushändigt, die wir dann beim Pförtner hinterlegen könnten. Zeichnen Sie die Karte mit einem kleinen Kreuz auf der Rückseite. Es wird dann ein leichtes sein, den Abholer zu verfolgen.«
»Der Vorschlag läßt sich hören«, erklärte der Major.
»Ich habe nämlich bezüglich Mathews meine eigene Theorie. Er ist unstreitig einer unserer fähigsten Verbrecher, ein Genie. Als solcher ist er – da Genie und Wahnsinn eng nebeneinander wohnen – auch ein wenig geistig angekränkelt. Für ihn ist es dringend notwendig, stets Aufregendes zu erleben, und zu diesem alleinigen Zweck plant er all seine Streiche. Aber auch er ist nur ein Mensch. Eines Tages wird er einen kleinen Fehler begehen, und dann . . .«
Er sprach nicht weiter. Houlden starrte seinen Untergebenen verwundert an. War dieser wutverzerrte, an allen Gliedern zitternde Mann vor ihm – Benskin, der konziliante, stets beherrschte Inspektor?
»Erregen Sie sich nicht unnötig, Freund Benskin«, bat ihn sein Vorgesetzter. »Mathew gibt selbst zu, daß wir bisher Sieger geblieben sind. War das nicht eine wunderbare Leistung, daß wir für hunderttausend Pfund geraubte Juwelen wieder herbeischaffen konnten? Was schadet es, daß wir für den Augenblick Mathew nicht zu fassen vermochten? Wir werden ihn bestimmt fangen; ich befürchte nur, daß er die Reise ins Jenseits nicht allein antreten wird.«
»Ja, wenn ihm Gelegenheit geboten wird, jemanden mitgehen zu lassen«, murmelte Benskin.
»Lady Muriel wird eine Einladungskarte haben«, fuhr der Chef fort. »Ihnen werde ich selbst eine besorgen. Haben Sie irgendwelche Anordnungen für heute abend zu treffen?«
»Ich möchte zwei unserer Leute in der Vorhalle als Diener beschäftigt sehen«, bat Benskin. »Zwei oder drei weitere sollen sich draußen aufhalten, wo die Verkehrsschutzleute stehen. Wenn wir Mathew vielleicht doch fassen können, möchte ich nicht, daß es ihm gelingt, durch die Haustür nach dem Grosvenor Square zu entkommen.«
»Geben Sie dem Distriktsinspektor die entsprechenden Befehle selbst, mein Lieber«, stimmte der andere zu.
Die Vorhalle im Hause der Madame de Grignolle glich einem Rosengarten. Der Saal war gedrängt voll von Uniformen, Fracks und kostbaren Abendtoiletten; das Licht der elektrischen Lampen brach sich in Tausenden und aber Tausenden von Strahlen auf kostbarstem Geschmeide.
Lady Muriel und Benskin hatten vor Beginn des Empfangs im Ritz zu Abend gegessen und kamen etwas spät. Mit Mühe war es ihnen gelungen, noch zwei leere Stühle in der Nähe der Eingangstür zum Saal zu finden. Dort saßen sie nun und ließen das bunte Treiben an sich vorüberziehen.
»Sagen Sie mir, Lady Muriel, um Gottes willen, was hier eigentlich gespielt wird«, meinte eben Benskin, der verwirrten Blickes um sich starrte. »Wer, zum Teufel, ist denn diese Madame de Grignolle eigentlich?«
»Man nennt sie die Dame im Harnisch«, unterrichtete ihn die junge Dame, »weil sie immer in einem Panzer von Geschmeide herumläuft. Man sagt, sie besitze Juwelen im Werte von vielen Millionen Pfund Sterling.«
»Wo hat sie diese Schätze denn her?«
»Ihr Vater war amerikanischer Ölkönig. Ihren Gatten lernte sie in Paris kennen und kaufte sich ihn. Für wieviel, weiß ich nicht, aber es muß eine stattliche Summe gewesen sein, denn er hatte Schulden wie ein – Graf. Nach zwei Jahren hatte er genug von ihr und starb. Das altertümliche Schloß Grignolle gehört nun ihr. Wie mir gesagt wurde, bringt sie dort jedes Jahr einige Monate zu. Dort hat sie denn auch den Gast des heutigen Abends kennengelernt. Seine Besitzung grenzt an die ihre.«
»Und wer ist dieser Gast?«
»Ja, mein lieber Freund, jetzt erst werden Sie sehen, was wirkliche Aristokratie ist. Ich kenne übrigens nur einige seiner Titel. Für gewöhnlich wird er als Seine Exzellenz, der Herr General, Herzog von Angoulême und Saint Creux bezeichnet. Sein militärischer Titel stammt aus dem Krieg. Er soll ein brillanter Kopf und nur deshalb nicht besonders ausgezeichnet worden sein, weil er einem Geschlecht angehört, das der heutigen französischen Staatsform feindlich gesinnt ist. Seit Kriegsende beschäftigt er sich mit der ›haute politique‹. Jetzt gehen sie zum Souper. Sieht das ganze Treiben nicht aus, als wäre man bei Hof? Diese Parvenü-Frauen machen aus allem, womit sie in Berührung kommen, einen Zirkus.«
Madame de Grignolle war mittelgroß und hellblond. Ihr fehlte trotz der Juwelenschätze, die sie auf ihrem Körper herumschleppte, das gewisse Etwas, das eine Frau erst zur Aristokratin macht. Sie ließ ihre ringgeschmückte Hand auf dem Arm ihres Begleiters ruhen, des Mannes, der einem Thron nahegestanden und sich vor der Welt durch seine geistigen Fähigkeiten ausgezeichnet hatte. Als das Paar sich den beiden jungen Leuten näherte, blieb Madame vor Lady Muriel stehen.
»Ach, Lady Muriel? Ich habe Sie noch gar nicht bemerkt. Ja, es war wirklich entsetzlich im Empfangssalon. So ein Gedränge! Darf ich Ihnen meinen Begleiter vorstellen? Herzog«, wandte sie sich an ihn, »das ist Lady Muriel Carter; Lady Muriel – der Herr Herzog von Angoulême.«
Der Franzose begnügte sich, mit einem Lächeln die Vorstellung zu quittieren. Er war viel älter, als man erwartet hatte. Sein Gesicht zeigte viele Falten, und um seinen Mund lag ein Ausdruck unsagbarer Blasiertheit. Als ihm Lady Muriel in perfektem Französisch einige passende Worte erwiderte, ließ er sich ein wenig mehr gehen.
»Enchanté, Lady Muriel«, flüsterte er. »Ich habe einige Ihrer Verwandten auf der Pariser Botschaft Ihres Landes getroffen. Hier, blicken Sie sich um: das ist, was unsere liebenswürdige Gastgeberin einen ›kleinen, intimen Empfang‹ nennt.« Er wies lächelnd auf das im Saal herrschende Gewühl.
Madame hatte die Worte gehört. Sie lachte und zog ihn weiter.
»Aber, Herzog«, meinte sie, »Sie dürfen nicht vergessen, wie sehr wir uns dafür in Grignolle langweilen mußten.«
Lady Muriel und Benskin nahmen wieder ihre Plätze ein. Der Inspektor blickte dem sich entfernenden Zuge nach.
»Dieses entsetzliche Weib«, sagte er, »müßte auf der Stelle festgenommen werden. Sind diese Juwelen wirklich echt?«
»Bestimmt«, versicherte sie ihm. »Sie brüstet sich damit, daß sie nie in ihrem Leben einen einzigen unechten Stein besessen hätte, und – ich glaube ihr. Voriges Jahr raubte man ihr in Cannes ein wundervolles Halsband, aber sie machte sich nicht viel daraus. Am nächsten Abend hatte sie ein neues, noch wertvolleres. Haben Sie den großen Diamanten gesehen, den sie um den Hals hängen hatte? Ja? Das ist die sogenannte ›Träne‹, die früher der Zarin gehörte. Sie soll dreihunderttausend Pfund gekostet haben.«
»Ich glaube, es wird höchste Zeit, sich nach Mathew umzusehen«, meinte Benskin trocken und erhob sich.
»Aber erst wollen wir etwas essen«, widersprach Lady Muriel.
Sie erhoben sich und wollten sich eben in den Speisesaal begeben, als ihnen ein Diener in den Weg trat. Flüsternd wandte er sich an Benskin.
»Es ist eben ein Gast gekommen«, berichtete er, »der nach der Einladungskarte gefragt hat, die man für ihn zu reservieren versprochen hätte. Der Butler hat sie ihm gegeben.«
Benskins Augen leuchteten auf. Seine Langeweile schien verflogen.
»Er ist doch ein kluger Kopf«, rief er aus. »Wartete, bis die Vorstellungen beendet waren, und kam erst dann.«
»Parsons hat ihn im Auge«, fuhr der Pseudodiener, einer der Scotland-Yard-Beamten, fort. »Er ist ein Herr von ungefähr vier- bis fünfunddreißig Jahren und spricht mit ausländischem Akzent. Er trägt ein Monokel. Er fragte nach dem Weg in den Speisesaal.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Benskin. Dann wandte er sich brüsk an den Diener: »Sorgen Sie dafür, daß er nicht entkommen kann. Falls er versucht, das Haus zu verlassen, nehmen Sie irgendeinen Vorwand zu Hilfe, um ihn festzuhalten. Seine unausgefüllte Einladungskarte wird Ihnen einen genügenden Grund für Ihr Vorgehen bieten.«
Der Diener entfernte sich, und Lady Muriel seufzte.
»Ich bin genau so scharf auf Abenteuer wie Sie, Peter Benskin«, sagte sie, »aber ich habe Hunger. Es liegen herrliche Sachen auf dem Eßtisch.«
Er lachte.
»Es kommt ja nicht darauf an, wo wir hingehen. Außerdem scheint sich ja unser Freund auch nach dem Speisezimmer begeben zu haben.«
Das über eine Stunde dauernde Mahl erfüllte alle diesbezüglich gehegten Wünsche und Erwartungen. Endlich war es Benskin, trotz des herrschenden Gedränges, gelungen, sich dem Pseudodiener wieder zu nähern.
»Ich habe ihn keinen Augenblick aus den Augen verloren, Sir«, berichtete der Mann. »Erst vor ein paar Minuten war er plötzlich verschwunden. Er stand der Gräfin so nahe, daß ich mich nicht näher heranwagte. Dort, zwischen jenen beiden Säulen, hielt er sich auf. Chalmers steht auf dem anderen Flügel des Saales, während Parsons hier auf ihn wartet. Wir haben ihn also zwischen uns. Wenn er hier heraus will, muß er auf alle Fälle an einem von uns vorbei.«
»Er kann also nicht entkommen?« erkundigte sich Benskin.
»Nein. Wir wollten kein übergroßes Risiko eingehen und haben deshalb noch einige Leute vom Yard hierher beordert. Auch die rückwärtigen Ausgänge werden bewacht, und Brooks steht in der Garderobe, falls er seine Sachen zu holen versucht.«
»Schön«, lobte Benskin. »Ich will ihn suchen, werde aber alles übrige euch überlassen müssen. Wenn es tatsächlich Mathew war, den Sie im Auge behielten, dann würde er mich sofort wiedererkennen. Ich darf mich deshalb nicht von ihm sehen lassen.«
Endlich lichtete sich das Gedränge. Die Gesellschaft begab sich in den Musiksaal, wo eine weltberühmte Opernsängerin Proben ihrer Kunst geben wollte. Die Gräfin lächelte immer noch, schien aber, wie es Benskin vorkam, bleicher als zuvor. Ihre Linke griff suchend an ihren Hals, von wo die ›Träne‹ vor kurzem noch ihre gleißenden Strahlen in den Saal gesandt hatte. Als Lady Muriel an ihr vorbeiging, vermochte sie einen leisen Ausruf nicht zu unterdrücken.
»Gehen Sie, Benskin«, flüsterte sie ihrem Begleiter zu. »Schnell! Hinunter ins Foyer! Welch eine Ruhe von jener Frau! Wissen Sie, was geschehen ist? Die ›Träne‹ ist verschwunden.«
Parsons lächelte seinen Vorgesetzten triumphierend an, als er Benskin den kürzesten Weg zur Hintertreppe führte.
»Beinahe wäre er uns entkommen, Sir«, berichtete er. »Er wollte ohne Hut und Rock davon. Chalmers griff ihn gerade noch, als er versuchte, aus dem Lesezimmerfenster zu entwischen. Vom Garten aus führt ja eine Tür auf die Straße, und diese wollte er wohl erreichen. Sie ist zwar versperrt, aber er wird wohl einen Schlüssel bei sich gehabt haben.«
»Was sagte er denn, als ihr ihn anhieltet?«
»Viel nicht, aber er handelte um so mehr. Er ist verdammt kräftig; vielleicht kein geschulter Boxer, aber schlüpfrig wie ein Aal.«
»Wo habt ihr ihn denn?«
»Im Hausmeisterzimmer im Keller«, gab der Beamte zurück.
Parsons öffnete eine Tür, und Benskin trat ein. Im Zimmer waren nur drei Personen anwesend; zwei, die Benskin als Beamte Scotland Yards erkannte, und eine, die auf dem Tisch saß, eifrig mit dem Lesen des »Punch« beschäftigt. Der Unbekannte stimmte mit der von Parsons gegebenen Beschreibung überein; er hatte eine etwas gebogene Nase, war aber sonst nicht häßlich. Seinen Frack trug er mit der Miene eines Menschen, der es versteht, sich in Gesellschaft zu bewegen. Als er Benskin eintreten sah, wandte er sich, immer noch den »Punch« in der Hand haltend, an ihn.
»Sind Sie dafür verantwortlich, daß man mich hier zurückgehalten hat, Sir?« wollte er wissen.
Eingehend betrachtete Benskin den Sprecher. Er war nicht der Typ, den er zu sehen erwartet hatte, aber Mathew war ja in allen Verkleidungskünsten ein Meister.
»Ja, der bin ich«, beantwortete er die Frage des anderen.
»Vielleicht klären Sie mich darüber auf, warum Sie mich festnehmen ließen?«
»Das zu tun, bin ich doch hier. Sie betraten das Haus, ohne eingeladen gewesen zu sein, und fanden, rein zufällig, beim Pförtner eine Blanco-Einladungskarte vor.«
»Geht das Sie vielleicht etwas an?« Der Unbekannte begann langsam die Geduld zu verlieren.
»Ich bin Inspektor Benskin von Scotland Yard, und ich möchte Ihnen in Ihrem Interesse anraten, meine Fragen zu beantworten. Warum verlangten Sie die Karte?«
»Ich hätte überhaupt keine gebraucht«, bequemte sich der andere, die ihm gestellte Frage zu beantworten. »Ich hätte auch ohne sie hereinkommen können.«
»Warum verlangten Sie die Karte?« bestand Benskin auf seiner Frage.
»Ich habe den Butler gebeten«, meinte nun der Verdächtige, »mir eine Karte zu besorgen. Ich hatte meine Gründe dafür.«
»Zeigen Sie mir die Karte«, gebot Benskin.
Nach kurzem Zögern reichte er sie ihm. Auf der Rückseite des Kärtchens war ein kleines Kreuz eingezeichnet.
»Wie heißen Sie?« wollte der Inspektor wissen.
»Vandoorn.«
»Kennt Sie jemand im Hause?«
»Verschiedene Leute dürften mich kennen. Einer von ihnen wäre zum Beispiel Lord Partington.«
Benskin flüsterte einem seiner Leute einen Befehl zu, und der Mann entfernte sich sogleich.
»Sie sagten eben«, fuhr Benskin dann in seinem Verhör fort, »daß Sie einen bestimmten Grund gehabt hätten, heute abend hierherzugehen. Worin besteht er?«
»Nicht eine Frage beantworte ich mehr«, brach der Gepeinigte los. »Verdammt noch einmal! Was wollt ihr eigentlich von mir? Ich habe genau so viel Recht, hier zu sein, wie ihr. Was geht es euch an, wie ich mir meine Einlaßkarte besorgt habe? Laßt mich gehen!«
»Gleich«, versuchte Benskin ihn zu beruhigen. »Erst will ich Sie ein wenig durchsuchen. Hände hoch! Lassen Sie die Hand von Ihrer Pistole!«
Der Mann hatte versucht, seine Hüfttasche zu erreichen, als ihn der Anruf Benskins warnte.
»Los, untersucht ihn, und wenn er sich wehrt, legt ihm Handschellen an.«
Jetzt erst begann der andere seine mühsam aufrechterhaltene Ruhe zu verlieren.
»Ich lasse mich nicht untersuchen«, rief er aus. »Sie haben kein Recht dazu.«
»Darüber unterhalten wir uns später«, meinte der Inspektor seelenruhig.
Die Durchsuchung förderte eine automatische Pistole und – ein zerrissenes Halsband zutage, das aus einer Platinkette und einem wundervoll geformten, herzförmigen Diamanten bestand.
»So, so«, meinte Benskin, den anderen anstarrend. »Wie haben Sie denn das fertigbekommen?«
»Fertigbekommen?« brummte sein Gegner fragend. »Das ist mein Eigentum.«
Die Beamten lachten, und auch Benskin konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Vandoorn sah aus, als wolle er sich auf die Beamten stürzen. Benskin breitete über den gefundenen Diamanten sein Taschentuch. Es klopfte.
»Herein!«
Es war die Gräfin de Grignolle in Begleitung eines kleinen Herrn, der sich suchend umblickte.
»Ich bin Lord Partington«, stellte er sich vor. »Was ist denn hier los?«
»Kennen Sie diesen Mann?« fragte ihn Benskin.
Der Lord klemmte sein Monokel ins Auge und nickte.
»Das ist doch der Sohn vom alten Vandoorn«, rief er überrascht aus.
»Jawohl, Mylord«, bestätigte der junge Mann und blickte Benskin triumphierend an. »Ich weiß gar nicht, was die Leute von mir wollen. Sie wollten mich nicht aus dem Hause lassen und beschuldigen mich jetzt auch noch des Diebstahls.«
»Bitte, vergessen Sie nicht zu erwähnen, daß Sie sich mit Hilfe einer unrechtmäßig erhaltenen Einlaßkarte ins Haus gedrängt und dann versucht haben, es durch das Bibliotheksfenster wieder zu verlassen. Als wir Sie durchsuchten, fanden wir erstens eine geladene Pistole und zweitens dies hier.«
Er hob sein Taschentuch auf. Die Gräfin schrie auf und stürzte an den Tisch. Plötzlich blieb sie wie versteinert stehen.
»Was bedeutet das?« fragte sie den Detektiv.
Vandoorn übernahm die Beantwortung der Frage.
»Das kann ich Ihnen mitteilen, Mylady«, brach er los. »Diese Leute hegen den merkwürdigen Verdacht, ich sei ein Dieb und hätte mir die ›Träne‹ verschafft. Sie, Mylord«, wandte er sich an Partington, »wissen, wer und was ich bin, und kennen auch den Beruf meines Vaters, nicht wahr?«
»Vandoorns«, erklärte nun der Gefragte, »sind die bekanntesten Similifabrikanten Englands.«
»Das stimmt«, bestätigte der Verdächtigte. »Wir hatten den Auftrag bekommen – von wem, verraten wir, da es sich um ein Geschäftsgeheimnis handelt, nicht –, die ›Träne‹, den Diamanten Lady Grignolles, zu imitieren. Hier liegt die Imitation. Wir hatten die Arbeit vollendet, waren jedoch mit der Ausführung nicht ganz zufrieden. Vater meinte, ich solle mir eine Einladungskarte für den heutigen Abend besorgen und mir den Diamanten einmal selbst ansehen. Wir konnten natürlich Madame nichts davon wissen lassen, aber ich kannte den Butler gut, und er gab mir eine Blanco-Karte. Die ›Träne‹ habe ich mir schon gleich, als ich ankam, angesehen und wollte wieder weg. Dabei ertappten mich diese Idioten vom Yard. Was geht es mich an, wenn man das Original gestohlen hat? Wir sind keine Diebe und hätten es auch gar nicht notwendig, zu stehlen. Wenn Sie mir nicht glauben, erkundigen Sie sich bei unserer Bank. Vater hat seine fünfzigtausend Pfund Vermögen.«
Ein drückendes Schweigen herrschte nach dieser Erklärung im Zimmer. Irgendwie, dessen war sich Benskin sicher, war hier wieder ein Streich erfolgreich vollendet worden.
»Warum laufen Sie mit einer geladenen Pistole in der Weltgeschichte herum?« fragte er den jungen Vandoorn.
»Sie glauben doch nicht etwa, wir hätten nur Similisachen? Nein, wir handeln auch mit echten Brillanten. Außerdem vertraut man uns doch auch die echten Stücke an, damit wir die Imitationen anfertigen können. In unserer Branche geht keiner ohne Schußwaffe aus dem Haus.«
Wieder klopfte es. Der Butler trat ein und überreichte der Gräfin ein offenes Telegramm.
»Mylady«, meldete er. »Dieses Telegramm ist eben angekommen, und der Sekretär hat es geöffnet. Er befahl mir, Mylady sofort aufzusuchen.«
Die Gräfin warf einen Blick auf die wenigen Zeilen. Ihre Augen wurden immer größer. Endlich wandte sie sich an Benskin.
»Können Sie mir sagen, was das bedeuten soll?« fragte sie, ihm den Bogen reichend.
Benskin las vor:
Grignolle, 17. September.
Bedaure außerordentlich, dringender Abhaltung wegen zum heutigen Fest nicht anwesend sein zu können. Werde Mylady bei meinem demnächstigen Aufenthalt in London aufsuchen.
D'Angoulême.
Die Anwesenden starrten schweigend vor sich hin. Aber Benskin hatte die Lösung dieses scheinbaren Rätsels schon gefunden.
»Madame«, wandte er sich an die Gräfin, »waren Sie mit dem Herzog vor dem heutigen Abend sehr gut bekannt?«
Die Dame zögerte mit der Antwort. Endlich sagte sie:
»Wir waren in Grignolle Nachbarn und hatten Karten ausgetauscht.«
»Sahen Sie den Herzog häufig? Sahen Sie ihn je persönlich bei sich?«
»Nein, das nicht«, gab die Gräfin errötend zu. »Als ich ihn das letztemal sah, ging er gerade in seinem Garten spazieren.«
Benskin fragte erbarmungslos weiter.
»Wunderten Sie sich nicht, daß er Sie hier in London aufsuchte?«
»Doch, ein wenig.«
Der Inspektor wandte sich an den Butler.
»Ist der Herr Herzog noch oben?« fragte er ihn.
»Hoheit hat mir befohlen, Mylady seine Entschuldigungen zu übermitteln. Er war müde und hat sich vor kurzem zurückgezogen. Um das Abschiednehmen zu vermeiden, benützte seine Hoheit die Dienertreppe. Er ist vor wenigen Minuten in einem Taxi weggefahren.«
»Der Mann war ein Hochstapler?« rief die Gräfin aus.
»Jawohl, Mylady«, bestätigte Benskin ihre Vermutung. »In seiner Tasche befindet sich Ihr Diamant.«
»Und die Polizei hat das zugelassen?« fragte die Beraubte zornig. »Sie war die ganze Zeit über im Hause, und ich konnte trotzdem bestohlen werden?«
Benskin richtete sich auf.
»Madame«, bemerkte er kühl. »Sie stellten selbst den Herzog von Angoulême vor, den berühmten Soldaten Frankreichs, Ihren angeblich intimen Freund! Die Polizei ist keine übernatürliche Einrichtung. Wir mußten naturgemäß glauben, daß Sie den Mann, den Sie ganz London als Freund vorstellten, genau kennen.«
Die Gräfin hatte nichts mehr zu erwidern. Benskin wandte sich ab. Er hatte nur den einen Wunsch, daß niemand in diesem Augenblick sein Gesicht sehen sollte. Irgendwo in London, oder auf einer der aus der Metropole herausführenden Landstraßen, raste jetzt eine luxuriöse Limousine dahin, die einen lächelnden Insassen seinem Ziel näher brachte.