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Toni suchte Kerekes Sandor in der ganzen Stadt. Er fragte die Zeitungsverkäufer, forschte in den Vorstädten und Ziegeleien, in den Lagerräumen, in den Holzhütten, wo Kerekes Sandor den letzten Nachrichten zufolge geschlafen hatte. Er war nicht zu finden. Kerekes war verschwunden, und in Toni wuchsen Zweifel und die Schwere der Verantwortung. Was geschieht, wenn Kerekes Sandor aus der Schule schwatzt? Wenn er es schon getan hat? Es ging um die Existenz der Partei, es ging um eine zu wichtige Angelegenheit, als daß er das Geheimnis hätte für sich behalten können.
Er entschied sich für Jandak. Er erreichte ihn weder in der Redaktion noch im Sekretariat und ging darum in die Wohnung. Das Arbeitszimmer des Abgeordneten war für Toni eine Überraschung. Ein helles Zimmer voll erträglicher Eleganz mit einer großen Bücherei. Über dem Schreibtisch hing das Bild Lenins. Der Metallarbeiter hatte ein natürliches Mißtrauen gegen den Besitz. Jandak ließ ihn in einem Ledersessel Platz nehmen und bot ihm Zigaretten an. Toni rauchte nicht.
»Ich habe eine große Dummheit gemacht«, sagte er. Er konnte sich nur schwer dazu entschließen, in dieser Umgebung zu sprechen, und seine Stirn zog sich in Falten.
»Der Genosse Krousky, eine Dummheit? Erzähle.«
Als Toni den Fall Kerekes Sandor berichtet hatte, kratzte sich Jandak mit der rechten Hand hinter dem linken Ohr und zog die Nase hoch.
»Verflucht nochmal, na, vielleicht geht es gut aus.«
Toni hatte etwas anderes erwartet. Dieser leichtsinnige Ton war ihm unangenehm. Beide Männer blickten sich lange in die Augen. Toni hart und finster, der Abgeordnete nachdenklich.
»Hast du einen Vorschlag, was man tun könnte?« fragte Jandak endlich.
»Ja, schließt mich aus der Partei aus.« Toni erbleichte dabei. Jandak dachte nach, zwinkerte mit den Augen.
»Weshalb?«
»Das ist doch klar, weshalb«, fuhr ihn Toni an. Er war weiß wie Papier, und die Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Falls sie mich finden, werden sie keinen Prozeß gegen mich, sondern gegen die Partei führen. Daß sie daraus einen Raubmord machen, ist sicher. Sie werden dann damit gegen die Partei agitieren. Schließt mich aus, solange noch niemand etwas weiß. Wenn sie mich fassen, will ich nicht mehr Genosse sein.«
Der Abgeordnete blickte den bleichen Mann, seine flammenden Augen an. Er blickte ihn mit Bewunderung an, ja noch mehr, liebevoll. Er wußte, was ihm proletarische Ehre bedeutete, und was er opfern wollte. Er war ergriffen und nahe daran, Toni zu umarmen.
»Wir haben keinen Anlaß, dich auszuschließen«, sagte er weich.
»Auch daran dachte ich«, antwortete Toni hart, »ich bin Bezirkskassierer. Ich werde Geld unterschlagen.« Er schluckte schwer.
Jandak blickte dem Arbeiter freundschaftlich in die Augen und schüttelte ablehnend den Kopf.
»Nein, Toni, in einigen Wochen gibt es Kampf. Die Bourgeoisie hat von sogenannten Arbeiterführern die Erlaubnis erhalten, die Löhne herabzusetzen. Schon deshalb darf die Partei ihren Kongreß nicht abhalten, der für den Herbst einberufen ist. Es ist heute schon klar, daß wir eine fünfundachtzigprozentige Mehrheit hätten, und daß ihnen nur ein Teil der Parteibürokratie zur Seite steht. Sie werden diesmal die Spaltung herbeiführen, und der Kampf wird hart sein. Du stehst zu sehr im Vordergrund. Ein linker Vertrauensmann, der Geld unterschlägt, das ist in dieser Situation schlimmer, als wenn dem Genossen Krousky die entfernte Mittäterschaft an der Ermordung magyarischer Konterrevolutionäre nachgewiesen wird. Daß ein Vertrauensmann in einer so großen Fabrik am Vorabend entscheidender Kämpfe freiwillig aus der Partei austritt, können wir gleichfalls nicht zulassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Kerekes einem glücklichen Zufall zu überlassen. Erwähne zu niemandem ein Wort, auch ich werde schweigen.«
Toni verließ unbefriedigt die Wohnung des Abgeordneten.
*
Der Prozeß gegen Milan Iwanowitsch und gegen die ganze Räuberbande fand früher statt als angenommen worden war. Die Regierung war in Ungelegenheiten. Die Blätter der Opposition begannen, sich mit einer häßlichen Korruptionsaffäre zu befassen, die sich bei staatlichen Kohlenlieferungen ereignet hatte.
Einflußreiche Abgeordnete der Majorität waren kompromittiert, die Fäden führten bis in die Ministerien. Es war darum ratsam, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abzulenken und inzwischen die Korruptionsaffäre im stillen zu erledigen.
Der Prozeß dauerte fünf Tage. Es waren achtzig Zeugen geladen. Es gab neun Angeklagte, sieben Männer und zwei Frauen. Ihre blonde Kurorteleganz hatte in der Untersuchungshaft stark gelitten. Im ganzen war es eine bunte Gesellschaft ungarischen, slowakischen, rumänischen, jüdischen und Zigeunergeblüts, je nach Bedarf weltmännisch höflich oder diebesfrech, aber ständig in Bewegung, und der schöne Baron Czengery Tassilo, der ehemalige Honvedkadett, der zweite von Kerekes Sandors Peinigern, war auch darunter.
Milan Iwanowitsch gab die ihm zur Last gelegten Diebstähle zum Teil zu. Den Mord leugnete er mit verzweifelter Entschiedenheit. Es erweckte einige Überraschung, als dieser große schwarze Mann sich in einer erregten Phase des Prozesses erhob und mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern ausrief:
»Ich habe ein leichtsinniges Leben geführt, aber ich bin kein Mörder. Nie habe ich etwas Ähnliches getan, ich bin viel zu feige dazu.«
Er verfiel in hysterisches Weinen, und man wußte nicht, ob es als Aufschrei eines Unschuldigen oder als Ausbruch eines südlichen Schauspielertemperaments zu werten sei …
Alle übrigen Angeklagten leugneten die ihnen zur Last gelegten Verbrechen mit der Zähigkeit erfahrener Fachleute, die nicht mehr an die mildernden Umstände eines vollen Geständnisses glauben und entschlossen sind, sich nur dafür verurteilen zu lassen, was man ihnen nachweisen konnte.
Milan Iwanowitsch verriet einen nach dem anderen, indem er Beweise über Beweise aus Prag, Karlsbad, Marienbad, Wien, Warschau, Budapest und Bukarest zusammentrug. Er spielte den Kronzeugen und erwartete hierfür die Barmherzigkeit der Geschworenen. Die Mitangeklagten haßten ihn darum. Ihre Blicke waren Gift und Messer. Und zwischen ihnen und ihm mußte ein Justizsoldat sitzen, um ihn zu schützen. Die schöne Frau Maria Florescu spie ihm eine Flut rumänischer Schimpfworte ins Gesicht, die er zwar nicht verstand, die aber ihren funkelnden Augen nach zu schließen sicher schrecklich waren.
Der Abgeordnete Jandak verfolgte die Prozeßnachrichten mit großem Interesse. Er war zufrieden. Alles ging gut, und soweit es um Iwanowitsch ging, kam er zu der Überzeugung, daß dieser Mann ein Schuft sei, für den der Galgen kein Unrecht bedeutete. Der Abgeordnete Jandak war zu beschäftigt, als daß er bei der ganzen Verhandlung hätte anwesend sein können. Aber am Tage der Urteilsfällung war er nachmittags im Gerichtssaal – nur auf einen Sprung. Er hatte keine Zeit. Um 4½ Uhr war er in das Schulministerium bestellt, und abends hatte er eine Versammlung.
Der Gerichtssaal war zum Platzen voll. Es herrschte größte Aufregung. Die Pressebank war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft war trotz geöffneter Fenster dumpf.
Der Vorsitzende verhörte eben den Hotelportier des »Blauen Stern«, namens Müller. Der Portier war bereits am zweiten Tag des Prozesses eingehend vernommen worden, aber es hatten sich so viele Widersprüche ergeben, daß die Geschworenen den Wunsch ausgesprochen hatten, vor der Urteilsfällung den Zeugen nochmals zu vernehmen. Herr Müller war Hauptbelastungszeuge, und von seinen vier bis fünf Minuten hing vieles ab. Er hatte bereits bei der Polizeivernehmung über die Zeit, während der sich der Angeklagte im ersten Stock des Hotels aufhielt, folgende Angaben gemacht:
»Meiner Schätzung nach war er vier bis fünf Minuten oben. Ich lege mich nicht auf vier bis fünf Minuten fest, aber ich behaupte trotzdem, daß er nicht länger als eine Viertelstunde oben gewesen ist.«
Der Zeuge beharrte auf dieser Aussage auch beim Verhör. Diese Minuten waren der Brennpunkt des Prozesses:
Ist es möglich, in einer Zeitspanne von vier bis höchstens fünfzehn Minuten jemanden durch zwanzig Axtschläge zu töten, das Zimmer zu durchsuchen, die gesuchten Wertgegenstände und das gesuchte Dokument zu finden, das Zimmer wieder in Ordnung zu bringen, Wasser in die Waschschüssel einzulassen, sich mit Schwamm und Seife die blutigen Hände abzuwaschen und wegzugehen?
Der Staatsanwalt behauptete, daß für die Suche nach Geld, Dokumenten oder Geheimnissen keinerlei Beweis vorliege, und daß alles übrige sich bequem in einer Viertelstunde erledigen lasse, gegebenenfalls auch in fünf Minuten, wobei davon abzusehen sei, daß man nicht kontrollieren könne, ob der Zeuge Müller die Zeit richtig abgeschätzt habe. Der Verteidiger bezeichnete es als absurde, unhaltbare Behauptung, daß eine solche Folge verschiedener Handlungen in weniger als einer halben Stunde zu vollbringen sei. Der Portier vom »Blauen Stern« wurde vom Präsidenten, vom Staatsanwalt, vom Verteidiger und von den Geschworenen ins Kreuzverhör genommen. Wieviel Minuten waren es eigentlich gewesen?
Jeder einzelne wiederholte diese Frage aufs neue und jeder in einer anderen Form.
Der Angeklagte blickte aus schwarzen Augen ängstlich auf den Mund des Zeugen, wohl wissend, daß von dessen Antwort sein Leben abhing.
Herr Müller schwankte nicht ein einziges Mal.
»An die fünf Minuten, – sicher nicht mehr als eine Viertelstunde.«
Er verharrte eigensinnig bei dieser Aussage.
Der Vorsitzende legte seine Uhr auf den Tisch und fragte den Zeugen, wie lange er wohl nun verhört worden sei.
»Etwas über eine halbe Stunde«, antwortete der Portier, und der Vorsitzende konstatierte, daß das Verhör 26 Minuten gedauert hatte. Diese Schätzung war in Anbetracht der im Gerichtssaal herrschenden Erregung sehr genau.
Aber der Staatsanwalt war entschlossen, sich nicht zu ergeben und kämpfte um jede Minute.
»Herr Müller«, sagte er, »war es vielleicht nicht doch länger als eine Viertelstunde, vielleicht achtzehn oder zwanzig Minuten?«
»Nein«, antwortete der Portier ärgerlich.
»Sie sagen nein«, parodierte ihn ein wenig der Staatsanwalt, »aber woher kommt Ihre Sicherheit? Ist dieses, Ihr ›nein‹, nicht eher eine Charakterfrage? Ich kenne viele Leute, die sich lieber zerschneiden lassen würden, nur um nicht ›ja‹ sagen zu müssen, wenn sie schon einmal ›nein‹ gesagt haben. Sie halten es für ausgeschlossen, daß es länger als eine Viertelstunde gedauert hat?«
»Ja, ich bin überzeugt, daß es nicht einmal fünf Minuten waren.«
»Bitte, erklären Sie mir Ihre Sicherheit, wenn Sie selbst zugeben, daß Sie nicht auf die Uhr geschaut haben.«
»Ich habe Erfahrung.«
»Ach«, der Staatsanwalt winkte mit der Hand ab, »wir glauben Ihrer Portiererfahrung nicht mehr, Herr Zeuge. Sie haben mit der gleichen Sicherheit den Angeklagten Iwanowitsch als Juden bezeichnet, sogar als auffälligen Juden. Wenn jeder schwarzhaarige Mensch bei Ihnen ein Jude ist, erscheint es mir sehr wahrscheinlich, daß selbst eine längere Zeitspanne bei Ihnen nur fünf Minuten dauert. Im übrigen – entschuldigen Sie bitte, Ihr Beruf bringt das ja auch mit sich – Sie sagen den Gästen ›in einer Minute, in einer Minute bitte‹, und dann dauert es vielleicht auch mal eine Stunde.«
Dieser Witz rief auf der Geschworenenbank Lachen hervor. Der Protest des Verteidigers fiel ins Leere.
Nach dem Plädoyer des Staatsanwalts und des Verteidigers begaben sich die Geschworenen zur Beratung. Der Staatsanwalt hatte schon während des Studiums der Akten gezweifelt, ob nach diesen vier oder fünf Minuten Müllers und den beiden vollkommen unerklärlichen Motiven dieses Verbrechens sich acht Geschworene finden würden, die bereit wären, Iwanowitsch dem Galgen auszuliefern. Er beschuldigte deshalb zur Sicherheit den internationalen Verbrecher aller Raubtaten, Diebstähle und Einbrüche, die in letzter Zeit in der ganzen Republik geschehen waren. Er klagte ihn auch solcher Verbrechen an, für die es keinen anderen Beweis gab, als daß sie eben geschehen waren.
Die Beratung der Geschworenen dauerte eine Dreiviertelstunde, und der Abgeordnete Jandak, der gewohnt war, seine Versammlungen pünktlich abzuhalten, zog schon mehrere Male ungeduldig die Uhr.
Als die Volksrichter im Gänsemarsch auf ihre Plätze zurückgekehrt, verstummte mit einemmal jeder Laut. Der ganze Saal lauschte mit äußerster Spannung dem Verdikt, das der Obmann der Geschworenen, ein Gutsverwalter, feierlich verlas:
»Die Geschworenen haben die Fragen wie folgt beantwortet:
Erste Hauptfrage: Ist Milan Iwanowitsch schuldig, am achtundzwanzigsten Mai dieses Jahres gegen einhalb acht Uhr morgens in einem Zimmer des Hotels ›Blauer Stern‹ den ungarischen Grafen Emmerich Belaffi gefesselt und ihm in feindlicher Absicht und, um ihn zu töten, mit einer Axt mehr als zwanzig Schläge gegen den Kopf versetzt und solcherart gehandelt zu haben, daß daraus der Tod des Grafen folgte?
Antwort: Fünf ›Ja‹, sieben ›Nein‹.«
In den Augen des Angeklagten, die verzweifelt auf den Mund des Lesenden gerichtet waren, ließ die Spannung nach, und der fiebrige Ausdruck in ihnen erlosch. Der Abgeordnete Jandak lachte befriedigt.
Der Vorsitzende legte den Kneifer auf den Tisch, und es war so still im Saal, daß diese Bewegung zu hören war. Die Tür war von Stenotypistinnen und Referendaren umstellt, die gekommen waren, um das Urteil zu hören.
In der dumpfen Stille las der Obmann weiter:
» Zweite Hauptfrage: Ist Milan Iwanowitsch schuldig?«
Und nun folgten einunddreißig Fragen wegen Raubes, Diebstahls, Betruges, Urkundenfälschung, Falschspiels, Einbruchs, Kuppelei, falscher Anmeldung, Überschreitung des Waffenverbots, Hasardspiels usw.
Die einstimmige Antwort war: Ja.
Die Geschworenen hatten die Absicht des Staatsanwalts vollauf begriffen; auch sie kamen zu der Überzeugung, daß Iwanowitsch, selbst wenn man ihn des Raubmordes nicht überführen konnte, ein gefährliches Individuum sei, dem man auf der andern Seite zulegen mußte, was auf der einen nicht reichte.
Zwölf Stimmen Ja.
Zwölf Stimmen Ja.
Zwölf Stimmen Ja.
Iwanowitsch verstand die Verhandlungssprache soweit zur Genüge. Sein Kopf sank tiefer und tiefer, und seine Augen blickten tot vor sich hin.
Den Urteilsspruch wartete Jandak nicht mehr ab. Er stellte fest, daß es ein Viertel nach vier war, und daß er höchste Eile hatte. Er lief aus dem Gerichtssaal hinaus. Das Strafmaß erfuhr er erst am nächsten Tage aus den Zeitungen. Iwanowitsch wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, die übrigen Angeklagten von einem bis zu fünf Jahren. Von den Angeklagten ging nur einer straflos aus, der ehemalige Honvedkadett Czengery Tassilo.
Unter den Geschworenen waren zwei Frauen, und der Baron Czengery Tassilo war ein schöner Jüngling, dessen ungezwungenes Wesen ihn sympathisch machte. Seine rabenschwarzen Haare, seine feurigen Augen waren zu schön – und überdies sprach er als einziger fließend die Landessprache, während die anderen sie nur radebrechten.
Der Abgeordnete Jandak eilte aus dem Gerichtsgebäude hinaus und sprang auf eine Straßenbahn, die eben vorbeifuhr. Er fuhr zum Unterrichtsministerium. Das Lächeln nach dem Urteil der Geschworenen saß noch auf seinen Lippen, aber er hatte keine Zeit mehr, an den Prozeß zu denken. Es kam häufig vor, – und darin lag die Annehmlichkeit seines Lebens, daß Eindruck auf Eindruck folgte, und daß er erst daheim, im Bett, Zeit hatte, zu ordnen und zu vergleichen.
Der Minister, ein Parteigenosse, hatte ihn zu sich gebeten. Das war sehr sonderbar. Was konnte der Minister ihm, dem Revolutionär Jandak, sagen, wo sie sich doch morgen trennen würden?
Der Abgeordnete hatte seinen Augen nicht getraut, als er des Morgens den Brief des Ministers erhalten hatte, der mit kleinen kräftigen Buchstaben geschrieben war, in denen noch die ursprüngliche Schwerfälligkeit des Arbeiters gewahrt blieb, die aber in letzter Zeit seltsame Schnörkel ansetzten. Der Brief sagte nichts über den Zweck des Besuches, er enthielt nur eine freundschaftliche Bitte um eine Unterredung in »dringender Angelegenheit«.
Es war kein Anlaß, nicht hinzugehen.
Der Minister altert. Seine neue Würde macht ihn gesprächig, und wenn der Besuch sonst keinen Zweck hat, wird vom Minister doch einiges zu erfahren sein.
Der Portier des Barockpalastes in der Karmelitergasse war orientiert, der Amtsdiener gleichfalls. Der Minister begrüßte den Abgeordneten herzlich, und sein Händedruck war freundschaftlich.
»Verzeih, bitte«, sagte er aufrichtig und warm, »ich hätte dich selbst aufgesucht, aber ich bin von morgens bis abends eingespannt, es ist zum Verzweifeln, wieviel Arbeit ich habe, und wenn ich nur für kurze Zeit in den Exekutivausschuß der Partei gehe, muß ich gleich in der Nacht nacharbeiten.«
Jandak lachte ein wenig boshaft. Er wußte das. Man überhäufte die Arbeiterminister mit einer Flut unnötiger Arbeit, damit sie die Verbindung und den Zusammenhang mit dem Proletariat verlören.
»Du warst noch nie hier«, erinnerte sich der Minister.
»Nein, du hast es sehr nett hier.« Jandak blickte umher, und das Lächeln, mit dem er eingetreten war, verließ ihn nicht.
»Komm, ich zeige dir, wie wir uns eingerichtet haben.«
Der Minister führte den Gast durch die Säulen- und Karyatidenpracht des Palastes, durch weiße Gänge und Säle, die in Büroräume des » Ministeriums für Kultus und Unterricht« umgewandelt waren. Er zeigte ihm die Teppiche, Gobelins, Bibliotheken, die Bilder mittelalterlicher und moderner Meister, und seine zufriedene Stimme und seine Augen, die vor Freude glimmten, sprachen:
»Sieh, Genosse Jandak, das ist die Demokratie! Hier fanden früher die Beratungen der feudalen Tyrannen statt, hier berieten sie, wie man das Volk noch besser knechten und ausbeuten könnte. – Und nun kennen wir hier keinen anderen Gedanken als den, wie man dem Volk am besten dienen kann. Hier herrschte noch vor zwei Jahren mittelalterliches Dunkel, jetzt ist das Ministerium für Unterricht hier untergebracht. Hier regierten noch vor kurzem fremde Fürsten, die Fürsten Kamil und Alaine Rohan. Jetzt befehle ich hier, Gustav Habrmann, ehemaliger Drechsler, der in den achtziger Jahren vier Jahre Zuchthaus wegen Komplotts gegen die Sicherheit des Staates absitzen mußte!«
Und als er die Holzschnitte eines modernen Zeichners zeigte, fragten seine Augen:
»Siehst du, wie ich die moderne Kunst fördere? Unsere Künstler werden nicht mehr wie in der Monarchie hungern müssen, die Kunst wird unter unserer Arbeiterhand aufblühen.«
Und der bange, traurig-ernste Blick, den er im Gobelinsaal auf Jandak heftete, bedeutete: Ist es tatsächlich möglich, daß sich in unserem Land ein Verbrecher oder Irrsinniger findet, der diese schwer errungene Freiheit vernichten wollte? Ist es möglich, daß er sich in den Reihen der Arbeiter finden würde, denen unser Herz und unsere ganze Arbeit gehört?
Jandak ging durch Gänge und Säle, nickte mit dem Kopf und lächelte geduldig, so wie ein Erwachsener einem Kind zulächelt. Er kannte zu genau den Ursprung und den Zweck dieser Pracht.
Der Abgeordnete und der Minister kehrten in das Arbeitszimmer zurück und saßen einander in Ledersesseln gegenüber. Die Füße ruhten auf Perserteppichen. Der ernste Ausdruck Habrmanns bezeugte, daß nun der eigentliche Zweck des Besuches folgen würde, die politische Aussprache.
Der Minister blickte mit seinen traurig-schönen Augen auf Jandak. Der Abgeordnete hatte Habrmann schon lange nicht so aus der Nähe gesehen. Der ehemalige Arbeiter und Provinzjournalist hatte sich in einen eleganten amerikanischen Gentleman verwandelt. Er war glatt rasiert und gekämmt. Kleider, Wäsche und Schuhe schienen erst gestern in einem ersten Geschäft auf dem Broadway gekauft zu sein. Bloß die Augen waren unverändert geblieben. Sie waren schön und weich und hatten jenen eigenartig leuchtenden Glanz, der immer aufs neue fesselte. Jandak kannte den Ursprung dieses Glanzes. Er wurde im Gefängnis geboren. Solche Augen verblieben den traurigen Gefangenen für ihr Leben, den Gefangenen, die vier Jahre aus einer Entfernung von viereinhalb Schritten auf die Wand ihrer Zelle geblickt und ihre ganze weiße Enge eingeatmet hatten.
Der Minister sah nicht gut aus, man merkte, daß er ermüdet und überarbeitet war, und daß sich das Alter meldete.
Habrmann beugte sich nach langem Schweigen ganz nahe zu Jandak. Der Abgeordnete hatte seine Hände auf die Knie gelegt, und der Minister legte die seinigen auf sie.
»Jandak«, Habrmanns Stimme klang traurig, »Jandak, alter Kamerad«, die Augen Habrmanns waren trauriger als je zuvor. »Was macht ihr nur?«
»Na, was machen wir?« lachte der Abgeordnete.
»Eine falsche Politik, Karl, eine furchtbare Politik.« Der Minister faßte mit den Händen an die ergrauenden Schläfen.
»Begreif mich doch, Freund, begreif mich doch.«
»Ich höre«, sagte der Abgeordnete.
Was nun kam, war schon viel weniger überzeugend als die Augen Habrmanns und die Wärme seiner Hände, denn Habrmann war nur in Gefühlen groß.
»Revolution, jawohl, Revolution. Ist denn Habrmann kein Revolutionär, hat er denn nicht sein ganzes Leben dafür gearbeitet und gelitten? Aber es geht nicht darum, daß die Arbeiterschaft in der Revolution geschlagen werde, es geht darum, daß sie siege! Die Revolutionszeit ist vorbei! Es ist ein furchtbarer Irrtum, sich an die Russen anlehnen zu wollen. In Rußland ist keine soziale Revolution im Marxistischen Sinne, es ist eine verspätete Form der Lösung des Agrarproblems, das bei uns schon seit achtundvierzig gelöst ist.«
Der heroische Kampf des russischen Proletariats ergreift auch Habrmann tief, aber:
»Glaubst du denn, daß der westliche Kapitalismus gestatten wird, daß die Arbeiter ein Sechstel der Welt beherrschen. Die kapitalistische Bestie ist zu groß, die kapitalistische Bestie wird sie ersticken.«
»Sieh mal«, sagte Jandak zu sich, »die Terminologie ist unverändert geblieben, sie bleibt dieselbe auch bei der Propagierung kapitalistischer Ansichten.«
Und er fragte:
»Was für euch ein Grund ist, den Sozialismus zu verraten und sich gegen ihn in den Dienst der kapitalistischen Bestie zu stellen …?«
»Sprich nicht so aufgeregt, Karl! Hör auf mich! Von heute in einem halben Jahr gibt's keine Sowjets mehr in Rußland. Was dort kommen wird, wissen wir nicht. Gebe es das Schicksal, daß die Demokratie kommt, aber es ist höchste Gefahr, daß die Reaktion in ihrer furchtbarsten Gestalt kommt. Was macht ihr dann, wenn ihr das Schicksal der Arbeiterschaft auf diese einzige Karte gesetzt habt?«
»Vor einem Jahr habt ihr mit der gleichen Bestimmtheit behauptet, daß die Sowjets in drei Monaten zu Ende sein würden«, antwortete Jandak ein wenig boshaft.
»Ja, wir glaubten dies, und wir haben uns geirrt. Aber waren Koltschak, Denikin und der polnische Krieg Kleinigkeiten? Das waren die letzten Schläge, die das russische Proletariat noch ertragen hat. Aber jetzt nähert sich das Ende der Revolution sehr schnell. Das Land ist verwüstet, die Eisenbahnen fahren nicht, die Industrie feiert, Hunger und Elend sind ungeheuer. Der Staat hat keine Finanzen. Das ist das Ende, trotz aller Opfer und Heldentaten!«
Der Minister versank in Schweigen. Dann setzte er sich auf den Rand des Sessels, noch näher zum Abgeordneten heran, und fuhr fort:
»Ich sollte dir dies nicht verraten. Aber es geht um wichtige Dinge, und dann, welches Staatsgeheimnis könnte zwischen uns stehen, Genosse?«
Dann sagte er Wort für Wort eindringlichst und mit Betonung, so daß sich Jandak der Verkündung des Geschworenenurteils erinnern mußte.
»Es wird eine furchtbare Intervention gegen Rußland vorbereitet, eine furchtbare und großzügige Intervention, ein riesiger Angriff von außen, der mit einem Aufstand im Innern verbunden sein wird. Das ist der letzte Schlag. Das erschütterte Rußland wird ihn nicht mehr ertragen. Nach einem halben Jahre ist es mit den Sowjets vorbei, das ist die letzte Frist, Genosse Jandak.«
Diese Nachricht machte auf den Abgeordneten nicht den Eindruck, den der Minister erhofft hatte. Jandak lachte sogar bei dieser Mitteilung, und diese »Frivolität« tat Habrmann weh.
»Glaubst du, daß der russische Bauer den Großgrundbesitzern den Boden zurückgeben wird?« fragte Jandak.
»Nein, er wird ihn nicht hergeben, er wird sich bis zum letzten Blutstropfen wehren, aber sie werden den armen Muschik erschlagen.«
»Ich habe andere Informationen von der inneren Kraft Rußlands.«
»Deine Informationen sind einseitig und falsch, Karl. Wir haben größere Möglichkeiten, uns zu informieren, und wenn Rußland noch so stark wäre, kann es gegen die ganze Welt bestehen?«
Jandak zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Er kannte diese Gründe alle zu gut, die Gründe und Gegengründe. Es hatte keinen Sinn. Alles, was von beiden Seiten gesagt werden konnte, war auf Hunderten von Arbeiterversammlungen bereits gesagt worden. Habrmann wußte dies nicht. Er wußte zwar, daß Versammlungen über Versammlungen stattfanden, daß dort »unverantwortliche Elemente« gegen die Regierung und den Staat schürten, und daß sie die kleinen Schwierigkeiten und Kinderkrankheiten der demokratischen Republik dazu benutzten, um das Proletariat »zu verhetzen«. Er wußte dies aus den Zeitungen und aus dem Ministerrat. Aber wie die Arbeiter wirklich dachten, wußte er nicht. Er hatte keine Zeit, er war Minister.
»Genosse Jandak, ich sage dir Dinge, die ich dir nicht sagen dürfte«, sagte er ernst, erhob sich aus seinem Sessel, stellte sich neben den Abgeordneten und blickte ihn an:
»Wir haben Nachrichten, daß ihr einen Putsch vorbereitet.«
Die Augen des Ministers bekamen einen traurigen Ausdruck, er atmete tief, und es war zu sehen, daß ihm die Bangigkeit die Brust zusammenschnürte.
»Jandak, was wollt ihr machen gegen die kapitalistischen Kanonen?«
Es klang tragisch.
»Der Ministerpräsident ist Parteigenosse«, antwortete Jandak, sich zur Ruhe zwingend, »ihr entscheidet. Ohne euren direkten Befehl darf man die Kanonen nicht gegen die Arbeiter verwenden. Oder seid ihr der Bourgeoisie schon so verfallen, daß ihr auch dazu bereit seid?«
Aus den Augen des Abgeordneten schlug Feuer, und der Minister senkte die seinen vor ihnen.
»Jandak«, sagte er väterlich, »höre mich an, wir wollen unterstellen, daß ihr euch der Regierungsgewalt bemächtigt und einige Wochen unter furchtbaren Opfern regieren könnt. Aber was geschieht in einem halben Jahr, wenn Rußland zusammenbricht? Denk doch bis ans Ende, Genosse, Kamerad Jandak.«
Der Minister faltete die Hände zu einer flehentlichen Bitte.
»Weißt du, wer dann regieren wird? Nicht die Arbeiter wie heute, aber die äußerste Reaktion, Großindustrie, Banken, der Klerus und die Soldateska. Jandak, erbarmt euch der Arbeiterschaft!«
Der Minister weinte.
»Bewahrt sie vor einem Blutbad, nehmt den Arbeitern nicht das, was wir für sie erobert haben.«
Die Tränen liefen aus den Augen des Ministers. Sie liefen über die glatten Wangen eines amerikanischen Gentlemans. Jandak erschrak. Das Lächeln, mit dem er eingetreten war, verging ihm. Habrmann glaubte an das, was er sagte.
Seine Tränen sind ehrlich!
Der Minister setzte sich von neuem in den Sessel. Er nahm ein Batisttuch aus der Brusttasche und trocknete sich die Augen. Sie schwiegen eine Zeitlang, dann wollte Habrmann fortfahren:
»Sieh mal, Jandak, du sprichst von euren Informationen über Rußland …«
Aber in dem Augenblick, als der Minister zum väterlichen Ton zurückfand, erfaßte Jandak ein wilder Haß gegen ihn, ein unerbittlicher Haß, der ihn ganz erfüllte. Er konnte sich nicht länger beherrschen und sprang auf.
»Was erzählst du mir da dauernd von vergossenem Arbeiterblut, kapitalistischen Kanonen? Was für kapitalistische Kanonen? Das sind eure Kanonen. Ihr habt die Macht in der Hand. Eure soziale Pflicht ist es, sie gegen die Bourgeoisie zu kehren. Das wirst du allerdings nicht machen! Im Gegenteil, du weißt, daß du sie gegen uns wenden wirst, weil es die Bourgeoisie befiehlt. Aber dann jammere nicht! Gesteh, daß du der Bourgeoisie verfallen bist und markiere nicht den Beschützer des Proletariats.«
Sie standen einander gegenüber, und Jandak schrie dies in die Ohren des Ministers. Plötzlich sah er, daß diese Augen ihn weitgeöffnet anblickten, und daß in diesen Augen Kummer und Schmerz war ob des unerhörten Unrechts.
»Ich?« sagte Habrmann.
»Du!« war die wütende Antwort.
»Ich will Arbeiterblut vergießen, das sagst du mir, Karl?«
»Keinem anderen.«
»Ich?«
Dem Minister kamen von neuem die Tränen.
Jandak winkte mit der Hand ab. Er machte einige Schritte durch das Arbeitszimmer.
Dabei fiel es ihm ein, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte, und wie sinnlos dies alles sei. Er trat schnell an Habrmann heran.
»Leb wohl!«
Habrmann faßte ihn ängstlich an der Schulter:
»Nein, Karl, du darfst nicht gehen. So wollen wir nicht auseinandergehen. Es ist ausgeschlossen, du mußt mich noch anhören.«
Der Minister begann von neuem. Er sprach lange. Jandak hörte verdrossen zu und war ärgerlich, daß er sich hatte aufhalten lassen.
»Versprich mir, Genosse Jandak, daß ihr vor einem halben Jahr nichts unternehmen werdet.«
»Ich verspreche nichts. Ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr, nur solange, bis die Bourgeoisie gegen uns gerüstet ist. Wenn sie soweit ist, dann jagt sie euch einfach davon, weil sie euch dann nicht mehr brauchen wird!«
»Versprich mir wenigstens, daß du über meine Worte nachdenken wirst.«
»Na, das kann ich dir ja versprechen.«
»So, – nun das genügt mir einstweilen.«
Jandak hielt die Unterredung für beendet. Er erhob sich, der Minister auch.
Er begleitete ihn zur Tür.
»Was macht dein Junge?«
»Er geht jetzt ins Kittchen«, lachte der Abgeordnete ironisch: »Ihr habt ihn ja für vierzehn Tage eingelocht.«
Die Augen des Ministers leuchteten auf, er faßte die Hand des Abgeordneten warm:
»Das ist gut, dort wird er hassen lernen. Der Junge hat mir stets gefallen. Leiden ist eine schöne Sache, das macht den Menschen hart. Grüß ihn herzlich von mir und bestelle ihm, daß er sich meiner erinnern soll, wenn sich hinter ihm die Türe schließt und er merkt, daß sie von innen keine Klinke hat. Er wird begreifen, warum ich ihm das sagen lasse, das ist ein Eindruck, den der Mensch nie vergißt. Bestelle ihm, daß er dort erst hassen lernen wird.«
Jandak erbebte. Er dachte sich: »Begreifst du denn nicht, Gustav Habrmann, daß er dich hassen lernen wird?«
Er kam aus dem Arbeitszimmer des Ministers in das Wartezimmer.
Zwei Jahre leben diese Menschen in Palästen, nicht ganze zwei Jahre, und schon sind sie tot.
Mit dieser Feststellung war Jandaks Tag noch nicht beendet. Die Tage Jandaks waren immer inhaltsreich, aber dies sollte der ereignisreichste von allen werden.
Im Wartezimmer saß der Ministerialdirektor Podhradsky. Als er Jandak erblickte, sprang er auf und eilte zu ihm.
»Ach, der Herr Abgeordnete Jandak. Meine Hochachtung!«
Er reichte ihm die Hand:
»Wie geht es Ihnen, was machen Sie?«
Podhradsky verkehrte seit langen Jahren in der Gesellschaft von Politikern. Das ursprüngliche Mißtrauen gegen ihn, der damals noch Beamter des österreichischen Innenministeriums war, hatte er durch seine ehrliche Überzeugung, seine Informiertheit und seine persönliche Liebenswürdigkeit verscheucht.
Er war ein großer und mächtiger 35jähriger Mann mit einem roten, englisch geschnittenen Schnurrbart, stets mit äußerster Sorgfalt gekleidet. Er war fröhlich und hatte die Manieren eines Mannes von großer Welt. Er kannte Jandak schon lange, und nach dem Sturz Österreichs hatten sie einige Nächte miteinander gefeiert. Podhradsky war in das Innenministerium der jungen tschechischen Republik eingetreten. Damals begannen sie sich auch zu duzen. Aber jetzt, wo die Spannung zwischen Arbeiterschaft und Regierung wuchs, war es nicht ratsam, mit dem Ministerialdirektor des Innenministeriums zusammenzukommen.
Podhradsky war im übrigen korrekt. Auf der Straße grüßte er nur höflich, und auch jetzt duzte er den Abgeordneten nicht.
»Kommen Sie doch zu mir herüber, Herr Abgeordneter! Sie bereiten mir eine große Freude. Mein Zimmer ist hier über den Flur, ein paar Schritte nur.«
Jandak suchte eine Ausrede und zog die Uhr.
»Ach, lassen Sie die Uhr, nur ein paar Worte, Herr Abgeordneter. Ich wollte schon lange mit Ihnen sprechen, und ich bitte, mir nicht zu sagen, daß wir nichts zu erzählen hätten. Sie werden sehen, wir haben einander viel zu erzählen. Und wenn uns nun dieser glückliche Zufall zusammengeführt hat, – ich bitte Sie herzlich darum.«
Jandak dachte sich: »Wenn ich schon hier bin, also gut …«
»Ich danke Ihnen.«
Sie gingen über den Flur. Der Ministerialdirektor schloß eines der leeren Büros auf, und sie traten ein, und als er Jandak zum Sessel geführt hatte, stellte er sich neben ihn und blickte ihn mit freudig-freundschaftlichem Ausdruck an:
»Wie geht es Ihnen?«
Er schob ihm Zigarettenschachtel, Aschenbecher und Streichhölzer hin.
»Ich bitte!«
»Ich rauche keine Regierungszigaretten.«
Podhradsky zog sofort sein eigenes Zigarettenetui aus der Tasche und öffnete es.
»Hier sind meine, Herr Abgeordneter.«
Er sagte dies so freundlich und nett, daß man nicht ablehnen konnte.
»Erzählen Sie mir doch etwas von sich. Gehen Sie noch zur ›Goldenen Spinne‹?«
Sein Gesicht erglänzte wie bei einer angenehmen Erinnerung.
Jandak war die Erinnerung an die »Goldene Spinne« weniger angenehm. Das war der Ort, wo er mit Podhradsky am Ende des Jahres 1918 einige Nächte durchgebummelt hatte.
»Das waren verrückte Zeiten damals«, lachte der Ministerialdirektor.
»Das waren sie auch. Wir waren alle besoffen von der vermeintlichen Freiheit.«
»Warum vermeintlich?«
»Ach, wir wollen die Politik heute lassen.«
»Es war doch sehr schön. Ich erinnere mich oft daran, wie lustig Sie waren, und welche Lieder Sie sangen; – na, an die Erna mit dem schönen Haar erinnere ich mich auch. Und im übrigen …«
Plötzlich besann er sich und lachte:
»Ich muß Ihnen etwas zeigen. Ich habe es beim Studium der Akten gefunden.«
Er trat zum Schreibtisch, auf dem zwei Aktenbündel lagen. Er öffnete eines von ihnen und blätterte darin:
»Da haben wir's.«
Es war eine Photographie. Er schaute sie belustigt an und reichte sie Jandak.
»Sehen Sie mal.«
Auf der Photographie war ein Chambre séparée der »Goldenen Spinne« abgebildet. Im Vordergrund der silberne Kübel mit der Sektflasche, dahinter ein Tisch mit Gläsern, belegten Broten und zerdrückten Servietten. In der linken Ecke deutlich erkennbar der Abgeordnete Jandak mit einer halbnackten Bardame auf den Knien. Im Hintergrund die schönhaarige Erna. An ihrer linken Seite saß der Abgeordnete Petak und führte ein Glas zum Mund. Zu ihrer Rechten der Ministerialdirektor Podhradsky. Dieses Bild mußte nur ein wenig vergrößert werden, und es konnte in irgendeinem Arbeiterblatt als Satire auf die Bourgeoisie erscheinen.
Jandak errötete.
»Was ist das?«
»Was das ist?« lachte Podhradsky. »Das ist die ›Goldene Spinne‹ von Anno neunzehnhundertneunzehn. Mit solchen Dingen unterhält sich die Staatspolizei. Sie glaubt sich Gott weiß wie verdient zu machen, wenn sie uns diese Photographie der ›Goldenen Spinne‹ bringt. Das ist doch eine Sensation! Der Abgeordnete Jandak, der Abgeordnete Petak, der Ministerialdirektor Podhradsky beim Sektgelage! Provinzialismus! Ich habe erst später erfahren, daß der Kellner, der uns bediente, Polizeispitzel war. Der hat uns ganz schön eingefangen. Das Objekt saß in der Krawattennadel. Ein gescheiter Bengel. Diese Photographie allerdings ist stark vergrößert.«
Jandak flog ein Gedanke durch den Kopf: so ist das also! Er war auf Bitten Podhradskys hierhergekommen, aus Höflichkeit, um den Kameraden nicht zu beleidigen, und jetzt sah er, daß ihn der Kamerad in die Falle gelockt hatte, um ihm die Schlinge um den Hals zu legen.
So ist das!
Er wurde erregt.
»Hören Sie, Herr Ministerialdirektor«, sagte er feierlich und Wort für Wort betonend: »Es scheint, Sie haben mich nur hierher gebeten, um mir die Photographie zu zeigen.«
»Was fällt Ihnen ein, aber ich habe mich erinnert, daß sie Sie interessieren könnte«, antwortete Podhradsky freundlich.
»Um mir mit ihrer Veröffentlichung zu drohen?!«
»Herr Abgeordneter«, rief Podhradsky bestürzt, »was sagen Sie da.«
»Um mich politisch zu mißbrauchen!«
»Jetzt hätte ich ein Recht, wirklich ein Recht, beleidigt zu sein. Haben Sie mich erst heute kennengelernt, daß Sie mich einer solchen Sache für fähig halten?! Bitte, nehmen Sie die Photographie.«
»Sie haben das Negativ.«
»Wie könnte es mir einfallen, Ihnen mit der Veröffentlichung zu drohen. Sie könnten mir ja sagen, daß ich selbst darauf photographiert bin und in einer unangenehmeren Situation als Sie, bitte überzeugen Sie sich!«
Und der Ministerialdirektor lachte: »Glauben Sie, daß ich mich der Politik wegen von meiner Frau scheiden lassen und meine Kinder verlieren will?«
»Ihr Gesicht kann bei der Reproduktion verkratzt werden.«
Podhradsky schwieg.
»Ihr Gesicht kann auf dem Negativ bis zur Unkenntlichkeit retuschiert werden«, wiederholte Jandak bedeutungsvoll.
»Das hat man mir auch gesagt«, antwortete der Ministerialdirektor. Er sagte es ernst, und er unterstrich diese Worte durch einen noch ernsteren Blick.
Jandak sprang auf:
»Ach, hat man Ihnen das gesagt?«
»Sie irren sich, glauben Sie nicht, daß ich Sie fürchte. Veröffentlichen Sie es! Meine Frau ist vernünftig genug, das alles zu verstehen, wenn ich es ihr erkläre.«
»Herr Abgeordneter!« antwortete der Ministerialdirektor ruhig und wich nicht einen Schritt vor Jandak zurück.
»Die Photographie wird nicht veröffentlicht, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Sie werden mir jetzt glauben. Ich habe Ihnen nie einen Grund gegeben, mich für wortbrüchig zu halten. Aber wenn Sie mich schon für hinterlistig halten, gestatten Sie, daß ich Ihnen folgendes sage: Als von der Möglichkeit gesprochen wurde, diese Photographie zu veröffentlichen, habe ich mich, ich versichere Ihnen das auf mein Wort, mit aller Entschiedenheit dagegen gewandt. Nicht die Rücksicht auf meine Familie war das Ausschlaggebende, sondern lediglich die Wirkung, die es auf die Arbeiterschaft haben würde.«
Jandak war sehr erregt.
Welche Gemeinheit, rein persönliche Angelegenheiten zu politischen Zwecken auszubeuten! Und welche Frechheit zugleich, in einem Satz zu versprechen, daß die Photographie nicht veröffentlicht würde und zu drohen, daß man ihn vor der Arbeiterschaft bloßstellen wollte!
»Bitte«, sagte er, »veröffentlichen Sie sie nur, ich habe nichts dagegen.«
»Wir werden sie nicht veröffentlichen, Herr Abgeordneter.« Podhradsky sagte dies mit förmlicher Höflichkeit. Jandak durchmaß das Büro einige Male, dann blieb er vor dem Ministerialdirektor stehen und betrachtete ihn.
»Ihr seid Lumpen, ihr seid Lumpen, und du bist einer der schlimmsten, und ich alter Esel habe euch geglaubt. Es geschieht mir recht, aber glaubst du denn, du Dummkopf, daß ich mich mit eurer Photographie kaufen lasse?«
»Karl, schrei nicht, nebenan könnten noch Leute sein.«
Jandak senkte die Stimme.
»Ich weiß, was ihr wollt. Ich soll die Arbeiterschaft auf eure Seite führen und der Bourgeoisie ausliefern. Ihr zittert vor der Revolution, und in dieser Angst ist euch kein Mittel zu schlecht. Wie dumm seid ihr. Ihr glaubt, daß ihr mit Photographien siegen werdet! Vor einer Weile hat Habrmann auf mich eingeredet …«
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung, als ob der Name Habrmann ihm die Augen geöffnet hätte.
Er schlug mit der Faust gegen die Stirn, er trat noch einen halben Schritt näher zu Podhradsky:
»Hören Sie, Herr Ministerialdirektor, Sie sind doch im Innenministerium.«
Podhradsky blickte ihn schweigend an, es war der Blick des Beamten, den der Vorgesetzte tadelt.
»Ihr Amtszimmer kann doch nicht in diesem Gebäude sein.«
Der Ministerialdirektor schwieg.
»Das ist nicht Ihr Büro. Sie haben sich's für eine Stunde ausgeliehen, und die Photographie haben Sie sich mitgebracht. Unser Zusammentreffen war kein Zufall, Sie haben auf mich gewartet, Habrmann hat Ihnen telephoniert.«
Podhradsky blickte ihm in die Augen.
»Ist es so oder nicht«, brüllte Jandak.
»Nicht ganz, Herr Abgeordneter. Herr Minister Habrmann hat mir nicht telephoniert. Der Minister – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, ohne die vorgeschriebene Achtung gegen ihn zu verletzen –, entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter, ich sage es ohne Umschweife, Herr Minister Habrmann ist nicht gewandt genug in diesen Sachen. Wir wußten, daß Sie hier sind.«
»Du Komödiant«, Jandak sagte dies, und Verachtung lag in seiner Stimme und Abscheu in seiner Gebärde. »Du alter Komödiant. Ihr seid eine feine Gesellschaft, höchste Zeit, euch zu verjagen!«
Und nach einer Weile: »Was willst du eigentlich von mir?«
Der Ministerialdirektor war jederzeit bereit, auf das »Duzen« oder »Siezen« einzugehen, je nach Wunsch des Abgeordneten:
»Mit dir sprechen.«
»Warum gerade mit mir?«
»Du kennst die Verhältnisse ebenso wie ich. Der Abgeordnete Deutsch und der Abgeordnete Soukup haben kaum noch Einfluß auf die Arbeiterschaft, den hat jetzt Doktor Schmeral, und den hast du.«
»Warum sprichst du nicht mit Schmeral? Ihr habt wohl keine Photographie von ihm?«
»Laß die Photographie, der Herr Doktor Schmeral will sich nichts sagen lassen.«
Jandak lachte:
»Und ihr denkt euch, ich lasse mir was sagen?«
»Ja.«
Jandak lachte nochmal:
»Sicher?«
»Sicher, Karl«, es klang vollkommen überzeugt.
Jandak setzte sich. Er ließ seinen ironischen Blick auf dem Ministerialdirektor ruhen.
»Wie du siehst, sitze ich schon, du kannst in deinen Drohungen fortfahren.«
»Ich würde dich zuerst gern über einige Dinge informieren, von denen du vielleicht nichts weißt.«
»Hm …«
»Zum Beispiel darüber …«
Der Ministerialdirektor ging zum Schreibtisch, machte ein zweites Fach auf.
Er nahm eine Liste heraus und reichte sie Jandak. Jandak sah sie an, dann brach er in ein Lachen aus. Nicht in jenes wütende Lachen, das er zuerst gelacht hatte, nein, in ein fröhliches Gelächter.
»Da hast du das Zeug zurück, Mensch, um Gotteswillen, heb es sorgfältig auf, daß es dir niemand stiehlt. Da lachen ja schon die Hühner drüber. Ein Verzeichnis der Personen, die durch die Bolschewiken hingerichtet werden sollen. In erster Linie der Präsident, als zweiter Deutsch, dann Soukup. Ich weiß das auswendig, muß nicht einmal nachsehen. Ja, glaubst du denn, daß ich dir auf diesen Leim gehe? Ich soll auch hingerichtet werden.«
Er lachte.
»Ich habe dich nicht in Verdacht, daß du an dieses Dokument glaubst, aber eins wüßte ich gern: schämst du dich denn gar nicht?«
»Es ist ein Dokument wie irgendein anderes, es ist nicht meine Sache, seine Echtheit zu prüfen. Wenn es bei dir den Zweck verfehlt, kann man nichts machen, aber zum Teil hat es seine Aufgabe schon erfüllt, sei es nun echt oder gefälscht. Ich hab gar keinen Anlaß, mich zu schämen. Die Zeiten sind zu ernst. Wir zittern. Nicht um unsere Existenz, nicht um unsere Reichtümer, wie ihr sagt, du weißt genau, daß ich nichts besitze und gegen dich ein Bettler bin. Aber wir fürchten den Bürgerkrieg, den ihr entfesseln wollt. Wir zittern um Tausende von Leuten, die uns anvertraut sind, wir fürchten um den Bestand der Republik, und in solcher Zeit ist jedes Mittel heilig, das die Heimat vor dem Abgrund bewahrt.«
Jandak dachte: Ach, eine Tirade, die Anspruch erhebt auf Gefühlsechtheit. Wie widerwärtig, niedrige Regungen hinter idealistischen Motiven zu verbergen!
Er fühlte die Notwendigkeit, den Beamten zu kränken. Nicht durch irgendein Schimpfwort, deren einige Podhradsky heute schon ertragen hatte, nein, durch eine Beleidigung, die tiefgehen würde. Er sagte:
»Hör mal, als du vor dem Krieg als Beamter des kaiserlichen Innenministeriums in unsere Gesellschaft kamst, waren wir uns alle einig, daß du ein Spitzel bist. Aber dann haben wir den ersten Eindruck vergessen, und das war ein Fehler. Jetzt bin ich fest davon überzeugt, daß du für Seine Majestät schmutzige Arbeit verrichtet hast, daß du die Arbeit für Seine Majestät mit derselben Begeisterung und dem gleichen Raffinement verrichtet hast, wie du es jetzt für die Republik tust.«
Er sagte dies mit einer bösartigen Ruhe. Zum erstenmal senkte der Ministerialdirektor bei diesem ungleichen Zweikampfe vor dem Angriff Jandaks die Augen. Er errötete sogar. Nur ein kleines bißchen, und nur für einen kurzen Augenblick, so, als ob er sich klarmachen wollte, daß er kein Recht habe, sich zu erregen, kein Recht, die Wunde mit einer anderen, schärferen zu vergelten, daß er nicht einmal das Recht habe, das Tempo seines Angriffs zu verschärfen, und daß es seine Pflicht sei, mit ruhigem, vorherberechnetem Schritt dem Ziel zuzustreben, das er erreichen mußte.
»Es ist ein Irrtum, wenn du meinst, daß ich gespitzelt habe«, sagte er, »aber es ist keine Unehre für mich, daß ich auch damals ein gewissenhafter Beamter war. Ich schäme mich dessen nicht, daß wir auch damals für die Ruhe und für die Sicherheit der Bürger gesorgt haben.«
Jandak lachte herzlich.
»Na ja, ich sage ja auch nichts anderes, und du hast sehr gut dafür gesorgt! Du hast bis zum Weltkriege dafür gesorgt. Im übrigen scheint's, daß wir zu Ende sind. Ich glaube, ich kann jetzt gehen.«
»Ich bitte dich noch um einen Augenblick.«
»Was gibt's denn noch?«
»Ich würde gern mit dir ein wenig politisch sprechen.«
»Politisch? Das hat schon Habrmann getan.«
»Er hat nicht alles gesagt.«
»Bitte! Es beginnt sogar mich zu interessieren. Ihr fürchtet den Bürgerkrieg. Das ist begreiflich, denn ihr werdet dabei alles verlieren. Ich könnte dir sagen, daß es gegen den Bürgerkrieg nur ein Mittel gibt. Das wäre, daß ihr euch freiwillig eurer politischen und eurer Eigentumsprivilegien begebt. Du wirst mir darauf antworten, daß dies unmöglich ist, und wir werden wieder da stehen, wo wir jetzt sind. Ihr fürchtet euch, also gut, aber was weiter?«
»Die gegenwärtige Ordnung läßt die Enteignung nicht zu, und wir wollen auch die jetzige Ordnung nicht ändern, weil wir überzeugt sind, daß sie der Mehrheit der Bevölkerung am besten entspricht …«
»Daß sie euch am besten entspricht!«
»Jawohl, ich gehöre auch zu jener Mehrheit. Wir wollen uns allerdings anders schützen. Wir wollen eine größtmögliche Anzahl zufriedener Leute schaffen, auf die wir uns stützen können. Man kann nicht alle befriedigen.«
»Das bedeutet, daß man die Arbeiterschaft nicht befriedigen kann.«
»Ihre breitesten Schichten vorläufig nicht; du weißt, daß viele Versuche in dieser Richtung unternommen wurden, daß der gute Wille vorhanden war, daß ihr eure besten Leute in der Regierung habt. Die Wirtschaftslage läßt mehr nicht zu.«
»Sprichst du aufrichtig?«
»Mit unserer Bodenreform, unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgen wir das Ziel, in allen Schichten der Bevölkerung selbständige, vermögende, zufriedene und dem Staate ergebene Bürger zu schaffen.«
»Nur unter der Arbeiterschaft nicht und alles auf Kosten der Arbeiter. Darin liegt ja eben die Gemeinheit, die man bekämpfen muß.«
»Auch unter der Arbeiterschaft wollen wir eine Schicht Zufriedener schaffen.«
»Das höre ich zum erstenmal.«
»Wir können nicht die Wünsche der ganzen Klasse befriedigen, aber ihre Führer, die besten Männer der Arbeiterschaft, können wir nach den Gesetzen der natürlichen Auswahl zu wohlhabenden und zufriedenen Menschen machen. Eine ganze Anzahl eurer Leute ist zu Aufsichtsräten von Banken und Wirtschaftsunternehmungen ernannt worden. Wir haben ihnen hohe Einkommen aus politischen, kulturellen und humanistischen Institutionen besorgt. Warum haben wir dies getan? Aus persönlicher Sympathie? Nein, um sie von den Launen der Straße unabhängig zu machen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, eine staatserhaltende und reelle Politik zu machen, die alles in allem auch für die Arbeiterschaft die allein richtige ist.«
Jandak lachte ironisch.
»Willst du auch mich korrumpieren?«
Der Ministerialdirektor überging die Frage und fuhr fort:
»Überdies, und warum sollte ich das leugnen, haben wir es auch getan, um sie uns zu verpflichten. Wir haben vielen Arbeiterpolitikern noch auf andere Weise Geld zu verdienen gegeben, zum Beispiel auf dem Wege des Geschäfts, und sie zeigten sich hierbei …«, der Ministerialdirektor lächelte kaum merklich, »… sehr talentiert.«
Und jetzt fuhr er etwas langsamer als vorher und um einen Grad eindringlicher als vorher fort. Sein Ton blieb jedoch immer der eines Weltmannes.
»Ihre Frauen und Töchter waren uns ausgezeichnete Helferinnen. Das ist schließlich nur menschlich und ganz begreiflich. Warum sollte die Frau eines sozialistischen Politikers nicht anständig wohnen, im Auto fahren, Seidenwäsche und Pelze tragen und eine Loge im Theater besitzen? Frauen sind beweglicher als Männer, die man schwer vom harten Prinzip zur praktischen Arbeit bringen kann. Also kurz gesagt, das Geschäft hat uns gleichfalls gute Dienste geleistet, und wenn sich ein Arbeiterpolitiker bei Lieferungen, die wir ihm anvertraut haben, nicht so korrekt benahm, wie wir es von einem Berufskaufmann verlangen würden, mußte man eben ein Auge zudrücken. Ich spreche heute ganz aufrichtig, wir waren froh, wenn er ein bißchen inkorrekt war. Auch Inkorrektheit verbindet. Wer einmal ein nicht ganz reelles Geschäft mit uns getätigt hat, muß sich dessen bewußt sein, daß wir immer die Möglichkeit haben, dies seinen Wählern mitzuteilen.«
»Hm …«, sagte der Abgeordnete Jandak und versuchte zu lachen. Aber das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken. »Du erzählst sehr interessante Dinge von der Korruption, willst du mich vielleicht auch korrumpieren? Hast du vielleicht die Vollmacht, mir eine Aufsichtsratsstelle anzubieten?«
»Es besteht kein Zweifel, daß sich mit der Zeit auch über einen Aufsichtsratsposten sprechen ließe, heute kann ich dir freilich keinen anbieten.«
»Womit willst du mich also bestechen?«
Es sollte ironisch klingen, aber die Ironie versagte.
»Bestechen?«
Der Ministerialdirektor zuckte kaum merklich die Achseln, neigte den Kopf unmerklich zur Seite und zog das Wort in die Länge. Er blickte den Abgeordneten von der Seite an:
» Das ist nicht mehr nötig.«
Der Abgeordnete Jandak wurde weiß wie das Kanzleipapier vor ihm.
»Wie meinst du das?« fragte er mit einer Stimme, die sich vergeblich bemühte, ruhig zu erscheinen.
»Das ist schon geschehen.«
Der entsetzte Abgeordnete sprang auf:
»Das ist schon geschehen?« schrie er.
Der Ministerialdirektor blickte ihm ruhig und ohne Antwort in die Augen.
»Was ist schon geschehen?«
Die Augen des Abgeordneten funkelten leidenschaftlich.
»Setz dich, Karl. Reg dich nicht auf!«
»Nein, nein«, schrie Jandak, »was ist geschehen?«
Seine Stimme überschlug sich:
»Denkst du an die Feuerlöschgeräte?«
»Ja!« antwortete Podhradsky ruhig.
»Was gehen sie mich an?«
Es war ein wilder Aufschrei.
»Was gehen mich eure Feuerlöschgeräte an, und was geht ihr alle mich an?«
»Setz dich, Karl, und höre mich an!«
»Damit werdet ihr mich nicht erledigen, meine Herren!«
Seine Stimme zischte.
»Setz dich, Karl, du wirst sehen, daß wir uns einigen.«
»Ich fürchte mich nicht.«
Seine Stimme wurde aber dabei schwächer.
»Ich bitte dich, höre mich an.«
»Bitte!« sagte Jandak mit großer Geste und setzte sich, »bitte, fahr fort. Also die Feuerlöschgeräte, – ich bin sehr neugierig.« Er setzte sich.
Auch der Ministerialdirektor setzte sich. Er saß dem Abgeordneten gegenüber, heftete die Augen auf ihn und war entschlossen, ihn nicht mehr aufspringen zu lassen.
»Ich spreche nicht gern davon. Wie du siehst, verwende ich dies nur als letztes Mittel. Die Zeiten sind zu ernst, als daß ein Mittel unverwendet bleiben könnte. Du bist ein zu gefährlicher Feind, du mußt die Propagierung des Bolschewismus unterlassen. Es gibt keinen Ausweg, du mußt, und ich lasse dich nicht früher fort, bevor du mir nicht Garantien dafür gegeben hast!«
»Ich bin neugierig, wie du mich dazu zwingen willst.«
»Ich werde den Bericht über die Feuerlöschgeräte veröffentlichen.«
Jandaks Augen blitzten aufs neue auf.
»Hör mal, das war doch ein Geschäft meines Bruders!«
»Gestatte, daß ich dich mit der Wiederholung des ganzen Falles belästige, nicht wie du ihn siehst, sondern wie wir ihn betrachten«, sagte der Ministerialdirektor. »Dein Bruder ist Bäcker, nicht wahr. Was ging uns dein Bruder an? Was ist er schon? Ein anständiger Bürger, der sich nicht mit Politik befaßt, auf alle Fälle ein staatsbejahender Wähler. Uns lag an deiner Person, am Abgeordneten Jandak, an dem Arbeiterführer und Mann mit der gefährlichen Phantasie. Es war voriges Jahr im Frühling. Hunderte von Staatsgebäuden wurden eingerichtet. Das gab eine wunderbare Gelegenheit für Lieferantengeschäfte. Dein Herr Bruder ist ein kluger Mann und hat das gleich erfaßt. Eines Tages kamst du mit der Anfrage zu uns, ob er nicht die Feuerlöschgeräte für eine Gewerbeschule liefern könnte, die dort irgendwo in eurer Gegend gebaut wurde. Du hast dir das wahrscheinlich so vorgestellt, daß dein Bruder ein paar hundert Mark verdienen könnte, die er gut gebrauchen kann. Bei dieser unschuldigen Protektion gab's keine Gefahr, nicht wahr? Die Nation war in schönster Harmonie. Wir kamen gesellschaftlich zusammen. Es war so, als ob überhaupt keine politischen Parteien existierten. Wir waren von der Freiheit besoffen, wie du es vorhin ausgedrückt hast. Konnte damals jemand daran denken, daß wir uns in einem Jahr auf Leben und Tod gegenüberstehen würden? Siehst du, ich muß dir gestehen, wir dachten schon damals daran! Unsere Diplomatie hat uns besser informiert als du informiert wurdest. Wir sahen, wohin die Dinge führten, und wir konnten uns vorstellen, auf welche Seite der Abgeordnete Jandak sich seinem ganzen Temperament nach schlagen würde. Es lag uns sehr viel an diesem Arbeiterführer, und wenn er schon mit einer Bitte um eine bedeutungslose Protektion zu uns kam, dachten wir nicht daran, ihn mit einem Verdienst von ein paar hundert Mark für seinen Bruder abziehen zu lassen.
Wir mußten uns des Abgeordneten Jandak für Gegenwart und Zukunft versichern. Wir verführten dich, – ich bin aufrichtig zu dir und bekenne es – wir verführten dich ganz wissentlich und planmäßig! Wir taten so, als ob wir den Fall der Gewerbeschule nicht richtig verstanden und forderten deinen Bruder auf, ein Angebot auf zwanzigtausend Stück Feuerlöschapparate für Staatsgebäude zu machen. Es klingt ein bißchen ungewöhnlich, daß ein Bäckermeister die Minimaxe für den ganzen Staat liefert, aber solche Fälle gab es mehr als du ahnst. Dein Bruder hat sich wohl über die Zahl sehr gewundert und hat im ersten Augenblick nicht gewußt, was er damit anfangen sollte. Aber es ging. Ihr habt schnell eine Gesellschaft für den Handel mit Feuerlöschapparaten gegründet und sie ›Feuerschutz‹ genannt. Du, dein Bruder, ein Apotheker, namens Rehak, und der Architekt Weigel. Die beiden letzteren haben das Geld gegeben, – du warst stiller Gesellschafter. Ihr habt in Deutschland große Bestellungen gemacht und habt das Stück zu fünfundsechzig Mark geliefert. Um sechs Mark fünfzig teurer als die Konkurrenz. Sie waren besser, ich zweifle nicht daran, aus besserem Material gemacht und von größerer Haltbarkeit. Wir wollen annehmen, daß diese sechs Mark fünfzig den Reinverdienst darstellten. Wenn du diesen Betrag mit zwanzigtausend multiplizierst, kommst du auf weit über hunderttausend Mark. Die Summe mußte durch vier geteilt werden, also rund dreißigtausend Mark für jeden Teilhaber. Das ist zwar kein Reichtum, aber es ist ein kleines Vermögen, das zur wirtschaftlichen Zufriedenheit, oder wie wir Politiker sagen, zur ›Staatsbejahung‹ langt. Der Abgeordnete Jandak war uns dieses Geld wert. Wenn der Feuerlöschapparat noch um zwei Mark fünfzig teurer gewesen wäre, wir hätten ihn trotzdem gekauft. Aber damit hat der Abgeordnete Jandak eine Verpflichtung auf sich genommen, zumindest die Verpflichtung, uns nicht zu schaden. Erfüllt er sie, so sind wir bis zum Tode gute Freunde, erfüllt er sie nicht, bleibt nur der Kampf.«
Der Ministerialdirektor schwieg eine Zeitlang, dann fuhr er fort:
»Sieh mal, Karl, du sagst, daß eure Apparate besser waren. Ich glaube es.«
Er trat zum Schreibtisch, nahm einen Bogen Papier aus der Mappe, setzte sich wieder und las:
»Wir haben über die Feuerlöschapparate ein Gutachten eingeholt. Ich will dir die Wahrheit sagen, vor vierzehn Tagen, als der Kampf mit dir unausbleiblich schien. Ich verrate dir noch mehr. Wir haben dem Sachverständigen zu verstehen gegeben, daß es uns lieb sein würde, wenn sein Urteil so ungünstig wie möglich wäre. Hier ist es. Es fängt folgendermaßen an:
›Die Feuerlöschapparate »Feuerschutz«, die uns vorgelegt wurden, sind von schlechtester Qualität, und, falls sie nicht ganz wertlos sind, zumindest erheblich weniger wert als andere Fabrikate.‹ Dann kommt Materialprüfung, chemische Zusammensetzung usw., du verstehst jedenfalls ebensowenig davon wie ich. Der Schluß lautet:
›Falls für den Feuerlöschapparat im Vorjahre fünfundsechzig Mark bezahlt wurden, dann ist er mindestens mit dreißig Mark überzahlt worden.‹ Dann wäre euer Verdienst allerdings noch größer gewesen.«
»Das ist eine Lüge, eine gemeine Lüge!« schrie Jandak.
»Ich bin auch überzeugt, daß das Gutachten tendenziös ist, aber zwei Sachverständige haben es unterschrieben, die dafür bürgen. Weißt du, was es bedeutet, wenn wir das veröffentlichen würden?«
Der Abgeordnete rauchte schon die dritte Zigarette aus der Dose, die vor ihm stand. Er hatte längst vergessen, daß es Regierungszigaretten waren.
»Das ist unerhört, ich werde sie verklagen.«
»Du wirst sie nicht verklagen, ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie der Prozeß politisch für dich enden würde, auch wenn du ihn juristisch gewinnst!«
Jandak sprang auf. Er war bleich.
»Ihr seid Bestien, ihr seid menschliche Bestien.«
»Wir sind es nicht, Karl. Wir verfechten nur die Sache der Republik, und die ist uns heilig.«
»Was wollt ihr denn von mir?« brüllte Jandak.
»Setz dich, Karl!«
Der Ministerialdirektor drückte ihn auf den Stuhl zurück.
»Was wollt ihr von mir?«
Der Ministerialdirektor stand eine Weile schweigend da, dann sagte er ernst und gemessen:
»Wir verlangen, daß du innerhalb einer Woche im ›Volksrecht‹ einen von dir unterschriebenen Artikel gegen den Bolschewismus erscheinen läßt.«
»Lieber erschieß ich mich!«
Der Ministerialdirektor zuckte die Achseln:
»Dann veröffentlichen wir das Gutachten und die Photographie aus der ›Goldenen Spinne‹. Sie hängen zwar nicht miteinander zusammen, aber die öffentliche Meinung wird sich den Zusammenhang schon konstruieren. Falls es notwendig ist, werden wir gegen die Gesellschaft ›Feuerschutz‹ Strafanzeige wegen Betruges erstatten.«
Vor den Augen des Abgeordneten erschien plötzlich der Gerichtssaal mit seinem neugierigen Publikum, dem kleinbürgerlichen Aussehen der Geschworenen und dem herausfordernden Lachen des Staatsanwaltes; nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn über ihm standen zwei Augen, die ihn unaufhörlich ansahen; die Augen des Ministerialdirektors Podhradsky blieben kalt und ruhig.
»Also doch die Photographie«, lachte er auf, »auf dein Ehrenwort kann man sich verlassen!«
Die kalten, blauen Augen antworteten: »Ich wäre ein schlechter Diener des Staates, würde mir mein Ehrenwort mehr bedeuten als sein Wohl. Im übrigen habe ich mein Wort im besten Glauben gegeben und bleibe dabei. Die Photographie wird nicht veröffentlicht, und zwar deshalb, weil du keinen anderen Ausweg hast, als dich zu unterwerfen!«
»Nein, ich erschieße mich!«
Der Abgeordnete Jandak sagte es ruhig, und er stand ruhig auf. Im Zimmer wurde es still. Im ganzen Palais war es still. Die Amtsstunden waren beendet, und außer ihnen und dem Portier war niemand im Hause.
Die Fenster führten in den Garten des Fürsten Rohan. Der Garten war leer. Der Ministerialdirektor saß am Schreibtisch und blickte vor sich hin.
Der Abgeordnete Jandak ging ruhigen Schrittes auf dem Teppich auf und ab. Dann blieb er vor dem Beamten stehen:
»Ich erschieße mich!« sagte er. Es klang fest und überzeugend.
Der Ministerialdirektor blickte dem Abgeordneten in die Augen, die nicht zur Seite wichen. Er antwortete erst nach einer Zeit. Dann sagte er mit seiner ruhigen, höflichen Stimme:
»Ich habe eben über diese Möglichkeit nachgedacht. Auch in diesem Falle wird der Zweck erreicht. Es geht um den Bürgerkrieg, Auge um Auge. In solcher Gefahr darf man vor dem Leben des einzelnen nicht zurückschrecken. Wem wird dein Tod nützen? Niemandem, außer uns, deinen politischen Gegnern. Du wirst die Familie unglücklich machen, und die Arbeiterschaft wird einen Helfer verlieren, wie sie wenige hat. Wir schlagen dir den einzig möglichen Weg vor. Du wirst den Artikel schreiben.«
»Nein!«
»Nicht innerhalb einer Woche. Diese Bedingung war zu hart, ich habe es mir überlegt. Der Umschwung käme zu schnell. Du wirst ihn in einem Monat schreiben. In dieser Zeit wirst du nichts gegen uns unternehmen und die Arbeiter nicht aufhetzen, das läßt sich leicht durchführen. Du bist krank, überarbeitet, brauchst Ruhe, du kannst in einer kulturellen oder genossenschaftlichen Organisation arbeiten. Wir schätzen, wie du weißt, die Kultur sehr hoch, und die Arbeitergenossenschaften werden von uns unterstützt. In einem Monat können wir weiterreden – von erfreulicheren Dingen. Ich bin überzeugt, daß sich in Kürze die Verhältnisse so geändert haben werden, daß es bis zu unserm Tode nicht mehr notwendig sein wird, von diesen unangenehmen Dingen zu sprechen. Bist du damit einverstanden?«
Es war wieder still, beklemmend still.
Es war keine Uhr im Zimmer, deren Ticken und Schlagen sie gestört hätte, und das Getöse der Straßenbahn drang nicht in diesen stillen Winkel der Hauptstadt.
Jandak saß mit gesenktem Kopf im Ledersessel. Der Ministerialdirektor stand am geöffneten Fenster.
Die Spannung des Kampfes wich, der Nebel senkte sich auf das Schlachtfeld. Er kam durchs Fenster aus dem Garten der Fürsten Rohan.
»Eine fürchterliche Strafe«, flüsterte der Abgeordnete. Nichts weiter, und erst nach einer Minute:
»Eine fürchterliche Strafe für drei Monate Freundschaft mit der Bourgeoisie. Ihr seid klug wie Schlangen und niederträchtig wie Ratten.«
Der Ministerialdirektor antwortete nicht.
Er bewegte weder Lippen noch Augen. Die waren kalt, korrekt und blau. Das Schweigen wurde quälend.
»Na«, sagte Jandak plötzlich und erhob sich. Er trat zu dem Beamten hin und reichte ihm die Hand:
»Auf Wiedersehen!«
»Leb wohl, Jandak«, sagte Podhradsky herzlich, ergriff die gebotene Rechte und verneigte sich höflich. Er geleitete den Abgeordneten zur Tür.
Dort sagte er, als ob der Vertrag schon abgeschlossen wäre, als ob nichts mehr zu sagen sei, und als ob er sich eben an etwas anderes erinnere:
»Halt deinen jungen Herrn ein bißchen im Zaun. Der erzählt auf den Versammlungen Sachen, daß einem die Haare zu Berge stehen. Bestell ihm doch, daß die vierzehn Tage nur eine sanfte Erinnerung sind, aber daß wir ihn mal richtig einsperren lassen, und feste.«
Jandak winkte mit der Hand ab.
Er fuhr nach Hause. Ein Spieler, der den Sonnabendlohn verspielt hat, ein Boxer, der von der Weltmeisterschaft geträumt hatte und nun im Ring von einem Anfänger k. o. geschlagen wurde, von einem Anfänger, den er vorher gar nicht beachtet hat. Ein Bergsteiger, dem dreihundert Meter vor dem Gipfel des Gaurisankar das Eis unter den Füßen zusammenbricht, und der in den Abgrund stürzt, ein Soldat auf dem Vormarsch, der vor vier Sekunden den kleinen Schlag ins Kreuz kaum beachtet hat, und der nun feststellt, daß ihn die Füße nicht mehr tragen, und daß er sterben muß.
*
Der Abgeordnete Jandak ging die Treppen zu seiner Wohnung hinauf.
Es war niemand daheim. Er begab sich in sein Arbeitszimmer, warf sich auf die Chaiselongue. Er heftete seinen Blick auf das Bild Lenins, das über seinem Schreibtisch hing; auf die Augen des Bildes, die hohe Stirn, die Jandak halb im Scherz gern mit der seinen verglich.
Er war vom verlorenen Kampf erschöpft und dachte an nichts. Hirn und Nervensystem waren nur irgendein riesenhaftes, heißes und aschgraues Knäuel von Entsetzen. Die Gedanken begannen sich aus diesem Knäuel erst nach geraumer Zeit zu entwirren.
Sollte er sich erschießen? Das war der ernsthafteste Ausweg. Dort am Fenster beim Schreibtisch konnte er es tun.
Er würde auf dem Stuhl sitzen, in der Schläfe ein kleines Loch, die Hand ohnmächtig am Körper entlanghängend. Der Browning würde auf dem Boden liegen. Die Frau würde in Ohnmacht fallen, und die Kinder weinen. Er dachte noch an jemand, an die Genossin Elfriede, eine kleine Näherin, und an ihr Zimmerchen in der Vorstadt.
Aber würde Podhradsky vor seiner Leiche haltmachen? Nein! Zwei Tage nach seinem Tode würde in einem der Regierungsblätter eine Notiz zu lesen sein:
»Zum Selbstmord des Abgeordneten Jandak erfahren wir – …«
Der Abgeordnete sieht die fetten Überschriften, sieht den Artikel in den »Tagesnachrichten« und weiß, was darin steht. Podhradsky würde triumphieren. Seine Aufgabe ist es, die Arbeitermassen in Unsicherheit zu bringen. Er ist ein Henker.
Es hat keinen Sinn, sich zu erschießen.
Vielleicht Podhradsky hereinlegen? Jandak denkt an einen Diebstahl der Dokumente, an Bestechung der Beamten im Innenministerium, an die Organisation einer nächtlichen Raubexpedition, doch jeder dieser romanhaften, unsinnigen Gedanken muß fallen. Die Augen des Bildes blicken den Mann auf der Chaiselongue an. Sie sind von einem hellseherischen Spott erfüllt. Das Ende? Nein. Das ganze Innere Jandaks wehrt sich dagegen. Es gibt einen Ausweg, es muß einen Ausweg geben! Der Ausweg fällt ihm plötzlich und unerwartet ein, und er wundert sich darüber, daß er nicht schon früher darauf gekommen ist.
Er wird zu den Arbeitern gehen und ihnen die Wahrheit sagen. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch ein Arbeiterführer die bürgerliche Gesellschaft ein wenig expropriieren soll, wo die Reichtümer der bürgerlichen, staatlichen Lieferanten ins Ungeheure wuchsen.
Er sieht den Versammlungsraum. Ein düsterer Saal, kleine Fenster, die Glühbirnen hängen an Schnüren von der Decke herab. Turngeräte, Reck und Ringe sind an kleinen Balkon hochgezogen. Die Gipsbüsten von Marx und Lassalle stehen an den Seitenwänden. Der Abgeordnete Jandak steht auf dem Podium. Er spricht zur Versammlung, ein feuriger, immer mitreißender Redner:
»Ja, Genossen, warum soll ich nicht auch einmal am bürgerlichen Staat verdienen, ich bin ein Arbeiter, der sich in Ruhe seiner Arbeit für die Sache des Proletariats und für die Revolution widmen will?«
Jandak blickt sich in der Versammlung um, aber die Worte bleiben ihm in der Kehle stecken. Zweitausend Augen sind auf ihn gerichtet, und in diesen Augen nistet die Kälte. Aus allen Körpern strömt eisige Verachtung. Über den Köpfen der Masse steht frostiger Reif. Der Frost füllt den ganzen Saal, und nun fühlt ihn auch der Abgeordnete Jandak beim Atmen. Er zittert vor Kälte. Er will sich den Rock zuknöpfen, da ruft jemand aus der Mitte des Saales: » Verräter!«, und alle schreien auf einmal » Verräter«. Ein eisiger Sturm wird entfesselt, ein furchtbarer Orkan, und Eisstücke » Verräter, Verräter!« schlagen ihm ins Gesicht. Er schützt die Augen mit den Händen. Der Sturm treibt ihn durch die Wand aus dem Saal und schleppt ihn über Dächer und Telegraphendrähte.
Jandak springt auf.
Er faßt sich an die Stirn.
Es ist kalt.
Er blickt ins Leere. Was nun? Es gibt doch einen Ausweg! Er wird das Geld zurückgeben bis zum letzten Pfennig. Es waren keine Hunderttausend, nicht einmal Fünfzigtausend. Er wird es ihnen vor die Füße werfen.
Ja, aber hat er denn das Geld? Er hat es nicht. Die Frauen sind an das bequeme Leben gewöhnt, der Sohn kauft eine Unmenge sozialistischer Literatur, und auch er hat viel verbraucht. Elfriede will leben, und ihr Wochenlohn von zwölf Mark bedeutet Tuberkulose. Gestern war der Architekt hier. Nächste Woche soll in der Umgebung der Baugrund für ein Familienhäuschen abgesteckt werden. Die Frau ist schon jetzt verliebt in den Gedanken und träumt jede Nacht davon.
Er hat das Geld nicht mehr. Diese Hunde, sie haben ihn gefangen. Er sitzt im Netz. Wie er sich auch windet, wie er um sich herumschlägt, er sitzt fest. – – Diese Gauner!
An der Wand hängt ein russisches Revolutionsplakat, ein Bild von wilder Schärfe und Haß. Die kapitalistische Sphinx windet sich auf diesem Bild in Todeskrämpfen. Sie ruht auf einem hohen Steinsockel. Einer ihrer drei Köpfe ist abgeschlagen, und aus der Wunde strömt ein Bach von Blut. Unter ihr sind die Massen des Proletariats versammelt. Sie setzen den Hebel ans Gestein, sie arbeiten mit Hacken und Äxten. Sie klimmen an den Quadern hoch und klettern auf den Schultern der unter ihnen Stehenden hinauf, Messer in der Hand, Messer im Mund, ebenso entsetzt wie die Sphinx über ihnen. Sie klettern bis zu ihr hinauf, bedecken ihren Leib mit ihren Körpern, stoßen ihre Waffen hinein, und sie zerdrückt die Menschen mit ihren Klauen, zerreißt sie mit den Zähnen, würgt sie mit den Fängen. Über das Postament fließen Bäche von Blut, und auf die Häupter der Kämpfenden fallen Leichen. Aber die Kleinen hören in ihrer Wildheit nicht auf. Tausend Kleine gegen ein Ungetüm.
Der Abgeordnete Jandak bewundert die Wildheit dieses Bildes. Sein Blick bleibt an einer Figur haften. Das Ungeheuer hat das Ende des Schwanzes um sie gerollt und zerdrückt ihr die Knochen. Das Gesicht des Gefangenen ist todfahl. Wenn das Untier die Umschlingung lockert, wird eine Leiche herunterfallen. Jandak glaubt, seine eigenen Gesichtszüge zu erkennen. Ja, das ist er selbst, der Abgeordnete Jandak, das tragische Opfer im Kampf mit der Sphinx. Das Untier hat ihn eingezwängt und läßt nicht locker. Er muß umkommen, – das ist das Schicksal des Kämpfers.
Jandak glaubt es, und seine Augen füllen sich mit Tränen der Wehmut. Er wirft sich auf die Seite, vergräbt seinen Kopf in die Seidenkissen. Es sind Geschenke seiner Tochter. Armes Mädchen! Armer Vater!
Welche Melodie geht durch Jandaks Kopf, welche dumme Coupletmelodie?! Jandak weiß es plötzlich. Die Melodie hat einen Refrain, und er erkennt ihn entsetzt.
»Jandak dreht sich!« Die Melodie wurde ursprünglich zu einem Lied gegen den Chefredakteur des »Volksrechts«, Stiwin, komponiert. Er war einer der ersten Bolschewiken im Lande. Er schrieb Artikel, schlug sich in Versammlungen herum und gewann die Bergarbeiter. Die Arbeiterschaft liebte ihn, die Bourgeoisie haßte ihn auf den Tod. Eines Tages erschien im »Volksrecht« ein konterrevolutionärer Artikel, den Stiwin geschrieben hatte. In einer Nacht fiel er ins wahre Gegenteil um. Niemand wußte, warum. Josef Stiwin machte Karriere. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und heiratete eine junge Schönheit, die immer wunderbar gekleidet war. Er zog aus seiner Zweizimmerwohnung in einen Palast und ließ sich von einem gefeierten Maler malen. Und damals sang ein berühmter Kabarettsänger ein Couplet mit dem Refrain: »Stiwin dreht sich!«
Und jetzt hatte das Liedchen einen anderen Refrain: »Jandak dreht sich!«
Der Abgeordnete bohrte seinen Kopf noch tiefer in die Kissen. »Jandak dreht sich, Jandak dreht sich, Jandak dreht sich nach rechts!«
Die Melodie wurde immer stärker. Er mochte sich anstrengen, soviel er wollte, das Lied war nicht zu verjagen. Vielleicht deswegen, weil dieses Couplet, so dumm, aufdringlich und unabwendbar es auch sein mochte, die einzige ehrliche Sache des heutigen Tages war.
Jandak wird sich drehen, Jandak wird den Artikel schreiben, Jandak wird nicht einmal mehr in die heutige Versammlung gehen. Er wird telephonieren, daß er ernstlich krank sei. Jandak war nie ein proletarischer Revolutionär, er war ein Genießer, ein ehrgeiziger Schauspieler.
In der Diele klirrte das Schloß. Der Abgeordnete Jandak sprang auf. Er lief zum Spiegel und strich sich das Haar glatt. Der Sohn stürzte ins Zimmer und mit ihm die Frische seiner zwanzig Jahre.
»Alter!« rief er freudig und kameradschaftlich, »ich bin zu dir gelaufen, weil ich wunderbare Nachrichten habe. In Mitteldeutschland ist alles vorbereitet. Sie warten bloß auf den Befehl.«
Der Vater blickte den Sohn an; das Bild des Sohnes, wie er vor ihm stand, die Wangen vor Begeisterung gerötet, verschwamm im Nebel.
Der Abgeordnete fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Er hatte das Bedürfnis, sich hinzusetzen.
»Was ist dir, Vater?«
Der Vater antwortete nicht.
»Was ist dir?« wiederholte der Student verwundert.
Da nahm der Abgeordnete Jandak seinen ganzen Willen zusammen:
»Meine Nachrichten lauten anders«, stotterte er.
Dann gewann seine Stimme eine unnatürliche Festigkeit:
»Meine Informationen sind ganz anders. Jede Aktion, die wir unternehmen, ist zum Mißerfolg verurteilt.«
Der Student sprang zu ihm hin und faßte ihn am Rock. Aus den Augen des Jünglings sprach Verzweiflung.
»Bist du wahnsinnig geworden?« schrie er.
Am gleichen Abend ging Anna spät abends vor der Kolbenschen Fabrik auf und ab.
Die Fabrikuhr ist schwarz, die Zeiger sind von Gold. Sie bewegen sich mit unglaublicher Faulheit. Toni modellierte in dieser Woche das Kugellager einer großen Drehbank und mußte Überstunden machen.
Anna erwartete ihre schwere Stunde, und das machte sie unruhig. Sicher, es war nicht viel dabei. Alle Arbeiterfrauen im Hause hatten Kinder. Geburten, Fehlgeburten und Beerdigungen mit kleinen Särgen waren in der Jesseniusgasse an der Tagesordnung.
Sie sagte sich das alles vergeblich. Es war ihr zu eng zu Hause, und sie sehnte sich nach Toni. Das durfte sie niemandem sagen. Die Nachbarinnen würden lachen, und die Genossin Tinschmann würde ihr sagen: »Na, feine Gräfin, wollen Sie sich vielleicht jetzt schon ins Bett legen? Ich habe elf Kinder, neun lebende und zwei tote, die vielen Abtreibungen nicht gerechnet. Aber am zweiten Tag nach jeder Geburt habe ich immer schon am Herd oder am Waschtrog gestanden!«
Aber Annas Herz war wie ein Vogel vor dem Gewitter.
Die goldenen Zeiger rührten sich nicht. Der Fabrikhof hinter dem Gittertor war leer.
Endlich sah sie ihn. Er kam als erster mit einem Trupp von Arbeitern aus dem Tor der Gießerei und eilte zur Kontrolluhr an der Portierloge. Da erblickte er sie, wie sie sich mit beiden Händen am Gitter des Tores festhielt und ihn flehentlich ansah. Er grüßte sie mit einem Blick, und sein Gesicht erhellte sich. Er trat ins Freie. Sie drückten sich fest die Hand. Ihre großen blauen Augen sagten ihm: Ich habe Sehnsucht nach dir, Toni, und ich hatte große Angst.
Und sein fester Blick antwortete: Auch ich ängstige mich um dich, Anna, wir werden alles tun, was wir können, es wird gut ablaufen, fürchte dich nicht. Ich bin froh, daß du gekommen bist, mein Lieb.
Sein letzter Blick setzte noch hinzu: Meine Liebe, Teure.
Der Mund sprach kein Wort.
Sie gingen, die Schultern leicht aneinandergelehnt, die Straßen hinab.
»Ich werde dich nach Hause begleiten, Anna«, sagte er; »ich muß dann noch in die Versammlung. Jandak spricht, und ich werde mich mit ihm beraten. Ich werde nicht bis zu Ende bleiben, ich komme bald.«
»Komm!«
Sie drängte sich näher an ihn.
An der nächsten Ecke stießen sie unerwartet auf den jungen Jandak. Er blieb vor ihnen stehen, als ob er erschrocken wäre. Er war bleich, und sein Anblick war mitleiderregend. Auch sie blieben stehen.
»Was ist denn geschehen?« dachte Anna.
»Ich war bei euch«, sagte er unsicher, »die Tinschmann sagte mir, daß du Überstunden machst.«
Sie blickten ihn fragend an.
»Ich bitte dich, Genossin, laßt mich ein paar Tage bei euch wohnen.«
»Aber gern«, antwortete Toni.
»Kommen Sie nur!« sagte Anna.
Doch das war keine Erklärung. Sie warteten.
»Ich gehe nicht mehr nach Hause. Ich ziehe zum Onkel, es ist irgendein Bourgeois, aber ich habe keine andere Möglichkeit. Er ist jetzt verreist und kommt erst in drei Tagen zurück.«
Die Augen der beiden fragten ihn weiter.
»Der Vater hat uns verraten«, stöhnte er.
Es war wie eine Explosion.
Auch Toni erbleichte. Aus des Studenten Gesicht sprach unendliche Verzweiflung. Er wollte weinen, nichts als weinen. Neben ihm stand Anna, den Blick mitleidig auf ihn geheftet.
»Komm und erzähl«, sagt Toni hart.
Sie gingen. Es war nicht viel zu erklären. Der Vater hatte über Nacht die Überzeugung gewechselt, er war für die Einhaltung der bisherigen politischen Linie und gegen die Gründung einer neuen Partei. Jede Aktion sei von vornherein verloren. Etwas sei mit dem Vater heute geschehen.
»Weiß schon jemand davon?« fragte Toni.
»Nein, du bist der erste.«
Toni hielt nach einer Telephonzelle Ausschau. Als er sie fand, warf er das Geldstück in den Automaten und suchte eine Verbindung mit den Führern der Opposition. Endlich erreichte er sie.
»Der Abgeordnete Jandak, diese Bestie, hat uns verraten«, schrie er in den Apparat und erzählte den entsetzten Genossen, was er wußte. »Er hat heute Versammlung und will wahrscheinlich dort mit seinen Versuchen beginnen. Jemand muß schnell zur Versammlung hin und diesen Hund erledigen.«
»Wir fahren hin«, antwortete eine Stimme, »wir haben zwar heute andere Sitzungen, aber die Sache ist zu wichtig. Du mußt auch hinkommen, du bist der einzige Zeuge. Die revolutionäre Disziplin würde zwar verlangen, daß der Sohn den Verräter enthüllt, aber das kann man von ihm jetzt nicht fordern. Jandak muß vernichtet werden.«
»Gut, ich komme, der Hund soll sich freuen.«
Er hängte das Telephon an. Anna und der Student warteten vor dem Telephonhäuschen. Er war noch bleicher als vorher.
»Ich muß zur Versammlung, Anna, ich komme wohl sehr spät. Leb wohl.«
Sein Händedruck und der schnelle Blick, in dem für den Bruchteil einer Sekunde Herzlichkeit aufleuchtete, fügte hinzu:
»Ich muß dir doch nicht erklären, wie gern ich bei dir bleiben würde.«
»Geh mit Anna, sie wird dir das Bett richten. Es kann bei ihr jeden Augenblick losgehen. Wenn's schlimm kommt, weck die Genossin Tinschmann und hol die Hebamme …«
Und er lief schon die Schienen entlang, um die Haltestelle gleichzeitig mit der Straßenbahn zu erreichen, die bereits neben ihm bullerte.
Er sprang auf. Anna! Kerekes Sandor! Die Gedanken eilten ihm durch den Kopf. Jetzt ging's um die Sache! Er wird den Verräter vernichten.
Sie blickten ihm nach.
Der Abend kam in die Jesseniusgasse.
Die Petroleumlampe stand auf dem Tisch mit der billigen Decke. Anna und der Student saßen einander gegenüber. Die Lampe hatte einen Papierschirm. Ihr gelbes Licht fiel auf den Tisch.
Die Gesichter blieben im Halbdunkel. Anna flickte Wäsche. Keiner sprach ein Wort. Anna blickte ihn einige Male mitleidig an. Dann riß er seine Augen von der Tischdecke los und dankte ihr für die Liebe, die er so sehr brauchte. Annas Augen waren blau, und ihr Gesicht war von der Erwartung der Mutterschaft verschönt. Als die Zwiesprache der Blicke schon zu lange gedauert hatte und ohne Erröten nicht mehr fortgesetzt werden konnte, sagte Anna weich:
»Wie ist das bloß geschehen?«
»Eine furchtbare Sache, Genossin Anna.«
Sonderbar, wie dieses Zimmer einer Luftpumpe glich. Sie waren beide in ihr eingeschlossen. Das Haus war voll Bewegung. Hier schien ein Mittelpunkt zu sein, und der war tot. Lärm durchtönte das Haus. Über Treppen und Flur klangen ständig Schritte. Türen öffneten sich, und am Ende des Flurs lief die Wasserleitung. Bei Kutscherers bekam der vierjährige Franz Prügel und heulte. Nebenan sang die Frau Wachtmeister den Zwillingen ein Couplet im Rhythmus eines Wiegenliedes vor. Dieser ganze Lärm machte vor der Luftpumpe halt, brach an deren Glasglocke entzwei, glitt an ihr ab und fiel zu Boden.
Anna hatte blaue Augen wie große Saphire. Ihre Hand bewegte sich weich, und die Spitzen ihrer Finger liebkosten die Nadel. Irgendwo in der Versammlung mordeten sie inzwischen seinen Vater.
»Was werden Sie jetzt tun?«
Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, den Jüngling zu duzen.
»Ich weiß es nicht, Genossin Anna.«
Jemand ging langsam und schwer über den Flur, als ob er eine Last trüge.
»Lern, und spiel nicht dauernd, Lausbub!« schrie die Tinschmann nebenan.
Toni ist ein guter Genosse. Er wird den Vater durch Kopfschüsse erledigen. Er wird die Arbeit gut verrichten, da ist kein Zweifel. Toni und Anna, das sind ganze Kerle. Alles in ihnen ist klar, sie wanken nie. Sie wußten immer, was sie tun sollten. Sie sind nicht tragisch, niemand von den Genossen ist tragisch, nur er, der junge Jandak, wankt, nur er ist zerbrochen und traurig. Niemand wird ihn verstehen, und niemand wird ihm helfen. Er ist ihnen fremd. Sie nehmen ihn auf, beraten sich mit ihm und glauben ihm. Aber sie halten ihn nicht für einen der ihren. Anna, die heilige Anna, die er heimlich liebt, wird ihn bedauern, ihm den Kopf mit so weichen Blicken streicheln, wie keine Geliebte es könnte. Aber sie hat noch nie freiwillig »du« zu ihm gesagt, wie es sonst unter Genossen selbstverständlich ist. Das ist das Furchtbarste von allem. Die, die er liebt, denen er das Leben weiht, denen er heute den Vater ausgeliefert hat, nehmen ihn nicht als den ihren auf.
Auf dem Flur tönen Schritte zur Wasserleitung hin. Das Wasser schlägt gegen den Boden des Blechtopfes. Bei Klabans hat sich die Tür geöffnet. »Komm her«, ruft die Genossin Tinschmann mit hoher Stimme. Die Geräusche brechen sich an der Glasglocke der Luftpumpe.
Der Student ist aufgestanden und geht an Tonis Bücherregal. Er zieht ein Buch hervor, setzt sich und versucht zu lesen.
»Sie sagen mir, wenn Sie schlafen gehen wollen?«
»Ich warte auf Toni.«
Der junge Jandak nickt. Er versucht zu lesen. Es ist unmöglich. Aber es ist weniger quälend, ruhig zu sitzen und so zu tun, als ob man ins Buch vertieft sei, als vor sich hinzustieren und Sätze auszudenken, die unwahr sind. Von Zeit zu Zeit muß man allerdings umblättern, und das macht die Komödie so erniedrigend.
Was will er eigentlich hier? Ist es ihm denn eine Erleichterung, daß Anna in greifbarer Nähe sitzt, daß er seine Augen auf dem Heiligenschein über ihrem Haupte ruhen lassen kann und ihre rosigen Finger betrachten darf, die mit der Nadel spielen? Die Nadel entbrennt von Zeit zu Zeit wie von einem Feuer, das aus Annas Herzblut in sie gedrungen ist.
Ja, es ist ihm eine Erleichterung.
Toni kommt zurück. Viel früher, als sie ihn erwartet haben.
»Toni«, ruft Anna, und ein Strahl der Freude dringt in ihre Wangen. Dem Studenten schlägt das Herz, und er heftet einen angstvollen Blick auf den Mund des Genossen.
»Er ist nicht gekommen«, sagte Toni.
»Er ist nicht gekommen?«
Diese Worte erfüllten das Innere des Studenten. Das Herz schlägt ihm heftig, aber anders als vor einer Sekunde. Es schlägt vor Erleichterung, weil die Hinrichtung um einige Stunden verschoben wurde.
»Gibt's was zu essen, Anna?« fragte Toni.
»Dort ist Kaffee.«
»Gibt's kein Brot?«
Anna schaut den Mann wehmütig an. Nein, es gibt kein Brot. In aller Herrgottsfrühe, bevor Toni zur Arbeit ging, war ein arbeitsloser Genosse hier, und Toni hatte ihm den letzten Viertel Laib Brot und den letzten Speck gegeben. Geld gibt's auch keins. Toni hatte sich die letzte Mark von Anna gestern ausgeliehen, weil für eine Zeitschrift gesammelt wurde. Was er übrig behalten hat, das hat er vorhin in den Telephonautomaten geworfen. Vorgestern hat man für das Begräbnis des Genossen Kreihaus gesammelt, den eine Eisenplatte erschlagen hat und morgen ist erst Lohntag. Es gibt auch nicht mehr viel Kaffee. Jandak hat schon eine große Tasse bekommen. Er wäre froh gewesen, wenn er sie hätte stehenlassen können. Ihm war nicht nach essen zumute. Der Kaffee war schlecht. Aber er wollte Anna nicht beleidigen.
Toni trank Kaffee.
»Was war in der Versammlung«, fragte der Student zaghaft.
»Man hat über die allgemeine Lage gesprochen, – nichts Besonderes.«
Dann gingen sie schlafen. Toni und Anna ins Bett, der Student schlief auf einem Strohsack auf der Erde.
In dieser Nacht wurde ein junger Proletarier geboren.
Der junge Jandak schlief erst im Morgengrauen ein. Ein Geräusch und das Licht der Lampe weckten ihn aus dem ersten Schlaf. Toni zog eilig die Hosen an. Anna lag auf dem Bett. Ihre blauen Augen waren zur Decke gerichtet, die Zähne in die Lippen verbissen. Sie atmete schwer, Speichel lief ihr zum Kinn herab.
»Bleib eine Weile bei ihr«, sagte Toni und lief davon. Der Jüngling zog sich schnell an. Er stahl sich bloß barfuß auf den Fußspitzen zu Annas Bett, so still, ganz still, als ob jeder Lärm und jeder unehrerbietige Schritt eine Entweihung wäre. Er blieb zu ihren Füßen stehen und blickte sie mit andächtiger Angst an. Anna litt. Ihre Augen waren geschlossen, und die Oberzähne gruben sich immer tiefer in die Lippen. Die Hände krallten sich in das Bettzeug, und jeder Atemzug war ein leiser Seufzer, der nicht gehört werden sollte. Ahnte Anna, daß er bei ihr war? Es war gut, daß sie es nicht ahnte. Annas Leiden, die sich mit den seinen vereinten, erfüllten ihn mit großem Schmerz. Er wollte an ihrem Bett niederknien und seinen Kopf in die Kissen vergraben. Aber Anna bat mit leiser Stimme und ohne die Augen zu öffnen:
»Bitte, gehen Sie hinaus, ich schäme mich vor Ihnen.«
Scham erfüllte ihn, und er schlich in die Küche. Hier, im dunklen Winkel beim Ofen, überkam ihn der Schmerz. Was will er denn hier, wozu ist er gut, und wem ist er nützlich? Er sehnte sich wieder stark nach jemand, dem er in die Arme sinken könnte, und nach einer Schulter, an die er seinen Kopf lehnen könnte. Es gab keine solchen Hände auf der Welt. Er bedeckte die Augen mit den Fäusten.
Aus dem Nebenzimmer drang das laute Stöhnen Annas. Toni kehrte zurück. Die Hebamme kam. In der Wohnung entstand Bewegung. Toni zündete in der Küche eine Kerze an, er machte Feuer an, trug aus dem Flur in großen Töpfen Wasser, stellte kleine Töpfe auf den Ofen, wusch den Waschtrog aus. Er tat alles mit einer fachmännischen Sicherheit und wortlos. Sein großer Schatten ging über die Wände und kroch bis zur Decke. Die Hebamme tat irgend etwas sehr Wichtiges im Zimmer. Die Genossin Tinschmann eilte, vom Lärm geweckt, herbei. Sie war im Unterrock und hatte die nackten Schultern mit einem blumigen Tuch bedeckt.
»Das ist nichts«, schrie sie an Annas Bett, »das muß sein, das haben wir alle durchgemacht, nur nicht jammern. Das Oberbett weg, und wenn Sie es nicht aushalten können, dann brüllen Sie, das ist gesund. Gestatten Sie, Sie erlauben doch, Frau Hebamme. Das ist aber nobel, Wachstuch, ich habe nur Säcke gehabt.«
Annas Stöhnen steigerte sich, es ging in Schreien über.
»So ist's richtig«, versicherte die Genossin Tinschmann, »das ist goldrichtig.«
Toni verrichtete seine Arbeit gewissenhaft und stahl sich nur für Sekunden in das Zimmer, um gleich wieder zur Arbeit zurückzukehren. Er wußte, wie immer, was zu tun war. Seine Liebe äußerte sich nicht in Worten und nicht in Hingabe an Gefühle.
»Toni!«, ein Aufschrei kam aus dem Zimmer, ein verzweifelter und hoher Aufschrei.
Toni lief. Der Student stand im Winkel der Küche, barfuß, halb angekleidet, für niemand notwendig, fremd, überflüssig, niemand.
Die Genossin Tinschmann lief in ihre Wohnung, um etwas zu holen. Sie sah ihn in der Küche.
»Was wollen Sie hier, junger Herr? Gehen Sie, das ist nichts für Sie, gehen Sie ins Kaffeehaus.«
Der Jüngling schlich in das Zimmer, wo er seine Sachen hatte. Hier sah er mit einem Blick Anna, nackt, blutig, mit hervorstehenden Augen und goldenem Haar, die geliebte Anna, von schrecklichem Schmerz gequält. Toni stand an ihrem Bett, und sie preßte ihm die Hände. Den Jüngling packte die Verzweiflung, Anna sah ihn diesmal nicht. Er nahm die Kleider unter den Arm und stahl sich hinaus. Niemand bemerkte ihn. Er kleidete sich im Dunkel des Flurs an. Er lehnte in seinem Schmerz die Stirn an die kalte Mauer und verharrte lange so.
Als ihm die Portiersfrau aufschloß, erhellte sich die Straße im ersten Morgenstrahl. Er war entschlossen, hier zu warten, gleichgültig, wie lange. Er wollte warten, bis jemand von Tinschmanns herauskäme, er wollte etwas von der armen Anna hören.