Balder Olden
Madumas Vater
Balder Olden

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Punkte und Striche

Von allen Kriegsgeschichten, die Vater Schukrin im Lauf der vielen Jahre in Hannover erzählt hatte, war doch die schönste, wie er und Onkel Gregorius sich mit Sonnenspiegeln und Acetylenlampen über viele, viele Meilen Steppe hin Briefe geschrieben hatten. Ohne Briefträger, ohne Telephon oder Telegraphendraht waren sie ein Jahr lang immer in Verbindung gewesen, – auf den einsamen Vorposten hatte man Zeit gehabt, die Morsesprache zu lernen.

Es war so einfach: das ganze Alphabet zerfiel in ein System von Punkten und Strichen.

e =     i = • •     s = • • •
t =     m = ― ―     o = ― ― ―

Das Wort Eis wurde also geschrieben: •  • •  • • •

Der Name Tom: ―  ― ― ―  ― ―

A war Punkt-Strich, also: • ―

Nach jedem Buchstaben eine Pause, nach jedem Wort ein vereinbartes Zeichen – das war das 36 ganze Geheimnis. Zwischen Australien und Madrid, zwischen Spitzbergen und Kapstadt, kreuz und quer um die Erdkugel, sausen zu jeder Stunde bei Tag und Nacht, auf Drähten, durch Kabel, in Ätherwellen diese Punkte und Striche, tragen Neujahrsgrüße und Berichte von Revolutionen, Erntemeldungen und Erdbebenmeldungen; Schiffe auf großer Fahrt geben Briefe in Punkte und Strichen in ein ganz bestimmtes, ganz privates Haus auf der anderen Seite des Globus ab, aus einem bestimmten Zimmerchen dieses ganz bestimmten Hauses diktierte jemand die Antwort ins Telephon, vom Telephon wird sie auf den Draht übersetzt, wandert durch Draht und Äther dem Dampfschiff nach, das inzwischen einen anderen Weltteil erreicht hat.

Punkt, Strich, Punkt, Strich hatte ein Mann aus der Kabine jenes Dampfers in die Welt hineingesandt: »Ich bin gesund und liebe euch.«

Strich, Punkt, Strich, Punkt, Punkt und so fort kam die Antwort: »Wir sind wohl und denken an dich, lieber Vater.«

Punkt ist ein kurzes Zeichen und Strich ein langes – es gibt keine Tatsache und kein Herzenswort, die sich in dieser Sprache nicht sagen ließen.

Aber in der afrikanischen Steppe, im »Pori«, war dies Telegraphieren doch noch viel schöner und 37 geheimnisvoller gewesen, weil man keine elektrische Kraft, keine Maschine und keinen Beamten brauchte: Kraft war das Licht der Sonne, als Apparat genügten zwei alte Rasierspiegel, Personal war man selbst.

Einmal hatten Kundschafter zwischen Longido und Erok Lichtsignale erspäht, weiße Pünktchen und Striche, die in der Nacht auftauchten und verschwanden, von einer feindlichen Stellung zur anderen. Da gab es Geheimnisse auszuforschen, Überfälle zu vereiteln, feindliche Kriegspläne zu entziffern!

Die Kundschafter kannten das Morsealphabet nicht und hatten nichts lesen können. Aber sie markierten in schwarzer Nacht den Ort, auf dem sie hielten, die Richtung, aus der beide Telegraphenstationen sprachen. Die ganze Nacht blieben sie auf der Lauer, im Morgengrauen zeichneten sie eine Karte, maßen Entfernungen aus, legten alle Punkte so fest, daß die Geographie von Afrika um viele Angaben reicher wurde. Mit diesem Material stahlen sie sich anderen Tags durch die feindlichen Linien, erbeuteten ein verirrtes, feindliches Maultier – dies und die wichtigste Nachrichtenquelle der Feinde war in wochenlanger Todesgefahr gewonnen.

Auf dies Maultier wuchtete bald darauf der Schütze Schukrin, ausgebildet im Signaldienst, seinen 38 schweren, ungefügen und alten Leib, um einen Befehl auszuführen, der da lautete:

»Schütze Schukrin mit einem Europäer, zwei Signaljungens und vier Askari, sechs Trägern, geht Patrouille, um die feindlichen Signale zwischen Longido und Erok eine Nacht lang aufzunehmen.« Sie kamen glücklich durch die englische Postenkette, waren im unendlichen gelben Pori nicht mehr zu entdecken, suchten nach der neuen Landkarte den bezeichneten Platz, kamen nach der Postengefahr in schlimme Durstgefahr, lagen einen heißen Tag lang auf blanker Erde und beteten um Wasser. Fanden ein Wasserloch im grünen Laub, nachdem sie hundertmal vergeblich grünes Laub anmarschiert hatten, in dem kein Wasserloch zu finden war, nachdem sie ihre vierzehn Seelen schon Gott befohlen hatten. Tränkten das Maultier und sich selbst, füllten ihre Feldflaschen, wanderten abermals dahin und entdeckten wirklich, wie durch ein Wunder, die mit flatternden Tuchfetzen markierte Stelle im unendlichen Pori.

Nacht kam, im Schein einer Safarilampe hielt der Vater sein Papier, mit achtundzwanzig Augen und zwei scharfen Zeißgläsern wurde der Horizont abgespäht, viele Stunden lang. Bis es irgendwo aufzuckte, verlöschte, ein winziges Pünktchen blassen Lichtes aus schwarzen Mauern der Nacht! 39

Die Signaljungens, die morsen und Morsezeichen lesen konnten wie kein Europäer, spähten in das Gewirr der Punkte und Striche, diktierten, der Vater schrieb – jetzt kam die große Frucht dieser gewaltigen Unternehmung! Sie hatten nicht umsonst Durst und Lebensgefahr durch viele Nächte geopfert.

Als der stundenlange Telegrammwechsel aufgenommen war, lautete das Wichtigste daraus:

»Kein bißchen Bier mehr auf Posten, habt ihr was zu trinken?«

»Ein bißchen elenden Whisky!«

»Ist der Hauptmann besserer Laune?«

»Hat Rheumatismus, wahrscheinlich kalten Zug erwischt.«

»Wütend wie ein Löwe?«

»Wütend wie zwei Löwen.«

Das war's also – die Patrouille Schukrin brachte diese Trophäe von Telegramm glücklich zuhause an, hatte nicht einen Mann verloren!

Wenn er und sein Schwager Gregorius sich Neuigkeiten sandten, frisch gedichtete Verse oder Kriegsnachrichten aus Europa, lag sicher auch irgendwo im Pori eine englische Patrouille, die durch tausend Gefahren gedrungen war, um solche Zwiegespräche zu erbeuten: 40

»Mein Maultier hat Satteldruck. Grüße Fatuma.« »Du bist zu schwer für das Biest. Verlange ein Pferd. Grüße von Fatuma.«

Nachts trug eine kleine Petroleumlampe, mit Spiegeln umkleidet, Nachrichten über zwanzig Meilen; eine erstklassige Acetylenlaterne aber über hundert Meilen und mehr, fast so weit wie bei Tag der weißglühende Sonnenball!

Rudi war ein tüchtiger Morsetelegraphist – viele Sonntagnachmittage lang hatte er in Hannover mit dem Vater das Alphabet geübt. Im Sommer – da oben in Nebelheim war Sonne ja das seltene Himmelsgeschenk weniger Monate – hatten sie Stationen errichtet, jeder mit seinem runden Spiegelchen, oben irgendwo auf der Kuppe eines Hügels. Vor dem Spiegel stand ein kleines Gerüst mit einer Klappe, die man an einer Schnur heben und senken konnte. Erst wurden die Klappen auf beiden Stationen hochgezogen, der Spiegel, der auf dem Pflock befestigt war, so gedreht, daß er die Sonne fing, dann in die Richtung gebracht, in die er weitergeben sollte. Es dauerte oft lang bei dem schwachen Licht des Nordens, bis von Hügel zu Hügel zwei weiße Punkte einander anglühten. Aber dann! Dann fielen die Klappen, es herrschte Schweigen. Dann gab der Vater den Anruf; indem er ein paar in aller 41 besiedelten, erforschten Welt vereinbarte Punkte und Striche gab – Rudi zog an seiner Schnur, kurz, kurz, lang, lang – dann war die Verbindung hergestellt und das Wortewechseln begann.

Vater Schukrin und Rudi konnten Morsezeichen auf den Tisch trommeln, auf Papier schreiben, im Traum geben. Aber Rudi war bald der Schnellere.

»Muhmadi, kennst du die Sprache der Signale?«

»Nein, großer Herr!«

Das war also etwas, wichtig wie Ki-Massai und Fährtenlesen, darin Rudi dem schwarzen Altersgenossen weit voraus war!

»Willst du sie lernen?«

»Ja, großer Herr!« 42

 


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