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Ein frommer Pflanzer schießt am Sonntag seinen Bock – das ist keine Arbeit, weil es ein Vergnügen ist, und Mutter braucht Fleisch in die Küche.
Rudi hatte alle Vorstudien zum Jäger mit Eifer absolviert: das Schloß nahm er aus seinem Karabiner, zerlegte es im Augenblick in alle Bestandteile, putzte Feder und Zündnadel, fettete ein, schraubte wieder zusammen wie ein alter Soldat. Er zog den Lauf durch, polierte die Holzteile; seine Waffe, auf die er so stolz war, konnte zu jeder Stunde gemustert werden.
Der Anfang jeden Tages war: Zielen. Schon dabei sah der Vater, daß Rudi ein geborener 58 Schütze, sein echter Sohn war. Wie der Junge im Anschlag die Waffe hielt, die Hand am Gewehrhals festgesaugt, wie er sie in die Schulter preßte und ganz langsam, nach einem tiefen Atemzug, den Hahn drückte – so allein entstand ein guter Schuß! »Ich kann's nicht leiden, wenn Kinder mit Waffen spielen«, klagte die Mutter.
Da war Rudi einmal wirklich gekränkt.
»Spiel ich, Mama? Wer soll euch beschützen, wenn ein Löwe kommt oder ein Nashorn aus dem Urwald? Wer soll Fleisch schießen, wenn Papa keine Zeit mehr hat? –«
Auf der Scheibe traf er beim ersten Schuß eine Acht, obwohl er sich vor dem Rückprall gefürchtet hatte und ein klein bißchen nervös war. Es tat aber gar nicht weh, es knallte nur gräßlich.
Wenn er mit drei Patronen fünfundzwanzig Ringe schoß, auf hundert Meter, durfte er mit auf die Jagd!
»Ganz schlecht!« bedauerte Muhmadi beim zweiten Schuß, noch ehe die Scheibe geprüft war. Seine Augen hatten die Kugel im Lauf verfolgt – neben solchen Augen ist jeder Weiße halbblind.
Wirklich »ganz schlecht!« Eine armselige Sechs!
Rudi war dem Weinen nah. Morgen ist wieder Sonntag, wird der Vater ins Pori hinunter ziehn, 59 zwei Träger im Gefolge, die das Fleisch nachhause schleppen werden, Muhmadi unter den Trägern – und wieder einmal wird auch Rudi bei den Trägern sein, ein dummes, kleines Büblein, das ohne Gewehr, ohne Bedeutung so mitlaufen darf.
Wie konnte es passieren, daß der zweite Schuß schlechter war als der erste? Der zweite Schuß, vor dem er gar keine Angst mehr gehabt!
Wenn Muhmadi jetzt seinen Karabiner bekam und besser schoß als er? . . . .
Rudi lag im Gras, die Augen geschlossen, tief atmend und zerknirscht. Dann schob er ganz leise das Gewehr in die Schulter, zielte Minuten lang, die Hand am Gewehrhals, als rette der ihn vor'm Ertrinken. Nahm Druckpunkt, wartete immer noch – jetzt standen Korn und Kimme auf das Schwarze. »Lieber Gott, mach, daß ich treffe . . . ich will auch ganz gewiß. . . . . . .« Dann ließ er fliegen.
»Gut, Bwana mkuba!«
Muhmadi wußte diesmal voraus, wo die Kugel saß. Beinah im Schwarzen! Acht und sechs und elf war fünfundzwanzig!
Es war heiß unten im Pori, das nur ein paar hundert Meter tiefer lag als Boloti. Die Sonne 60 tat nicht weh, aber es war eine ganz andere Sonne. Das Gras, das oben saftig und grün stand, lag hier wie ein gelber, struppiger Teppich, der Kilimandscharo war noch gewaltiger, Longido und Erok standen noch ferner. Eine andere Welt – vielleicht war ein Mensch, gar ein Menschlein wie Rudi, hier unten noch winziger als droben unter dem Affenbrotbaum. Wenn die Mutter durchs beste Zeißglas herunterspähte, die Steppe absuchte, würde sie ihn nicht finden.
Da drin im Pori, vielleicht tausend oder zwölfhundert Meter weit, wölbte sich kahl ein Hügel, auf dem nichts stand, auf dem nichts wuchs, – ein armes Häuflein Erde ohne Bedeutung.
Dorthin spähte der Vater, richtete sein Zeißglas, schraubte dran herum. Dann kniete er nieder.
»Was seht ihr, Jungens?«
»Kongoni« machte Muhmadi gleichgültig. Rudi sah nur Gras . . . . Halt, da war etwas, schwärzlich, schwarze Punkte, die sich sanft bewegten! »Versuch dein Glück, Rudi! Es macht nichts, wenn du nicht zu Schuß kommst. Aber schieß mir kein Stück krank! . . .«
Das nennt man Gesellenprüfung, das nennt man Schicksalsstunde! 61
Rudi leckte seinen Finger und hob ihn in die Luft – von rechts kam der Wind. Er mußte sich also von links anpürschen, damit das Wild ihn nicht wittern konnte. Jetzt bückte er sich, daß er nur noch so hoch war wie seines Vaters Gürtel, nahm den Karabiner in die Seite schräg nach oben, schlich hinein ins Fremde, Ungewisse.
Wenn ein Löwe kam? . . . . Aber die Löwen hier im Steppenland sind keine Menschenfresser, ihre Tafel ist mit besserer Chakulla stets gedeckt. Gut, wenn's aber ein Löwe war, der das nicht wußte? Oder blutdürstige Massai mit ihren Speeren? Oder ein Blitz oder Scheitani, der Teufel, – man war doch manchmal sehr arm und sehr allein auf Erden . . . Umkehren, Schutz suchen? Lieber sterben. Muhmadis Augen und Vaters Zeißglas im Nacken zu spüren, jeden Schritt kontrolliert, kritisiert und doch so allein vor allen Gefahren!
Rudi kam ganz nah, gewiß hundert Meter nah, an die äsende Herde. Er sah ihre braun glänzenden Rücken und die schimmernden Bäuche, das blanke weiße Spiegelchen unter jedem Schwanz. Schon suchte er mit Bedacht den Bock heraus, der gut zum Blattschuß stand; es waren wohl dreißig oder vierzig Stück durcheinander gestreut, die sich an Gras freuten und nichts von Feindschaft und Hunger 62 nach ihrem Fleisch ahnten. Ein paar Zebras mit gelangweilten Gesichtern standen dazwischen.
Rudi lag im Anschlag, hatte schon entsichert – da stieg ein kleiner weißer Vogel in die Luft, der bisher auf einem Kongonirücken gethront, Maden, Zwecken oder sonst Leckeres verspeist hatte! Stieg mit leisem Krächzen auf, die Kongonis warfen die Köpfe, horchten, sicherten, und truppeltrupp setzten sie sich in Marsch. Das Tier, dem der Blattschuß gegolten hatte, verschwand als erstes, nicht gerade in Angst, wahrscheinlich ohne das steppenfarbene Bürschchen mit seinem Mordgewehr im Arm gesehen zu haben. Aber es ging ab, und gehorsam folgte ihm das Rudel, ganz zuletzt zwei Geißen mit zarten Jungen. Die hatten am wenigsten Angst, eine der Mütter blieb stehn, zeigte voll das Blatt, rief mit Pfiffen ihr Junges. Aber das wußte Rudi: wenn er ein weibliches Tier und gar ein säugendes schoß, war er kein Jäger, sondern ein Missetäter!
Das Rudel war rechts vom Hügel abgegangen, links herum marschierte der Jägerbub. Jetzt war er wohl gedeckt, brauchte nicht mehr zu kriechen. Bald entzog ihn eine Bodenwelle auch den Augen und Gläsern. Jetzt war er ganz allein, ein Porimann, bewaffnet, mit fünf Patronen im Magazin, 63 ein unbesiegbarer Herr der Steppe! Er fürchtete nichts mehr, fand sich selbst jetzt fürchterlich, als hätte die abzottelnde Kongoniherde ihm gezeigt, wie machtvoll er war.
Als er den Hügel halb umgangen hatte, standen sie plötzlich wieder vor ihm, stand der von Erregung bebende Jäger vor seinem äsenden Wild. Ganz unerwartet – auf fünfzig Schritte! Rudi ging ins Knie, sprach sich vor: entsichern, Standvisier, tief atmen – dann dröhnte der erste Schuß seines Lebens durch Poristille und Sonntagsfrieden.
Ein Bock lag im Feuer, die anderen zuckten kaum, warfen eine Spur erregt die Köpfe, taten einen nervösen Sprung, fast auf der Stelle, und kehrten zu ihrem Mahl zurück. Vielleicht hatte der getroffene Bock kein besonderes Ansehen genossen, hinterließ keine Lücke, daß niemand von seinem Tod Notiz nahm? Er lag da und war tot, seine Freunde und Verwandten ästen weiter, als sei nichts geschehen.
Der Vater und Muhmadi machten sich auf, als der erste Schuß gefallen war, winkten den Trägern, ihnen zu folgen. Da krachte es jenseits des Hügels noch einmal! Sie gingen scharf, Dr. Schukrin konnte das »Herumballern« nicht leiden. Ein guter Schuß, das hieß Jagd. Damit hatte man seinen 64 Braten im Topf und vergrämte das Wild nicht. Alles andere war Aasschießerei!
Da krachte es zum drittenmal. Hätte er den Bengel doch nicht auf die armen Tiere loslassen dürfen?
Bald war das Schlachtfeld in Sicht: ein Tier lag auf die Decke gestreckt. Dort lag noch ein zweites, und neben dem saß das gelbe Männlein, ein Taschentuch vorm Gesicht, ganz klein und arm.
»Ich kann nichts dafür, Vater. . . . . Es ist so schrecklich!«
Der zweite Schuß hatte eine Geiß getroffen, nicht aufs Blatt, nein, in den weißen, lieblichen Bauch. Auch sie hatte im Feuer gelegen, aber sie lebte noch, und als Rudi herangekommen, hatte sie ihm Augen gezeigt, weinende, goldbraune Augen, die um Tod und Gnade bettelten.
Nie wieder! Statt dies arme Tier zu pflegen und zu streicheln, mußte Rudi ihm den Gnadenschuß geben – Er kam sich vor wie ein Henker. Nie wieder ein Schuß, der aus dem Wild auch nur auf Minuten eine tief verzweifelte Schwesterkreatur unter dem Himmel machte!
»Das kann auch einem alten Jäger passieren, Rudi! Wenn das Tier sich nicht krank davon schleppt, muß man zufrieden sein! . . . .«
»Nie wieder, Papa!« 65
Wie kann wieder essen, schlafen, lachen, wer einmal solche Augen in Todesangst und Todesnot gesehen hat?
Was auf Boloti-Mission Magen und Zähne hatte, war satt von Wildsuppe, Filet, Herz, Nieren und Leber, – und voll Lobes für den Schützen. Nur Rudi hatte nichts geschmeckt – keinen Bissen. Nicht einmal die Suppe wollte herunter. Immer war dieser Blick auf ihn gerichtet, der Blick einer Kreatur, die ihren Mörder um Hilfe bittet; um eine Kugel bittet, die ihr fort hilft aus dieser Welt, in der sie glücklich gewesen, keinem zum Leid, und die sich jetzt in schwarze Nacht voll Qual hüllt!
Die Mutter rief:
»Bring das nachhaus, Junge! Für deine Eltern und für Maduma.«
Muhmadi salutierte, lud sich eine Antilopenkeule auf den Kopf, bog sich unter der Last.
»Vielen Dank, hohe Mamma!«
Aber Rudi wollte mit. In dieser zerknirschten, wehen Stimmung mußte er handeln.
»Es ist zu schwer für dich, Raffiki! Ich helf dir tragen!«
»Du willst Fleisch tragen, Bwana mkuba?«
»Laß die Worte!« 66
Die Last wurde an eine Stange gebunden, vorn schulterte Rudi, hinten Muhmadi, dann marschierten sie los.
Ein hoher, junger Herr, der Lasten trägt! Aber gerade das war für Rudi das Rechte, heut wollte er kein Herr sein!
Vor einer Strohhütte, die fast aussah wie eine Erntegarbe am Rand der Heide drüben in Deutschland, saßen sie am Feuer: der Vater Muhmadi, die alte Tseffa, kochten friedlich und ließen gemächlich den Tag Abend werden.
Maduma lag auf einer Matte, den blonden Kopf in Tseffas Schoß, ließ sich von ihr das Haar krauen, Zecken absuchen, ließ den Alten Holz holen und im Breitopf rühren, Mensch und Welt ihrer beinah weißen Lieblichkeit dienen.
»Tseffa, es wird kalt!«
Da lief die Alte schon auf knacksenden Beinen, brachte eine Decke hervor, hüllte das Prinzeßchen warm und zärtlich ein.
»Muhma, Durst!«
Schnell humpelte der Alte und kam mit einer glucksenden Kürbisflasche zurück.
Maduma hörte Schritte, drehte sich schläfrig herum, blinzelte vornehm.
»Die Jungens!« 67
Jungens, Jungens? Ein »Junge« des Bwana Heiliges Buch hochgeborener Sohn!
O muttermein, der Hochgeborene schleppte mit an einer Stange, von der ein halbes Kongoni hing, schleppte mühsam und war schweißbeglänzt. Allà, allà!
»Was für Bräuche!« herrschte der alte Muhmadi den Jungen an und nahm das Fleisch allein auf seine Schultern. Unter der schweren Last noch beugte er sich zu vielen Salaams, die Hand an der Stirn.
»Wohin befiehlst du die Last, hoher Herr?«
»Eine Festtagsgabe für euch«.
»Dank, Herr, großen Dank« machten die beiden Alten und beugten sich tief.
Maduma blieb liegen, als sei ihr nun der Abend gestört. Hier war ihr Reich, hier hatte der weiße Junge nichts zu tun!
Rudi aber – der zerknirschte Rudi, der auf seiner ersten Jagd gefrevelt hatte, – mußte heut noch etwas tun, was ihm das Herz ruhiger schlagen machte.
Bescheiden kauerte er sich neben das Kind, legte eine Hand an Madumas Meerschaumwange, streichelte sie – und langsam näherte sich sein weißes Gesicht dem braunen. Maduma rührte sich nicht. »Kleine 68 Schwester« sagte Rudi auf Deutsch und küßte sie auf die Augen.
Noch nie hatte Rudi freiwillig geküßt, gar ein Mädchen! Er haßte diesen Brauch. Aber heut wollte er küssen, um sich zu kasteien.
»Komm doch in unser Haus, Maduma! Du bist meine Schwester!«
»Gib mir meinen Papa!«
Der Arme schüttelte den Kopf, hoffnungslos. Was konnte er tun?
»Schreib ihm einen Brief mit der Sonne, Rudi!«
»Wohin nur?«
»Dorthin!«
Maduma war plötzlich aufgesprungen, ihre Decke blieb leer und tot zurück, sie stand im letzten Abendlicht und wies nach Norden.
»Dorthin, weit, weit!«
Dann sprachen sie nichts, saßen nebeneinander, die Köpfe gesenkt. Sie weinten manchmal. Bruder und Schwester.
Muhmadis, der alte, der Junge und Tseffa, ließen es im Kessel schäumen und duften. Sie kochten, salzten, quirlten und feuerten.
»Gleich ist deine Tschakulla fertig, Kind, das wir lieben!« 69
»Wirst du den Sonnenbrief schreiben, Punkte und Striche, damit er zu mir zurückkommt?«
»Du weißt, daß er dort lebt, weit, weit dort?«
»Kein Weißer darf es wissen! Dein Vater nicht, deine Mutter nicht, der große Herr in Aruscha nicht – die Weißen sind alle schlecht.«
»Aber ich darf es wissen, Maduma?«
»Du bist der Bruder Muhmadis, du bist kein Weißer.«
Jetzt sagte Rudi sehr langsam und seine Blicke in den tiefroten Ball der niedergehenden Sonne geheftet:
»Ich schwöre dir, daß ich ihn finden werde oder sterbe. Mehr kann ich nicht versprechen. – Aber dann komm nach Boloti. Dein Vater ist von unserem Stamm, und wir lieben dich alle. Komm!«
Noch einmal aß Maduma aus ihren lichten kleinen Händen Maisbrei, der in Wildfleischsuppe gekocht war. Sie formte, wie die Schwarzen, Eierchen aus dem Brei, preßte sie lang in den Fingern, aß und stieß laut auf, um zu zeigen, wie gut es ihr schmeckte. Sie nahm ihr Stück Braten in die Hand und nagte es langsam ab, sie griff nach der glucksenden Flasche und trank, spülte sich Mund und Hände. 70
»Es hat dir geschmeckt, Kind unseres Herzens, das wir lieben!« rief die Alte und rülpste nach Urahnensitte, um ihre Freude zu zeigen.
»Heut schlaf ich bei der großen Mamma!« sagte Maduma. »Qua heri, Muhmadi, qua heri, Tseffa!«
Sie schlang die Decke um ihre Schultern, schwer lagen die Falten, es war ein alter Pferde-Woilach, der dem Krieg, viel Pferdeschweiß und vielen Frösten getrotzt hatte.
»Gehen wir, Rudi.«
Jetzt war sie ein weißes Mädchen, das fest, ohne Abschiedsschmerz, neben dem weißen Bruder durch die Nacht Afrikas ging, von Hundsaffen bebellt, von Zikaden bezirpt, dorthin, wo sie zuhause war.
»Sie ist fort. . . .« sagte Tseffa und sprach an diesem Abend nichts mehr.
Der alte Neger wunderte sich nicht. »Zu ihrem Stamm.«
Acht Jahre lang war sie seine Tochter gewesen. 71