Edward Phillips Oppenheim
Menschenjagd
Edward Phillips Oppenheim

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10.
Die kleinen gelben Vögel

Benskin und seine Gehilfin, Lady Muriel, saßen im ›Francis‹ und nahmen ihr Abendessen ein. Beide waren schweigsam und mit sich selbst beschäftigt.

Endlich unterbrach die junge Dame das drückende Schweigen.

»Es sieht aus, als hätten Sie etwas Neues an Hand, Peter. Sie haben die letzte halbe Stunde kein Wort von sich gegeben.«

Er lächelte. Dann griff er in seine Tasche und zog einen Brief heraus, den er ihr reichte.

»Ich habe an meinen alten Fällen genug, Lady Muriel«, meinte er. »Ich war jedoch so sehr in Ihren reizenden Anblick versunken, daß ich ganz vergaß, etwas zu sagen. Lesen Sie diesen Brief. Er wird Ihnen Spaß machen.«

Er hat also doch meinen neuen Hut bemerkt? freute sich die Gesellschafterin des Inspektors in Gedanken. Zögernd öffnete sie den Bogen und begann zu lesen.

Donnerstag, im Claridge-Hotel.

Mein lieber Freund Benskin,

ich schreibe nun nicht mehr an Ihren Chef. Er nimmt so wenig Notiz von meinen Zuschriften, daß ich endlich auch die Geduld verloren habe. Warum befolgt er eigentlich meine Winke nicht? Er könnte mir doch antworten, denn der Inseratenteil der »Times« steht allen, die Geld haben, offen.

Diesmal richte ich meine Botschaft direkt an Sie. Vielleicht sind Sie ein wenig klüger und zugänglicher als Major Houlden. Seit jener Grosvenor-Square-Angelegenheit habe ich wirklich große Sympathie für Sie, mein lieber Benskin. Es muß Ihnen doch entsetzlich unangenehm gewesen sein, als Sie merkten, daß Sie sich in der Person des jungen Vandoorn vergriffen hatten, wie? Ja, der Herr Herzog d'Angoulême war schon weg, als Sie merkten, was wirklich gespielt worden war. Sie dürfen sich auf diese jungen Amerikanerinnen überhaupt nicht verlassen. Sie schwindeln, wenn es sich um ihre sogenannten »aristokratischen Freunde« handelt, das Blaue vom Himmel herunter.

Sie möchten wahrscheinlich wissen, wie mein nächster Streich ausfallen wird, nicht wahr? Die Sache wird harmlos genug verlaufen. Wirklich, Benskin, ihr habt nicht die geringste Aussicht in eurem Kampf gegen mich. Ihr dürft ja nicht frei von der Leber weg handeln. Solange das nicht anders wird, werdet ihr nie gegen mich aufkommen können. Also, zerbrechen Sie sich über mein nächstes Unternehmen den Kopf. Ich glaube aber kaum, daß Sie auf die richtige Spur kommen werden. Ich werde, wie ich Ihnen als Anreiz mitteilen will, das berühmteste Bild Englands, einen Gainsborough, stehlen. Kommen Sie, Kleiner! Machen Sie sich auf die Socken und geben Sie sich Mühe, etwas zu erreichen bei Ihrem ergebenen

Mathew.

Lady Muriel lachte, bis ihr die Tränen in die Augen traten.

»Peter« – wenn sie allein waren, nannten sie einander beim Vornamen –, »ich glaube, ich würde es bedauern, wenn Sie Freund Mathew das Handwerk legten. Er hat einen solchen Humor, daß es direkt erfrischend wirkt, von seinen Streichen zu sprechen.«

»Leider zahle ich die Kosten für seinen Mutterwitz«, gab der Gehänselte unwirsch zurück.

»Das wird auch noch anders werden«, tröstete sie ihn. »Was haben Sie denn auf seinen Brief hin bisher unternommen?«

»Ein Freund von mir arbeitet in der Kunstabteilung des Britischen Museums. Er hat versprochen, mir eine Aufstellung aller in englischem Privatbesitz befindlichen Gainsboroughs zu geben. Die wollen wir, das heißt, der Chef und ich, dann eingehend prüfen.«

In der Unterhaltung trat eine kurze Pause ein. Dann beugte sich Lady Muriel vor.

»Peter«, flüsterte sie, »warum interessieren Sie sich so für die beiden Männer dort drüben?«

»Werfen Sie einen Blick hinüber, und Sie werden meine Neugierde verstehen können«, gab er ebenso leise zurück.

Einige Tische weiter saßen zwei Männer in eifrigem Gespräch. Für den Augenblick bestritt der jüngere von ihnen die Kosten der Unterhaltung. Er war so gefesselt von den Erklärungen, die er gab, daß Lady Muriel ihre Neugierde befriedigen konnte, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen. Beide Herren waren unstreitig orientalischer Abstammung. Der ältere gehörte nicht den Kreisen an, die in derartigen Lokalen zu verkehren pflegten. Er war einfach, beinahe schäbig gekleidet, während der jüngere den Anforderungen des Lokals einigermaßen entsprach. Auf ihrem Tisch stand eine Flasche Sekt teuerster Marke, und der Kellner war eben damit beschäftigt, eine zweite zu öffnen.

»Sie haben recht«, meinte Lady Muriel, als sie mit der Musterung der beiden fertig war. »Die beiden sehen aus, als wären sie eben aus dem Gefängnis entlassen worden. Der junge Mann mit den Kalbsaugen sieht entsetzlich aus, und sein Begleiter scheint die vorige Nacht auf einer Promenadenbank zugebracht zu haben.«

»Das ist alles nur äußerlich«, murmelte Benskin. »Wenn Sie sich immer nach dem ersten Eindruck richten, werden Sie niemals eine gute Detektivin werden.«

»Ich trage auch gar kein Verlangen danach«, gab sie zurück, während sie sich eine Birne aus dem Obstkorb nahm. »Ich habe keine andere Sehnsucht als die nach einem Zimmerchen in der Großstadt, wo ich wohnen kann, wenn ich hier bin; nach einem Landhäuschen mit einem hübschen Garten, einer Angelkarte und, wenn es hoch kommt, vielleicht noch einer Hundemeute für die Fuchsjagd. Hätte ich das, dann wäre ich restlos glücklich.«

Benskin seufzte.

»Schade, daß Sie sich unserem interessanten Beruf nicht ganz widmen wollen. Sie haben schon einige recht nette kleine Erfolge erzielt.«

»Danke für Stachelbeeren«, meinte sie. »Scherz beiseite: Ich habe nichts dagegen, diesen Beruf eine Zeitlang auszuüben; jedenfalls ziehe ich ihn einer Beschäftigung als Tippmamsell oder Schneiderin vor. Aber eine innere Befriedigung gewährt er mir nicht. Ich brauche Geld, Peter, dringend sogar. Ich weiß im Augenblick noch nicht, wo ich mein neues Kostüm herbekommen werde.«

»Na, die Verwaltung ist freigebig«, tröstete er sie. »Vielleicht gelingt es uns, unseren Freund Mathew zu fangen. Die Belohnung wird groß genug sein, um uns beiden allerhand Mittel in die Hand zu geben!«

»Halten Sie die beiden Männer da drüben für Verbrecher?« fragte sie.

»Keine Ahnung: Aber daß sie, wenn es sich lohnte, vor einem Verbrechen nicht haltmachen würden, das glaube ich annehmen zu dürfen.«

Eben wurde der Kaffee gebracht. Während sie beide ihre Zigaretten anbrannten, beugte sich Lady Muriel über den Tisch. Benskin wischte sich über die Augen. Die weichen, roten Lippen des Mädchens lockten zu sehr, und nur mit Mühe konnte er sein Verlangen unterdrücken, sie zu küssen. Sie hatte seine Verwirrung bemerkt.

»An was denken Sie, Peter?« fragte sie. »An mich?«

»An Sie denke ich immer«, versuchte er, ihr auszuweichen.

»Sie halten mich wohl für eine Art Schlafmittel«, scherzte sie.

»Nein.«

Wieder lachte sie.

»Bitte, sagen Sie mir, an wen Sie gedacht haben . . .«

»Nicht an Sie, Lady Muriel, wenigstens nicht in diesem Augenblick. Mir gehen diese beiden Männer nicht aus dem Kopf.«

»Warum denn nur? Kennen Sie sie?«

»Das ist es ja eben, was mich bedrückt«, gestand er. »Der Jüngere kommt mir bekannt genug vor, aber ich kann mich im Augenblick wirklich nicht besinnen, wo ich ihn gesehen haben könnte.«

»So? Vielleicht kann ich Ihnen auf die Sprünge helfen. Ich weiß, wo Sie sein Gesicht gesehen haben.«

»Nun?«

»Sie haben sein Bild heute morgen im ›Daily Sketch‹ oder im ›Mirror‹ gesehen. Er ist jener Mr. Chittuck aus Norwich, der in der diesjährigen Kanarienvogel-Ausstellung den ersten Preis bekommen hat. Ich glaube mich zu erinnern, daß er als Schuhfabrikant bezeichnet wurde. Übrigens habe ich mich selbst erst in diesem Augenblick auf ihn besonnen.«

Er blickte sie überrascht an. Dann lachte er leise vor sich hin. Plötzlich wurde er ernst.

»Sie haben recht. Er ist dieser Chittuck.«

 

Einige Tage später betrat Peter Benskin im Touristenkostüm, mit Kamera und Rucksack ausgerüstet, das Frühstückszimmer des Maid's-Head-Hotel in Norwich. Mit gewohntem Appetit vertilgte er eine große Portion Spiegeleier, spülte sie mit unzähligen Tassen Tee hinunter und machte sich dann, seinem Aussehen entsprechend, als Tourist auf den Weg. In einer der Straßen östlich der Kathedrale traf er auf das gesuchte Firmenschild: »Chittuck & Baynes, Kinderschuhfabrik«.

Er schritt durch den düsteren Torweg, bis er eine Tür erreichte, die das Schild »Kontor« trug.

Nach kurzem Anklopfen trat er ein. Der junge Mann, den er im Londoner Restaurant bemerkt hatte, erhob sich von seinem Schreibtisch und begrüßte ihn.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er.

»Mein Name ist Bennet«, log Peter Benskin. »Sind Sie Mr. Chittuck, der berühmte Kanarienzüchter?«

Der andere nickte, und der Besucher fuhr fort:

»Ich habe Ihre Kanarienhähne auf der Ausstellung gesehen. Herrliche Vögel waren es, das muß ich sagen.«

»Ja, es sind die besten, die jemals gezüchtet wurden«, erklärte der andere selbstbewußt.

»Ich möchte einige Hähne kaufen. Kann ich einen der prämiierten bekommen?«

»Leider nicht. Ich habe alle verkauft.«

»Wie schade. So ein Pech! Sind alle an einen einzigen Käufer gegangen?«

»Ja. Die Vögel, die ich noch hier habe, sind alle so zahm, daß ich sie nicht verkaufen möchte. Außerdem ist es mit ihrem Gesang nicht weit her. Vielleicht haben Sie das nächste Mal mehr Glück.«

Benskin überging die deutliche Verabschiedung.

»Könnten Sie mir nicht den Namen des glücklichen Käufers nennen, Sir?« fragte er.

»Nein, leider nicht. Es hätte auch keinen Zweck, denn der Betreffende würde bestimmt keinen wieder verkaufen.«

»Gleichwohl! Wie heißt er denn?«

Mr. Chittuck hatte sich bereits wieder seiner Beschäftigung zugewandt, blickte aber auf die wiederholte Frage hin erstaunt auf den hartnäckigen Besucher.

»Was geht es Sie an, wem ich die Vögel verkauft habe, Sir?« Die Frage klang scharf. »Der Käufer würde Ihnen nicht einen einzigen abgeben. Deshalb kann es Sie auch nicht interessieren, wie er heißt.«

Durch einen raschen Blick vergewisserte sich Benskin, daß der hinter ihm liegende Warteraum leer war. Dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern.

»Ich habe wichtige Gründe, nach dem Namen des Mannes zu fragen, der Ihre Kanarienhähne gekauft hat«, erklärte er. »Heißt er vielleicht ›Mathew, der Mörder‹?«

Ein langes Schweigen trat ein. Chittuck starrte den Besucher sprachlos an. Er war bleich geworden, und helle Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn. Der Federhalter war ihm aus der Hand gefallen.

»Wer – sind – Sie?« fragte er endlich stotternd.

»Ich bin von Scotland Yard«, stellte sich Peter vor. »Ich habe kein Interesse daran, Ihnen zu nahe zu treten, Chittuck, aber – ich bin hinter Mathew her und weiß, daß Sie mit ihm in Verbindung stehen. Sie haben von Ellis & Hurnphreys Waren bezogen, nicht wahr?«

»Wie sind Sie auf mich gekommen?«

»Durch Zufall. Wir haben im Yard eine kleine Liste zusammengestellt, die alle Eigenheiten unseres vielgesuchten Freundes Mathew enthält. Daher weiß ich, daß er für reinzüchtige Kanarienhähne schwärmt. Er geht nirgends hin, ohne seine Vögel mitzunehmen. Während der Ausstellung hatten wir einen unserer Leute zur Beobachtung hingeschickt.«

»Mein Gott!« Chittuck wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Als ich dann noch in der Zeitung las, daß ein Mr. Chittuck aus Norwich, Mitinhaber der Firma Chittuck & Baynes, den ersten Preis bekommen hatte, zählte ich zwei und zwei zusammen. Ich wußte doch, daß die betreffende Firma mit Ellis & Humphreys arbeitete. Sie wissen, die Firma in der Endale Street, die wir vor einigen Tagen aushoben.«

»Die verdammten Zeitungen«, brach Chittuck los.

»Sie haben recht. Aber wie geht es Ihnen sonst, Mr. Chittuck. Was macht die Schuhfabrik?«

»Mir geht es so gut wie niemals in meinem Leben zuvor«, stöhnte der andere. »Ich verdiene schönes Geld, und zwar auf ehrliche Weise. Wir haben so viel in der Fabrik zu tun, daß wir Überstundenschichten einlegen mußten. Mein Kompagnon ist ein anständiger Kerl und – gerade jetzt müssen Sie kommen und alles zerstören. Mein Gott! Nur wegen der verdammten kleinen gelben Vögel.«

»Ich sagte Ihnen doch, Mr. Chittuck, daß ich keineswegs die Absicht habe, Sie zu schädigen«, versuchte Benskin ihn zu beruhigen. »So brutal sind wir nicht, daß wir einem Menschen die Existenz zerstören, wenn er versucht, sich ehrlich durch die Welt zu schlagen. Sagen Sie mir, wo ich Mathew finden kann, und ich werde Sie nie wieder belästigen.«

Mißtrauisch starrte der andere seinen Besucher an.

»Sie würden mich dann wirklich in Ruhe lassen?« fragte er.

Benskin nickte.

»Ich bin nur nach Norwich gekommen, um das zu erfahren. Ich weiß nicht, wo Mathew sich gegenwärtig aufhält, und hoffe, es von Ihnen zu erfahren.«

»So eine verdammte Zwickmühle«, stöhnte der andere. »Wenn ich Ihnen etwas von Mathew verrate, läßt er mich ermorden. Ich weiß das.«

»Diese Möglichkeit wollen wir gar nicht erst in Betracht ziehen, Chittuck«, wehrte Benskin ab.

»Wenn ich Ihnen wirklich seinen Aufenthaltsort verriete, Sir«, flüsterte der in die Enge Getriebene, »was hätten Sie davon? Sie wissen doch, mit wem Sie es zu tun haben. Er läßt sich nicht lebend fangen. Lassen Sie ihn in Ruhe, Sir! Ich rate Ihnen gut.«

»Reden Sie keinen Unsinn, Chittuck. Wir sind nicht dazu da, Verbrecher vom Schlage Mathews in Ruhe zu lassen.«

»Dann übergeben Sie die Sache einem Ihrer Kollegen, Sir.« Der Mann sprach im Ernst. »Sie sind noch jung und haben noch ein langes Leben vor sich. Lassen Sie wenigstens Mathew in Ruhe.«

»Sagen Sie mir, wo ich ihn finden kann«, unterbrach ihn Benskin. »Ich werde mit Mathew fertig. Sie werde ich dann nicht mehr belästigen.«

Lange schwieg der andere. Dann beugte er sich nieder, bis seine Lippen das Ohr Benskins berührten.

»Zwanzig Kilometer von hier – Sie finden den Platz auf jeder Karte – liegt ein Gut, Lesser Widerness Hall genannt. Es gehört dem Lord Fakenham und wird von ihm als Jagdhaus benutzt. Vor einigen Monaten wurde es an eine Jagdgesellschaft verpachtet. Die Leute halten sich gegenwärtig dort auf – und zu ihnen gehört . . .«

Er schwieg, und Benskin setzte den unterbrochenen Satz fort:

». . . zu ihnen gehört Mathew, nicht wahr?«

»Ich spreche kein Wort mehr«, flüsterte der andere. »Eine Warnung, Sir. Glauben Sie ja nicht, daß er sich von Ihnen wie einer meiner Kanarienhähne greifen läßt. Ich rate Ihnen gut: Bleiben Sie von Lesser Widerness Hall weg.«

 

Einen Fehler hatte Benskin. Er war mutig, aber impulsiv – eine Eigenschaft, die einem Detektiv, der erfolgreich sein will, übel ansteht. Auch diesmal sah er nichts Ungewöhnliches in seinem Plan, sich ohne jede Sicherung auf die Jagd nach Mathew zu begeben. Ein Norwicher Kollege hatte ihm auf seine Frage mitgeteilt, daß die Jagdgesellschaft aus einigen amerikanischen Herren bestehe, die unter Führung eines Mr. Vanderler Nimrodfreuden nachgehe.

»Ist dieser Vanderler ein Fremder?« erkundigte er sich.

»Nein, er war schon oft hier«, gab sein Gewährsmann Auskunft. »Vor zwei Jahren hatte er die Rebhuhnjagd von Thirsford gepachtet. Dann scheint es ihm aber in Lesser Widerness Hall besser gefallen zu haben, denn er hatte das Haus und die Jagd auch schon im vorigen Jahr.«

»Darf man die Bilder der dortigen Galerie besichtigen?« erkundigte sich Benskin.

»Nur im Sommer. Wenn das Haus bewohnt wird, ist es für Besucher geschlossen.«

Voller Hoffnung macht sich Benskin auf den Weg, den vielgesuchten Mathew zu finden. Ehe er ins Auto stieg, las er noch einmal einen Zettel durch, auf dem er sich aus dem Führer einige örtliche Sehenswürdigkeiten notiert hatte.

»Die Krone der Galerie von Lesser Widerness Hall«, hieß es im Baedeker, »ist ein Porträt der Lady Amelia Holcombe von Gainsborough, das im südlichen Eckzimmer hängt. Kunstkritiker bezeichneten es als schönstes Werk Gainsboroughs. Niemand sollte England verlassen, ohne einen Blick auf dieses Meisterwerk geworfen zu haben . . .«

Ein leichter Dunst hatte sich auf die Landschaft herabgesenkt, als Benskins Wagen endlich vor dem Tor von Lesser Widerness Hall anhielt. Er stieg aus und trat in den Park ein, durch den sich ein mit Kies bestreuter Fahrweg bis an die Haustür hinzog. Ehe der Inspektor sie jedoch erreichte, sah er sich plötzlich inmitten einer kleinen Jagdgesellschaft, die von seinem Erscheinen offenbar ebenso überrascht war wie er selbst. Einer der Jäger, bei dessen Anblick Benskin einen Schauder über seinen Rücken laufen fühlte, streckte ihm grüßend die Hand hin.

»Endlich, mein lieber Benskin!« rief er dem Besucher höhnisch lächelnd zu. »Wir hatten Sie bereits gestern nachmittag hier erwartet.«

 

Der Polizeichef der Grafschaft Norfolk, Major Lawton, war nur zu froh, Lady Muriel behilflich sein zu können. Die Geschichte aber, die sie ihm da in seinem Privatbüro vortrug, klang gar zu unglaubhaft.

»Sie dürfen nicht vergessen, Lady Muriel«, sagte er, »daß in einer Grafschaft wie Norfolk einer des anderen Nachbar ist und daß hier der letzte Platz in der Welt wäre, wo eine Verbrecherbande ungestraft hausen könnte.«

»Bei Mathew verhält es sich anders, Sir«, gab sie ihm zu bedenken. »Benskin wäre es nicht im Traum eingefallen, hierher zu fahren, wenn er nicht begründete Ursache gehabt hätte, eine Spur zu verfolgen, die man ihm gewiesen haben muß. Warum sollte er auch so plötzlich vom Erdboden verschwinden, wenn die Bande ihn nicht in ihre Hände bekommen hätte?«

»Ich schreibe sein Verschwinden natürlichen Ursachen zu«, erklärte Lawton. »Sie wissen, daß man seinen Wagen heute morgen auf einem Landweg von Wroxham Sands gefunden hat. Wir haben die Polizei alarmiert und alle Wege in der Nachbarschaft durchsuchen lassen. Ich vermute, daß Benskin sich verletzt und dann irgendwo Unterkunft gefunden hat. Ich erwarte jeden Augenblick, diese Vermutung bestätigt zu hören.«

»Wenn man seinen Wagen in der Nähe von Wroxham Sands gefunden hat, dann befindet sich Benskin weit entfernt von dort«, beurteilte Lady Muriel die Lage. »Glauben Sie mir, Sir, die Sache ist ernster, als Sie vermuten. Die Bande, hinter der Benskin her ist, ist dieselbe, die den Einbruch bei Warren verübt hat, wo, wie Sie wissen werden, drei Wächter ermordet wurden. Wir dürfen keinen Augenblick verlieren. Major Houlden ist nach hier unterwegs, aber wir müssen uns in der Zwischenzeit selbst auf die Suche nach dem Verschwundenen machen.«

Der Polizeichef runzelte finster die Stirn.

»Ich wüßte nicht«, sagte er zornig, »daß wir die Hilfe Scotland Yards erbeten hätten.«

»Bitte, Major, werden Sie nicht dienstlich mit mir. Bitte, helfen Sie mir. Hier in Norwich wohnt ein gewisser Chittuck. Ihn wollte Benskin aufsuchen. Von ihm werden wir auch erfahren können, wo Benskin sich aufhält oder wo er sich hinbegeben hat.«

»Chittuck?« Nachdenklich wiederholte Lawton den Namen. »Ja, so eine Firma gibt es hier. Ein Kanarienvogelzüchter, soweit ich mich erinnere. Hat eine Schuhfabrik.«

Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt. Er befahl einem herbeigerufenen Beamten, seinen Wagen vorfahren zu lassen.

»Wenn Benskin wirklich der Ansicht war, daß sich die Bande hier aufhält«, meinte er, als er mit Lady Muriel durch die belebten Straßen fuhr, »wäre es besser gewesen, er hätte sich zuerst an mich gewandt.«

»Wahrscheinlich wollte er erst sicher sein, daß er auf der richtigen Spur war«, verteidigte Muriel den Abwesenden. »Man wird ihn, sobald er auftauchte, gefangengenommen haben.«

Vor Chittucks Fabrik hielten sie an. Der Polizeichef begrüßte den Inhaber.

»Mr. Chittuck, diese junge Dame und ich bitten Sie, uns eine Frage zu beantworten.«

»Gern. Wollen Sie wissen, wie man Kanarienhähne züchtet?« machte er einen Versuch zu scherzen.

»Nein«, gab ihm Lady Muriel ernst Auskunft. »Wir suchen einen Freund von mir, der spurlos verschwunden ist. Können Sie uns die gegenwärtige Adresse Inspektor Benskins von Scotland Yard geben?«

Lady Muriel hatte den Namen kaum ausgesprochen, als sie an dem Benehmen Chittucks merkte, daß sie an die richtige Adresse gekommen waren.

»Mein Gott, könnt ihr mich denn gar nicht in Ruhe lassen?« stöhnte der Schuhfabrikant. »Es hat ja alles keinen Sinn, aber – ich will Ihnen wahrheitsgemäß berichten, was ich weiß. Mr. Benskin erkundigte sich bei mir nach dem Aufenthaltsort eines gewissen – na, ich will keinen Namen nennen. Ich nannte ihm Lesser Widerness Hall.«

»Dort?« fragte erstaunt der Polizeichef. »Aber das ist doch das Jagdhaus, wo Mr. Vanderler sich mit seiner Gesellschaft aufhält. Vorgestern hat er mich erst wegen einer Jagdkarte aufgesucht.«

»Wollen Sie sonst noch etwas von mir wissen?« erkundigte sich Chittuck, der darauf brannte, die Gäste wieder loszuwerden.

Lawton verstand den Wink.

»Nein, weiter nichts, Mr. Chittuck, und besten Dank für Ihre liebenswürdige Auskunft.«

Als Lady Muriel sich anschickte, den Raum zu verlassen, fühlte sie, wie eine plötzliche Schwäche sie übermannte.

»Wie lange, Sir, wird es dauern, bis wir in Lesser Widerness Hall eintreffen können?« flüsterte sie, sich am Türrahmen festhaltend.

»Dreiviertel Stunden.«

»Bitte haben Sie Vertrauen zu mir, Sir«, flehte das junge Mädchen, »und tun Sie, um was ich Sie jetzt bitte. Nehmen Sie so viele Beamte mit wie nur irgend möglich und lassen Sie uns mit höchster Beschleunigung fahren.«

»Es ist zwar unnötig«, lachte der Präsident, »aber Ihnen zu Gefallen will ich einige meiner Leute mitnehmen. Sie sehen Gespenster, Lady Muriel.«

Die junge Dame blickte ihn ernst an.

»Nein, bestimmt nicht, Major«, sagte sie. »Sie täuschen sich; ich weiß, mit wem wir es zu tun haben werden.«

Bald darauf rasten sie auf der Landstraße nach Aylsham dahin, und hinter ihnen fuhr ein Wagen, der drei uniformierte Schutzleute dem gleichen Ziel entgegentrug.

»Was wollte denn dieser Vanderler von Ihnen, als er Sie, wie Sie vorhin sagten, aufsuchte?« fragte Lady Muriel.

»Er war sich über seine Jagdrechte nicht ganz klar und hielt es für besser, sich eine neue Karte zu besorgen«, gab ihr der Polizeichef Auskunft. »Er hat seine eigenen Treiber mitgebracht und wollte wissen, ob von unserer Seite etwas gegen deren Verwendung einzuwenden wäre.«

»Mein Gott! Er hat seine eigenen Leute mit«, flüsterte Lady Muriel entsetzt vor sich hin.

»Warum sollte er sie nicht mitbringen?« fragte Lawton verwundert. »Er hat ja auch einen eigenen Kammerdiener von London mitgebracht. Wirklich, Lady Muriel, ich weiß gewiß, daß Sie sich täuschen. Mr. Vanderler ist kein Verbrecher.«

»So? Nun, Sie werden binnen kurzem anderer Ansicht sein. Diese famose Jagdgesellschaft besteht aus Verbrechern; auch die Treiber und Diener gehören dazu.«

»Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen«, meinte der andere trocken, »dann befürchte ich, werden wir uns ihnen gegenüber ein wenig in der Minderzahl befinden.«

Lady Muriel antwortete nicht, sondern beschäftigte sich damit, die kleine Pistole, die sie aus ihrer Handtasche genommen hatte, sorgfältig zu laden.

Lesser Widerness Hall machte einen unbewohnten Eindruck, als Major Lawton mit Lady Muriel und den drei Polizisten vor dem Parktor ankamen. Nur zwei Gärtner waren damit beschäftigt, frischen Kies auf die Parkwege zu streuen. Eben kam auch der Jagdhüter auf seinem Fahrrad herbeigefahren. Er grüßte höflich, als er den Polizeichef erblickte.

»Sind die Herrschaften heute auf der Jagd«, erkundigte sich Lawton.

»Nein, Major. Heute findet keine Treibjagd statt.«

Die Besucher schritten dem Hause zu, als ihnen der Butler mit einer tiefen Verbeugung entgegentrat.

»Ist heute Jagd?« wiederholte Lawton seine Frage.

Der Diener ließ sie an sich vorbei ins Haus.

»Nein, Sir. Die Gesellschaft hat sich aufgelöst.«

»Aufgelöst?« Lawton war verwundert.

»Es sind einige Dinge vorgekommen, Sir«, erklärte der Diener, »die ich noch nicht recht verstehe. Gestern abend telefonierten die Herrschaften verschiedentlich mit London und brachen dann kurz nach dem Abendessen auf.«

»Und wo sind die anderen Diener?« erkundigte sich Lady Muriel.

»Sie sind ebenso wie die Treiber abgereist. Ich selbst stamme aus Norwich und wurde gestern abend – sehr freigebig, muß ich sagen – abgelohnt. Sind Sie vielleicht Lady Muriel Carter?«

»Ja.«

»Dann habe ich hier für Mylady einen Brief«, erklärte der Diener. »Mr. Vanderler scheint Sie erwartet zu haben, denn er befahl mir, Ihnen das Schreiben sofort nach Ihrer Ankunft einzuhändigen.«

Mit zitternden Fingern riß Lady Muriel den Umschlag auf und entfaltete ein kurzes Schreiben:

Lesser Widerness Hall, Mittwoch abend.

Sehr verehrte Lady Muriel,

ich habe so eine Ahnung, als würden Sie morgen mit einem Geleit von Schutzleuten hier ankommen. Ob ich mich täusche? Wir bedauern außerordentlich, Sie nicht erwarten zu können, aber wir haben letzte Zeit so viele Niederlagen erlitten, daß wir uns auf einen Kampf mit Landgendarmerie gar nicht erst einlassen wollen. Man weiß nie, wie eine solche Sache ausgeht. Die Leute schießen so ungeschickt und treffen wirklich manchmal. Warum sollte ich dieses Risiko auf mich nehmen? Was Ihren kleinen Freund anbetrifft, so habe ich es wirklich nicht übers Herz gebracht, ihm etwas zuleide zu tun. Er taumelte direkt in sein Unglück hinein, und ich hätte ihn wie einen Hasen niederknallen können.

Obwohl ich meine Saison hier vor der Zeit abbrechen mußte, war mein Aufenthalt doch ein großer Erfolg für mich. Der Gainsborough, hinter dem ich her war, ist wirklich herrlich. Er wird mir in Zukunft in meiner Galerie viel Freude bereiten. Wissen Sie übrigens, an wen mich die Dame, die jenes Porträt darstellt, erinnert? An Sie, verehrte Lady Muriel.

Auf Wiedersehen!

Mathew.

PS.: Wie entsetzlich! Beinahe hätte ich die Sie am meisten interessierende Mitteilung vergessen! Wenn Sie sich in das nach Süden gelegene Foyer begeben wollen und dort auf die dritte Figur über dem Kaminsims drücken, wird sich vor Ihnen eine Tür auftun, die zu dem berühmten Verlies der Widerness führt. Dort werden Sie Ihren kleinen Freund Benskin finden. Vielleicht werden ihm die Gliedmaßen ein wenig eingeschlafen sein; sonst dürfte er sich jedoch recht wohl befinden. Es war wirklich ein kluger Schachzug von ihm, mich hier ausfindig zu machen. Wenn er aber nicht aufhört, mich zu verfolgen, könnte einmal die Stunde kommen, wo ich wirklich auf einer Auseinandersetzung mit ihm bestehen müßte.

 

Sie eilten zum bezeichneten Platz. Über dem Kaminsims hing der leere Rahmen, der bis vor kurzem den Gainsborough umschlossen hatte.

Benskin lag, an Händen und Füßen gefesselt, in dem Geheimgemach, dessen Lage Mathew in seinem Brief verraten hatte. Er war unverletzt, und auf einem Tischchen standen noch reichliche Nahrungsmittel.

Wütend starrte Benskin auf den leeren Rahmen.

»Entschuldigen Sie meine Zweifel«, wandte sich der Major an Lady Muriel. »Mathew mag zwar ein gemeingefährlicher Verbrecher sein – Ihren Freund aber hat er ziemlich anständig behandelt.«

Doch noch ehe die Nacht hereinbrach, mußte Major Lawton sein Urteil berichtigen. Ein zufälliger Kunde hatte Mr. Chittuck mit durchschnittener Kehle tot in seinem Büro aufgefunden . . .

 


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