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Nachdenklich blickte sich Benskin in dem finsteren Antiquariat um. Seine Augen waren bereits so gut geschult, daß er auch die kleinste Auffälligkeit bemerkt hätte. Seit einem Jahr – so lange war es her, daß er zur »Kripo« versetzt worden war – war dies die erste große Aufgabe, die ihm übertragen worden war. Aber auch sie hatte er nur dem Zufall zu verdanken, denn der Beamte, der die Sache bisher bearbeitet hatte, mußte sich mit einer heftigen Grippe ins Krankenhaus begeben.
»Sie werden kaum viel Erfolg haben«, warnte ihn Burton, der erkrankte Beamte, »und draußen ist schon gar nichts mehr zu holen. Versuchen Sie es im Laden, vielleicht blüht Ihnen da mehr Glück.«
Benskin war dem Rat des erfahreneren Kollegen gefolgt und hatte sich in die Antiquariats-Buchhandlung begeben. Ein kaum den Kinderschuhen entwachsener Laufjunge meldete ihn einer jungen Dame, die bald darauf erschien, um sich den Besucher näher zu betrachten. Sie war dunkelhaarig und braunäugig, und man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wenn sie nicht einen etwas zu trotzigen Zug um den Mund gehabt hätte.
»Mein Name ist Benskin«, stellte er sich vor. »Ich komme von der Kriminalpolizei.«
»Schon wieder einer?« Die Verachtung, die sich in dieser Frage ausdrückte, war nicht mißzuverstehen. »Erst hat sich dieser Mr. Burton eine ganze Zeitlang hier herumgetrieben und nichts erreicht, und nun kommen Sie.«
»Mr. Burton ist erkrankt«, erwiderte Benskin bescheiden. »Ich mußte als Ersatzmann einspringen.«
»Stundenlang hat er mich von meiner Arbeit abgehalten. Und was ist herausgekommen? Gar nichts!«
»Man darf derartige Dinge nicht übereilen«, versuchte Benskin sie zu beruhigen. »Wir sind keine Freunde von langen Reden, sondern pflegen erst dann mit der Sprache herauszukommen, wenn wir wirklich etwas zu berichten haben. Vielleicht hat er doch einige Spuren entdeckt, die, wäre er nicht erkrankt, zum Täter geführt hätten. Vielleicht habe auch ich ein bißchen Glück.«
»Hoffentlich«, gab das Mädchen anzüglich zurück. »Warum hat man Onkel Samuel, einen so guten alten Mann, kalten Blutes ermordet, hier, in einem kleinen Laden, der keine fünfzig Meter von Holborn entfernt ist? Ihr vom Yard seid doch sonst so von eurer Klugheit eingenommen! Warum findet ihr den Täter nicht?«
»Vorläufig haben wir den Fall ja auch noch nicht als hoffnungslos aufgegeben«, machte Benskin sie aufmerksam. »Vergessen Sie nicht; daß sich uns Schwierigkeiten entgegenstellen, die nicht so leicht zu überwinden sind. Sie haben recht. Der Tatort liegt sehr nahe bei Holborn, aber diese Straße selbst ist recht unbelebt. Wie mir Burton bei der Übergabe des Falles mitteilte, hat er jeden einzelnen vernommen, der hier in der Nachbarschaft wohnt oder hier zu tun hat. Leider konnte er niemand finden, der während der fraglichen halben Stunde in der Nähe gewesen wäre. Verdammt wenig, um den Täter ausfindig zu machen, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab sie widerwillig zu.
»Können Sie mir den genauen Ort zeigen, wo die Leiche Ihres Onkels aufgefunden worden ist?« bat er sie.
Sie schlug die Ladentischklappe zurück und trat an seine Seite. An den Wänden standen überall große Buchregale. Eines davon hatte an jedem Ende eine nachträglich angebaute Verlängerung, die ein wenig in den Gang hineinreichte. Auf eine dieser Verlängerungen zeigte das Mädchen.
»Hier lag er«, teilte sie Benskin mit. »Er lag flach auf dem Gesicht und hatte ein faustgroßes Loch im Hinterkopf. Ersparen Sie mir weitere Schilderungen, denn ich brauche nur daran zu denken, um noch jetzt in Ohnmacht zu fallen.«
»Ich kann es Ihnen nachfühlen, Miss Mason«, entgegnete Benskin mitleidig, »und werde auch jede unnötige Frage vermeiden. Ich habe mir bereits eine kleine Skizze vom Tatort gemacht und kann mir den Hergang der Tat ungefähr denken. Es scheint, als hätte Ihr Onkel den Schlag, der ihn tötete, von links her erhalten. Von hier ungefähr –« Er stellte sich zwischen der Verlängerung und dem Ladentisch auf und nickte nachdenklich. Das Mädchen stand an seiner Seite, geduldig, doch mit finsterer Miene.
»Es stimmt doch«, fragte nun Benskin, »daß Ihr Onkel eben dabei war, die Rolläden herunterzulassen, als er in den Laden gerufen wurde? Sie waren ja auch kaum halb geschlossen, als man Ihren Onkel auffand.«
»Das habe ich doch Mr. Burton schon alles erzählt«, erklärte das Mädchen ungeduldig.
»Bitte haben Sie ein wenig Geduld mit mir, Miss Mason«, bat Benskin. »Ich wußte es natürlich, ziehe es aber vor, es von Ihnen nochmals bestätigt zu bekommen. Mir stellt sich der Hergang des Mordes ungefähr so dar: Ihr Onkel wollte eben schließen und war mit den Rolläden beschäftigt, als jemand – vielleicht ohne daß er ihn bemerkte – in den Laden trat. Wahrscheinlich hat sich der Kunde hinter den Ladentisch begeben, um sich die Bücher im Regal anzusehen. Plötzlich merkte Ihr Onkel, daß jemand im Laden stand, ließ die Rolläden Rolläden sein und ging hinein. Er mußte an dem Kunden vorbei. Bei dieser Gelegenheit, und als er mit ihm auf gleicher Höhe war, muß ihm der Mörder den verhängnisvollen Schlag versetzt haben.«
»Das mag alles stimmen«, gab das Mädchen zu. »Wer aber ist der Täter?«
Benskin schien die Frage nicht gehört zu haben, denn er fuhr in seiner Rekonstruktion fort.
»Der Mörder muß hier gestanden haben, wo ich jetzt stehe. Nehmen wir an, daß er die Absicht zum Mord bereits hatte, als er den Laden betrat. Er mußte sich also, bis sein Opfer an ihm vorüberkam, die Zeit mit der Betrachtung dieser Bücher vertreiben. Ich will doch einmal sehen, ob nicht irgend ein Buch herausgenommen worden ist . . .«
Stück um Stück prüfte er die Bücher. Plötzlich streckte er die Hand aus.
»Hier steht eins verkehrt«, rief er aus. »Wahrscheinlich ist es in aller Eile wieder ins Regal zurückgestellt worden. Nein, kein Staub darauf. ›Geschichte der Rosenkreuzer‹«, las er. »Das muß ein recht wertvolles Buch sein, Miss Mason, nicht wahr?«
»Ich habe keine Ahnung, was die Sachen kosten«, erwiderte die Gefragte. »Wahrscheinlich steht der Verkaufspreis auf dem weißen Vorsatzblatt.«
Er dankte für ihren Hinweis und nickte.
»Vierzig Schilling«, murmelte er. »Das ist ein schönes Stück Geld. Na, wahrscheinlich wird es soviel wert sein. Hatten Sie, Miss Mason, bemerkt, daß das Buch verkehrt im Regal stand?«
»Ich bin den Regalen gar nicht nahe gekommen«, erwiderte sie. »Ich habe andere Dinge im Kopf als die alten Schwarten hier.«
»Haben Sie das Buch auch niemandem gezeigt?«
»Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich diesen Teil des Ladens gar nicht betreten habe.«
Benskin behandelte das Buch, als wäre es aus Zuckerguß.
»Mich interessiert es deshalb«, erklärte er, »weil ich glaube, daß der Mörder sich das Buch angesehen hat. Darf ich es einige Tage behalten, Miss Mason? Es wird kaum viel Zweck haben, es auf Fingerabdrücke zu untersuchen, aber ich möchte mich nicht gern einer Nachlässigkeit beschuldigen lassen.«
»Meinetwegen können Sie es mitnehmen«, erwiderte sie. »Es kostet aber, wie Sie ja wissen, zwei Pfund, und ich hoffe, es wiederzubekommen.«
»Natürlich«, beruhigte er sie.
Er stellte noch einige Fragen und traf dann Anstalten, sich zu verabschieden. Das Mädchen lachte ihn hämisch an.
»Nun«, fragte es, »haben Sie jetzt eine hieb- und stichfeste Theorie?«
»Das möchte ich im Augenblick noch nicht behaupten«, erklärte Benskin. »Hat man eigentlich den ganzen Inhalt der Ladenkasse geraubt?«
»Jeden Penny.«
»Keine Banknote, nichts ist zurückgelassen worden?«
»Nichts. Wir mußten, um die Haushaltausgaben bestreiten zu können, zur Bank schicken. Es waren über siebzig Pfund in der Kasse gewesen – in Noten und Münzen. Onkel kaufte häufig neue Bücher an und mußte deshalb immer Bargeld im Hause haben.«
Benskin schlug sein Notizbuch zu. Er seufzte.
»Leider sehe ich bisher noch keinen Lichtblick«, sagte er. »Aber man darf den Mut nicht verlieren.«
»Jemand wird wohl dafür hängen müssen«, gab Miss Mason süßsauer zurück. »Es fragt sich nur, ob es der Richtige sein wird.«
Als Benskin an der nächsten Straßenecke die Freitreppe zur öffentlichen Bücherei hinaufstieg, war er sich völlig klar, daß er den Mörder wohl kaum noch fassen würde, wenn ihn die eben gefundene, kaum sichtbare Spur im Stich ließ. Im Leseraum saßen einige Männer und Frauen und blätterten in Zeitungen und Büchern, während der Aufsichtsbeamte an einem abgegrenzten Pult für sich allein thronte.
Benskin stellte sich vor und bat um Gehör.
»Ich habe einige Fragen an Sie zu stellen, Mr. Broadbent«, sagte er. »Sie betreffen den Mord in der Dunster Street.«
Der Bibliothekar starrte ihn erschrocken an.
»Ein recht brutales Verbrechen«, erklärte er. »Ich kannte den alten Herrn sehr gut, denn er kam oft hier herein, um einiges nachzuschlagen. Ich wüßte aber nicht, wie ich Ihnen in dieser Sache zu Diensten sein könnte, Mr. Benskin.«
»Meine Frage wird etwas merkwürdig klingen«, bereitete ihn der andere vor, »aber vielleicht hilft mir Ihre Antwort doch. Wissen Sie zufällig, ob einer Ihrer Leser sich besonders für Bücher über Alchimie und Okkultismus interessiert?«
»Ich müßte unsere Kartei nachsehen lassen, um Ihnen diese Frage zu beantworten«, meinte Mr. Broadbent. »Das dürfte aber einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Ich habe jedoch einen der Bücherausgeber hier, einen jungen Mann, der ein ganz besonders gutes Gedächtnis hat. Vielleicht weiß der etwas.«
»Ich wäre Ihnen recht dankbar, wenn Sie ihn rufen ließen«, erklärte Benskin.
Der junge Mann, ein lockenköpfiger, kaum der Schulbank entwachsener Bengel, wurde gerufen. Er hörte aufmerksam zu, als Benskin ihm mitteilte, was er zu wissen wünschte.
»Wir haben einen Leser«, sagte er endlich, »der bisher nur Bücher über Okkultismus und Alchimie entliehen hat. Er kommt nur ab und zu hierher und bleibt dann meist auch eine Weile im Lesesaal sitzen.«
»Wissen Sie seinen Namen und seine Adresse?«
»Ich will nachsehen, ob ich seine Karte finde«, meinte der junge Mann. »Er ist schon seit einigen Tagen nicht mehr hier gewesen.«
Zwei Minuten später kam er mit einer Lesekarte zurück.
»Er heißt Richard Monk«, erklärte er, »und wohnt hier ganz in der Nähe: Ballater Buildings.«
Neugierig blickte der Bibliothekar den Detektiv an. Der junge Angestellte hatte sich verabschiedet, und die beiden waren allein.
»Wird Ihnen diese Auskunft etwas nützen?«
»Vielleicht«, erwiderte Benskin. »Bitte, machen Sie doch Ihren Angestellten darauf aufmerksam, daß er über meinen Besuch und die Auskunft, die ich verlangte, nicht sprechen darf.«
»Gewiß, ich werde dafür sorgen.«
Es war genau neun Uhr, als Benskin die Bibliothek verließ. Zu einem Besuch in den Ballater Buildings war es noch nicht zu spät. In dem angegebenen Hause traf er in dem Pförtner einen ehemaligen Kollegen von der Polizei wieder, der einst häufig mit ihm auf Patrouille gewesen war. Er drückte ihm die Hand.
»Du bist wohl nicht mehr bei uns?« erkundigte sich der frühere Kollege, als er den Zivilanzug Benskins bemerkte.
»Nur teilweise, das heißt, ich bin bei der ›Kripo‹. Ich kam hierher, um mich nach einem deiner Mieter zu erkundigen.«
»Es ist eine komische Gesellschaft, die hier wohnt«, fiel ihm der andere ins Wort. »Natürlich habe ich sie dauernd im Auge; ich könnte aber kaum behaupten, daß mir irgend etwas bei ihnen verdächtig vorkäme. Meist sind es junge Angestellte. Wen wolltest du sprechen?«
»Einen Mann namens Monk, Richard Monk.«
Der Pförtner kratzte sich am Kinn.
»Das ist ein ganz netter Mensch«, sagte er. »Nur scheint es ihm bis vor kurzem nicht besonders gut gegangen zu sein. Er schreibt, wie er mir mitteilte, ein Buch. Es dürfte ihm aber kaum viel einbringen. Vorige Woche hat er von irgendwoher Geld gehabt und die rückständige Miete bezahlt. Sonst wäre er schon an die Luft gesetzt worden.«
Einen Augenblick lang tauchte in Benskins Augen ein Funke auf, der aber sofort wieder erlosch.
»Kannst du dich zufällig darauf besinnen, was Monk am vorigen Donnerstag getrieben hat?« begnügte er sich, seinen ehemaligen Kollegen zu fragen.
Der andere dachte angestrengt nach.
»Er bleibt abends meist zu Hause«, erklärte er dann. »Warte mal einen Augenblick und laß mich nachdenken. Am Donnerstag, zwischen acht und neun Uhr abends, ist er mal weggegangen. Auf eine halbe Stunde, wie er mir vorher mitteilte. Ich sah ihn nicht zurückkommen. Spät kann es aber noch nicht gewesen sein, als er wiederkam, denn ich sah um zehn seinen Schlüssel in der Tür stecken. Ich erinnere mich dieses Abends genau, weil es derselbe war, an dem der alte Buchhändler in der Dunster Street ermordet wurde.«
»Ich weiß zwar nicht«, erwiderte Benskin, »ob mir deine Auskunft helfen wird, aber vergiß sie nicht. Vielleicht mußt du sie noch beeiden. Mr. Monk ist also, entgegen seiner Gewohnheit, am Donnerstagabend zwischen acht und neun noch einmal ausgegangen, und du weißt nicht, wann er zurückkam, nicht wahr?«
»So ist's. Ist dir meine Auskunft ein Glas Bier wert?«
»Zwei. Komm!«
Genau eine und eine halbe Stunde später stieg Benskin die Treppen zur Wohnung des jungen Monk hinauf und klopfte an die Tür, an deren Füllung ein Briefumschlag mit dem Namen des Bewohners klebte. Es verging eine Weile, ehe der Wartende das Geräusch eines zurückgeschobenen Stuhls vernahm. Dann wurde geöffnet. Auf der Schwelle stand ein magerer junger Mann in Hemdsärmeln, eine brennende Pfeife im Mund, und starrte den späten Besucher finster an.
»Was wollen Sie?« fragte er.
»Einige Worte mit Ihnen sprechen, Mr. Monk«, gab Benskin zurück. »Vielleicht lassen Sie mich eintreten. Es braucht niemand unsere Unterhaltung zu hören.«
Widerwillig machte der junge Mann Platz, und der Besucher trat in das einfach möblierte Zimmer. In der Mitte stand ein Tisch, auf dessen Platte ein dickes Bündel eng beschriebener Bogen lag, wahrscheinlich ein Manuskript. Andere, in Packpapier eingeschlagene und mit Briefmarken beklebte Päckchen lagen auf einem Stuhl. Sie waren wohl mit der letzten Paketpost zurückgekommen.
»Ich kenne Sie nicht«, erklärte Mr. Monk. »Was wollen Sie von mir?«
»Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie, und zwar wegen Raubmordverdachts. Sie sollen den alten Buchhändler in der Dunster Street ermordet haben. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß alles, was Sie auf diese Anschuldigung erwidern, zu den Akten genommen und gegen Sie verwandt werden wird. Bitte folgen Sie mir.«
Mr. Monk schien sprachlos geworden zu sein. Er taumelte auf einen Stuhl zu und starrte den späten Besucher funkelnden Blickes an.
»Mord? Wer sind Sie?« »
»Sergeant Benskin von Scotland Yard. Kommen Sie. Je schneller wir hier heraus sind, um so besser wird es für Sie sein. Ich habe unten einen Wagen stehen.«
Mit zitternden Fingern begann Richard Monk die Manuskriptblätter zusammenzulegen.
»Geben Sie mir drei Minuten Zeit, Sir«, bat er mit erstickter Stimme. »Ich muß das hier zusammenpacken. Es ist mein Buch. Ich bin eben damit fertig geworden.«
»Ich werde warten«, erklärte der Detektiv.
Nach wenigen Minuten lagen die Blätter wohlgeordnet auf dem Tisch. Der Verhaftete band sie zusammen und zog dann Rock und Weste an.
»Binden Sie ruhig erst Ihren Kragen und die Krawatte um«, meinte Benskin. »Je anständiger Sie später aussehen, um so besser für Sie.«
Der andere zitterte an allen Gliedern. Langsam vollendete er seine Toilette. Dann nahm er seinen Hut und warf einen verstohlenen Blick auf das halboffene Fenster. Mit einem Griff hatte ihm Benskin die Handschellen angelegt.
»Das muß so sein«, sagte er freundlich. »Es ist Vorschrift bei derartigen Anschuldigungen.«
Richard Monk warf einen Blick auf seine Hände.
»Sie müssen das Licht selbst ausdrehen«, meinte er mit müdem Lächeln. »Schließen Sie auch die Tür zu und geben Sie den Schlüssel beim Pförtner ab.«
»Das kann ich nicht; ich muß den Schlüssel behalten, um bei einer späteren Durchsuchung Ihrer Wohnung herein zu können«, unterrichtete ihn der Detektiv.
»Man wird hier also alles durchstöbern?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe ja weiter nichts als mein Manuskript hier«, sagte er dann. »Einen Schlager. Ich sehe wohl nicht so aus, wie? Vielleicht bringt es mir Geld genug, um einen Verteidiger nehmen zu können, oder ich mache es wie Eugène Aram und verteidige mich selbst.«
Auf dem ersten Treppenabsatz blieb Monk stehen.
»Eine Frage, Mr. Benskin.«
»Ich würde Ihnen raten, zu schweigen«, gab der andere zurück. »Es liegt in Ihrem eigenen Interesse.«
»Gleichwohl möchte ich eine Frage stellen, Sir. Ich muß sowieso einen Augenblick ausruhen, denn meine Knie wollen nicht mehr mitmachen, so zittern sie. – Warum sind Sie gerade auf mich als den Täter verfallen? Hat mich jemand den Laden betreten oder verlassen zu sehen geglaubt?«
Benskin schüttelte den Kopf.
»Ich kann Ihnen das nicht verraten, denn wir dürfen derartige Dinge nicht mit den Angeklagten besprechen. Eines aber kann und will ich Ihnen sagen: Ich kam auf Ihre Spur, weil Sie ein Buch verkehrt ins Regal zurückgestellt hatten.«
»Die Rosenkreuzer-Geschichte? Mein Gott!« murmelte der junge Mann.
Einige Monate später wurde Benskin von Neugierde verführt, einmal wieder die Buchhandlung in der Dunster Street aufzusuchen. Das Mädchen empfing ihn noch finsterer als beim ersten Mal. Miss Mason war schmaler geworden, und ihre Augen wären von blauen Ringen umgeben.
»Wissen Sie bestimmt, daß Sie den Richtigen gehängt haben, Mr. Benskin?« fragte sie bitter.
»So bestimmt wie nur irgend etwas auf der Welt«, gab Benskin zurück.
Sie schwieg einen Augenblick, als wolle sie die Antwort verdauen. Ihre Augen glühten wie feurige Kohlen.
»Wenn es nach Recht allein gegangen wäre«, sagte sie leise, »hätte nicht er, sondern ich auf der Anklagebank sitzen müssen.«
Eine entsetzliche Ahnung dämmerte in Benskin auf; er war nicht sentimental veranlagt und hatte die Verhängung des Todesurteils gegen Monk mit angehört, ohne auch nur eine Spur von Gewissensbissen zu fühlen. Gerechtigkeit vor allem! Nun aber bedrückte ihn ein furchtbarer Gedanke. Sein erster Fall! Wie nun, wenn er wirklich einen Unschuldigen an den Galgen gebracht hätte? Er mühte sich, seinen Worten Festigkeit zu verleihen.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er.
»Richard war mein Bräutigam«, erklärte Miss Mason monoton. »Wir wollten heiraten, sobald sein Buch erschienen war. Ich hatte ihn gebeten, mich nicht länger warten zu lassen; teilte ihm mit, daß an jenem Abend siebzig Pfund in der Ladenkasse lägen. Ich selbst ging an jenem unseligen Donnerstag aus, ließ die Seitentür, die er zu benutzen pflegte, aber offen. So konnte er ungesehen kommen und gehen.«
»Sie waren nicht im Laden?« Benskin fragte es mit einem erleichterten Seufzer.
»Nein, ich war nicht da. Ich habe ihn nicht selbst ermordet, aber in Gedanken habe ich die Tat öfter als einmal ausgeführt. Richard hat ihn niedergeschlagen; das stimmt. Ich aber bin seine Anstifterin, die intellektuelle Urheberin des Verbrechens. Er wollte es nicht tun, haßte schon den Gedanken an eine solche Tat. Ich trieb ihn dazu. Na, was sagen Sie dazu, Sie Überkluger? Habt ihr denn gar kein Mitgefühl mit euren Opfern, wenn sie – zum Galgen müssen? Was sagen Sie jetzt? Richard führte die Tat aus, aber Mord war seinem Herzen so fern wie der Mond von der Erde. Ich erst habe ihn dazu verleitet. Und nun ist Richard tot! Nennen Sie das Gerechtigkeit?«
»Sie hätten sich doch als Zeugin melden können. Vielleicht hätte Ihre Aussage das Urteil beeinflußt.«
»Er wollte das nicht. Ich bot mich an, für ihn zu zeugen. Er schwor, er würde mich Lügen strafen. Ja, er hätte es fertiggebracht, mir ins Gesicht zu sagen, ich löge, um ihn zu retten. Richard war so ein Mensch. Er opferte sich für mich auf. Oh, wie entsetzt war er, als er Onkel Sam vor sich liegen sah! Er wollte schon sterben.«
»Ich glaube es«, murmelte Benskin. »Was soll nun werden?«
Das Mädchen lachte auf. In ihren Augen brannte ein entsetzliches Licht.
»Die Hälfte des Geldes habe ich«, sagte sie. »Dick hatte es unter der Fußmatte des Zimmers zurückgelassen. Wissen Sie, wie meine Nächte vergehen? Ich mache im Laden Licht und wandere von einem Regal zum anderen, um nachzusehen, ob nicht wieder ein Buch verkehrt auf seinem Platz steht. Ich werde langsam verrückt, verstehen Sie? So verrückt, daß ich jetzt schon imstande wäre, Sie zu ermorden . . .«
Sie wandte sich ab und verschwand im Hintergrund des Ladens. Langsam verließ Benskin das Haus. Niemals mehr würde er, das fühlte er, sich der Worte freuen können, mit denen er wegen der schnellen Aufklärung dieses Falles von allen Seiten gelobt worden war.