Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Anna war schon Tonis Weib geworden. Es geschah nicht im Boudoir beim Duft der Tuberosen, auch nicht im Palmenhain am Meeresufer, aber es war auch nicht unter dem stillen Himmel des schwindenden Sommers. Es war in einem heißen Augenblick auf den nächtlichen Stiegen des Hauses Nr. 33, Wenzelsplatz, als er sie in den Hausflur begleitete, um auf dem Weg zum ersten Stock noch ein paar Küsse zu tauschen. So eine glühende Minute am Treppengeländer, als sie sich nicht voneinander losreißen und sich nicht einmal trennen konnten, als sie schon eine ganze Zeitlang auf der letzten Stiege gesessen hatten. Warum schrieb man von den Wundern dieser Umarmung so viel Bücher, ein Kuß war schöner, sagte sich Anna, und wenn es an dieser Minute etwas Schönes gab, war es das Bewußtsein, daß Toni es gewollt, und daß sie sich ihm gegeben hatte. Dieses Bewußtsein bewegte Anna, als sie sich in dieser Nacht nicht entschließen konnte, das Licht auszumachen, und als sie ihre glücklichen Augen auf die weiße Decke ihres Kämmerchens richtete.
Trotzdem war es die Grenze des Lebens.
»Teufel, Teufel!« Marie kratzte sich am Kopf, als ihr Anna ihre Beschwerden anvertraute. Nach einigen Tagen, als sich Marie auf dem Wege zum Morgeneinkauf von neuem erkundigte, zog sie die Nase hoch:
»Na also, das ist richtig. Willst du dir ›helfen‹?«
Anna verstand nicht und Marie erklärte es ihr.
Nein, Anna wollte sich nicht »helfen«. – Aber was tun? Toni stand Schlange vor den Wohnungsämtern.
Kaum hatte er das Eisentor der Fabrik verlassen, war er hinter den Abgeordneten und Sekretären her, und wo er einen Bekannten hatte, wandte er sich an ihn. Er, der vom letzten Tage seiner Kindheit an das Wort »Bitte!« nicht mehr gebraucht hatte, erzählte und erklärte. Es war ihm zumute, als ob er Ohrfeigen bekäme. Die Fragen, die man ihm stellte, waren alle gleich und alle überflüssig. Und die Schultern der Beamten und ihre Finger, die auf den Schreibtisch trommelten, sagten ihm: »Ja, lieber Freund, das ist eine schwere Sache.«
Die Abgeordneten gaben ihm Empfehlungen, die Bekannten schickten ihn zu anderen Bekannten, und er saß wieder in den Büros der Wohnungsämter. Dies alles trieb ihn beinahe zur Raserei. Es kostete ihm auch viel entgangenen Lohn.
Aber alles vergeblich! In der Stadt gab's keine Wohnungen. Die Hauptstadt der neuen Republik war vom Zustrom der Menschen überfüllt. Die reichen Leute hatten freilich alle Wohnungen. Und es gab auch keinen Abgeordneten, keinen Sekretär oder Redakteur der Partei, der nicht irgendwo seine Wohnung hatte. Aber für den Arbeiter der Kolbenschen Fabrik, für seine Geliebte und ihrer beiden Kinder gab es in der Stadt kein Dach.
Was wird bloß sein, dachte Anna, und das Herz zog sich ihr zusammen. Es wird sich nicht mehr lange verbergen lassen, die Entdeckung kann jeden Augenblick kommen. Sie war bereits im vierten Monat, und die Schwangerschaft war ihr anzumerken. Des Morgens, wenn sie mit der Hand über den Bauch strich und den Schirting des Hemdes spannte und glattlegte, und wenn sie dann, bereits angezogen, den Spiegel von der Wand nahm und an das Kissen angelehnt ins Bett stellte, um ihren Leib besser betrachten zu können, wunderte sie sich, daß weder die gnädige Frau noch Fräulein Dadla, die doch für solche Sachen ein besonders scharfes Auge hatte, ihr Unglück bemerkt hatten.
Ja, was nun, sie wird in die überfüllte Wohnung irgendeiner Arbeiterfamilie ziehen, es ist doch möglich, daß sie die Schwangere irgendwo aufnehmen, wird das bißchen Geld, das sie sich für die Ausstattung gespart hat, verbrauchen, wird Toni in Schulden stürzen. Und wenn sie sie nirgendwo aufnehmen?
Anna erwachte in der Nacht plötzlich von diesem Gedanken in Schweiß gebadet, der ihr in Tropfen über die Stirn lief.
In die Hütte zum Vater? Nie! Damals erschien ihr irgendein Brückengeländer, der Fluß mit dem Lichterschein, ein Rad im Wasser und darin ein Frauenrock.
»Toni, Toni, hilf!«
Frau Baumeister und Fräulein Dadla hatten andere Sorgen, als Anna zu beobachten. Das Fräulein war krank. Eines Nachmittags, als der Herr nicht zu Hause war, brachte sie die gnädige Frau im Auto heim. Sie half ihr mit einem fremden Herrn die Treppe hinauf und brachte sie zu Bett. Die gnädige Frau war dabei schrecklich aufgeregt und sehr bleich. Als der fremde Herr gegangen war, pflanzte sich Frau Rubesch vor Anna auf. Ihr Kinn zitterte, und ihre Augen brannten in einem Feuer.
»Anna,« schrie sie sie an. »Fräulein Dadla hat sich den Fuß verrenkt und muß ein paar Tage liegen, sie braucht sorgsamste Pflege, wehe Ihnen, Anna, wehe Ihnen.«
Die gnädige Frau hielt Anna die geballte Faust unter die Nase. Anna verstand diesen Tobsuchtsanfall einer Mutter nicht, die um ihr letztes Kind kämpfte.
Was will denn die gnädige Frau von mir, dachte sie, tu ich denn dem Fräulein etwas?
Des Abends kam der Architekt. Er war schlechter Laune, das sah man ihm von weitem an. Aber als er sich an des Fräuleins Bett setzte, erheiterte sich sein Gesicht.
»Was ist dir, mein Vögelchen? Was hast du denn da angestellt? Diese verfluchten hohen Absätze. Na, schweig. Die Ärzte werden das wieder in Ordnung bringen und dann lassen wir dich massieren. Ich habe das auch einmal gehabt. Tut verteufelt weh, ich weiß,« er klopfte ihr auf die Schulter, »bleib nur schön liegen, ich bring dir etwas sehr Hübsches mit.«
Das Fräulein ließ sich den Toilettentisch zum Bett rücken, kämmte und puderte sich und zog sich ein rotes Bändchen durch das Häubchen. Sie betrachtete im dreiteiligen Spiegel, wie ihr das Spitzenhemd stand. Es konnte nicht so schlimm sein. Sie, die bei ein bißchen Schmerzen das ganze Haus quälte, scherzte mit Anna:
»Das ist ein Hundeleben, Anna,« lachte sie und streckte sich, als ihr Anna auf einem Tablett das Frühstück brachte, »es ist zum Junge-kriegen«, und als sie sich bewußt wurde, was sie da eben gesagt hatte, lachte sie noch mehr, ein volles Lachen, in dem viel Heiterkeit und nur ein kleines bißchen Zorn war. Dann erinnerte sie sich:
»Hören Sie, Annchen, der Vater sagt, daß Ihr Geliebter ein Bolschewik ist.«
Anna schwieg.
»Leugnen Sie es nicht, wir wissen es. Sie sollen ihm etwas bestellen. Sagen Sie ihm,« – das Fräulein lachte wieder los – aber jetzt war in ihrem Lachen nur wenig Heiterkeit und viel Wut – »sagen Sie ihm, er soll doch alles zerschlagen, alles, bis zum Letzten. Er soll bloß dieses verfluchte Haus nicht vergessen.«
Das Fräulein sah in den Spiegel.
»Sie haben ein wunderschönes Leben, Anna.«
Anna erbleichte.
Ja, Anna hatte ein schönes Leben. Daß sich das Fräulein bei diesem Wort nicht verschluckt.
»Was schauen Sie denn so entsetzt. Ich brauche Sie nicht mehr, Sie können gehen, Anna. Wollen Sie ein Stückchen Schokolade?«
»Nein, danke, Fräulein«, sagte sie bockig.
»Na, dann lassen Sie es bleiben.«
Die Krankheit des Fräuleins war nicht das Ärgste, was den Rubeschs passierte. Mit dem Herrn war es viel schlimmer. Ein Krach nach dem anderen. Die Wohnung war immer von Explosionen erfüllt, von denen niemand wußte, wann sie losgehen würden. Es ging um einige Tausend.
Die Brüder der gnädigen Frau waren in die Sache verwickelt. Dann ging es noch um irgendwelches Geld, das sich die gnädige Frau von der Schwester ausgeliehen hatte. Die Schwester hat es den Brüdern berechnet und die wieder dem Baumeister. Es war eine verwickelte Geschichte.
Die Herrschaften sprechen vor fremden Menschen nicht von diesen Dingen. Wenn das Mädchen das Essen bringt oder den Tisch abräumt, bleiben ihnen nach den letzten Sätzen, die sie halb verschluckt haben, nur zornfunkelnde Augen. Aber wenn das so eine Woche dauert und in der ganzen Zeit von nichts anderem gesprochen wird, kann man aus abgerissenen Sätzen viel erfahren. Und wenn die Herrschaft manchmal brüllt, daß das Haus zittert, hört das Mädchen alles.
»Glaubt ihr denn, daß ich stehle?« brüllte der Herr beim Mittagessen. Er sprang auf, und lief im Speisezimmer mit der zerdrückten Serviette in der Hand herum:
»Das sind ja Gauner, deine Brüder, Lumpen, die ins Zuchthaus gehören. Ins Zuchthaus, verstehst du?«
Er warf die Serviette auf den Teppich:
»Fünfzehntausend, ja, glaubt ihr denn, daß ich mich mein ganzes Leben wie ein Tier geschunden habe, damit ich alles in euch hineinstopfe? Das sind ja ganz hundsgemeine Diebe, sie glauben, ich muß schweigen und zahlen. Da irren sie sich aber schwer. Das Geschäft war meinerseits vollkommen korrekt, meinerseits völlig korrekt und gesetzmäßig, verstehst du, ich werde deine Brüder ins Zuchthaus bringen.«
Eines Tages kam er nachmittags zu ungewohnter Stunde und ging in sein Arbeitszimmer. Er klingelte Anna und befahl ihr, die gnädige Frau zu rufen. Als Anna das bestellt hatte, erbleichte die gnädige Frau, aber sie kam. Die Herrschaft sprach im Arbeitszimmer irgend etwas. Der Herr versuchte einige Male zu schreien, aber kaum hatte er ein paar Worte herausgebrüllt, senkte er die Stimme wieder sichtlich, weil er sich erinnert hatte, daß in der Küche alles zu hören war. Vielleicht auch auf die Bitte der gnädigen Frau hin. Aber plötzlich brüllte er los:
»Ich frage dich zum letzten Male, wo hast du die tausend Mark hingegeben? Erzähle mir keine Märchen. Ich bin hinter dieses Wunder gekommen. Du hast dir's von deiner Schwester geben lassen, und sie hat's auf Rechnung deiner Brüder geschrieben. Wohin hast du das Geld getan?«
Die gnädige Frau weinte und begann verzweifelt etwas zu erklären.
»Halt's Maul. Ich bitte dich, schweig,« schrie der Herr. »Ich werde dir sagen, wo du's hingegeben hast. Du hast es der Kanaille nach Davos und ihrem Nichtstuer geschickt.«
Da begann auch die gnädige Frau mit einer hohen hysterischen Stimme zu schreien:
»Ich schwöre dir, daß ich nichts nach Davos geschickt habe, ich schwöre es dir beim Leben meiner beiden Kinder, die du mir noch gelassen hast. Verstehst du, meine Tochter ist keine Kanaille, du Mörder du.«
Dann hörte man lange verzweifeltes Weinen. Nach einiger Zeit waren die Schritte des gnädigen Herrn hörbar. Dann wieder irgendein gedämpftes Gespräch.
»Anna!«
Es war wieder ein wütender Aufschrei, diesmal aus dem Zimmer von Fräulein Dadla. Anna öffnete die Tür:
»Was wünschen Sie, Fräulein?«
Aus der Flut der Kissen und Spitzen leuchteten die Augen des Fräuleins. Sie hielt ein Buch in der Hand:
»Die streiten schon wieder unten, nicht?«
Anna nickte schweigend mit dem Kopf.
»Herrgott,« knirschte das Fräulein mit den Zähnen, »ein verfluchtes Leben.«
Sie warf das Buch in die Ecke des Zimmers, drehte sich im Bett um und begann wütend in die Kissen zu weinen.
So sah es bei Rubeschs aus. Streit und Lärm, Geld, Geld und Geld.
Sie stritten noch des Abends im Bett. Die gnädige Frau schlief wieder beim Baumeister. Ihr Vorsatz, den sie nach dem Tode des jungen Herrn gefaßt hatte, nie mehr in das gemeinsame Schlafzimmer zurückzukehren, und ihre Einsamkeit im Fremdenzimmer hatten nur einen Monat gedauert. Eines Nachmittags, nachdem sie einen Brief mit einer Schweizer Marke gelesen hatte, kam sie bleich in die Küche. »Kommen Sie, Anna, helfen Sie mir«, und sie trugen das Bettzeug der gnädigen Frau und den Toilettentisch in das Schlafzimmer. Die Tochter in Davos wollte leben, und sie konnte dies nicht ohne die Fünf- und Zehn-Mark-Stücke, welche die gnädige Frau täglich beim ersten Morgendämmer aus ihres Mannes Brieftasche stahl. Sie hatte ihren Kindern schon viele vergebliche Opfer gebracht. Dies war das schwerste. Frau Baumeister weinte, wo sie stand und ging.
»Fräulein Anna, auf ein Wort«, rief des Morgens die Portiersfrau halblaut und stellte sich zum Haustor, daß sie von der Baumeisterwohnung aus nicht zu sehen war.
»Wie geht es Fräulein Dadla? Ist der Fuß schon in Ordnung?« Ein Lächeln spielte um die Mundwinkel der Portiersfrau.
»Hören Sie, Fräulein Anna, dieser Herr im lichten Anzug, der da unlängst abends drei Stunden auf- und abgegangen ist, ist der nicht bei euch oben gewesen?«
Marie aus dem dritten Stock wartete jeden Morgen.
»Na ja, sie hat sich den Knöchel ausgerenkt«, sagte sie, als sie mit den Einkaufstaschen am Arm über den Wenzelsplatz gingen.
»Wen wollen die dumm machen? Die Portiersfrau und ich, wir wissen's genau. Dadla war in der Tinte. So ist es mein Lieb, Dadla war in der Tinte. Am Ende mußte die Mutter helfen. Rudi fand irgendeinen Arzt und für fünfhundert Mark war alles gemacht. Aber das sind bloß fünfhundert Mark und euer Alter, der brüllt doch nach tausend. Das ist nämlich so. Der Rudi ist ein alter Gauner, der will sich jetzt eine Lebensversicherung schaffen. Hast du nicht gesehen? Ich traf ihn gestern abend. Er hat einen neuen Anzug und einen Stock mit goldenem Griff. Der saugt eurer Alten das Geld heraus. Der erzählt ihr wohl, daß der Assistent des Arztes ihm mit Skandal und Gericht droht. So eine Blödheit. Ein Assistent und anzeigen. Eure Alte ist ganz verängstigt, zahlt und macht bei der Schwester Schulden. So ist es, mein Kind. Habe ich dir nicht gleich damals gesagt, daß das noch eine schöne Sache geben wird. Sie hüten das Fräulein wie einen Edelstein. Auf die Straße darf sie nicht allein gehen, ins Theater darf sie nicht allein gehen, einmal reißt sie sich fünf Minuten von der Kette los, schon ist's passiert.«
Marie besann sich, blieb vor einem Laden stehen und fragte:
»Hör mal, Anna, hat sie einen Verband um den Fuß?«
»Ja, sie hat einen Verband!«
»So einen Gipsverband oder einen gewöhnlichen?«
»Nein, einen gewöhnlichen.«
»Hat ihr den der Arzt gemacht?«
»Die gnädige Frau verbindet sie selbst.«
»Das sind Luder, das sind ausgewichste Luder, nur um den Baumeister dumm zu machen.«
Anna antwortete nur zerstreut. Ihre Gedanken waren ganz wo anders. Das Fräulein hatte sich geholfen. Annas große Augen irrten auf dem Wenzelsplatz umher. Die Bewegung auf dem Platz schien ihr fremd und sonderbar. Das Fräulein hatte sich geholfen. Das war der einzige Gedanke, der ihr Hirn erfüllte, und für alles andere gab es keinen Platz.
Marie, mit der Einkaufstasche auf dem Arm, erzählte irgend etwas von den Brüdern der gnädigen Frau. Der eine war Beamter im Arbeitsministerium, der zweite Magistratsrat. Sie machten mit dem Baumeister irgendwelche Geschäfte. Sie besorgten ihm Aufträge, er teilte mit ihnen den Gewinn. Rubesch hatte in einem Bezirk die Kanalisation gebaut und den Magistrat dabei um eine halbe Million betrogen.
Anna hörte mit halbem Ohr zu. Am Wenzelsplatz schien ihr alles drunter und drüber zu gehen. Die Menschen waren bleich wie die Leinwand im Kino. Ja, das Fräulein hatte sich geholfen, es war nichts passiert. Man bleibt ein paar Tage liegen, dann ist alles wie vorher. Wie einfach ist es doch. Anna wandte ihre Blicke vom Wenzelsplatz, richtete sie vor sich auf den Damm und sagte zu sich selbst: »Nein, dazu braucht man Geld. Viel Geld. Nein, ich kann mir nicht so helfen.«
Marie sprach von den Betrügereien bei der Vergabe öffentlicher Bauten. Von 25 000 Mark, über die sich der Architekt mit seinen Schwägern nicht einigen konnte. Von 10 000, auf die sie sich geeinigt hatten, von 25 000, derentwegen sie noch stritten.
Aber Anna dachte bloß, was wird sein, keine Wohnung, Toni läuft vergeblich auf den Ämtern herum, und gestern hatte Fräulein Dadla Annas Bauch viel länger angesehen als sonst. Ich gehe zur »Schwarzen Hand«, hatte ihr Toni in der vergangenen Woche düster gesagt, und Anna fühlte einen ähnlichen Schauer wie beim Lesen der Sherlock-Holmes-Bücher. Die »Schwarze Hand« war ein geheimer Verein, der Schrecken der Hauswirte. Näheres wußte Toni nicht. Nein, nein, nichts davon. Anna hatte ein unangenehmes Gefühl. Marie sprach von 10 000 und 50 000 Mark, rollte die Augen und ihre Stimme war geheimnisvoll überzeugend. Über den Platz zogen die roten Wagen der Straßenbahn, und hupten die Automobile. Anna nahm sie gar nicht wahr. Was konnte die »Schwarze Hand« helfen?
Frau Rubesch sah nicht mehr nach der Küchenuhr, wie lange Anna bei dem Einkauf wegblieb. Sie bemerkte die Verspätung gar nicht. Als Anna mit der Einkaufstasche zurückkam, stand die gnädige Frau am Küchentisch und machte für das Fräulein zum zweiten Frühstück ein Beefsteak zurecht. Mit der rechten Hand hielt sie den Fleischklopfer, mit der linken nahm sie Salz und Pfeffer. Tränen fielen auf das Fleisch:
»Ach, Anna«, Frau Rubesch bemühte sich gar nicht mehr, vor Anna ihr Unglück zu verbergen. Ihre geschwollenen Augen weinten, die Rechte klopfte, und die Linke nahm gedankenlos Salz und Pfeffer aus den Porzellantiegeln. Das Beefsteak war schon schwarz und weiß.
»Ach, Anna«, die gnädige Frau klopfte und würzte, »ach mein Gott, Anna«, die gnädige Frau seufzte, »was haben die unteren Klassen für ein schönes Leben, wie gern würde ich mit ihnen tauschen.«
Anna hörte diese Worte nicht zum erstenmal. Das Fräulein sagte ihr täglich das gleiche. Merkwürdig, das Fräulein und die gnädige Frau beneideten sie. Die Tochter und die Frau eines Millionärs beneideten sie, ein Dienstmädchen, das nicht einmal wußte, wo es mit einem Kinde unterschlüpfen würde. Würden sie auch mit ihr tauschen wollen, wenn sie alles wüßten? Anna dachte darüber nach, aber sie wußte vorerst keine Antwort auf diese Frage.
Es kam der Tag, an dem sie sich sagte, sie würden sie auch beneiden, wenn sie alles wüßten, denn sie waren allein und verlassen. Anna war nicht verlassen und einsam. Sie gehörte einer großen Familie an, sie hatte Genossen und Genossinnen. Als es Anna am schlimmsten ging, waren sie zur Stelle.
Eines Nachmittags, als sie allein zu Hause war und in der Küche das Geschirr abwusch, klingelte es draußen. Sie ging öffnen. Franz Sauer lachte sie, die gelben Zähne weit entblößend, an. Der Heizer Franz Sauer, ein bißchen Arbeiter, ein klein wenig Agent, ein bißchen Genosse, ein wenig Bummelant, im ganzen ein vierzigjähriges Kind mit einer kindlichen Stimme und unendlich guten Augen. Neben ihm stand ein jüngerer Arbeiter, den Anna schon auf Versammlungen gesehen hatte, dessen Namen sie aber nicht kannte.
»Hören Sie mal, wir sind die ›Schwarze Hand‹, und wir kommen Sie holen«, sagte Franz Sauer.
Anna erstarrte. Sie erschrak ein wenig. »Schwarze Hand.« Das war doch nicht die »Schwarze Hand«, welche die Reichen aus den Wohnungen vertrieb und die Arbeiter drin festsetzte. Das war doch Franz Sauer! Oder war das ein Witz?
»Na, wollen Sie uns denn gar nicht hereinlassen, Anna? Das ist Alois Kotrba. Kennen Sie ihn nicht?«
Anna trat in die Stube zurück, und beide folgten ihr.
»Wir haben eine Wohnung für dich, Genossin«, sagte Kotrba. »Pack schnell deine Sachen und komm.«
Sie führte sie in die Küche. Es war also wahr. Sie erschrak noch mehr. Sie stand da und wußte nichts Besonderes zu sagen. Sie war allein zu Hause, hatte nicht gekündigt und der Frau nicht einen Ton gesagt. Sie schwankte.
»Ich bin …«
»Keine langen Erklärungen«, sagte Kotrba. »Soviel Zeit haben wir gar nicht. Um dreiviertel Vier müssen wir da sein, und es ist sehr weit. Wo hast du deinen Koffer?«
Anna sah, daß es ernst war.
»Ich soll also gehen, ja?«
Sie führte sie in ihre Kammer, zeigte ihnen ihren Koffer. Sie warfen schleunigst Annas Sachen hinein, wie sie ihnen in die Hände kamen, verdrückt und unordentlich, wie Männer eben packen. Es dauerte kaum eine Minute.
»Haben Sie noch etwas?«
»Nein, nein, aber ich möchte noch …«
Ehe sie noch sagen konnte, daß sie sich umziehen wollte, hoben die beiden Genossen den Koffer an den Henkeln hoch und schoben zur Tür hinaus. Schon klapperten ihre Absätze die Stiege hinunter. Anna folgte ihnen. Sie begriff noch immer nichts, war vor Erwartung erregt und in einiger Besorgnis wegen der Wohnung, die sie verließ. Aber dann besann sie sich eines Besseren. Sie schloß die Tür hinter sich und ging. Sie holte die Genossen beim Haustor ein, als sie auf die Straße traten. Sie gingen über den Wenzelsplatz zum Graben. Anna immer hinter ihnen her. Sie sprachen kein Wort. Franz Sauer blickte sich vielleicht zweimal nach ihr um und lachte ausgelassen. Sie hätte gern gefragt. Das ging für ihr armes Gehirn so unglaublich schnell. Aber erst beim Pulverturm faßte sie den Mut dazu. Sie machte noch einige schnelle Schritte, wich der Straßenbahn aus und gelangte an die Seite des alten Genossen.
»Wohin gehen wir denn?« sagte sie schüchtern. »Und wie wird es sein?«
»In die Jesseniusgasse, Anna. Es wird einen großen Krach mit dem Hauswirt geben. Da werden wir was erleben. Aber die Wohnung ist sehr nett, für ein Kanarienvogelpaar wie geschaffen. Der Abgeordnete Jandak hat uns gesagt, wir sollen euch was besorgen, und wir halten etwas auf den Mann. Das wissen Sie doch.«
Anna blickte erschrocken nach dem jüngeren Genossen, bei ihm Erklärung suchend. Der war ernst und schweigsam, aber als er Annas Augen sah, die auf ihn gerichtet waren, entschloß er sich doch, ein Wort zu sagen.
»Sei ohne Sorge, es wird schon irgendwie gehen.«
Anna wartete, daß er ihr sagen würde, wie es gehen sollte. Aber sie erfuhr nichts. Sie stapfte eine Zeitlang neben ihnen her, immer erwartend, daß sie ihr etwas sagen würden. Als Kotrba sein ernstes Aussehen beibehielt, verlangsamte sie ihre Schritte. So gingen sie durch die Straßen. Zwei Arbeiter, die den schweren Koffer an den eisernen Henkeln trugen und zwei Schritte hinter ihnen eine Frau in einem blaubedruckten Kleid mit niedrigen Schuhen, so wie sie vom Abwaschtrog weggegangen war. Sie wichen der Straßenbahn, den Automobilen, den schweren Fuhrwerken, den Handwagen aus und standen um ¾4 Uhr in der Jesseniusgasse vor einem Zinshaus. Ein Schutzmann stand vor dem Tor. Anna stockte der Atem, und das Herz schlug ihr schnell. Sie waren an Ort und Stelle. Sie erkannte dies an einem zweirädrigen Wagen, der an den Bürgersteig angelehnt stand. Auf dem Wagen war Tonis ganzes Vermögen verstaut. Das zusammenlegbare Eisenbett, Strohmatratze, das Bettzeug mit rotgestreiftem Überzug, ein Tisch, zwei Stühle, alles mit einem festen Strick zusammengebunden. Ganz zu oberst, unter den Strick gesteckt, lagen zwei gerahmte Buntdruckbilder von Marx und Engels. Dies alles bewies Anna, daß der Umzug mit Tonis Wissen vor sich ging, und daß er in der Nähe sein mußte. Das beruhigte sie ein wenig. Auf dem Bürgersteig stand ein etwa zwölfjähriger Junge. Der Genosse stellte den Koffer auf den Wagen, und Sauer fragte den Knaben:
»Na, Joseph, was ist?«
»Sie streiten drin mit dem Hauswirt wegen des Schlüssels. Sie waren beim Polizeikommissariat, der Kommissar kam mit ihnen, da der Grüne auch, und einer ist noch drin.«
»Es ist noch zehn Minuten Zeit«, sagte Franz Sauer zu dem ernsten Genossen. »Wart hier, ich will mir die Sache mal bekieken.«
Er ging ins Haus, an dem Schutzmann vorbei, der amtlich und unzugänglich vor sich hinstarrte.
»Ich hole mir nur Zigaretten«, sagte Kotrba und verschwand gleichfalls. Anna stand mit dem zwölfjährigen Jungen allein auf der Straße. So war das also. Sie hatten noch keine Wohnung. Es wird deswegen erst verhandelt. Sie haben nichts. Das blieb also übrig von der ganzen Hoffnung mit der »Schwarzen Hand« und von der Überraschung des heutigen Nachmittags. Und Polizei ist auch dabei. Anna schaute durch den Nebel ihrer getrübten Augen auf Tonis Vermögen. Wo kamen denn bloß der Tisch und die zwei Stühle, diese funkelnagelneuen Stühle her? Glaubte er denn wirklich, daß sie da einziehen würden? Anna sah die Bilder von Marx und Engels an und mußte alle Kräfte zusammennehmen, um nicht laut zu weinen. Marx und Engels, zwei bekannte Alte, zwei Genossen, die Väter aller Arbeiter, blickten in die Höhe, ganz hoch nach oben in den schmutzigweißen Himmel. Anna schienen ihre Gesichter in diesem Augenblick besonders klug zu sein. Aber konnten sie ihr denn helfen? Vom Turm schlug es 5 Uhr. Kotrba kehrte aus dem Zigarettenladen zurück und blieb ungerührt neben dem Wagen stehen. Anna standen die Tränen in den Augen.
Im Hause, im ersten Stock, in der Wohnung des Hauswirts, verhandelten sie unterdessen. Diese Unterhandlung dauerte jetzt beinahe schon zweieinhalb Stunden. Vor 3 Uhr waren sie hergekommen: Franz Sauer, Czermak, der Zinkograph Wick, der Hilfsarbeiter Kotrba und der Tischler Hans Kolar. Toni war bei ihnen.
»Was wollt ihr denn?« brummte sie der Hauswirt, der ihnen den Weg verstellte, gleich an der Tür an. Es war ein rundlicher Vierziger, ein rotwangiger blonder Mann, ein reichgewordener Agent, der den Landesämtern Nahrungsmittel lieferte.
»Eine sehr wichtige Sache«, antwortete Sauer. Sie drängten den Hauswirt in das Vorzimmer und dann direkt in die Stube.
»Na also, was ist los?« fuhr sie der Hauswirt an.
»Euer Wohlgeboren«, sagte Sauer, »Sie haben da im zweiten Stock eine leere Wohnung, Küche und Zimmer, und wir ersuchen Sie höflichst, sie dem Genossen Krousky zu vermieten. Aber gestatten Sie, daß ich vorstelle. Das ist der Genosse Anton Krousky, Gießer in den Kolbenschen Fabriken. Ein sehr anständiger Mensch. Dieser Herr ist der Hausbesitzer Koslieb. Ich bin Franz Sauer.«
»Ich habe keine Wohnung zu vermieten«, knurrte der Hauswirt.
»Aber ja, na, was denn«, sagte Franz Sauer.
»Nein«, sagte der Hauswirt energisch. »Die Wohnung ist schon vermietet.«
»Wissen wir ja, – als Lager. Aber das ist sehr unschön, irgendwelchen Schiebern Wohnungen als Lagerräume zu vermieten, wo in der Stadt so viele Leute keine Wohnung haben. Und außerdem ist es gegen das Wohnungsgesetz«, fügte der alte Czermak verdrossen hinzu.
»Ja, ja, es ist gegen das Wohnungsgesetz«, wiederholte Franz Sauer. »Aber der Hauswirt hier ist ein netter Herr. Seht mal an, er hat doch ein so gutes Gesicht, der wird uns auch ohne Gesetz helfen, nicht?«
Der Hauswirt wurde feuerrot.
»Ich will mich nicht mit Ihnen unterhalten. Ich habe schon gesagt, daß ich keine Wohnung zu vermieten habe und damit basta.«
»So, ›basta‹? Wer hätte das gedacht«, sagte Franz Sauer.
»Ich bitte Sie, die Wohnung augenblicklich zu verlassen und mich nicht zu belästigen.«
»Aber woher, wir sind doch die ›Schwarze Hand‹, und wir rühren uns nicht früher von hier, als bis der Genosse Krousky mit seiner Frau in der netten Wohnung im zweiten Stock ist.«
»Wie stellen Sie sich denn das vor?« erregte sich der Hauswirt. Da trat Toni vor, dessen Augen brannten.
»Wissen Sie, wie die Leute in der Stadt hier wohnen?« schrie er und seine Fäuste schlossen sich. »Und Sie verschieben die Wohnung hier als Lagerraum.«
»Wart mal, Toni, wart mal«, und die ungeheure rechte Hand Sauers legte sich auf Tonis Schulter. »Warum denn so hitzig, das muß alles fachmännisch geregelt werden. Du wirst doch auch den Hauswirt nicht aufregen wollen. Sieh mal, es könnte ihm doch dabei etwas passieren. Das kannst du nicht verantworten. Wart mal, Toni, wart nur.«
»Wie wir uns das vorstellen?« wandte er sich an den Hausherrn. »Sehr einfach, wir sind doch keine Anfänger. Das haben wir schon dreißigmal gemacht. Der Genosse Krousky zieht hier mit seiner Frau in die Wohnung im zweiten Stock, und wir empfehlen uns. Das ist doch eine einfache Sache.«
»Wollen wir ernstlich miteinander reden oder nicht«, donnerte der Hauswirt.
»Ach, du lieber Gott, warum denn nicht.«
Sie begannen zu verhandeln. Der Hauswirt sprach von der Anzahlung, der Rechtsverbindlichkeit, von den Steuern, von den Gesetzen, von der Ordnung. Die Arbeiter von der Wohnungsnot und von der demokratischen Republik. Der Hauswirt war aufgeregt und rot wie ein Krebs und lief zwischen Blumentisch, Fenster und Chaiselongue hin und her. Die Arbeiter waren ruhig, weil sie wußten, wie es ausgehen würde. Nur Toni war empört. Es kostete ihn Überwindung, nicht nach diesem rosigen Bürger hinzuspringen. Aber er hatte geschworen, daß er sich in die Verhandlung nicht einmischen würde. Die Verhandlung führte zu keinem Resultat.
»Gut«, sagte der Hauswirt und hielt in seinem Marsch drohend inne. »Mit euch läßt sich nicht reden.« Er sah sie mit einem Blick an, der sie erschrecken sollte und brüllte einen Satz, der sie kleinmachen sollte:
»Ich werde die Polizei rufen, die wird die Sache schon regeln.«
»Du mein Gott«, Sauer klatschte in die Hände, »das ist eine Idee. Daß das noch keinem von uns eingefallen ist. Wir wollen mal zum Revier gehen. Ich war noch nie da.«
Der Hauswirt sprang zum Telephon. Bei solchen erregten Szenen geschieht es sehr oft, daß man keine telephonische Verbindung bekommt, und wenn sie endlich kommt, ist sie falsch. Herr Koslieb hatte eine zu energische Maske aufgesetzt, als daß er sie die ganze Zeit hätte beibehalten können. Das wirkte komisch. Der Hauswirt zitterte vor Wut. Endlich bekam er die Verbindung. Aber er hatte nicht mehr die natürliche Kraft.
»Es sind sechs Menschen hier, die einen gesetzlich unerlaubten Zwang auf mich ausüben, damit ich ihnen eine Wohnung vermiete. Ich brauche den Schutz der Polizei.«
Irgend jemand antwortete ihm.
»Ja«, sagte der Hauswirt drohend ins Telephon und legte den Hörer ab.
»Mein letztes Wort, wollen Sie meine Wohnung verlassen und mich nicht belästigen?«
»Nein«, schrie Toni und ging einen Schritt vor.
»Wart mal, Toni.« Franz Sauer hielt ihn zurück. »Immer fachmännisch, du weißt, was du mir versprochen hast.«
»Nein«, knurrte der alte Czermak ruhig. »Wir würden ja gerne gehen, aber es läßt sich nicht machen. Die Ehre der ›Schwarzen Hand‹ steht auf dem Spiel.«
»Na, gehen wir zur Polizei«, donnerte der Hauswirt.
»Gehen wir, Freunde«, lächelte Franz Sauer. »Wir werden uns noch ganz gut einigen. Bis fünf Uhr ist Zeit genug.«
Sie gingen. Der Hauswirt mit ihnen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Franz Sauer zum Hauswirt auf der Straße. »Ich habe etwas vergessen. Ich kann nicht mitkommen. Ich muß Fräulein Anna, die Braut des Genossen Krousky, abholen und ihre Sachen tragen helfen, damit sie umziehen kann.«
»Komm, Alois«, wandte er sich an Kotrba. »Wir wollen ihr den Koffer tragen helfen.«
In diesem Augenblick erschien auf der Straße ein Handwagen, auf dem Tonis Möbel aufgeladen waren. Ein jüngerer Arbeiter zog ihn. Neben dem Wagen ging ein zwölfjähriger Junge.
»Aha«, warf Franz Sauer ein, »da besorgen sie auch schon den Umzug von dem Genossen Krousky.«
Es schien, als ob den Hauswirt der Schlag treffen würde. Franz Sauer und Kotrba gingen zur Haltestelle der Straßenbahn, um Anna abzuholen. Der Hauswirt, Toni und Czermak, Wick und Kolar zum Polizeirevier. Der Polizeikommissar betrachtete sie durchdringend. Er erkannte die Arbeiter gleich. Es war schon der zehnte Fall in seinem Revier, wo die »Schwarze Hand« eingegriffen hatte, und er wußte, daß alles, was nun folgen würde, zwecklos war und wie es ausgehen würde.
»Schwarze Hand«, wandte er sich an sie.
»Ja«, sagte der alte Czermak verdrossen.
Der Kommissar legte sein Gesicht in amtliche Falten.
»Hört mal, Kinder, das wird aber nun ein bißchen wild«, und er verstärkte den Ausdruck seines Gesichts. »Spaßt nicht zu sehr, das kann mal schlecht ausgehen und ihr könnt euch mächtig verbrennen.« – »Was ist, Herr Koslieb«, wandte er sich an den Hauswirt.
Im Büro, das nach Kleidern und Papier roch, wiederholte sich die alte Geschichte. Der Hauswirt erklärte alles. Er gestikulierte mit den Händen und bewies, daß er durch einen Vertrag und eine Anzahlung bereits gebunden sei. Er habe Toni nie gesehen, er ginge ihn auch nichts an, und wenn er mit seiner Familie keine Wohnung habe, dann müßte er sich eben an ein Wohnungsamt wenden. Das sei Tonis Sache und nicht die des Hauswirts. Das war auch der amtliche Standpunkt des Kommissars, der, nachdem er ihnen das auseinandergesetzt hatte, und als sein strenger Blick vollkommen wirkungslos verpufft war, den Ausbrüchen des Hauseigentümers und Ordnungsfanatikers schlechtgelaunt folgte. Er wußte, wie ohnmächtig alle Instanzen der Wohnungsämter waren. Er kannte in seinem Revier Wäschereien, Keller, Scheunen und sogar Aborte, wo man wohnte, und konnte von vornherein die Argumente erraten, welche die Arbeiter vorbringen würden, wenn er sich mit ihnen in eine Debatte einließ. Jedes Wort war umsonst. Da gab es nur ein Mittel, um die Ordnung aufrechtzuerhalten: Polizeirevolver – wie in der Monarchie. Das war eine unfehlbare Arznei. Aber der Herr Kommissar wagte nicht, von sich aus dazu zu greifen, und er wußte, daß ihm das Polizeipräsidium die Erlaubnis nicht erteilen würde. Ja, die Entwicklung zur alten Ordnung schritt Woche um Woche hübsch und langsam vorwärts, und es war leicht möglich, daß dies der Beginn seiner Karriere sein konnte, wenn er sich auf eigene Faust zu einem Vorgehen entschließen würde. Aber es war auch nicht ausgeschlossen, daß ihm das die Stellung kosten konnte. Das war das Ungemach der Zeit. Ein anständiger Mensch wußte nicht, wem er eigentlich diente. Und so entschloß sich der Herr Kommissar, nachdem er die ganze Geschichte angehört hatte, bloß zu dem Ausruf:
»Ich will mir die Sache ansehen.« Er setzte die Dienstmütze auf, nahm zwei Schutzleute mit und ging. In der Jesseniusgasse ließ der Kommissar einen Schutzmann vor dem Hause, und mit dem zweiten, den vier Arbeitern und mit dem Hausherrn ging er hinauf. Sie sahen sich die Wohnung im zweiten Stock an, das Zimmerchen, in dem zwei Kisten voll alter Wein-, Kognak- und Mineralwasserflaschen standen, und die lange Küche mit dem vergitterten Fenster, das auf den halbdunklen Flur hinausblickte. Der Hausherr wurde immer aufgeregter, die Arbeiter immer ruhiger. Sie sagten immer wieder nur boshaft den Satz, daß sie den Schlüssel haben wollten.
Jetzt also, um 5 Uhr nachmittags, stand Anna mit dem zwölfjährigen Jungen und dem unfreundlichen Kotrba in der öden Jesseniusgasse. Und im Mietshaus unterhielten sich die Genossen, zu denen noch Franz Sauer gestoßen war, mit dem Hausherrn und dem Polizeikommissar. Auch sie hörten die Turmuhr schlagen und der alte Czermak und Wick zogen die Uhren heraus, um die Zeit zu vergleichen. Zwei Arbeiter standen an der Tür, drei am Ofen, mit dem Rücken darangelehnt. Sie sagten ihren Spruch mit der Konsequenz einer Grammophonplatte. Daß es ungesetzlich sei, eine Wohnung als Lagerraum zu vermieten und außerdem gemein, wo so viele Leute kein Dach über dem Kopf hätten, daß dies der Kommissar einsehen müßte, und daß alles vergeblich sei, daß sie nicht von hier weggehen würden, bevor sie nicht den Schlüssel erhielten. Toni machte ein finsteres Gesicht und schwieg. Aber Franz Sauer brachte mit seinen gutmütigen Augen den Hausherrn zur Raserei. Sauer zündete sich eine Zigarette an und klopfte die Asche auf dem Ofen ab.
»Rauchen Sie hier nicht«, brüllte ihn der Hausherr an. »Glauben Sie, daß Sie in einem Stall sind?«
Sauer zeigte bloß die Zähne, tat noch einen tiefen Zug und blies den Rauch aus.
»Na, es muß ja nicht sein«, sagte er freundlich und drückte den glühenden Tabak ab. Er barg den Rest der Zigarette in der Westentasche. Der Hauswirt lief auf dem Teppich zwischen der Anrichte und dem Plüschsofa auf und ab. Sein breites Gesicht, sein starker Hals waren rot. Es bestand Gefahr, daß ihn der Schlag treffen würde. Das Bewußtsein, daß er, der reiche Vermittler, Hauswirt und Mann mit einflußreichen Bekanntschaften, diesen drei schmutzigen und stinkenden Kerlen gegenüber ohnmächtig war, daß er ihnen gegenüber machtlos war, trotz seines unzweifelhaften Eigentümerrechts, trotz Vertrags, Rechtsverbindlichkeit und trotz dreier Polizisten, deren amtliche Verpflichtung es war, ihn zu schützen, dieses Bewußtsein brachte ihn zur Raserei. Er werde den Schlüssel nicht hergeben. Und wenn er auf der Stelle krepieren sollte, den Schlüssel gebe er nicht her.
»Ja, bin ich denn kein Steuerzahler?« schrie er. »Herr Kommissar, schützen Sie mich, gilt denn das Gesetz nicht mehr?«
Der Kommissar saß ungerührt auf dem roten Plüschsofa.
»Vielleicht könnten Sie sich, meine Herren, doch in Güte einigen«, sagte er zeitweise; aber es klang ganz hoffnungslos. Auf der Straße wartete Anna. Welchen Sinn hat das, dachte sie. Wir haben keine Wohnung und wir werden keine haben. Warum haben sie ihr Hoffnungen gemacht, wo doch alles vergeblich ist. Tränen traten ihr in die Augen, und sie drückte das Taschentuch ans Gesicht.
»Wein' nicht, Genossin, in zehn Minuten bist du in der Wohnung«, sagte der unhöfliche Kotrba, und Anna fühlte zum erstenmal Weichheit und Teilnahme. Es klang überzeugend. Es war ein Fünkchen Hoffnung, das in Anna aufstieg. Als sie mit tränenden Augen die Bilder ansah, schien es ihr, daß Marx das linke Auge schloß. Vielleicht das Auge, in dem er das seltsame Glas trug, das ihm zur Weste herunterhing. Es schien, als ob er klug lächelte und sagen wollte: »Weine nicht, Genossin, in zehn Minuten bist du in der Wohnung.«
Es war 5 Uhr und 5 Minuten. Das war der kritische Zeitpunkt, auf welchen die »Schwarze Hand« gewartet hatte. Sowohl die Genossen, die draußen mit Anna warteten, als auch die anderen, die oben mit dem Hauswirt verhandelten, wußten dies. Fünfhundert Schritte von hier, in der Richtung zur Peripherie der Stadt, füllte sich die Straße, bislang halb leer, immer mehr mit Menschen. Es waren Arbeiter und Arbeiterinnen, die nach beendigter Arbeit herbeizogen. Sie liefen durcheinander, verstreuten sich über die ganze Straßenbreite und rückten in der Richtung auf Anna vor. Gleich darauf spie die Fabrik neue Massen aus. Sie vereinigten sich mit den vorhergehenden, und der Vortrupp der Arbeiter schritt schnell die Jesseniusgasse herauf. In der Straße wurde das Gewühl immer dichter. Dieser Menschenstrom, der vorwärts rollte, trieb schwer dem zweirädrigen Wagen mit den Möbeln entgegen. Die Spitze erreichte Anna. Es waren drei Burschen, die ihren Rock über ein blaues Hemd gezogen hatten. Sie hatten schmutzige Gesichter, waren aber trotzdem hübsch und lachten.
»Was ist los? Umzug? Will er euch nicht hereinlassen?« fragten sie beinahe gleichzeitig.
»Der Hauswirt, der Lump, hat die Wohnung als Lagerraum verschoben, will den Schlüssel nicht herausgeben, und nun muß die Arme hier auf der Straße stehen, seht sie euch mal an«, erklärte der Genosse Kotrba, in den plötzlich Leben gefahren zu sein schien. Die Burschen lachten halb verständnisvoll, halb lustig. Der mittlere, ein Blondkopf, wandte sich an die marschierende Vorhut, steckte Zeige- und Mittelfinger in den Mund und stieß einen Räuberpfiff aus, so stark, daß die Ohren dröhnten.
Der Kleinste und Schmutzigste von ihnen legte die Hände an den Mund und schrie in die Straßen hinein:
»Hier gibt's einen Umzug, kommt mal ran.«
Der Schutzmann, der das Tor bewachte, verschwand im Innern des Hauses und schloß die Tür hinter sich zu.
Es bedurfte nur einiger schnellerer Schritte, damit die ersten Häufchen Anna erreichten und sie umringten. Aus der schwarzen Arbeitermasse im Hintergrund lösten sich kleine Trupps, liefen vor und aus ihrer Mitte ertönte ein hoher Pfiff, ein Kampfsignal, das durch die Straße gellte. Anna und der Wagen befanden sich im Nu inmitten einer lebendigen und treibenden Masse.
»Was ist?«
»Was ist?«
»Umzug?«
»Schwarze Hand?«
Der Genosse Kotrba erklärte, als ob er eine Agitationsrede auf einer Versammlung hielte:
»Das Pack hat die Wohnung als Lagerraum verschoben. Der Kerl hat selbst fünf Zimmer und ist fett wie ein Schwein. Diese armen Leute will er nicht hineinlassen. Sie warten schon zwei Stunden darauf, und dieser Schieber hat einen Kommissar und zwei Grüne bei sich.«
Es ertönte wieder ein Pfiff, ein, zwei, fünf und zehn. Die Straße pfiff und schrie.
»Wir wollen's dem Schieber besorgen«, rief jemand. »Dort, hoppla.«
Die Masse rollte dem Haustor entgegen.
An die Türklinke hängte sich eine Traube von Leibern. Das Tor war von innen verschlossen. Ein Aufschrei ertönte, kurz und drohend. Die Klinke dröhnte, weil zwei Fäuste auf sie losschlugen. Das Holz erdröhnte, weil sechs Paar Stiefel darauf losschlugen. Aber die Tür war massiv und fest.
In diesem Augenblick verwandelten sich 150 Arbeiter der Vorstadtfabrik in eine Kampfschar. Dieses dröhnende und tönende Hindernis von einer Eschenholztür, die sich ihrem Willen entgegenstellte, vertrieb das Wesen des einzelnen Individuums aus ihnen, erweckte in ihnen allen die ererbte Kraft des menschlichen Geschlechts und schmiedete sie zu einer Masse zusammen. Es war eine wutentbrannte Schar prähistorischer Männer, Frauen und Kinder. In Bärenhäute gekleidet standen sie am Rande einer großen Grube, in der sich der Riesenleib eines Mammuts gefangen hatte, eine Schar, die über die Nähe des Sieges jubelte und vom letzten Hindernis wildgemacht wurde, sich vor Glück und Hunger schüttelte, Steinblöcke auf das lebendige Tier warf und ihm den Bauch mit gefällten Birken durchbohrte. Es war die leidenschaftlich gerechte Schar von Gotteskämpfern und Gotteskämpferinnen, die aus den gotischen Fenstern des Prager Rathauses die verräterischen Schöffen auf die Spieße des Hussitenvolkes warf, die tapfere Schar von Bürgern und Bürgerinnen, die unter dem Losungswort der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geeint jeden zerrissen hätten, der gewagt hätte, ihnen einzureden, daß die Granitmauern und Türme der Bastille ein unüberwindliches Hindernis wären. Es war die zum Tode begeisterte Schar von Genossen und Genossinnen, die an jenem Oktobertag aus Windbüchsen auf die roten Mauern des Moskauer Kremls schossen, hinter denen die Junker standen.
Jetzt wurde sie vor dem Hause der Vorstadtstraße von neuem geboren, und es war eine tausendjährige Erbschaft in dieser Schar, die Leidenschaft, der Wille, die Wildheit und der Hunger, der Opfermut und das schönste Gut, welches das Menschengeschlecht besitzt, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach ihrer Gerechtigkeit, denn über diese geht keine.
Die Klinke dröhnte und das Eschenholz brummte. Der ganze Fabrikstrom war nunmehr bis hierher gelangt. Der freie Raum war ausgefüllt, und in den Fenstern der Nachbarhäuser, hinter Blumentöpfen, auf Kissen zeigten sich Menschen. Einige lachten, andere waren ernst und streng.
»Reicht uns diesen Kerl mal her, damit wir ihn besehen!«
»Pfui, pfui«, brüllte die Straße.
Eine alte Arbeiterfrau in dem Knäuel, in dessen Mitte der Wagen mit den Möbeln stand, erkannte Annas Zustand. Sie sprang auf ein Rad des Wagens, hielt sich an den Schultern der Nächststehenden und schrie über den Kopf der Menge hinweg, und rote Flecken traten in die eingefallenen Wangen:
»Die Ärmste ist ja schwanger. Sie ist im neunten Monat, und der Hund hat sie auf die Straße gejagt.«
»Pfui, pfui«, brüllte die Straße.
»Wir wollen es ihm besorgen«, klang es in den Sturm, und das war die Parole. Die Schar verlangte danach, geführt zu werden. Der Ruf wurde mit Geschrei und Pfeifen aufgenommen:
»Besorgen – besorgen – besorgen«, kreischte und rief es mit drohendem Signal. Die Nachbarfenster wurden geschlossen.
Plötzlich öffnete sich das Tor der feindlichen Festung. Drei Genossen erschienen, und einer von ihnen hielt der Masse die erhobene Hand entgegen. Die Schar verstummte auf einen Schlag. So war es schon immer, seit Tausenden von Jahren, wenn auf den Zinnen der feindlichen Festung die weiße Fahne aufgezogen wurde. Diesmal wurde die rechte Hand des Genossen zur Fahne.
»Wählt eine Delegation, Genossen, die mit dem Hauswirt verhandeln soll«, rief der alte Czermak mit lauter Stimme. Hinter den Genossen im Tor erschien der Polizeikommissar und trat vor sie:
»Meine Herren, es ist eine rein privatrechtliche Angelegenheit. Die Polizei hat kein Interesse daran und hat sich bemüht, die Sache auszugleichen. Die Angelegenheit wird erledigt. Sie wird in Ruhe erledigt.«
Irgendwer lachte:
»Selbstverständlich wird sie erledigt, das hatten wir und auch der Herr Kommissar von allem Anfang an gewußt.«
Der Kommissar fuhr fort:
»Aber die Ruhe muß auf jeden Fall gewahrt werden, Zusammenrottungen kann ich keinesfalls dulden, und es hat wohl niemand Interesse daran, daß ich zu schärfsten Maßnahmen genötigt werde.«
Falls es wirklich die Absicht des Kommissars war, die Angelegenheit in Ruhe zu ordnen, beging er einen schweren taktischen Fehler; – er rührte an die Souveränität der Masse.
»Mach dich man nicht so wichtig«, rief ihm jemand zu. Die Schar lachte halb fröhlich, halb wütend.
»Ist bei uns nicht zu machen.«
»Pusten Sie sich man nicht auf.«
Ein Häufchen angeschmuddelter Arbeiterlehrlinge und einige Mädchen aus der Packerei, die auf dem gegenüberliegenden Gehsteig standen, lachten. Der Kommissar war bleich, und sein Kinn erzitterte leicht.
»Eine Deputation«, donnerte aufs neue die mächtige Stimme vom Tor, so befehlend, daß neben ihr kein Platz zu etwas anderem war. Durch die Gasse bahnte sich bereits eine sechsköpfige Deputation ernster Arbeiter den Weg.
»Wozu denn eine Deputation?« schrie ein junger Blondkopf mit leidenschaftlichen Augen, »schmeißt den Kerl auf die Straße.«
»Gebt uns den Erpresser her«, schrie ein Nachbar. Aber es waren nur vereinzelte Stimmen, die durch irgendeine Unordnung die allgemeine Disziplin durchbrachen, und sie wurden deshalb mit Lachen empfangen. Die Deputation verschwand in der Haustür. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Es trat Ruhe ein, die Wellen glätteten sich.
Die Masse stand wie aus Erz gegossen. Alles war in Erwartung. Doch eine leere Stille in der Brust läßt sich nicht lange ertragen, und sie dauerte auch nur einige Minuten. Plötzlich brüllte die Straße los. In der Haustür standen Toni, Czermak und Wick und hinter ihnen die Arbeiterdeputation. Alle lachten, und der strahlende Czermak hielt den Schlüssel in der erhobenen Hand. Kein Schauspieler auf der Bühne, kein Führer auf der Tribüne wurden je mit diesem Beifallssturm, diesem Jubel und Gelächter begrüßt. Dieser Siegesschrei und dieses Gelächter schallte durch alle Tore und Fenster der Jesseniusgasse, erfüllte die Wohnungen und stieg in großen Wellen über die Dächer zum trüben Himmel. Die Bastille war gefallen. Jetzt flogen fünf, zehn und fünfzehn Mützen in die Luft. Gelächter über Gelächter. Es galt dem Sieg, und es galt dem besiegten Bourgeois und der besiegten Polizei.
Anna war weiß wie das Leinentuch auf dem zweirädrigen Wagen. Beim Wagen und um Anna herum entstand eine Jagd. Zwanzig, dreißig und vierzig Hände griffen nach den Möbeln. Der Strick war im Nu gelöst. Vierzig Hände faßten nach den Sachen, vierzig Schultern bahnten sich einen Weg durch das Gedränge auf dem Gehsteig, vierzig Beine fielen in das Haus ein und liefen über die Stiegen hinauf ins erste, zweite Stockwerk. Sie trampelten schwer und nahmen immer zwei Stufen auf einmal. In zwei Minuten war die Wohnung im zweiten Stock als Heim für Toni und Anna eingerichtet. Alle jagten wieder herunter, und vierzig Absätze stürmten über das Treppenhaus. Ihre hastenden Schritte dröhnten dem Hauswirt in seinem Zimmer ins Ohr.
Es gab nicht viel zu danken. Ein paar Händedrücke und ein Lächeln, bei dem Tränen in den Augen glänzten. Und während Anna und Toni die Treppen zu ihrer neuen Zuflucht hinaufstiegen, gingen auf der Straße zweitausend Arbeiter auseinander. Eine lebende Masse, die in den nächsten Minuten in den Seitengassen, in den Zinshäusern, in den Stockwerken, in den Arbeiterwohnungen verstreut und verschwunden sein wird. Aber auch dann, wenn es nur mehr zweitausend einzelne Männer sein werden, die bis zu den Hüften nackt vor dem Waschgeschirr mit warmem Wasser stehen, einzelne Weiber, die Feuer machen, um den Kaffee und die Kartoffeln vom Mittagessen zu wärmen, Arbeiter, Burschen und Mädchen, die sich vor dem Spiegel saubere Kragen und Kleider anziehen, um den kurzen Frühlingsabend zu genießen, auch dann wird noch jedem einzelnen ein Lächeln auf den Lippen stehen, und im Herzen wird er ein angenehmes Gefühl haben. Und wenn sie heute abend schlafen gehen werden, dann werden sie vielleicht noch im Bett plötzlich laut auflachen und werden sich sagen, daß das heute ein Riesenspaß war in der Jesseniusgasse.
Anna stand in der Mitte der neuen Wohnung und weinte an Tonis Brust. Es war ein Spätnachmittag im Vorfrühling, und die untergehende Sonne warf eine Handvoll goldenen Staubes in das Zimmer, der sich im Winkel festsetzte. Die Möbel und der Koffer mit Annas Kleidern standen unordentlich durcheinander. Auf dem Tisch lagen Marx und Engels, mit dem Gesicht zur Decke, zwei bärtige Alte, die Väter aller Sozialisten und Genossen. Sie schauten wieder ernst, gelehrt und unnahbar drein. Anna weinte, und auch Tonis stählernes Herz schlug.
»Wie ist es nun, Toni, dürfen wir wahrhaftig hierbleiben?«
»Ach, es war ganz einfach«, antwortete Toni, »wir sagten ihm: Die Schlüssel, oder wir öffnen uns allein, und er überlegte keine Minute. Selbstverständlich bleiben wir hier.«
Wie spät war es denn eigentlich? Anna überfiel plötzlich ein unangenehmes Gefühl. Der Kopf drehte sich ihr. Sollte sie, sollte sie nicht?
»Toni, soll ich nochmal zurückgehen?«
Tonis Gesicht verfinsterte sich.
Aber dann erinnerte er sich:
»Hast du das Dienstbuch? Hast du es nicht? Sie würden dich auf der Polizei melden. Fahr hin.«
»Ja?«
»Ja, ja, fahr hin.«
Sie richtete mit zitternden Händen Frisur und Kleidung. Toni begleitete sie und schloß hinter sich die Türe. Das Schloß schnappte mit einem neuen Ton, den Anna weder vorher gehört hatte noch nachher jemals hörte. Toni brachte sie zur Straßenbahn, und sie fuhr in ihr früheres Heim.
Die gnädige Frau öffnete ihr und durchbohrte sie mit den Blicken. In der Küche pflanzte sie sich vor ihr auf, maß sie mit eiskalten Augen und sagte mit trockenem, scharfem Ton, der ein Gewitter ankündigte:
»Wo waren Sie?«
»Wir haben eine Wohnung gefunden. Ich werde heiraten.« Das Herz schlug ihr bis zum Halse, aber sie sagte es ruhig und selbstbewußt und weinte nicht. Die Farbe und das Gewicht der Worte schlugen der Frau Baumeister die Waffen aus der Hand. Nur ihre Augen funkelten zornig. Sie drehte sich um und sagte nichts. Sie ging aus der Küche und schlug die Türe hinter sich zu.
Anna beendigte in der Küche schleunigst die vernachlässigte Arbeit, trug das Essen auf, machte im Schlafzimmer die Betten, und in dieser ganzen Zeit sprach niemand ein Wort mit ihr, als ob sie nicht vorhanden wäre. Aber die Verachtung der Herrschaft machte heute keinen Eindruck auf sie. Wie hätte sie auch! An einem solchen Tag, wo Toni und sie Mann und Frau wurden. Der Tag ihrer Trauung war nicht der, an dem sie sich erkannten; es wird auch nicht jener sein, an dem sie auf dem Amt irgendein Stückchen Papier unterschreiben werden. Der heutige Tag war es, wo sie sich eine Zuflucht erkämpft hatten. Konnten denn die gnädige Frau und das Fräulein nicht alles verstehen? Der Architekt hat acht Häuser. Sie werden das Fräulein am Hochzeitstage in weiße Seide kleiden, ihr einen Myrtenkranz geben und sie, deren Leib von Ärzten zerkratzt ist, wird mit dem Prinzen Bräutigam in einem Auto sitzen, und vor ihnen und hinter ihnen werden Autos fahren, und in der Mitte der Kirche wird ein roter Teppich liegen. Wieviel Gäste werden Sie, Fräulein, auf der Hochzeit haben? Dreißig, vierzig – bestimmt nicht mehr als fünfzig. Wissen Sie, Fräulein, wieviel ich gehabt habe? Zweitausend, die Straße war knüppeldicke voll von Genossen aus den umliegenden Fabriken, und glauben Sie, Fräulein, daß auf Ihrer Hochzeit solcher Jubel und solche Freude sein wird wie auf der meinen? Anna erzitterte vom Gefühle des Stolzes und Entzückens.
Anna räumte das rosa Zimmerchen von Fräulein Dadla auf. Sie rückte die Batistpolster und Spitzen zurecht und dachte, ach, wie stinkt doch Ihr Bett, Fräulein, nach Parfüm, Puder und Toilettenwassern. Mein Bett wird duften. Es wird nach Toni duften, Fräulein. Es wird nach dem Stahl der Kolbenschen Fabriken duften.
Abends, bevor die Herrschaft zur Ruhe ging, kam Fräulein Dadla in die Küche, um zu verhandeln. Sie tat, als ob sie sich ein Glas Wasser holte. Sie trank, und dann zupfte sie vor dem Küchenspiegel die Haare zurecht:
Anna wusch das Geschirr und stand mit dem Rücken Dadla zugekehrt.
»Ja, Fräulein, wir haben schon eine Wohnung.«
»Wo denn?«
»In der Jesseniusgasse.«
Hinter Annas Rücken war es eine Zeitlang still.
»Anna, wissen Sie, das ist nicht sehr dankbar von Ihnen. Wir waren doch immer sehr nett zu Ihnen. Sie hätten auch ein Wort sagen können. Wollen Sie denn die Mama jetzt so aufsitzen lassen?«
Anna antwortete nicht. Das Schweigen dauerte quälend lange. Aber sie nahm sich vor, überhaupt nicht zu antworten.
Hinter ihrem Rücken schrie das Fräulein wütend:
»Na, in den Hintern werde ich Ihnen nicht hineinreden.«
Anna richtete sich auf, wandte sich um, und trocknete die Hände an der Schürze.
»Ich konnte nicht, es war niemand daheim, und die Wohnung wäre uns durch die Lappen gegangen. Und wenn die gnädige Frau glaubt, daß ich noch bleiben soll, bis sie ein neues Mädchen gefunden hat, bleibe ich noch. Jetzt, wo wir die Wohnung haben, kommt es auf ein paar Tage nicht an.«
»Machen Sie keine Dummheiten, Anna, und einigen Sie sich mit Mama. Aber das eine muß ich Ihnen noch sagen, es zeugt von großer Undankbarkeit, was Sie heute getan haben.«
An diese Undankbarkeit dachte Anna noch, als sie schon in ihrem Kämmerchen im Bett lag und wartete, bis die Herrschaft im Schlafzimmer das Licht ausmachen würde. Diese Worte bereiteten ihr einige Unruhe, und es lag darin ein wenig von diesem entfernten, weit entfernten und unerklärbaren Duft des Schulzimmers und der Hand des Herrn Pfarrers, die sie immer geküßt hatte, und die nach Zigarren und Männerschweiß roch. Aber das dauerte nur einen Augenblick, und dann kamen der Stolz und die Ruhe des heutigen Tages wieder. Nein, sagte sie sich, ich war nicht undankbar. Warum, wußte sie nicht. Ihr Hirn verstand noch nicht klar zu denken. Aber auch wenn sie es verstanden hätte, würde sie sich gesagt haben, ja, es war nicht so schlimm bei euch, meine Herrschaften, es war viel besser bei euch als zu Hause in der Hütte, und vielleicht hatte ich es auch ein wenig besser als die anderen Mädchen im Hause. Die gnädige Frau hat mir zwei Hemden geschenkt, die nur ein ganz klein wenig zerrissen waren, und die man leicht flicken konnte, und das Fräulein schenkte mir einen Schlüpfer, den jede Gräfin tragen konnte. Zu Weihnachten bekam ich Stoff für ein Kleid. Ja, aber habt ihr mich denn aus meiner Hütte nur meinetwegen herausgeholt? Und habt ihr mir die Geschenke nur aus christlicher Nächstenliebe gemacht? Ach, geht zum Teufel mit eurer Dankbarkeit, Herr und Frau Rubesch. Ihr habt heute nicht die Menge in der Jesseniusgasse gesehen, und ihr wißt nicht, was sie mir dort gegeben haben. Ihr werdet das nie begreifen, daß die Masse mir Toni geschenkt hat, daß sie es war, die mir die Wohnung gab, daß alles von ihr kommt, was ich besitze. Ich habe nicht einmal euer widerwärtiges »Danke schön« dafür gesagt, das ihr von mir für jeden Topf Kaffee verlangt. Wißt ihr, daß ich in diesem Augenblick vor Liebe und Dankbarkeit am ganzen Körper zittere, daß mir zum Weinen und zum Lachen ist? Wenn ich jemandem »Danke schön« sagen wollte, nicht euer höfliches »Danke schön«, nein, das meine, ich würde keinen finden, der das von mir annähme. Das waren nicht Genossen, Männer und Frauen, Mädchen und Knaben, Genossen mit Namen und Gesichtern, das war das Proletariat. Das war ich, ich, das dumme Dienstmädchen aus dem ersten Stock mit roten Haaren und blauen Augen, die noch ein bißchen erschreckt sind. Ich mit meinem blauen Kattunkleid und meinen Pantoffeln. Ich wuchs millionenfach über die Fabrikschlote, über die Antennen der Radiotelegraphen, über die Mastbäume der Dampfer und die Wolkenkratzer der ganzen Welt. Was geht ihr mich an, ihr, die Architekten Rubesch, ich gehe zu den Meinen. Was kümmern mich eure Sorgen, eure Schmerzen, euer Zorn, eure Kinder. Ich gehöre nicht hierher.
Als Anna sah, daß die Herrschaften im Schlafzimmer das Licht ausmachten, schlich sie über den Flur zum dritten Stock hinauf. Sie mußte Marie von ihrem Glück erzählen. Sie klopfte an das vergitterte Fensterchen. Marie führte sie in ihre Kammer. Als sie ihr vom heutigen Tage erzählte, küßte sie Marie ab, war beglückt vor Freude und weinte auch ein paar Tränen. Marie mußte alles wissen von A bis Z, und weil ihre Herrschaft im Theater war und die Kinder schliefen, zog sie schnell irgend etwas an, machte in der Küche Licht und nahm Anna mit. Dort an der Ofenbank mußte Anna von Anfang an und mit allen Einzelheiten alles erzählen, und als es nichts mehr, aber auch rein nichts mehr zu erzählen gab, bat Anna ihre Kameradin um eine Postkarte. Sie hatte das Bedürfnis, noch jemandem von ihrem Glück zu erzählen. Sie erhielt eine herrliche Ansichtskarte und schrieb mit ihrer großen Kinderhandschrift:
»Liebe Eltern! Ich grüße Euch herzlich. Ich teile Euch mit, daß ich heiraten werde, denn ich habe eine Wohnung. Mein Liebster heißt Toni, und wir haben uns sehr lieb. Er ist Gießer bei Kolben, das ist eine gute Stellung. Ich werde Krousky heißen. Schreibt mir an die Adresse: Anna Krousky, Jesseniusgasse Nr …
Die Nummer wußte Anna nicht und sie mußte auf der Karte einen Zwischenraum lassen. Weil sie mit zu großer Schrift begonnen hatte, blieb ihr jetzt kein Raum mehr, und sie drückte kleine Buchstaben in einige enge Zeilen:
»Ich grüße alle Schwestern herzlich. Sie sollen mich doch in Prag besuchen. Wenn es Toni und mir gut geht, schicke ich ihnen Geld für die Rei…«
Die Worte »für die Reise« fanden keinen Platz mehr, das »Rei…« lag wie ein zerdrückter Floh in der Ecke der Karte.