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Ein großer Kampf bereitete sich vor. Der Abgeordnete Jandak war es, der als erster die Massen aufrief. Er scheute sich nicht, die Parole in die Welt zu schreien, welche die anderen sich erst zuzuflüstern begannen: »Eine neue Partei, die das Proletariat in die Revolution führt! Weg mit der überlebten alten Partei!« Das mittelböhmische Kohlenrevier wurde gewonnen. Der Kampf um die Fabriken der Hauptstadt endete siegreich. Jetzt ging es um die Bergleute und Metallarbeiter des Ostrauer Gebietes, um die Weber, Spinner und Holzarbeiter, um die Eisenbahnarbeiter, um die Arbeiter der Pilsener Waffenfabrik. Jandak führte. Er war immer informiert. Er wußte in jeder Lage Rat. Er war immer bereit, die Argumente seines Gegners zu zerpflücken. Er war scharf wie ein Messer, tapfer wie ein Stier und beweglich wie eine Forelle. Es gab keinen Tag, an dem er nicht in einer Arbeiterversammlung gesprochen hätte, keine Woche, wo nicht im »Volksrecht« einer seiner Artikel erschienen wäre, die vor Witz sprühten und sich mit einem Satz des zu behandelnden Stoffes bemächtigten. Jandak war der populärste Name der Zeit. Man nannte ihn in allen Fabriken und Arbeiterversammlungen. Tausende von Hoffnungen knüpften sich an ihn, und Hunderte harter Hände klatschten Jandak entgegen, wenn er, immer ein bißchen vorgeneigt und die Stirn zum Angriff vorbereitet, die Tribüne bestieg. Die Herrscher der Partei entfesselten eine wilde Zeitungshetze gegen ihn. In den Aufsätzen kam alles vor: Judengeld, Verrat an die Hohenzollern, pathologische Neigungen, die Schuld am Tode von Frontsoldaten, auch die Seidenkleider seiner Frau und Lackschuhe seiner Tochter, um einige Brillanten, goldene Ketten und ein Automobil vermehrt. Abgeordneter Jandak war ein schöner, fünfundvierzigjähriger Mann mit wundervoll vorgewölbter Stirn, sinnlichem Munde und mächtigem Kinn, eine interessante Mischung zwischen Muskel-, Gehirn- und Lebemenschen. Ein seltsames Gemisch von proletarischer Zähigkeit, intellektueller Schärfe und – Raubtier. »Abgeordneter Jandak«, das war das Schlagwort des Tages.
Toni hatte einst dem jungen Jandak unter dem Vorstadtviadukt gesagt:
»Dein Vater wird nicht mit uns gehen.«
Das war der proletarische Verstand im Arbeiter, der ihn so sprechen ließ. Aber auch dieser war nicht unfehlbar. Toni hatte seit dieser Zeit oft Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß der Vater und Gatte eleganter Frauen ein guter Führer der revolutionären Arbeiter sein konnte. Das Wort »Verzeih« hatte in Tonis Wörterschatz keinen Platz. Niemand hätte es je von ihm hören können. Aber die Unterredung unter dem Viadukt tat ihm leid, und er verzieh sie sich nicht.
Auf einer Versammlung im Volkshaus, in einer begeisterten Versammlung zeigte sich der Sieg der linken Richtung in der Arbeiterschaft deutlich. Jandak schritt nach Beendigung seiner Rede unter dem Beifallsbrausen der Anwesenden von der Treppe der Bühne herunter und setzte sich an den Tisch von Toni und Anna. Damals blickte ihn Toni lange und scharf an. Er kämpfte in seinem Innern einen heftigen Kampf. Dann sagte er zu dem Abgeordneten mit finsterer Miene:
»Ich habe dir lange nicht getraut, Jandak, weil ich deine Frau in Seidenkleidern gesehen habe und deine Tochter Lackschuhe trägt. Aber jetzt glaube ich dir.«
Dies war für Toni sehr viel. Beide Männer erröteten bei diesen Worten. Auch Anna errötete.
»Na, laß man«, sagte Jandak überrascht. »Man muß sich erst kennenlernen, bevor man miteinander auf Tod und Leben geht.«
Dieser Tag wurde für Toni auch anderer Dinge wegen unvergeßlich. Als er und Anna gegen 10 Uhr von der Versammlung zurückkehrten, stand Kerekes Sandor unter der Straßenlaterne in der Jesseniusgasse.
»Ich hätte gerne mit dir gesprochen«, sagte er zu Toni, und Anna bemerkte, daß seine ausgetrocknete Stimme sehr erregt klang. Sie beunruhigte sich deswegen. Sie führten ihn hinauf. Anna brühte in der Küche Kaffee auf, und die Männer setzten sich in der Stube hin.
»Sind wir allein?« fragte Kerekes.
Toni bejahte und schloß die Türe, die in die Küche führte.
»Graf Belaffi Imre ist in Prag!«
Kerekes Sandor war blasser als je. Seine Wangen machten den Eindruck von altem Papier.
»Wer ist das?«
»Erinnerst du dich nicht? Mein Peiniger im Kerker. Der Honved-Oberleutnant Graf Belaffi Imre. Er wohnt im Hotel ›Blauer Stern‹, Zimmer sechzehn. Ich bin ihm gefolgt. Niemand hat mich bemerkt. Er hat mich nicht erkannt.«
»Was will er hier?«
»Er will den Terror gegen die kommunistische Bewegung organisieren und sie im Keime ersticken. Dies für den Anfang. Später will er die magyarischen Flüchtlinge ausfindig machen und sie von der hiesigen Regierung für die ungarischen Galgen anfordern. Er ist Mitglied des internationalen Verbandes zur Bekämpfung des Kommunismus.«
Auf der Pergamenthaut bildeten sich rote Flecken.
»Weißt du das sicher? Oder vermutest du es nur?«
»Ich habe keine Beweise, aber die ganze Sache ist sonnenklar.«
Toni dachte nach.
»Man muß die Partei benachrichtigen.«
Kerekes Sandor winkte ab.
»Die Partei?«
»Die Linke!«
Kerekes Sandor winkte nochmals müde mit der Hand.
»Ich werde das selbst besorgen.«
»Ich erschlage ihn.«
Toni antwortete nicht.
»Das wird die Krönung meines Lebens sein. Belaffi Imre ist eine Bestie, und der revolutionären Bewegung entsteht unwiederbringlicher Schaden, falls er am Leben bleibt. Ich habe nur noch Wochen zu leben und werde die Revolution nicht mehr erleben. So werde ich den Genossen meinen Dank abstatten für die Aufnahme, die sie mir bereitet haben, und meinen ungarischen Freunden einen Dienst erweisen.«
Anna brachte zwei Tassen Kaffee. Sie blickte ihren Mann und den Gast an. Ihre mütterlichen Triebe erwachten und erkannten augenblicklich die Gefahr. Ihr Herz zog sich zusammen. Was geschieht? In ihrem Leib machte sich das Kind mit einem energischen Ruck bemerkbar. Die Männer verstummten und sie blieb stehen, weil sie sich nicht entschließen konnte, wegzugehen.
»Geh, Anna, wir haben etwas zu besprechen.«
Sie ging.
»Wir müssen die Partei verständigen«, sagte Toni nochmals.
»Hast du persönliche Bedenken gegen den individuellen Terror?«
»Nein, wenn er organisiert und revolutionsförderlich ist, dann nicht! Es kann aber doch nicht jeder von uns tun, was ihm einfällt. Die revolutionäre Notwendigkeit deiner Tat ohne Kenntnis der allgemeinen Situation können wir nicht selbst beurteilen.«
Kerekes lachte bitter.
»Merkwürdig, wie die Genossen nicht erkennen wollen, was Konterrevolution ist und wie sich die Arbeiterschaft eines jeden Landes erst davon überzeugen muß, bevor sie sie erkennt. Wem in der Partei willst du es mitteilen? Der Abgeordnetenfraktion, dem Sekretariat? Laß es sein, du würdest die Sache unnötig komplizieren und der Polizei die Suche erleichtern. Belaffi muß sterben. Er ist der gefährlichste Feind. Falls er am Leben bleibt, kostet das vielen Genossen das Leben.«
»Horthy schickt zehn neue, wenn du ihn erschlägst.«
»Keiner von ihnen wird ein Belaffi sein. Ihr kennt ihn nicht. Ich kenne ihn.«
So verabschiedete er sich. In der Nacht, als Anna sich neben Toni legte, fragte sie unruhigen Herzens, tat aber doch so, als ob dies eine ganz gewöhnliche Frage wäre:
»Was wollte er denn?«
»Frag nicht«, sagte Toni, und seine Stimme war ernst. Das Herz schlug ihr, und wieder machte sich das Kind durch zwei Bewegungen bemerkbar. Es fiel ihr ein, daß auch das Kind sich gegen die Gefahr wehrte, die auch seine Gefahr war. Es kostete sie Anstrengung, ein Weinen zu unterdrücken. Morgens erst schlief Toni mit der Überzeugung ein, daß wirklich niemand da sei, mit dem man sich beraten könnte. Mag er ihn drum erschlagen.
Frühmorgens, als Toni sich ankleidete und Anna Milch holte, kam Kerekes wieder.
»Diese Kleider habe ich von einem ungarischen Studenten und Emigranten bekommen. Ich sehe darin aus wie ein heruntergekommener Intelligenzler und das erweckt im Hotel Mißtrauen. Borg mir deine Arbeiterkleidung.«
Toni gab sie ihm.
»Gehst du?« fragte er.
»Ja.«
»Gleich?«
»Ja.«
Tonis Herz klopfte. Er wollte den Genossen auf den Flur begleiten.
»Komm nicht mit, es darf uns niemand sehen. Wenn sie mich fangen, will ich einen Prozeß gegen die magyarische Konterrevolution inszenieren, daß der Welt der Atem stockt. Diese Kleider habe ich dir heut morgen gestohlen, als niemand von euch zu Hause war. Ich habe den Augenblick abgewartet, als deine Frau Milch holen gegangen ist und du austreten warst. Merk dir das und vergiß es nicht. Wenn sie mich nicht fangen, werf ich dir heute die Kleider durch das Flurfenster in die Küche.«
Dann ging Kerekes Sandor, den Grafen Belaffi umzubringen.
Im Alteisenlager, wo er für gewöhnlich übernachtete, kleidete er sich um, und in das Futter von Tonis Rock nähte er eine Schlaufe ein, um eine Axt mit kurzem Griff einhängen zu können. Er ging in die Stadt und kam kurz nach 7 Uhr in das Hotel »Blauer Stern«. Der Portier sah ihn die Treppe hinaufsteigen, blickte sich nach ihm um, aber schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Kerekes kam bis zum ersten Stock. Er klopfte an die Tür von Nr. 16. Niemand antwortete. Er klopfte nochmals.
»Wer ist da?« klang es verschlafen in deutscher Sprache.
»Öffnen Sie«, sagte Kerekes ungarisch. Er hörte Schritte, die sich der Tür näherten.
»Wer ist da?« klang es nochmals deutsch.
»Öffnen Sie, Graf, ich habe wichtige Nachrichten«, antwortete Kerekes ungarisch. Die Tür öffnete sich. Graf Belaffi Imre stand im Pyjama und Pantoffeln vor ihm.
Kerekes zog die Axt unter dem Rock hervor und schlug ihn nieder.
Die Mittagszeitungen brachten bereits die Nachricht von dem Verbrechen. Die Händlersfrau Endler und die Wachtmeistersfrau Klaban fragten Anna auf dem Flur, als sie Wasser holen ging:
»Haben Sie schon von dem Mord im ›Blauen Stern‹ gehört?«
Frau Endler, die im Begriff war, ins Theater zu gehen, richtete sich das Strumpfband und sagte:
»Sie schreiben, daß er hierher gekommen ist, um ein Ding zu drehen. Es handelt sich sicher um Falschgeld.«
»Nein«, sagte die Wachtmeistersfrau mit Bestimmtheit. »Das ist sicher Spionage. Sie können mir das glauben.«
Toni las die »Nationalpolitik« in der Mittagspause, als er in der Kantine saß. Das Herz zog sich ihm zusammen. Jetzt war es 4 Uhr. Das Gedröhn der Arbeit ging weiter. Es kostete Toni viel Anstrengung, seine Bewegungen so zu kontrollieren, daß keinem der Kollegen auffiel, wie erregt er war. Die Nachricht des Mittagsblattes war sehr merkwürdig.
Mord im Hotel »Blauer Stern«
Vor Schluß des Blattes erhalten wir folgende Meldung: Heute morgen wurde im Hotel »Blauer Stern«, auf dem Graben, ein furchtbarer Mord verübt. Der 32jährige Industrielle Gustav Breuer aus Hannover wurde auf die schrecklichste Weise umgebracht. Als das Zimmermädchen nach 9 Uhr morgens, nachdem sie vergeblich geklopft hatte, in sein Zimmer trat, fand sie ihn auf dem Boden inmitten einer Blutlache liegen. Das Mordinstrument, eine kleine Axt mit kurzem Stiel, lag neben ihm. Der Kopf Gustav Breuers ist bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Das Gehirn ist ausgelaufen. Der Mord geschah nach dem Gutachten der Ärzte gegen ½8 Uhr morgens. Sein Motiv ist rätselhaft. Alle Wertgegenstände Breuers blieben unberührt. Trotzdem ist die Polizei dem Mörder oder den Mördern auf der Spur. Ihre Nachforschung wird durch die Aussage des Hotelportiers Josef Müller erleichtert, der den Mörder gesehen hat und ihn genau beschreibt. Beim Durchsuchen des Zimmers wurden Beweise dafür gefunden, daß Breuer aus unlauteren Motiven eingereist war. Vielleicht ergibt sich hier eine Spur zur Aufklärung des rätselhaften Mordes.«
Es war nicht sehr viel, was die Mittagsausgabe der »Nationalpolitik« berichtete. Zum Nachdenken allerdings war es genug. Gustav Breuer, Kaufmann aus Hannover – welcher Unsinn. Wie war das zu erklären? Hat sich Kerekes geirrt und jemand anders umgebracht? War das doppelte Opfer überflüssig, und was noch mehr hieß, dumm und unsinnig? Oder war der Name Gustav Breuer von Belaffi Imre nur angenommen worden? Der Hotelportier hatte den Genossen Kerekes gesehen und genau beschrieben. Die Polizei ist dem Genossen Kerekes auf der Spur. Toni dachte an seinen Arbeitsanzug und an Anna.
»Du bist heute so blaß, Krousky, fehlt dir was?«
Der alte Blaschek, ein Hilfsarbeiter, hatte dies gesagt, als er ihm eine Kanne Wasser zum Anfeuchten des Sandes mitgebracht hatte. Toni antwortete nicht.
Die Erlösung nahte. In der Gießerei nebenan mußten nur noch die Siemens-Öfen geöffnet werden, dann würde die Sirene heulen. Auch dieser Augenblick kam. Toni sprang zu seinem Kleiderschrank. Er zog schnell den Rock über das blaue Hemd, wusch sich gar nicht. Er eilte aus der Fabrik, um von keinem aufgehalten zu werden. Er lief zum Zeitungsstand und kaufte alle Abendblätter. Im Gehen las er:
»Der Mörder aus dem ›Blauen Stern‹ verhaftet!«
Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Mörder war verhaftet. Toni durchflog die Spalten des Blattes, suchte den Namen Kerekes Sandor. »Die Verhaftung des Mörders.« So lautete der Untertitel. Toni verschlang den Artikel:
Milan Iwanowitsch … Hotelportier gibt an … Oberkellner und Bardamen … den Mörder verhaften … Polizeikommissar Bubnik … den 29jährigen Iwanowitsch.
Tonis Augen durchflogen das Blatt mit fieberhafter Schnelligkeit. »Das Verhör des Mörders«, las er in Fettdruck.
»… Iwanowitsch behauptet, Gustav Breuer nie gesehen und nie von ihm gehört … in der Wohnung einer unbekannten Dirne … das Gepäck des Iwanowitsch …«
Nein, das ist es nicht, was er sucht.
»… Milan Iwanowitsch mit neuen Zeugen …«
Zum Teufel, was mischt sich denn immer ein gewisser Milan Iwanowitsch hinein. Er las bis zu Ende …
»beharrt darauf … In der Untersuchung wird fortgeschritten. Die genauen Berichte von dieser sensationellen und in der Geschichte der Kriminalistik einzig dastehenden Mordtat bringen wir in der Morgenausgabe unseres Blattes.«
Genug. Genug.
Der Name Kerekes war nicht zu finden. Er kehrte nochmals zum Untertitel »Die Verhaftung des Mörders« zurück und las wieder:
»Der verhaftete Mörder entpuppte sich als der 29jährige Milan Iwanowitsch aus Agram, welcher der Polizei gut bekannt und ein internationaler, vielfach vorbestrafter Betrüger ist.«
Was ist das? Milan Iwanowitsch? Er stürzte sich nochmals auf den Satz. Es war kein Zweifel. Hier stand Milan Iwanowitsch. Toni blieb mitten auf der Straße stehen und richtete seine Augen wieder ins Leere. Dann stopfte er mit einer ruhigen Bewegung die Abendblätter in die Tasche und eilte weiter. In einem Park setzte er sich und las nochmals. Zuerst die Verhaftung des Mörders. Es war so, wie er auf der Straße gelesen hatte. Dann las er alles der Reihe nach. Zuerst wiederholte sich die Nachricht aus dem Mittagsblatt. Das vergebliche Klopfen des Zimmermädchens, ihr Eintritt in das Zimmer, der furchtbare, die Nerven erschütternde Anblick. Die Verständigung der Polizeikommission, das ärztliche Gutachten, über zwanzig furchtbare Schläge mit der Axt, deren jeder einzelne tödlich war, und dann:
»In der Höhle des internationalen Räubers.«
Schon die oberflächliche Untersuchung im Zimmer des Gustav Breuer brachte eine sensationelle Überraschung. Das erste, was den Detektiven in die Hände fiel, war ein Handkoffer, in dem unter anderen verdächtigen Dingen ein Paket ungestempelter Banknoten im Gesamtwert von etwa 1500 Mark gefunden wurde, die der Serie nach zu schließen aus Ungarn oder Österreich hereingeschleppt worden waren. Es zeigte sich bald, daß sich die Polizei im Zimmer eines höchst gefährlichen internationalen Taschendiebes, Betrügers und Mädchenhändlers befand. Das Zimmer Nr. 16 im Hotel zum »Blauen Stern« war ein Räuberlager. Man fand hier verschiedene fremde Geldsorten im Werte von 23 000 Mark, fünf goldene Herren- und zwei Damenuhren, darunter einige sehr wertvolle, zwei goldene Zigarettenetuis, fünf Brillanten von bedeutendem Wert, eine silberne Damenhandtasche. Diese Gegenstände rührten unzweifelhaft von Taschendiebstählen her. Der Besitzer einer Uhr wurde bereits festgestellt. Die Bestohlenen werden aufgefordert, sich auf dem Polizeipräsidium zu melden. Außerdem fand man in Breuers Zimmer eine ganze Kollektion unanständiger Photographien, einige von ihnen waren von einer geradezu provozierenden Obszönität. Eine ausgedehnte Korrespondenz zeugte davon, daß Breuer ein Mädchenhändler großen Stils war. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Ermordete einer der gefährlichsten internationalen Verbrecher war. Überraschend ist, daß die Papiere des Ermordeten in vollkommener Ordnung zu sein schienen, und daß seine Photographie im Verbrecheralbum nicht vorhanden war. Die Polizei ist mit den Behörden von Hannover bereits in Verbindung getreten.
Die Verhaftung des Mörders
»Wie wir bereits berichteten, wurde als Mörder oder als einer der Mörder ein Mann namens Milan Iwanowitsch bereits in den Vormittagsstunden verhaftet. Das Hauptverdienst hieran gebührt dem Hotelportier des ›Blauen Stern‹, Josef Müller. Er war nach der Zimmerfrau der erste Zeuge, der nach der Feststellung des Mordes von der Untersuchungskommission vernommen wurde. Er gab folgendes an:
»Sieben Minuten nach halb acht sah ich, wie vom ersten Stockwerk ein Mann über die Stiege herunterkam, den ich vor fünf Minuten hatte hinaufgehen sehen. Er trug einen grauen Sportanzug, braune Gamaschen und eine karierte Mütze. Er war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen schwarzen Backenbart und schwarze Augen. Er war eine typisch semitische Erscheinung (Milan Iwanowitsch ist Jugoslave! D. Red.) Ich prägte mir die Zeit genau ein, denn der Mann war mir verdächtig. Seine Wangen waren aschfahl. Seine Augen spiegelten Entsetzen. Sein Gang war eilig. Es schien, daß er fliehen wollte. Ich grüßte ihn, dies schien ihn zu überraschen, und ich sah, daß es ihm Überwindung kostete, mir höflich zu danken. Er grüßte mit einem unnatürlichen Lachen und führte nur die Hand zur Mütze. Der Mann war mir bekannt. Am Donnerstag der vergangenen Woche, als ich meinen Ausgang hatte, besuchte ich mit meinem Freund Joseph Koudelka, Oberkellner im Ratskeller, und mit den Damen Paula Schütz und Josepha Mala den ›Sektpavillon‹. Wir kamen gegen drei Uhr morgens hin. In einer Loge saß eine Gesellschaft von vier Herren und einigen Halbweltdamen. Die Gesellschaft fiel durch ihre laute Unterhaltung und durch die große Zeche auf. Sie tranken ›Pommery‹ und bewirteten die Zigeunerkapelle, die sich zum Ärger der anderen Gäste nur ihnen widmete. Ihre Zeche muß sehr hoch gewesen sein. Meiner Schätzung nach an die tausend Mark. Der ermordete Gustav Breuer befand sich in jener Gesellschaft. Er wohnte schon damals in unserem Hotel, und auch der Herr, den ich heute morgen gesehen habe, war damals im ›Sektpavillon‹ in der gleichen Gesellschaft. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. In der Zeit gegen halb acht Uhr morgens ist keiner der Gäste zum ersten Stock hinaufgegangen, noch aus dem ersten Stock heruntergekommen. Nur jener vorerwähnte Herr. Es gingen nur Hotelpersonal und Arbeiter, die auf dem Dachboden arbeiteten, die Treppe hinauf und hinunter. Ich kann nicht genau sagen, wann der Herr, dessen semitisches Aussehen mir besonders auffiel, zum ersten Stockwerk hinaufging, denn ich habe in dem Augenblick, als ich ihn sah, zwei Damen Auskunft erteilt und deshalb nicht auf die Uhr gesehen. Meiner Schätzung nach kann er vier bis fünf Minuten oben gewesen sein. Ich beharre nicht auf dieser Zeitangabe von vier bis fünf Minuten, aber ich behaupte, daß er keineswegs länger als eine Viertelstunde oben gewesen ist.«
Nach dieser überaus wertvollen Information trat sofort der ganze Polizeiapparat in Tätigkeit. Allen Polizeirevieren und den Gendarmeriestationen der Umgebung wurde eine genaue Beschreibung des Mörders mitgeteilt, so wie sie Herr Müller angegeben hatte. Die Hauptbahnhöfe standen unter erhöhter Bewachung. Um 11 Uhr kam auch tatsächlich aus Radotin die Nachricht, daß es der Gendarmerie gelungen war, den Mörder auf der Bahnstation zu verhaften. Er hatte sich eine Fahrkarte nach Marienbad gekauft und auf den Vormittagszug gewartet. Der Polizeikommissar Bubnik fuhr sofort nach Radotin und ließ den Mörder in die Hauptstadt überführen, wo er gleich einem eingehenden Verhör unterzogen wurde. Der Verhaftete wurde als der neunundzwanzigjährige Milan Iwanowitsch identifiziert, der bei der Polizei gut bekannt und ein vielfach vorbestrafter internationaler Hochstapler ist.«
Letzte Nachrichten
»Kurz vor Schluß des Blattes wird uns gemeldet: Heute nachmittag wurde der verhaftete Milan Iwanowitsch mit einigen Zeugen konfrontiert. Der Portier des Hotels ›Blauer Stern‹ erkannte ihn mit aller Bestimmtheit. Er wurde außerdem vom Kellner Koudelka, von der Privaten Paula Schütz und von der Prostituierten Josepha Mala sowie vom Oberkellner des ›Sektpavillons‹, Nowak, als Teilnehmer jener Orgie erkannt, die sich Donnerstag im ›Sektpavillon‹ abgespielt hatte. Alle Zeugen erklärten Irrtum für ausgeschlossen. Iwanowitsch beharrte trotz dieser vernichtenden Beweise bei seinem Leugnen. In der Untersuchung wird fortgefahren. Wir bringen im Morgenblatt genaue Nachrichten von diesem sensationellen und in der Geschichte der Kriminalistik vereinzelt dastehenden Mord.«
Toni war von dieser Nachricht ganz verwirrt. Er saß auf einer Bank, die Arme hingen ihm am Körper herab, die Augen blickten starr ins Leere. Milan Iwanowitsch, Gustav Breuer? Was war geschehen, und was geht vor? Kein Wort von dem Genossen Kerekes, kein Wort vom Grafen Belaffi? Was geht vor? Er las noch einige Abendblätter, überall das gleiche. Ihm schwindelte. Dann erhob er sich, langsam, wie von schwerer Arbeit ermüdet, und ging zur Straßenbahnstation. Die Abenddämmerung senkte sich herab. Er fuhr in die Stadt an die Straßenecke, wo Kerekes Sandor Zeitungen zu verkaufen pflegte. Kerekes war nicht zu sehen. Toni wußte nicht, wo er wohnte. Toni kam nach Hause. Anna begrüßte ihn vom Plättbrett aus freundlich.
»Du warst schon einmal zu Hause, nicht?«
»Nein, nein.«
»Wer hat denn dann deinen anderen Anzug aus dem Schrank genommen?«
Sie blickte ihn fragend an. Toni errötete.
»Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen. Ich war doch beinahe den ganzen Nachmittag daheim, und jetzt fand ich ihn auf dem Küchentisch. Ich habe zuerst an Diebe gedacht. Aber es fehlt nichts.«
»Laß das sein.«
Anna wunderte sich aufs neue. Auch sie errötete, weil er ihren freundschaftlichen Blick zurückwies.
Toni zwang sich, die Kartoffelsuppe herunterzulöffeln. Er hätte sich gerne überwunden, aber das Essen blieb ihm im Halse stecken. Er legte den Löffel auf den Tisch.
»Die Suppe ist gut. Ärgere dich nicht.«
Anna blickte ihn besorgt an.
»Fehlt dir irgend etwas?«
»Nein«, sagte er abweisend. Er setzte sich an den Tisch, um Schreibarbeiten für seine Organisation zu verrichten, und es gelang ihm, sich in die Arbeit zu vertiefen. Dann wusch er sich und ging schlafen. Als Anna das Bett machte, fand sie auf der Bettdecke die Abendausgabe vom »Volksrecht«. Das Blatt war auf der Seite aufgeschlagen, auf der ein Artikel über den Mord im Hotel »Blauer Stern« mit einer auffälligen Überschrift stand. Toni erschrak. Wie konnte er glauben, oder besser gesagt, nicht daran denken, daß das Parteiblatt auch Nachrichten über den Fall bringen würde, und was konnte ihn glauben machen, daß Anna nichts erfahren würde. Tonis Verlegenheit war Anna nicht entgangen. Als sie im Bett eine Zeitlang schweigend nebeneinander gelegen hatten, streichelte Anna ihrem Mann mütterlich die Haare und küßte ihn auf die Stirn. Sie hatte noch keinen Verdacht, nur eine große Sorge. Toni rührte sich nicht.
Er schlief auch dann nicht ein, als sie schon lange neben ihm ruhig atmete. Ein wildes Karussell von Menschen und Geschehnissen drehte sich in seinem Hirn. Der Kaufmann aus Hannover, Milan Iwanowitsch, Kerekes, der Hotelportier, die Kellner, Dirnen und die Zigeunermusik. Er sank nur für Minuten in bleiernen Schlaf, aus dem er immer wieder auffuhr. Des Morgens lag er mit geschlossenen Augen und tat so, als ob er schliefe. Er wartete auf den Augenblick, wo Anna Milch holen ging. Dann sprang er auf, zog nur das Notwendigste an und lief zum Kiosk, um eine Zeitung zu kaufen. Im Hinaufgehen und später am Kaffeetisch las er folgendes:
»Sensationelle Wendung in der Mordaffäre«
Teilgeständnis des Mörders. – Der ermordete Breuer ist mit dem Grafen Belaffi Imre identisch. – Eine Bande internationaler Verbrecher und Mädchenhändler verhaftet.
»Gestern abend ergab sich in der Mordaffäre Hotel ›Blauer Stern‹ eine sensationelle Wendung. Der verhaftete Iwanowitsch legte ein Teilgeständnis ab. Er bestreitet zwar jede Beteiligung an der Mordtat, aber es ist sicher, und die Polizei zweifelt auch nicht daran, daß er der tatsächliche Mörder ist. Auf Grund der Aussagen des Iwanowitsch wurden gestern eine Reihe von Verhaftungen vorgenommen. Ein großer Teil einer internationalen Bande von Räubern, Taschendieben, Mädchenhändlern und Falschspielern ist hinter Schloß und Riegel gebracht. Dem Rest der Bande wird nachgeforscht. Die Aussagen des Iwanowitsch haben auch das Geheimnis um die Person des Ermordeten gelüftet. Es ist der Honved-Offizier Graf Emmerich Belaffi (ungarisch Belaffi Imre). Er entstammt einer bekannten ungarischen Adelsfamilie.
Die Mitglieder der Bande haben falsche Namen und Papiere benutzt, auch der Name Gustav Breuer war falsch. Auf der Polizei haben sich schon eine Reihe Geschädigter gemeldet. Auch das Gepäck des Mörders mit kompromittierendem Inhalt wurde gefunden. Der Portier des ›Hotel garni‹ hat es zur Polizei gebracht. Er las in der Zeitung die Beschreibung des Mörders und erklärte, daß dies der gleiche Mann war, der in dem Hotel unter dem Namen Haniewski wohnte und gestern morgen bei ihm sein Gepäck deponiert hatte. Von dem Gewicht dieser neuen Beweismittel erdrückt, hat der Verhaftete wenigstens ein Teilgeständnis abgelegt.
Der Bericht des Mörders
Iwanowitsch will der Polizei folgendes Märchen glaubhaft machen: Gestern morgen wollte er dem vermeintlichen Breuer (Emmerich Belaffi) den Ertrag eines Taschendiebstahls übergeben. Es war dies eine goldene Uhr und eine Brieftasche mit dem Inhalt von 700 Mark. Auch wollte er ihm eine Nachricht von einer gewissen »Dame« überbringen, die sich mit Mädchenhandel befaßt. Die Mitglieder der Bande hatten zwar das strikte Verbot, Belaffi im Hotel zu besuchen, aber Iwanowitsch wagte es trotzdem, weil er eine Mitteilung erhalten hatte, die eine sofortige Unterredung mit dem Grafen notwendig machte. Als Iwanowitsch das Zimmer betrat, fand er den Grafen tot, inmitten einer Blutlache liegend. Er wollte zuerst die Hotelleitung verständigen, aber er besann sich beizeiten, in welche Gefahr er dadurch sich und die anderen Mitglieder der Bande bringen würde. Er versuchte deshalb, so schnell und unauffällig als möglich zu verschwinden.
Abgesehen von der geringen Wahrscheinlichkeit dieser Erzählung steht ihr die Aussage des Hotelportiers Müller entgegen, der in der Zeit, als die Tat begangen wurde, außer dem Hotelpersonal und den Arbeitern, die auf dem Dachboden arbeiteten, und allerdings auch außer Iwanowitsch niemanden die Treppe hinauf- oder heruntergehen sah. Iwanowitsch wurde dem gesamten Hotelpersonal und neun Arbeitern gegenübergestellt und gefragt, ob sich nicht unter ihnen der Mörder befände. Nach langem Zögern zeigte Iwanowitsch auf den 54jährigen Dachdecker F. B., mit der Angabe, daß dieser vielleicht der Mörder sein könnte. F. B. gab zu, daß er im Laufe des Morgens einige Male vom Dachboden zum Erdgeschoß heruntergegangen sei. Er war auch vom Portier Müller gesehen worden, aber er verrichtete die Wege lediglich auf Anweisung des Meisters und hielt sich nicht eine Minute länger als notwendig auf. Er konnte sich nicht erinnern, ob er bei seinen Gängen jemandem begegnet war. Die Richtigkeit seiner Angaben wurde vom Meister, den Dachdeckergehilfen und anderen Personen vollkommen bestätigt. F. B., ein anständiger und untadeliger Mann, ist über jeden Verdacht erhaben und wurde auch nicht in Untersuchungshaft genommen.
Ein feiner Edelmann
Iwanowitsch erzählte von dem ermordeten Grafen Emmerich Belaffi folgendes: Emmerich Belaffi entstammt einer angesehenen magyarischen Familie. Er war in Budapest wegen seines ausschweifenden Lebenswandels berüchtigt und hatte deswegen auch häufig Auseinandersetzungen mit seiner Familie. Im Kriege war er Honved-Offizier, während des kommunistischen Umsturzes floh er nach Rumänien. Unter Horthy trat er wieder in militärische Dienste. Iwanowitsch kannte ihn noch aus seiner aktiven Militärdienstzeit. Belaffi war ein genialer Falschspieler, und da auch Iwanowitsch dem Falschspiel huldigte, wurden sie bald Bundesgenossen. Im Herbst des vergangenen Jahres hatte die Militärverwaltung eine Unterschlagung entdeckt, die Belaffi begangen hatte und die gegen 10 000 Dollars betrug. Es kam zu keinem Prozeß, weil die Familie das defraudierte Geld ersetzte. Die Angelegenheit wurde totgeschwiegen. Belaffi mußte den Militärdienst und Ungarn verlassen. Er blieb in dieser Zeit mit Iwanowitsch in Verbindung. Sie reisten nach Warschau, lebten zum Teil vom Falschspiel, zum Teil vom Mädchenhandel. Im Laufe der Zeit lernten sie einige Leute gleicher Gesinnung kennen und gründeten eine Gesellschaft. Sie arbeiteten in Paris, Bukarest, Wien, Prag und den westböhmischen Bädern. Belaffi war der Organisator dieser Gesellschaft und ihr Bankier und genoß allgemeine Autorität.«
Als Toni bis hierher gelesen hatte, nahm er den Mund voll Speichel und spuckte in hohem Bogen aus. Seine Stirn verfinsterte sich.
»So eine Dummheit, eine solche Blödheit!«
In diesem Augenblick kehrte Anna vom Milcheinkauf zurück. Toni ging in der Stube auf und ab.
»So eine Schweinerei, eine solche Schweinerei, einen Menschen so zu überschätzen!«
»Was ist, Toni?« fragte sie, froh, daß er nunmehr zornig und nicht traurig war. Er antwortete nicht. Er frühstückte und ging zur Arbeit. Die Zeitung nahm er mit sich.
Gegen 7 Uhr vormittags kam die Zeitungsausträgerin mit dem »Volksrecht«. Anna räumte die Wohnung auf, machte ihren Morgenschwatz mit den Nachbarinnen und nahm dann die Zeitung zur Hand. Sie kam bis zu den Nachrichten vom Mord im Hotel »Blauer Stern«. Beim Namen Belaffi stockte sie. Gleichzeitig kam ihr der Name des Genossen Kerekes in Erinnerung. Ein wenig von jener vorgestrigen Beklommenheit legte sich wieder über sie. Die Lebensbeschreibung des Grafen Belaffi erklärte ihr alles. Auch das Rätsel um Tonis Arbeitskleidung. Seine Erregung und alles andere. Es war der längste Tag ihres Lebens. Toni, der Vater ihres Kindes, war in Gefahr. Sie lief in den beiden Käfigen ihrer Wohnung auf und ab. Immer wieder stieß sie gegen das Gitter. Alle ihre Versuche, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, waren vergeblich. Die Pergamenthaut des Genossen Kerekes und deren rote Flecken verfolgten sie. Seine glühenden und glänzenden Augen erschienen ihr immer wieder. Am schrecklichsten von allem war die Unsicherheit. Dieser Vormittag dauerte fünf Stunden. Auf dem Flur gingen die Nachbarinnen hin und her. Ihre Pantoffeln klapperten. Das Wasser zischte aus der Wasserleitung in die Töpfe. Die älteste Tochter des Kutscherer schrie und mahnte die weinenden Kinder zur Ruhe. Anna kamen diese Laute schärfer vor als sonst. Wird plötzlich mitten unter diesen Geräuschen das Klappern von festen Kommißschuhen zu hören sein? Wird nicht irgendeine harte Faust an ihre Tür klopfen? Sie wagte sich nicht zu den Nachbarinnen hinaus. Sicherlich spaziert die Wachtmeistersfrau Klaban in ihrem gestreiften Morgenrock herum und erzählt Neuigkeiten vom Mord. Oder die Frauen sprechen vom »Blauen Stern«. Möglicherweise erzählen sie auch:
»Warum hat sich denn heute vormittag Frau Krousky noch nicht gezeigt? Vielleicht ist es schon so weit. Wir wollen nachsehen.« – Anna fürchtete sich davor. Doch sie kamen nicht. Dann erlosch plötzlich der Lärm im Hause Jesseniusgasse. Anna bemerkte diese tödliche Stille heute zum erstenmal. Das Haus war beim Mittagessen. Auch Anna versuchte, auf dem Kohlenkübel sitzend, einige Löffel zu essen. Es gelang ihr nicht. Ein unendlicher Nachmittag erwartete sie. Sie kaufte sich nachmittags Zeitungen und war glücklich, als sie der Genossin Tinschmann begegnete und ihr sagen konnte, daß nichts los sei. In den Zeitungen war nichts Neues. Ein Verzeichnis der Verhafteten, eine Aufzählung des gefundenen Diebesgutes. Der Mörder leugnete weiter. Die Stunden schleppten sich hin. Noch sechs, noch fünf Stunden, jede dieser schwarzen Zahlen auf dem Zifferblatt des Weckers, die eine Stunde bedeutete, hatte zwölf schwarze Fünf-Minuten-Striche.
Toni kam erst spät gegen 10 Uhr abends zurück. Nach Arbeitsschluß war er die Ecken der Stadt und die Bahnhöfe abgelaufen, wo die Zeitungsverkäufer stehen, und hatte den Genossen Kerekes gesucht. Er fand ihn nicht. Dann hatte er eine Versammlung gehabt. Die erschöpften Nerven Annas erzitterten aufs neue. Toni bemerkte im Nachtdämmer ihre Erregung nicht. Er kam ruhig, umarmte und küßte sie und fragte freundschaftlich:
»Wie geht es dir, Anna, ist was Neues?«
Er machte Licht und aß mit gutem Appetit. Angesichts der Selbstverständlichkeit seiner Ruhe verlor Anna den Mut, die Frage zu stellen, die sie dreizehn Stunden gequält hatte. Dann setzte sich Toni an seine Arbeit, bei der er sich nicht gerne stören ließ. Anna sank der Mut vollends. Erst des Nachts, als sie nebeneinanderlagen, wagte sie es. Sie kämpfte mit sich und schreckte einige Male davor zurück. Aber dann setzte sie sich ein wenig auf, beugte sich über ihn und flüsterte:
»Du hast ihn nicht umgebracht, bestimmt nicht, Toni?«
Der Schrecken Tonis dauerte vielleicht zwei, vielleicht drei Sekunden; dann fuhr er sie an:
»Tut es dir vielleicht leid?«
Sie erschrak. Sie legte sich wieder zurück. Das Herz trommelte. Es war dunkel. Der Wecker tickte wild. Erst nach einer langen Zeit sagte Toni sanft:
»Ich habe ihn nicht umgebracht.« Das Herz beruhigte sich.
»Aber wenn ich ihn umgebracht hätte, hättest du aufgehört, mich zu lieben?«
Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. So blieben sie eine Weile liegen. Dann küßte sie ihn zart auf den Hals und flüsterte:
»Nein, aber ich glaube, daß ich mich ein wenig gefürchtet hätte. Aber es droht dir doch keine Gefahr?«
Sie fühlte, daß er den Kopf schüttelte.
Es war wieder still.
Nur der Wecker tickte. Aber viel langsamer und ruhiger als zuvor.
Zwei Augenpaare blickten wieder zur Decke hinauf.
»Eine solche Dummheit, Anna, solch ein Stück Mensch so zu überschätzen!«