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Im Hinterstübchen der Wirtschaft zum »Tannenzapfen« konferierten die Arbeiterdelegierten bei einem Glase Absinth. Der wie immer joviale Tournemarie erstattete Bericht über den Gang der Ereignisse, während der Lehrer Grangel ihm mit mürrischer Miene zuhörte.
»Es wird schwer halten, die Arbeiter von Lehrange aufzuwiegeln. Die Gründe, die wir den Vertretern des Arbeitersyndikats angegeben haben, sind zwar alle gebilligt worden, aber es gibt in Lehrange Leute, die seit drei Generationen für dieselbe Firma, am selben Platz, ja fast mit demselben Handwerkszeug arbeiten und die die Fesseln alter Gewohnheiten nicht leicht zerreißen werden. Sie sind gut bezahlt und verlangen sonst nichts. Kommt man aber auf die gemeinsamen Interessen des Proletariats zu reden, so widersprechen die Leute zwar nicht, allein man sieht ihnen an, daß sie denken: ›Was geht uns das an? Sollen wir uns um Leute kümmern, die sich nie um uns gekümmert haben, und zwar bloß um einer ziemlich unklaren Gefühlsduselei willen? Die Hauptsache ist, daß man zu leben hat, und wir haben zu leben. Was aber würde es uns helfen, wenn wir wegen einer Sache streikten, die, wie man uns sagt, das Wohl der ganzen Arbeiterschaft betreffe? Streiken sollen wir? Ja, und wie lange? Es soll nur niemand kommen und uns weismachen, wir könnten unsern Chef unterkriegen, ihn durch den Ausstand kirre machen. Das ist alles falsch. Lange bevor Herr Didelod ruiniert und die Werke von Lehrange zu Grunde gerichtet sind, werden wir alle verhungert sein. Mit andern Worten, der Kampf zwischen Lehrange und uns ist ungleich. Niemals werden wir Lehrange besiegen. Herrn Didelods Kasse ist unerschöpflich. Er ist ja steinreich. Und überdies braucht er die Arbeit nicht einmal einzustellen, denn wenn Herr Didelod morgen die Fabrik Lehrange schlösse, würde Steingel einfach seinen Betrieb verdoppeln, und wir hätten das Nachsehen. Hier einen Streik ins Werk zu setzen, wäre hirnverbrannt. Man müßte uns schon dazu zwingen, sonst fällt es uns nicht ein, die Werkstätten zu verlassen.‹ So denken die Leute in Lehrange. Und das darf uns gar nicht wundern. Immerhin aber ist der Einfluß unsrer Partei so stark, daß trotz allem ein Anfang gemacht worden ist. Zwei Öfen haben die Leute ausgehen lassen. Herr Didelod aber hat sich den Anschein gegeben, als schreibe er dieses Ausgehen dem Zufall zu, und weiter kein Aufhebens davon gemacht. O, der ist gar schlau. Die beiden Schürmeister haben ihre Stelle nicht eingebüßt. Wir müssen also von vorn anfangen.«
»Aber wie denn und in welcher Form?«
»Na, das Beste wäre ein Straßenkrawall, ein Zusammenstoß mit der Polizei und dem Militär. Dann würden sämtliche Arbeiter mittun. Der berüchtigte Ruf: ›Man mordet unsre Brüder!‹ verfehlt noch immer seine Wirkung nicht. Kein Volkshaufe widersteht ihm. Und ist die Bewegung erst im Gang, dann hemmt sie so leicht keiner mehr.«
»Sie muß unbedingt in Gang gebracht werden. Aber hier fängt eben die Schwierigkeit an. Ihr habt gesehen, daß Didelod von jener Bombe im Rathaus keine Notiz genommen hat. Weder eine Untersuchung, noch eine gerichtliche Klage ist erfolgt. Man hat die Losung ausgegeben, dieses Attentat der Unvorsichtigkeit eines Gassenjungen zuzuschreiben.«
»Man muß wohl die Präfektur oder das Gerichtsgebäude in die Luft sprengen, damit jene Leute den Ernst merken?«
»Nein, man muß sich etwas andres ausdenken,« bemerkte der Lehrer, der bis dahin nur zugehört hatte. »Praktischen Wert hätte ein solcher Gewaltstreich absolut nicht, solange die Arbeiter mit ihrem Lose zufrieden sind. Man muß also irgend einen Vorfall schaffen, der sich zuspitzen ließe und Anlaß zu einem Volksauflauf geben könnte.«
Er hielt inne, schaute Tournemarie mit herrischer Miene an und fuhr dann in schroffem Tone fort: »Ich bin entschlossen, mich von keinerlei persönlicher Rücksicht aufhalten zu lassen, wenn es die Revolution zu fördern gilt. Unsre kleinen Sonderinteressen müssen angesichts der großen Sache hintangesetzt und unsre persönlichen Gefühle unterdrückt werden. So will ich denn auch jetzt frei von der Leber weg reden. Tournemarie selbst kann uns nämlich den Zündstoff zu einem Vorfall liefern, der Feuer unter die Arbeiter bringt.«
Das sonst so heitere Gesicht des Kunstschreiners verfinsterte sich, und mit erwachender Besorgnis rief er: »Ich? Womit denn?«
»O, durch ein Mittel, das von deinem Willen ganz unabhängig ist. Der Zufall liefert es. Die Frage ist jetzt nur die, ob du bereit bist, es zu benützen.«
»Was ist es?«
»Wir kommen hier auf ein heikles Gebiet. Aber ich habe bereits erklärt, daß ich mich von keinerlei Rücksicht aufhalten lassen werde. Wenn es sich zum Beispiel darum handelte, unter euch zu losen, wer damit beauftragt werden soll, das auszuführen, was die Bourgeois ein Attentat und was ihr eine Propaganda der Tat nennt, so würde keiner zögern, nicht wahr? Und doch würdet ihr dadurch aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben eines der Euren opfern. Im vorliegenden Falle aber kann es sich nur um einen moralischen Schlag handeln, der den Klassenhaß, der euch erfüllt, noch verschärfen wird, denn der Schuldige, jener Mann, der Tournemarie beschimpft hat, ist einer unsrer schlimmsten Feinde: ein Offizier.«
»Was hat er getan?« rief der Arbeiter, der tief erblaßt war.
»Deine älteste Tochter hat er verführt!« antwortete Grangel unbarmherzig. »Das pflegt ja der Zeitvertreib vornehmer Herren zu sein!«
»Verflucht!« rief Tournemarie, so heftig auf den Tisch schlagend, daß sämtliche Gläser und Flaschen zu tanzen anfingen. »Woher weißt du denn das?«
»Zum Kuckuck, weil ich die beiden zusammen gesehen habe.«
»Wie lange ist das her?«
»O, mindestens zwei Monate. Jetzt sehe ich sie allerdings nicht mehr miteinander, denn sie sind vorsichtig geworden. Die Kleine geht jetzt zu ihm ins Haus. Dir flunkert sie wahrscheinlich vor, sie habe in ihrem Geschäft noch zu tun, um ihr längeres Ausbleiben zu erklären. Und er, der schmucke Leutnant, gibt das Geld her, damit die Rechnung stimmt. Nun denn, wenn du dich also rächen und zugleich unsrer Sache dienen willst, brauchst du die beiden nur mal zu überrumpeln. Dann gibt's einen Auflauf, die Genossen werden zur Hand sein, um dir beizustehen, und wenn der Offizier sich wehrt, dann haben wir unsern Zweck erreicht, und die Sache ist in Fluß gekommen.«
Er hielt inne und schaute Tournemarie an, der schweigend und mit finsterer Miene dasaß.
»Na, Tournemarie, sei ein Mann. Deine Tochter ist nun eben auf Abwege geraten, aber sie ist ja nicht die erste. Sind denn die Töchter von Arbeitern, wenn sie hübsch sind, nicht dazu da, daß die reichen Leute sich mit ihnen amüsieren? Ihr schindet euch ab, damit die Väter reich werden, und setzt Töchter in die Welt, damit die Söhne der Bourgeois ihr Vergnügen haben. Das gehört mit zum herkömmlichen Ausbeutungssystem. Du wirst mir doch nicht schlapp werden wollen, Tournemarie. Das täte mir wirklich leid. Ich hätte dir wahrhaftig mehr Energie zugetraut!«
»Ach,« stöhnte der Arbeiter, »du hast gut reden. Du bist Junggeselle, hast weder Weib noch Kind. Aber meine Tochter, mein liebes Hortensechen! Ha, der Elende! Zu Boden schmettern werde ich ihn!«
»So, na endlich hast du den richtigen Ton gefunden!« sagte Grangel mit einem sauersüßen Lächeln. »Ja, schlag diesem Grünschnabel, der sich deine Tochter zugelegt hat, nur die Knochen entzwei. Aber eine günstige Gelegenheit mußt du dazu abpassen. Rückst du ihm ohne weiteres auf die Bude, so wird er dich erstens mal gar nicht hineinlassen, sondern die Kleine, während er mit dir verhandelt, durch eine Seitentüre fortschicken. Stellst du dich dann aber auf die Hinterbeine, so wirft er dich die Treppe hinunter. Nein, nein! Man muß ihn geschickt in eine Falle locken, aus der er nicht entwischen kann!«
»Und meine Tochter mit ihm!« murmelte Tournemarie.
»Man wird es schon so hindrehen, daß sie die Rolle der verführten Unschuld spielt. Ja, ja, das ist eine gute Idee! Ei, und wie der Leutnant uns aufsitzen wird! Seine Kameraden . . . ah, das wäre ideal, wenn ein paar Kameraden sich zu seiner Verteidigung einmischten. Die Genossen würden sich dann zu dir schlagen, und der Krawall wäre da. Ich will mir diese Sache nachher doch mal gründlich ausdenken.«
Wutentbrannt fuhr Tournemarie auf.
»Sei so gut und misch dich nicht in meine Angelegenheiten! Verstanden! Für dich ist's freilich keine Kunst, ein Unglück, das mich allein betrifft, auf die leichte Achsel zu nehmen. Ich dulde jedoch nicht, daß du mich zum Werkzeug für deine Machenschaften benützt, das merke dir. Ich werde mich schon zu rächen wissen, aber auf eigene Faust, und so wie es mir paßt. Dem Offizier wird die Sache nicht geschenkt, darauf gebe ich dir mein Wort. Die Ehre eines Arbeiters ist ebensoviel wert wie die eines Offiziers. Das will ich ihm schon einbläuen, aber ich will nicht, daß die Geschichte an die große Glocke gehängt wird. Es ist ohnehin schon nicht schön von dir, mir so rücksichtslos die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Trotz all deiner Redekünste hast du mich doch nicht zu überzeugen vermocht, daß ich meine intimsten Familienangelegenheiten den Interessen der Partei unterordnen soll.«
»Na, einerlei,« entgegnete Grangel, »ob du dich nun entschließt, zum Besten unsrer Sache zu handeln, oder ob du nur deinem persönlichen Groll Genüge tun willst; jedenfalls war es, glaube ich, recht gut, daß du die Wahrheit erfahren hast. Oder wäre es dir lieber, du würdest den Leuten noch länger zum Gespött dienen? Seit zwei Monaten pfeifen die Spatzen auf den Dächern davon.«
»Seit zwei Monaten! Und ich habe nichts davon gewußt, nichts gemerkt!«
»Mein lieber Freund, du konntest unmöglich bei Neumans unter den Genossen wirken und zugleich auf das aufpassen, was bei dir zu Hause vorging. Es ist somit ganz verzeihlich, daß du hintergangen worden bist. Ob es ebenso verzeihlich wäre, wenn du dich nicht rächtest, das mußt du selbst wissen.«
Tournemarie antwortete nicht, sondern nahm seine Mütze vom Kleiderhaken und verließ mit einem kurzen »Guten Abend« durch die hintere Ausgangstüre das Wirtshaus. Nachdem er verschwunden war, sagte Grangel zu den Delegierten: »Er wird sich die Sache überlegen, der arme Kerl! Es ist mir recht schwer geworden, ihm ein Licht aufzustecken. Aber dieser kleine Leutnant hat ihn zu frech zum Narren gehabt. Nun seht ihr selbst, Genossen, was diese Säbelraßler wert sind. Nichts als Unglück bringen sie in die Familien. Zum Tiere sinken sie herab durch das Leben, das sie führen. Aber das soll nun alles anders werden. Sind wir erst die Herren, dann wird man uns nicht mehr mit einem Kriege überrumpeln können. Durch die allgemeine Verbrüderung wird es ein leichtes sein, das gute Einvernehmen mit unsern Nachbarn jenseits der Grenze aufrecht zu erhalten. Die Blutsteuer, jener abscheuliche Rest einstiger Barbarei wird endlich abgeschafft werden. Dann kann die Bourgeoisie sehen, wer ihre Kassenschränke verteidigt, und es bleibt ihr nichts andres übrig, als das unrechte Gut wieder herauszugeben. Die von gewissenlosen Ausbeutern angesammelten Riesenvermögen werden dann für das Volk frei, und die soziale Sicherheit, die durch die Militärmacht unausgesetzt bedroht ist, wird hergestellt. Denn die einzige Schranke, die sich jetzt noch zwischen uns und unsrer Macht aufrichtet, ist das Heer. Der Antimilitarismus muß folglich unsre Losung sein.«
»Ja, aber wenn die Nachbarn, von denen du sprichst und die jenseits der Grenze in Waffen starren, uns eines schönen Tages angreifen, könnte die Abrüstung uns doch teuer zu stehen kommen. Und wenn wir mit der deutschen Autorität zu rechnen hätten, so wäre das etwas ganz andres als mit der französischen. Die Männer, die in den Reichslanden den deutschen Kaiser vertreten, würden nicht viel Federlesens machen, und die Säbelhiebe ließen nicht auf sich warten. Wenn es nun doch einmal nicht ohne Tyrannei geht, dann ist mir schon die meiner eigenen Rasse lieber, als die des Fremden.«
»Da haben wir wieder diese alberne Gefühlsduselei, die so viele Charaktere verdirbt!« rief der Lehrer zornig. »Weil ein Mensch diesseits oder jenseits einer willkürlich gesteckten Grenze geboren ist, soll er Deutscher oder Franzose sein! Es gibt weder Deutsche, noch Franzosen, sondern nur lebende Wesen, die alle gleich sind und die alle leiden. Fangen wir doch lieber damit an, die Leiden der Menschheit aus der Welt zu schaffen. Später werden wir dann schon sehen, von welcher Farbe die Fahne sein soll, unter deren Schutz wir uns stellen. Wollt ihr als treue Genossen euch der guten Sache weihen? Oder weicht ihr vor den Folgen einer Tat zurück, die unvermeidlich ist?«
Sämtliche Arbeiter erhoben sich entschlossen und drückten Grangel schweigend die Hand. Ein befriedigtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Gut. Ich sehe, daß ich mich auf euch verlassen kann. Jetzt wollen wir aber die Sitzung aufheben, um nicht durch eine zu lange heimliche Versammlung Verdacht zu erregen. Wir werden nämlich überwacht.«
»Von wem denn?«
»Es gibt bekanntlich keine Verbindung, in die sich nicht Polizeispitzel einschlichen. Und dann, richtig, Didelods vielgerühmter Gaudin weiß ja nichts Besseres zu tun, als seinem Herrn alles brühwarm zu hinterbringen, was ich tue und treibe.«
»Gaudin? Was könnte der viel verraten? Er weiß ja nichts. Und Didelod, wenn der sich einbildet, wir ließen uns von seinem Sozialismus blenden, so täuscht er sich gewaltig. Ein Ausbeuter ist er wie die andern, nur noch viel schlimmer als sie, weil er noch reicher ist. Aber er wird uns seine vierzig Millionen, um die sein Großvater, sein Vater und er selbst die Arbeiter seit der Gründung von Lehrange betrogen haben, schon noch herausrücken müssen!«
»Na, Kinder, beruhigt euch! Am großen Entscheidungstage werden alle Rechnungen beglichen werden. Und jene Esel von Bourgeois, die sich auf den Demokraten spielen und sich einbilden, die von ihnen ausposaunten Ansichten könnten sie schützen, kommen zuerst dran.«
Ein allgemeines Gelächter erscholl, dann wurde die hintere Wirthaustüre geöffnet, und ein Delegierter um den andern schlich sich davon.
* * *
Ihrem Versprechen gemäß war Frau Didelod, sobald sie sich über die Ansichten ihres Mannes Klarheit verschafft hatte, nach Fleurance zu ihrer Freundin, der Marquise von Berlier, gegangen. Schloß Fleurance, das etwas weiter von der Grenze entfernt ist als Badonviller, liegt auf einer steil abfallenden Anhöhe, von wo aus man den Lauf der Verveille übersehen kann – im Kriegsfalle ein äußerst günstiger Punkt, um einen ersten feindlichen Überfall abzuwehren. Schon oft hatte Maxime von Berlier im Scherz zu seinem Vater gesagt: »Wenn es einmal Krieg geben sollte, dann werde ich jedenfalls zuallererst im Park von Fleurance fechten. Auf der Terrasse stehen dann Batterieen, und wenn wir nach dem Kriege hierher zurückkehren, werden wir wahrscheinlich vom Schloß keinen Stein mehr auf dem andern finden.« Als der Marquis von Berlier eines Tages in traurigem Tone vor Julius Reismann die Besorgnis aussprach, Maximes Scherz enthalte vielleicht ein Körnchen Wahrheit, entgegnete der Reichstagsabgeordnete kalt: »Beruhigen Sie sich; unsre Ulanen wären bereits in Lehrange, noch ehe Ihre Dragoner Zeit gefunden hätten, sich marschbereit zu machen. Nicht bei Ihnen, mein lieber Herr von Berlier, sondern in Nancy wird der erste Zusammenstoß stattfinden, denn schon eine halbe Stunde nach der Kriegserklärung wäre Ihr Schloß von uns besetzt.«
»Gott bewahre mich!« rief der Marquis. »Da möchte ich mein Haus schon lieber in Brand stecken, als daß es auf solche Weise verschont bliebe.«
»Da haben wir wieder die echte französische Übertreibung! Den nicht auszurottenden Donquichottismus! Wollen Sie mir vielleicht erklären, was für einen Nutzen der Brand Ihres Schlosses für Frankreich hätte?«
Auf dieser berühmten Terrasse von Fleurance, von wo aus der Blick die ganze Umgegend beherrscht, gingen Frau Didelod und Frau von Berlier plaudernd auf und ab.
»Ich glaube nicht, daß man alle Hoffnung aufzugeben braucht,« sagte Frau Didelod. »Laurence hat ihrem Vater rundweg erklärt, es wäre zwecklos, ihr einen neuen Bewerber vorzustellen, und von einer Verbindung mit einem Politiker könne vollends keine Rede sein. Diesem klugen kleinen Ding fällt es natürlich nicht ein, ihr Lebensglück den politischen Hirngespinsten ihres Vaters zu opfern. Sie weiß recht gut, was von den Männern zu halten ist, deren Partei ihr Vater sich angeschlossen hat. Es sind ungebildete, gewissenlose Leute, meist von zweifelhafter Vergangenheit und höchst fatalen verwandtschaftlichen Beziehungen, Leute, die sich nur durch ihr freches Mundwerk eine Stellung geschaffen haben. Und das ist für ein junges Mädchen von Laurences Erziehung nicht sehr verlockend.«
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen geht wie mir, aber ich fühle mich nachgerade in meinem eigenen Vaterlande nicht mehr recht zu Hause. Mir scheint, als verändere sich in rasendem Wirbel alles um mich her: Sitten, Begriffe, Ansichten, ja sogar Benehmen und Manieren. Eine Umwandlung vollzieht sich seit den letzten zehn Jahren in der Gesellschaft, daß man sie kaum wiedererkennt. So kann es aber doch unmöglich weitergehen. Wir treiben ja einer vollständigen sozialen Revolution zu, die unser Land entweder der Anarchie preisgibt, oder aber zu einer Diktatur führt, die das Autoritätsprinzip wieder aufstellen und Ordnung schaffen wird. Ich glaube mich damit nicht zu schroff ausgedrückt zu haben. Denn ein Volk kann doch nicht gedeihen, wenn keine Ordnung herrscht, wenn es dem Zufall und den Launen der Menge preisgegeben ist. Es braucht eine Leitung und Führung. Die Leitung darf aber doch nicht lediglich darin bestehen, daß man die eine Hälfte eines Volkes auf die andre hetzt, um diese auszuplündern, zu mißhandeln und zu knechten.«
»Ich bin ebenfalls überzeugt, daß die revolutionäre Partei uns zu ernsten Katastrophen führen würde,« antwortete Frau Didelod, »aber das Widerwärtigste an der ganzen Geschichte ist mir die Art und Weise, wie diese Partei vorgeht. Ich habe ja leider Gelegenheit genug, die Führer der Bewegung in der Nähe zu sehen, und da fällt mir vor allem ihre schlechte Erziehung, ihre Formlosigkeit und die Roheit ihrer Empfindungen auf. Es sind fast alles Leute von niederer Herkunft. Und darein, meine liebe Freundin, könnte Laurence sich niemals finden. Sämtliche Bewerber, die ihr Vater ihr aus dieser Partei vorstellen könnte, würden ihr jenen Widerwillen, von dem wir sprechen, einflößen. Es ist eine physische Abneigung. Diese Leute sind einfach nicht von derselben Rasse wie wir. Es mag ja meinetwegen manchmal geniale Männer darunter geben, aber das genügt nicht; sie dürfen nebenbei nicht aussehen wie Arbeiter im Sonntagsputz.«
»Was sollen wir nun aber in unsrem speziellen Fall tun?«
»Das Beste wäre, glaube ich, meine liebe Freundin, Sie und die Ihrigen spielten sich auf die Gekränkten. Mein Mann ist trotz all seiner sozialistischen Prahlerei sehr empfindlich und leicht verletzt. Er ist Herrn von Berliers Jugendfreund, und sich mit diesem herumzustreiten, ist ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden. Ihr Mann wird ihm fehlen. Und außerdem liegt ihm neben aller Schöntuerei gegenüber den Revolutionären doch sehr viel daran, mit den Leuten unsres Standes auf gutem Fuß zu bleiben. Ein Bruch mit Ihnen würde ihm deshalb sehr peinlich sein, und es ist recht gut, wenn er sich Gedanken darüber macht. Aus all diesen Gründen rate ich Ihnen, unser Haus zu meiden und sogar eine gewisse feindselige Unnahbarkeit zur Schau zu tragen.«
»Mein armer Maxime, der Ihre Tochter so innig liebt! Wie schwer wird es ihm werden, nicht mehr mit ihr zusammenzukommen!«
»Wenn er nicht mehr mit ihr zusammenkommt, dann ist das seine eigene Schuld. Es paßt sich zwar gerade für mich am allerwenigsten, ihm in dieser Hinsicht gute Ratschläge zu geben, aber wir haben doch wahrhaftig gemeinschaftliche Bekannte genug, wo er meine Tochter treffen kann. Und Laurences wegen bin ich vollständig ruhig, denn nichts wird sie davon abhalten, mit Maxime zu sprechen, wenn sie ihm irgendwo begegnet. Selbst in Gegenwart ihres Vaters würde sie es ohne Bedenken tun. Zu häufig hat er vor ihr die Rechte der Frau verfochten, ihre Unabhängigkeit und die Freiheit, nach eigenem Gutdünken über ihre Person und ihr Leben zu verfügen – jener Ibsenschen Theorie gemäß, die so bequem ist, wenn man sich keiner Pflicht beugen will – als daß er die Freiheit seiner eigenen Tochter beschneiden könnte. Mutig wird sie ihm die Stirne bieten. Als Mutter werde ich sie natürlich tadeln müssen, als Weib aber kann ich ihr nur unbedingt recht geben.«
»Und dann,« bemerkte Frau von Berlier, »sagen Sie mal, wissen Sie etwas über den drohenden Ausstand in Lehrange? Man sagt, es stehe ganz schlecht, und jener Gewaltstreich neulich im Rathaus sei, trotzdem Herr Didelod es bestreite, recht ernst gemeint gewesen.«
»Ehe mein Mann zugäbe, daß seine Genossen Schurken sind, müßte man ihm den Kopf auf die Guillotine legen, und selbst dann würde er noch schreien, es sei ein Komplott der Reaktionäre. Wenn Blindheit oder vorgefaßte Meinung – denn was es in Wirklichkeit ist, weiß man nicht genau – einen solchen Grad erreichen, dann bekommt diese schon fast etwas Rührendes oder gar Erhabenes. Sie können sich denken, liebe Freundin, daß er mich nicht ins Vertrauen zieht, besonders nicht, wenn die Sachen schief gehen. Nichts Widerwärtigeres konnte ihm passieren als diese Arbeiterunruhen, ihm, der immer wieder damit geprahlt hat: ›In meinem Bezirk, bei dem Einfluß, den ich auf die Volksstimmung habe, und dank meinem Liberalismus, sind keine Unruhen zu befürchten.‹ Kein Wunder, daß er jetzt außer sich ist. Wenn Ruhe und Ordnung durch Geld wieder herzustellen wären, würde er seine Kasse leeren. Allein, soviel ich beurteilen kann, geht die Bewegung von Paris aus, so daß mein Mann nichts dagegen machen kann. Und wenn er auch behauptet, die Sozialisten seien seine Brüder, so ist er eben doch von ganz andrem Schlage als sie. Sie trauen ihm einfach nicht, und er, er verachtet sie trotz allem im stillen. Sie trachten danach, ihn auszubeuten, und er hat nur den einen Wunsch, sie zu lenken. Nun fragt es sich, ob sie ihn übertölpeln, oder ob es ihm gelingen wird, sie matt zu setzen. Die Aussicht ist indes sehr groß, daß mein Mann unterliegt, denn er ist von peinlicher Gewissenhaftigkeit, seine Gegner aber haben überhaupt kein Gewissen.«
»Mein Sohn, der nicht nur erfährt, was unter den Bewohnern von Lehrange gesprochen wird, sondern der auch über die Berichte, die an das Brigadekommando gelangen, auf dem laufenden ist, versichert, die Sache stehe ganz schlecht, und irgend ein Gewaltstreich sei nicht ausgeschlossen. Aber was für einer? Wo? Und gegen wen? Das weiß man nicht. Allein überall herrscht Unruhe und Besorgnis. Der Ausstand bei Neumans scheint nur der Zündstoff für eine ausgedehnte Arbeiterbewegung in unsrer Gegend zu sein. Man geht sogar so weit, zu behaupten, die französischen Arbeiter möchten am liebsten die Entlassung der ausländischen Arbeiter verlangen.«
»Wie? Der Elsaß-Lothringer, die in Lehrange arbeiten? Aber das sind doch Franzosen!«
»Jetzt behauptet man, sie seien Deutsche, und ihre Bereitwilligkeit, sich mit einer geringeren Bezahlung zu begnügen, sei schuld an den schlechten Arbeitslöhnen.«
»Und wie steht es mit ihren internationalistischen Ideen? Machen die Leute denn einen Unterschied zwischen den Arbeitern?«
»Ach was, das kümmert sie wenig. Aber je nachdem es ihnen gerade in den Kram paßt, erklären sie eine Sache für gut oder schlecht. Etwas Charakterloseres als diese Leute gibt es ja nicht. Unter dem Vorwand, das Interesse des Proletariats zu fördern, scheuen sie vor keiner Schlechtigkeit zurück. Das ist ihr Gottesgnadentum. Und dabei eifern sie gegen den Absolutismus und die Unfehlbarkeit!«
»Wenn es hier aber wirklich ernstliche Unruhen geben sollte, würde ich mich zu Tode ängstigen,« rief Frau Didelod. »Ohne Zweifel wird mein Mann eine Rolle dabei spielen wollen, und zwar, wie ich fürchte, eine höchst eingreifende, denn er weiß nur zu gut, daß man bei einem maßvollen Auftreten kein Gehör findet, und ihm ist es nun einmal Lebensbedürfnis, daß auf ihn gehört wird.«
»Mag sein, aber es ist eben doch höchst wahrscheinlich, daß, selbst wenn man ihn auch zu Wort kommen läßt, man doch nicht tut, was er sagt. Und daß er so weit geht, die Revolution gegen sich selbst zu predigen, das glaube ich denn doch nicht. Was könnte er dann aber wohl sagen, um diese Tollhäusler zufriedenzustellen, die entschlossen sind, den persönlichen Besitz abzuschaffen? Schließlich wird es eben zu einem offenen Kampfe kommen, und ich bin durchaus nicht davon überzeugt, ob Herr Didelod dann unter denen sein wird, die Schläge austeilen; mir scheint er im Gegenteil viel eher dazu angelegt zu sein, sie zu bekommen.«
»Ach, und mein Sohn Moritz, der den Teufel im Leibe hat, was soll ich unter solchen Umständen mit dem anfangen? Ich hätte gute Lust, ihn nach England zu spedieren. O, diese abscheuliche Politik! Ich kann wohl sagen, daß sie der Kummer meines Lebens ist. Niemals, merken Sie wohl, werde ich zugeben, daß meine Tochter einen Politiker heiratet. Ich danke dafür, ihretwegen noch einmal all den vielen Verdruß durchmachen zu müssen, den mir mein Mann mit der Politik schon bereitet hat! Und dabei weiß ich ganz bestimmt, daß er mit einem derartigen Schwiegersohn schon nach sechs Monaten nicht mehr auskommen würde, einerlei ob dieser ihn überflügelt hätte, oder hinter ihm zurückgeblieben wäre. Wir hätten das Palais Bourbon im eigenen Hause! Da will ich schon lieber gleich nach CharentonIrrenanstalt bei Paris. übersiedeln!«
Die beiden Freundinnen waren mittlerweile auf den großen Schloßhof mit seinen hundertjährigen Bäumen zugegangen, wo Frau Didelods Wagen im Schatten hielt.
»Wenn Sie etwas Neues erfahren, dann lassen Sie es mich doch ja gleich wissen, nicht wahr?« bat die Frau des Abgeordneten. »Und was unsre Privatangelegenheit betrifft, so können Sie sich auf mich verlassen wie auf sich selbst.«
Damit stieg Frau Didelod in ihren Wagen und fuhr durch den Wald nach Badonviller zurück. – –
* * *
So wenig genau Tournemarie es im allgemeinen auch nahm, die Denunziation des Lehrers hatte er denn doch nicht auf die leichte Achsel genommen. Ein heftiger Zorn wallte mehr und mehr in ihm auf, der durch den reichlichen Alkoholgenuß während der Versammlung und durch die Betrachtungen, die er auf dem Heimweg anstellte, noch geschürt wurde. Verbittert durch die Mühseligkeiten des täglichen Lebens, die infolge seiner unregelmäßigen Arbeit noch zugenommen hatten, machte er die besitzende Klasse für seine Sorgen verantwortlich, was viel einfacher war, als nachzuforschen, ob die Schuld nicht ihn selbst treffe. An seinem Groll nagend, und mit dem festen Vorsatz, seine leichtsinnige Tochter, die sich mit der Soldateska amüsierte, anstatt für die Familie zu arbeiten, nach Gebühr zu züchtigen, ging er durch die Straßen. Dumpfe Flüche vor sich hin murmelnd, war er, ohne es zu bemerken, aus dem Städtchen hinaus bis ans Ufer der Verveille gekommen. Er hatte eine falsche Richtung eingeschlagen und blieb nun plötzlich vor der nach der unteren Stadt führenden Brücke stehen.
»Zum Henker noch mal, so komm' ich morgen nach Hause!« brummte er. »Diese infame Hortense bringt mich ganz von Sinnen. Ei, die soll mir 's büßen! Auf eine ganz gehörige Tracht Prügel kann sie sich gefaßt machen!«
Er kehrte um, ging die Avenue du Pont entlang und bog in ein stilles, ganz verödetes Sträßchen ein, an dessen Ende er eine rasch dahineilende weibliche Gestalt gewahrte. Wie versteinert blieb er stehen, und als er eine vorspringende Terrasse entdeckte, verbarg er sich in einer dunklen Ecke. Denn in der vor ihm her Gehenden hatte er seine Tochter erkannt. Einen Fluch unterdrückend, streckte er behutsam den Kopf vor und verfolgte die Gestalt mit den Blicken. Raschen Schrittes ging diese immer weiter, stieß dann eine Tür auf und trat hastig in einen Garten. Tournemarie überlegte einen Augenblick und zog seine Uhr heraus. Sie zeigte auf Fünf.
Hortense sollte erst um sechs Uhr von der Arbeit kommen. Grangel hatte also nicht gelogen. Sie hatte einen Liebhaber, und zu ihm war sie jetzt eben gegangen. Forschend sah der Arbeiter sich um. Die Terrasse, unter der er sich versteckt hielt, gehörte zu einem Herrschaftshause. Gegenüber dehnte sich eine große Gemüsegärtnerei aus mit endlosen Reihen von Mistbeeten. Daran schlossen sich die großen Schuppen eines Furagehändlers an, deren Haupteingang in einer parallellaufenden, durch viele Läden belebten Straße lag. Gegenüber der Besitzung, wo Hortense soeben verschwunden war, befand sich eine Hufschmiede, deren rauchgeschwärzte Tür weit offen stand, und neben der ein Schimmel angebunden war. Das gemächliche Aufschlagen des Hammers auf den Amboß verriet, daß sich der Schmied bei seiner Arbeit nicht allzusehr anstrengte. In einiger Entfernung lagen mehrere Privathäuser. Tournemarie sagte sich: »Wenn ich jetzt an der Gartentür klopfe und nach meiner Tochter frage, so wird man mich einfach abweisen. Inzwischen läßt man dann das Mädchen durch einen andern Ausgang entschlüpfen, und ich habe nichts weiter erreicht, als daß sie von jetzt an mehr auf der Hut sein wird. Ich muß also vorsichtig zu Werk gehen, ihr auflauern und sie auf frischer Tat ertappen.« Er verließ nun seinen Posten, ging bis an das betreffende Haus vor und sah es sich genau an. Es war ein viereckiges, unter Bäumen halb verstecktes Gebäude, das für das Stelldichein eines Liebespärchens wie geschaffen schien. Da Tournemarie sich dicht an der Gartenmauer hielt, war er sicher, vom Hause aus nicht gesehen zu werden. Am Ende der Mauer ging es nach einem Seitengäßchen, in das Tournemarie einbog. Nun sah er, daß man durch einen Torweg zum Hof gelangen konnte, wo sich außer dem Stallgebäude ohne Zweifel auch eine Dienerschaftswohnung befand. Wenn er sich nun an die Ecke der beiden Straßen unter einen Mauervorsprung stellte, so war es unmöglich, daß jemand den Garten verließ, ohne von ihm gesehen zu werden. Aber konnte er denn während der Stunde, die Hortenses Besuch wahrscheinlich dauern würde, hier bleiben, ohne daß ein Vorübergehender ihn bemerkte und sich über sein Postenstehen wunderte; ohne daß ein Nachbar seine Anwesenheit vielleicht verriet? Und wie hätte er dieses lange Warten mit den in ihm tobenden Gedanken aushalten sollen? Er fühlte, daß er einer solchen lang andauernden Qual nicht gewachsen wäre. So entschloß er sich, unbekümmert um die Folgen, durch die vordere Tür in den Garten zu treten.
Sie war unverschlossen, als rechne man hier nicht mit unberufenen Gästen. Vorsichtig machte er sie wieder hinter sich zu und befand sich nun in einem schattigen, wohlgepflegten Garten mit feinbesandeten Wegen. Ohne sich zu verweilen, ging Tournemarie direkt aufs Haus zu und dann die vier Stufen einer kleinen Freitreppe hinauf. An der Haustür befand sich dieselbe kunstlose Klinke wie an der des Gartens, und Tournemarie war schon im Begriff, auch sie zu öffnen, als ihm auf der Schwelle der Bursche des Leutnants Maubrun entgegenkam und in barschem Tone fragte: »Was wollen Sie?«
»Ihren Herrn sprechen,« antwortete Tournemarie.
»Meinen Herrn? Der ist in der Kaserne beim Dienst. Ich bin allein im Haus.«
»Nun, mein Bürschchen, wenn Sie allein hier sind, dann ist das junge Fräulein, das soeben hier hineingegangen ist, wohl zu Ihnen gekommen?«
»Ein Fräulein? Zu mir? Hier? Das ist ausgeschlossen. Sie sind wohl nicht recht bei Trost?«
Aus den Augen des Dragoners blitzte, während er Tournemarie antwortete, ein Mutwille, der in scharfem Gegensatz zu dem ernsten Ausdruck seines Gesichts stand. Es war kein Zweifel, der Bursche machte sich über den Besucher lustig, so daß dieser, in dem es ohnehin schon kochte, den Rest von Kaltblütigkeit vollends verlor. Er wurde dunkelrot und fing aus vollem Halse zu schreien an: »Infamer Tagdieb! Willst du mich zum Narren haben? Ich verbitte mir dieses Gesichterschneiden, verstanden? Meine Tochter ist hier! Hörst du wohl? Meine Tochter. Und wenn du sie mir nicht sofort herausgibst, dann werde ich sie mir holen.«
Ohne sich auf weiteres Parlamentieren einzulassen, packte der Bursche Tournemarie mit der einen Hand am Kragen, mit der andern am Schenkel und setzte ihn mit herkulischer Leichtigkeit unten an der Freitreppe auf dem Sande ab. Dann sagte er ganz ruhig: »So, nun machen Sie, daß Sie fortkommen! In feinen Häusern schlägt man keinen Spektakel auf. Ihre Tochter ist nicht hier. Wenn Sie sich jedoch gerne noch weiter aussprechen möchten, dann wollen wir miteinander in die Kneipe hinübergehen. Bei einem Gläschen Wein läßt sich alles leichter in Ordnung bringen.«
Tournemarie, der bleich vor Zorn war, versuchte, auf diese versöhnlichen Worte etwas zu entgegnen, allein von seinen verzerrten Lippen kamen nur unzusammenhängende, verworrene Laute. Und da er seiner Wut nicht durch Worte Luft machen konnte, nahm er seine Zuflucht zur Tat. Die Hand, die er in seine Rocktasche gesteckt hatte, kam mit einem Revolver bewaffnet wieder zum Vorschein, und wie toll fuchtelte er damit dem Dragoner unter der Nase herum.
»Ach was! Weg mit dem Ding!« sagte der Bursche. »Du wirst doch einen Mann deiner Klasse nicht ins Jenseits befördern wollen?«
Dabei faßte er nach der Hand des Arbeiters. Allein durch den Druck ging der Schuß los, und unter lautem Geklirr fielen die Scherben eines Fensters des ersten Stocks aufs Pflaster. Im selben Augenblick erschien Leutnant Maubrun, höchlichst erstaunt über diesen Lärm, auf der Türschwelle. Da er Tournemarie sofort erkannte, wollte er ins Haus zurücktreten, allein halb toll vor Wut hob der Arbeiter seine Waffe gegen den Offizier und schoß eine zweite Kugel ab, die dicht an Maubruns Ohr vorbeipfiff.
»Donnerwetter noch mal, dieser verrückte Kerl will mich wohl totschießen!« rief der junge Mann mehr ärgerlich als erschrocken. »Chauvin, flugs! Nimm ihm das Ding ab!« Wieder sprang der Dragoner auf Tournemarie los, entwaffnete ihn, zerrte ihm beide Hände auf den Rücken und hielt ihn mit wunderbarer Mühelosigkeit fest.
»So. Nun führ ihn hinaus.«
»Ha, du Schuft!« brüllte Tournemarie, »du möchtest natürlich nicht, daß ich meine Tochter bei dir erwische. Aber ich weiß, daß sie hier ist, denn ich selbst hab' sie hineingehen sehen! O, du Elender! Du Schurke!«
Er erhob ein Zetergeschrei, um die Leute aus der Nachbarschaft zusammenzutrommeln, und in der Tat kamen auch schon von überallher und unter lauten Ausrufen die Nachbarn herbeigeeilt. Der Dragoner Chauvin gab sich mittlerweile alle Mühe, den Arbeiter zur Vernunft zu bringen.
»Das ist ja unsinnig, wie Sie sich aufführen! Solch ein Hitzkopf! Wollen Sie es denn durchaus jedermann unter die Nase reiben, daß Ihr Mädel hier ist? So halten Sie doch Ihr Maul! Und kommen Sie mit mir zum hinteren Stalltor hinaus.«
Allein mit heftigen Fußtritten widersetzte sich Tournemarie dem Dragoner, der ihn gewaltsam fortschleppte. Als Tournemarie dann aber merkte, daß der Dragoner der Stärkere war, fing er aus vollem Halse zu brüllen an: »Zu Hilfe! Mörder! Zu Hilfe!«
Die Nachbarn drangen jetzt in den Garten ein; voran, den Stock unter dem Arm, der Polizeidiener, den ein unglücklicher Zufall in die Nähe der Verveille geführt hatte. Er nahm dem Dragoner den noch rauchenden Revolver aus der Hand, und Tournemarie scharf ansehend, sagte er streng: »Gehört Ihnen dieser Revolver? Was wollen Sie hier? Warum haben Sie geschossen?«
»Meine Tochter hab' ich holen wollen,« schrie der Arbeiter. »Sie ist dort drin bei dem Halunken! Ich geh' nicht von hier fort ohne sie.«
»Ach was, kommen Sie mit aufs Polizeikommissariat.«
Leutnant Maubrun, der zu seinem großen Verdruß sah, daß die Geschichte eine immer ernstere Wendung nahm, winkte dem Polizeidiener gebieterisch zu und rief, auf die Gaffer deutend, die sich im Garten ansammelten: »Schaffen Sie mir mal vor allem diese Leute da hinaus, die nichts bei mir zu suchen haben. Nachher wollen wir weiter verhandeln.«
»Sehr richtig. Bitte, meine Herren, gehen Sie auf die Straße hinaus. Es handelt sich um eine Privatangelegenheit, die nicht vor Gott und der Welt verhandelt werden kann.«
Und die Neugierigen trotz ihrer Bemerkungen und Fragen nach der Tür drängend, gelang es ihm, den Garten freizumachen.
»Chauvin,« befahl der Leutnant jetzt seinem Burschen, »laß den Mann los.« Und zum Polizeidiener gewandt fügte er hinzu: »Es sind nur ein paar Fensterscheiben entzweigegangen, dem Vorfall braucht also weiter keine Wichtigkeit beigelegt zu werden. Führen Sie diesen Mann hinaus und lassen wir die Sache auf sich beruhen.«
»Wie? Was? Auf sich beruhen lassen?« protestierte Tournemarie, der allmählich wieder zur Besinnung kam. »Das wollen wir mal sehen. Ich gehe jetzt zum Polizeikommissär.«
»Ah, verflucht! So gehen Sie meinetwegen zum Teufel!« entgegnete der Leutnant ungeduldig. »Wenn ich nun mal nicht klagen will! Dazu zwingen können Sie mich nicht. Polizeidiener, nehmen Sie diesen Mann mit wohin Sie wollen; dieser Auftritt hat ohnehin schon zu lange gedauert. Guten Abend.«
Und ohne sich in einen weiteren Disput einzulassen, ging der Offizier ins Haus zurück und machte die Tür hinter sich zu. Chauvin, der allein mit dem Polizeidiener und Tournemarie zurückblieb, setzte eine nachdenkliche Miene auf und sagte: »Was bezweckt dieser Kerl eigentlich mit seiner Widerspenstigkeit? Wenn seine Tochter wirklich hier wäre, dann hätte man sie jedenfalls nicht gewaltsam hergeschleppt. Zweierlei Tuch hat den Frauenzimmern von jeher in die Augen gestochen; und in den Grenzgarnisonen ist's noch schlimmer als anderswo, weil die Mädels mit den ausländischen Nachbarn Vergleiche anstellen können, die nicht zu deren Gunsten ausfallen. Ist das Fräulein vielleicht minderjährig? Nein. Dann links um, marsch, marsch, mein Dicker!«
Tournemarie würdigte den Offiziersburschen nicht einmal eines Blickes, sondern sagte, sich an den Polizeidiener wendend: »Sie haben meinen Revolver. Zwei Kugeln habe ich auf den Offizier abgeschossen. Sie können es bezeugen. Gehen wir jetzt aufs Polizeikommissariat, oder geben Sie mir meine Waffe zurück, dann fang' ich von vorn an.«
»Ja, gehen wir,« antwortete der Mann des Gesetzes ohne besonderen Eifer.
»Alterchen, Sie sind im Begriff, einen Bock zu schießen,« sagte Chauvin zu dem Polizeidiener.
»Mir bleibt nichts andres übrig,« antwortete dieser. »Er ist auf frischer Tat ertappt worden; mindestens zwanzig Zeugen sind vorhanden, und dieser Tollhäusler behauptete auch noch, er werde von vorn anfangen. Wenn ein Unglück passiert, so würde mich die Verantwortung treffen.«
»Dann also, glückliche Reise!«
Auf der Straße stießen der Polizeidiener und Tournemarie wieder auf die neugierige Menge, von der sie unter lautem, befriedigtem Geschrei begrüßt wurden. Im Zuge ging jetzt alles durch die Rue du Pont der Vorstadt zu. Allein kaum hundert Schritte weiter begegnete der Haufen einem Dutzend Genossen von Tournemarie, die ebenfalls ausständig waren und durch die Stadt bummelten. Als diese den Werkführer erkannten, setzten sie sofort eine Kundgebung ins Werk. Reihenweise, ohne zu wissen, um was es sich handelte, schlossen sie sich dem Zuge an, indem sie die Bevölkerung laut schreiend zur Beteiligung aufforderten. Als sie dann die erstaunten Bewohner auf den Türschwellen erscheinen sahen, stimmten sie die »Internationale« an. Der Polizeidiener, den die Wendung der Dinge beunruhigte, beschleunigte seinen Schritt. Im übertriebenen Gefühl seiner Verantwortlichkeit hatte er sogar Tournemaries Arm gefaßt, als wolle er ihn am Entfliehen hindern. So kam es, daß die beiden, die wie zwei friedliche Spaziergänger den Weg angetreten hatten, bei der Ankunft vor dem Polizeikommissariat den Eindruck machten, als habe ein Schutzmann einen schweren Verbrecher festgenommen. Das aus Arbeitern und müßigen Gaffern bestehende Publikum, das inzwischen bedeutend angewachsen war, stieß bei diesem Anblick ein wüstes Gelächter aus, und als dann der Polizeidiener und Tournemarie im Polizeigebäude verschwanden, schickten die hochgradig erregten Arbeiter sich an, die Tür mit Gewalt zu sprengen. Zurückgedrängt stießen sie ein wütendes Gebrüll aus, und nachdem sie von denen, die dem Auftritt im Garten angewohnt hatten, ungenau aufgeklärt worden waren, zerstreuten sie sich, ihre Genossen zur Hilfe herbeirufend, nach allen Richtungen. Die Klatschbasen der Stadt flüsterten sich bereits zu, es handle sich um einen Ehemann, der seine Frau bei einem Dragoneroffizier überrascht und diesen dann erschossen habe. Dann kam einem der Arbeiter plötzlich der Gedanke, zu schreien, Didelod habe Tournemarie festnehmen lassen, weil dieser das Militär beschimpft habe. Das sei aber nur ein Vorwand gewesen, denn eigentlich habe er sich wegen der Bombe rächen wollen. Sofort verbreitete sich das Gerücht, es sei ein anarchistisches Attentat auf die Kavalleriekaserne gemacht und dabei ein Dragoneroffizier verwundet worden.
Zwei aus der Kaserne kommende Offiziere in Uniform, die in die Bahnhofwirtschaft gehen wollten, wo viele Kameraden verkehrten, trafen plötzlich mit einer aus der Vorstadt herbeiströmenden Schar Ausständiger zusammen. Sofort fingen diese zu schreien an: »Nieder mit den Säbelraßlern! Es lebe der Sozialismus!« Um sich bei einem Krawall keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen, beschleunigten die beiden Offiziere ihre Schritte. Von dem johlenden Pöbel verfolgt, traten sie in das Café, und ehe man sich's versah, flog ein Steinhagel gegen das Gebäude und zertrümmerte die Scheiben. Zugleich wurden sämtliche Tische auf der Terrasse umgeworfen, und die gerade anwesenden, zum Teil verletzten Gäste zogen sich hastig zurück. Wütend erschien jetzt der Wirt auf der Schwelle, allein von einem Stein ins Gesicht getroffen, fiel er rücklings zu Boden. In großer Bestürzung fragten sich die Offiziere, die sich in den Hintergrund des Saales geflüchtet hatten und die sich den Vorgang absolut nicht erklären konnten, was nun zu tun sei. Da kam die Menge plötzlich auf eine andre Idee und befreite die Herren im kritischen Augenblick. Der Ruf: »Zur Kaserne!« erscholl. Und einem unbekannten Drange folgend, marschierten die Exzedenten unter lautem Geschrei und drohend erhobenen Fäusten in Reihen ab. Dort aber beim Posten stießen sie auf Widerstand. Die Wache trat unters Gewehr, worauf sich angesichts der Menge eine berittene Abteilung formierte, während von allen Seiten Alarmsignale ertönten. Schon befand sich die ganze Stadt in Aufruhr. Der Polizeikommissär war mit Tournemaries Verhör noch nicht zu Ende, als bereits vom Rathaus und dem Gerichtsgebäude aus die telephonische Nachricht von dem Krawall und die Bitte um Unterstützung eintraf.
Zugleich war auch dem General von Largueil Meldung gemacht worden, der sich sofort mit einem Ordonnanzoffizier auf den Chevertplatz begab. Als er dort ankam, hatte die Kundgebung bereits einen drohenden Charakter angenommen. Der unerschrockene Offizier, der mit gelassener Miene und im Schritt auf seinem Fuchsen angeritten kam und die Arbeiter so nahe zu sich heranließ, daß sie fast seine Bügel hätten berühren können, imponierte durch seine stolze Haltung trotz allem der Menge, die verstummend zurückwich. Als er dann die Abteilung Dragoner, die noch immer kampfbereit vor dem Eingang der Kaserne hielt, erreichte, wandte er sein Pferd, und sich den Demonstranten gegenüberstellend, sagte er mit lauter, vollständig ruhiger Stimme: »Nun, ihr Leute, was gibt es denn? Man sagte mir, ihr seid im Ausstand. Aber wir, wir sind doch keine Fabrikanten. Wir sind doch nur zur Verteidigung des Vaterlandes da. Und ihr wißt, daß die Grenze ganz in der Nähe ist. Was habt ihr uns vorzuwerfen und was verlangt ihr von uns? Die braven Burschen, die ihr vor euch unter dem Gewehr seht, sind Kinder aus dem Volke, die ihren Dienst tun. Gegen sie könnt ihr doch keine schlimmen Absichten hegen? Wozu also das Geschrei und die Drohungen? Was soll denn diese Zusammenrottung bedeuten?«
Eingeschüchtert schwiegen die Arbeiter, und tiefe Stille lastete auf der Menge, als plötzlich eine scharfe, gehässige Stimme rief: »Gegen die Mannschaft hat niemand etwas. Die Offiziere, das sind die Schufte!«
Als sei durch diese Worte der Bann gelöst worden, erhob sich jetzt ein wilder Spektakel, und eine Gruppe stimmte die »Internationale« an, so daß jegliches Zureden unmöglich, jegliche Erklärung ausgeschlossen war. Da wandte der alte Soldat, den Kopf traurig senkend, sein Pferd und gab einen kurzen Befehl, worauf die Dragoner hinter ihm in den Kasernenhof zurückwichen. Die schwere Tür drehte sich in ihren Angeln und schloß sich. Die Exzedenten blieben allein auf dem Platz zurück. Zuerst herrschte allgemeine Verblüfftheit, dann ertönte triumphierend der Ruf: »Es lebe der Sozialismus!«
Im selben Augenblick erschien, begleitet vom Polizeidiener, der einzigen, ihm zu Gebot stehenden Polizeimacht, der Kommissär. Jedermann kannte und schätzte ihn als einen wackeren Mann. Niemals hatte er übertriebene Strenge walten lassen, sondern stets seine Amtspflichten mit väterlichem Wohlwollen ausgeübt. Unter den jetzigen Umständen aber war er für den Pöbel die Verkörperung der Autorität. Obgleich er sich einer drohenden Menge gegenüber befand, trat er doch ohne Zögern vor, und seine Schärpe enthüllend, sagte er mit Festigkeit: »Wozu diese Zusammenrottung? Gehen Sie gefälligst auseinander. Ich möchte nicht gerne Gewalt gebrauchen, muß aber darauf bestehen, daß . . .«
Ganz allein ging er auf die Leute zu, denn der Polizeidiener folgte ihm in beträchtlicher Entfernung, da die rohe Behandlung, die ihm an Tournemaries Seite zu teil geworden war, noch zu frisch in seinem Gedächtnis stand. Die Exzedenten machten zwar etwas Platz, schlossen sich aber sofort wieder schreiend und johlend zusammen, und der Kommissär sah nur drohende, verzerrte Gesichter um sich, die brüllend sangen:
»Wohlauf zum letzten Male
Zum Kampf euch alle stellt:
Die ›Internationale‹
Das ist die ganze Welt.«
Dicht umdrängt rief er, gegen das Kasernentor gelehnt, mit lauter Stimme: »Im Namen des Gesetzes fordere ich Sie auf, auseinanderzugehen. Was wollen Sie denn hier? Rasch! Gehorchen Sie! Wollen Sie mich zwingen, mich an die bewaffnete Macht zu wenden?«
»Die bewaffnete Macht hat dich schön im Stich gelassen. Hol sie doch aus der Kaserne heraus. Nichts hat sie draußen gelassen als ihren alten Lappen!«
Mit einem wilden Geschrei wurden diese höhnischen Worte aufgenommen. Sämtliche Hände streckten sich nach der Fahne aus, die über dem Kasernentor flatterte, und hundert wie vom Teufel Besessene brüllten zugleich: »Herunter! Herunter mit der Fahne!«
»Ich mach's!« erhob sich da plötzlich eine spöttische Stimme, und ein Mann in blauer Arbeiterbluse und Samthosen trat aus den Reihen heraus. Es war ein Dachdecker namens Chapuis, der sich als Spaßmacher in den Wirtshäusern hervorzutun pflegte, und der stets flinker bei der Hand war, wenn es sich ums Krakehlen handelte, als wenn er auf ein Dach klettern sollte. Allein es zeigte sich jetzt, daß es ihm nicht an Kraft und Geschicklichkeit, sondern nur an der nötigen Arbeitslust gefehlt hatte. Mit einigen derben Stößen schob er das Schilderhaus vor das Tor, kletterte dann hinauf, zerrte die Fahne herunter und warf sie in den Staub. Der Kommissär wollte sie aufheben, allein ein Rasender bemächtigte sich ihrer, zerriß den Stoff, band das rote Stück an die Stange und schwang sie nun triumphierend über seinem Kopf, während die Menge schrie: »Die rote Fahne! Bravo! Die rote Fahne! Es lebe die Revolution! Nieder mit der Armee! Nun hängen wir den Kommissär statt der Trikolore auf!«
Mehr als zwanzig Arme ergriffen den Kommissär, und schon befestigte Chapuis, der wieder aufs Schilderhaus geklettert war, einen Strick an dem eisernen Ring, der die Stange gehalten hatte, als das Kasernentor sich von neuem öffnete. Das heftig umgestoßene Schilderhaus rollte zur Seite, und in Kolonne zu vieren rückten die Dragoner im Trab auf den Platz. Trompetensignale ertönten, die Glieder schwärmten aus, und im Nu war die Menge zerstreut, die unter wildem Fluchen in den anstoßenden Straßen verschwand. Auf dem frei gewordenen Platze befand sich jetzt unter den herumliegenden Mützen und Hüten, die die Aufrührer verloren hatten, niemand mehr als der General und seine Offiziere, die mit dem Polizeikommissär verhandelten.
* * *
Im Bureau des Unterpräfekten Crânet hatten Didelod und Bouillaud ein Gespräch unter vier Augen. Der Abgeordnete der geeinigten Sozialisten war um vier Uhr mit dem Schnellzug eingetroffen und hatte Didelod sofort von seiner Anwesenheit benachrichtigt. Der Unterpräfekt hatte die beiden Herren dann sich selbst überlassen und sich in seine Privatwohnung zurückgezogen, da er einer Unterredung lieber nicht anwohnen wollte, die in politischer Beziehung von ernsten Folgen sein konnte. Der junge Crânet, der ein ausgesprochener Streber war, behielt sich vor, zuerst die herrschende Stimmung zu ergründen und sich dann erst für das zu entscheiden, was sein Vorrücken am meisten begünstigen würde. Um sich jedoch ein Privatgespräch mit dem sozialistischen Führer zu verschaffen, hatte er Bouillaud am Bahnhof abgeholt, ohne Didelod davon zu benachrichtigen. Dann erst, nachdem er Bouillaud in sein Bureau gebracht hatte, war er persönlich zum Abgeordneten von Lehrange gegangen, um ihn zu holen.
Einander gegenüber sitzend, unterhielten sich die beiden Politiker aufs lebhafteste. Bouillaud, ein junger Advokat von zweiunddreißig Jahren, war schlau wie ein Fuchs und vorsichtig wie der geriebenste Richter. Nur wohlüberlegte Worte kamen auch bei den heftigsten, dabei aber stets klug eingeleiteten Debatten aus seinem Munde, und so galt er allgemein für den geschicktesten Führer der sozialistischen Partei. Bei deren Kongressen hatte er eine solch außergewöhnliche Geschmeidigkeit und einen solchen Scharfsinn an den Tag gelegt, daß er sich sowohl das Wohlwollen der kollektivistischen Theoretiker als der revolutionären Männer der Tat erworben hatte. Er war von mittlerer Größe, sehr brünett, hatte einen schwarzen, wie aus Holz geschnitzten Vollbart, durchdringende, von hochgeschwungenen Brauen überragte Augen und einen kleinen Mund. Seine weiche, klangvolle Stimme hatte etwas Bezauberndes. Er brauchte nur den Mund aufzumachen, und Stille herrschte – so groß war der Genuß, ihm zuzuhören. Er trieb jedoch auch manchmal ein wenig Mißbrauch mit dieser Gabe und schwelgte im Klang seiner eigenen Worte. Kaum je hat ein Phrasendrechsler mehr zu blenden und sich den Anschein eines tiefen Denkers zu geben vermocht, als er. Dabei war es lediglich der hinreißende Zauber seiner Stimme, der über seine Hohlheit hinwegtäuschte. – In diesem Augenblick hörte er, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, Didelod mit großer Aufmerksamkeit zu, während dieser ihm die eigentümliche industrielle Lage an der deutschen Grenze auseinandersetzte.
»Es ist einfach ein soziales Verbrechen, die Arbeiter zum Streik aufzureizen, wenn durch die ausländische Konkurrenz der Stillstand der Arbeit illusorisch wird. Verstehen Sie mich recht. Ein Druck auf Fabrikherren meiner Art ist wertlos. Ich brauche ja nur einen kurzen Befehl zu geben, um dem ehernen Gesetz, das durch die Einstellung der Arbeit auf der ganzen Industrie lastet, zu entgehen. Ein Wort durchs Telephon, und meine Bestellungen werden in Steingel ausgeführt. Ich schließe meine Werke, blase meine Öfen aus und lasse meine Arbeiter ruhig die Hände in den Schoß legen. Nach vierzehn Tagen sind sie dann entweder verhungert, oder sie haben einen Gewaltstreich ausgeführt. Das aber will ich durchaus vermeiden, denn meine Arbeiter liegen mir wirklich am Herzen, ich bin gewohnt, sie gut zu behandeln, und stets bereit, ihre Lage in ausgedehntester Weise zu verbessern. Alles, was sich mit einem ersprießlichen Gang der Fabrik vereinigen läßt, will ich nicht nur bewilligen, sondern sogar aus freien Stücken anbieten. Jedermann weiß das. Deshalb begreife ich auch die Bewegung absolut nicht, die sich hier anbahnt, und die jeden Augenblick ausbrechen kann.«
»Die Sache ist rein politischer Natur,« entgegnete Bouillaud, den Kopf schüttelnd. »Stylb, mit dem ich hierher gereist bin, hat gar kein Hehl daraus gemacht.«
»Aber warum kommt Stylb denn nicht zu mir? Seit zehn Jahren duzen wir uns. Führt er denn etwas Schlimmes gegen mich im Schilde?«
»Nein; nur sich selbst will er nicht schaden. Käme er aber zu Ihnen, so würde man sofort sagen, er habe sich bestechen lassen.«
»Wenn er zu mir, dem radikal-sozialistischen Abgeordneten, geht? Hegt man denn Verdacht gegen mich? So weit ist es also schon gekommen?«
»Mein Lieber, die Revolution gleicht dem Saturn; sie frißt ihre eigenen Kinder auf. Jeder ist dem Verdacht ausgesetzt. Ein Mann, der jahrelang ein Vorkämpfer der Partei war, wird plötzlich von einem Kühneren oder Gewaltigeren überholt und verschwindet als ein Opfer des politischen Wettlaufs. Das ist eben die Schattenseite unsrer Regierungsform. Sie ist so leicht zugänglich, daß sich jeder, der schöne Dinge verspricht, auch wenn sie noch so hirnverbrannt sind, erfolgreich hineinstürzen kann. Wenn die Wählerschaft ihm Vertrauen schenkt, so steigt er im Handumdrehen über die Köpfe der einstigen Volkslieblinge hinweg und wird Herr der Situation.«
»Aber das ist ja eine haarsträubende Undankbarkeit!«
»Die demokratischen Regierungen dürfen sich alles erlauben, auch die Undankbarkeit. Glauben Sie, man mache der Regierung zuliebe so viele Anstrengungen? O nein; jeder sorgt nur für sich selbst. Dem Volke ruft man zu: ›Du bist groß, du bist edel, du bist gerecht!‹ Was so viel heißen will als: ›Überlaß mir deine Macht, damit ich über dich herrsche.‹ So lange das Volk nur Schmeichelworte heraushört, ist alles gut. Merkt es aber, was dahintersteckt, dann zerschlägt es seinen Götzen und geht zu einem andern über. So wird es ewig am Narrenseil herumgeführt. Es wäre also unrecht, Dankbarkeit von ihm zu verlangen.«
»Aber mein lieber Bouillaud, glauben Sie denn an keine Uneigennützigkeit?«
»Ebensowenig als an eine Tugend.«
»Sie denken also, ich zum Beispiel hätte mich mein Leben lang für meine Arbeiter abgemüht . . .«
»Aus Ehrgeiz.«
»Und Sie?«
Bouillaud hob den Kopf. Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht, und unter dem dichten Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln.
»Ich? Mein Lieber, ich bin der Sohn eines Gerichtsschreibers aus der Provinz und als Stipendiat in einer Kongregationsschule meines Geburtsstädtchens erzogen worden. Meine Laufbahn habe ich damit angefangen, für die Bauern des Distrikts um zehn Franken Prozesse vor dem Friedensrichter zu führen; dann bin ich zum Gerichtshof übergegangen. Jahrelang habe ich mit der Not des Lebens gekämpft, keine Socken in meinen Stiefeln getragen und mich kaum satt gegessen. Trotzdem sich mir die Gelegenheit zu unsauberen, aber sehr einträglichen Geschäften geboten hat, bin ich doch unbescholten geblieben. Viel habe ich ausgestanden, um mir meine Zukunft zu sichern, jetzt aber, ich schwöre es Ihnen, da ich den Fuß auf die ersten, zur Höhe führenden Stufen gesetzt habe, jetzt müßte man mir schon das Leben nehmen, wenn man mich wieder herunterreißen wollte. Ich habe die Menschen studiert bis in ihr innerstes Herz hinein und weiß, was man von ihnen zu halten hat, weiß, wie groß ihre Niederträchtigkeit und Unersättlichkeit ist. Nun will ich sie bei meinem Kampfe mit dem Schicksal wie Schachfiguren hin und her schieben. Sie wollten wissen, was für ein Mensch ich bin; nun habe ich es Ihnen gesagt – rückhaltlos.«
Tief ergriffen schwieg Didelod eine Weile, dann sagte er: »Ah, Bouillaud, was für eine Charakterstärke Sie haben! Und wie hoch werden Sie noch steigen, falls Sie unterwegs nicht den Hals brechen! Ich habe es übrigens wohl geahnt und Hoffnungen auf Sie gesetzt wie auf keinen zweiten unsrer Partei. Auch würde es mir nicht schwer fallen, vom Schauplatz zu verschwinden, wenn ich all die Mittel, die mir zu Gebot stehen, in die Hand eines Mannes von Ihren Eigenschaften legen könnte.«
»Es wäre aber durchaus nicht nötig, daß Sie dann vom Schauplatz verschwänden, Didelod,« entgegnete Bouillaud mit einem Lächeln, »da ich Sie mit all meiner Macht halten würde.«
»Ach, wenn es nur auf mich ankäme,« rief der Abgeordnete von Lehrange, »so wären wir bald im reinen. Jawohl, der Plan, Sie in meine Familie aufzunehmen, liegt mir mehr als je am Herzen. Der Ausgangspunkt Ihrer Laufbahn kümmert mich nicht. Ich sehe nur das Ziel, dem Sie zustreben. Kein Schwiegersohn könnte mir willkommener sein als Sie . . . Aber meine Frau und Tochter . . . deshalb habe ich Sie gebeten, hierher zu kommen. Mitten in dem hier beginnenden Konflikt werden Ihre Autorität und Ihre Beredtsamkeit Gelegenheit finden, sich zu betätigen – Sie werden sich von Ihrer vorteilhaftesten Seite zeigen können. Ich will Sie meiner Familie vorstellen und den Meinigen sagen, die in dieser Gegend herrschenden Unruhen hätten Sie hierhergeführt. Sie seien zum Schiedsrichter zwischen den Ausständigen und den Chefs gewählt worden. Als Retter erscheinen Sie hier. Seien Sie klug und sorgen Sie neben den Interessen der Partei auch für die eigenen. Ich werde Ihnen die Stange halten und bin bereit, Ihnen meine Tochter zu geben.«
»Vorausgesetzt, daß Fräulein Didelod damit einverstanden ist. Gut. Ich werde mein Heil versuchen.«
»Und nun,« fuhr Didelod fort, »wollen wir zur politischen Lage zurückkehren . . .«
»Die mir als Sprungbrett dienen soll. Ich kündige Ihnen hiermit an, daß der Streik morgen ausbrechen wird.«
»In Lehrange? Nach all dem, was ich Ihnen vorhin auseinandergesetzt habe? Meine Arbeiter müßten ja rein toll geworden sein!«
»Diese Leute überlegen nicht, sondern folgen einfach einer Losung. Sie wissen ja selbst, wie die Sache gemacht wird. Auf Ihren Abgeordnetensitz hat man es abgesehen.«
»Wer denn?«
»Stylb.«
»Wie? Er könnte es wagen?«
»Heute früh hat er es mir selbst gesagt.«
»Es wird ihm nicht gelingen.«
»Das ist nicht sicher.«
»Und wenn ich mir sämtliche Wähler erkaufen müßte . . .«
»Das eben werfen wir ja unsern Gegnern vor!«
»Ich wäre ein Narr, wenn ich es ihnen nicht nachmachte!«
»Da gibt es noch ein besseres Mittel: berufen Sie sich auf mich . . .«
»Ah, Bouillaud, Sie sind meine Vorsehung!«
»Es gibt keine Vorsehung, sondern nur persönliches Geschick.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen! Die Hauptsache ist, daß wir zum Ziele kommen.«
»Das ist die Theorie des Strebertums.«
»Sie sind ein schrecklicher Mensch!«
»Ich scheue mich nur nicht, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Wozu heucheln? Wen betrügt man denn? Weder die andern, noch sich selbst.«
»Nun, jedenfalls sind wir einig, nicht wahr?« rief der Abgeordnete von Lehrange, indem er Bouillaud herzlich die Hand entgegenstreckte.
Dieser schaute Didelod scharf an, dann berührte er dessen Hand leicht mit dem Zeigefinger und sagte: »Mein Lieber, das hängt jetzt alles von Fräulein Didelod ab.«
»Also gehen wir nach Badonviller zur Familientafel.«
Er erhob sich, ließ Bouillaud den Vortritt und führte ihn zu seinem Wagen, der im Hof der Unterpräfektur wartete.
»Steigen Sie ein, mein lieber junger Freund.« –
* * *
Nach dem Krawall vor der Chevertkaserne waren die Ereignisse mit unheimlicher Schnelligkeit aufeinander gefolgt. Die durch den Angriff der Dragoner im höchsten Grade erbitterten Arbeiter hatten sich unter aufrührerischem Geschrei durch die Straßen der Stadt gestürzt. Im Sturm war das Polizeikommissariat genommen und Tournemarie befreit worden. Dieser hatte dann sofort die Richtung nach seinem Hause eingeschlagen: konnte er es doch kaum erwarten, bis er seiner Tochter gegenüberstehen würde. Es war fast acht Uhr, als er das Eßzimmer betrat, wo seine Frau, Hortense und Gabriele nach langem Warten sich endlich zum Abendessen niedergesetzt hatten. Tournemarie warf seine Mütze aufs Kamin, und als seine Frau ihn mit einem Ausruf der Befriedigung begrüßte, sagte er barsch: »Gewartet hast du? Es ist das helle Wunder, daß ich überhaupt hier bin, anstatt im Loch zu sitzen!«
Und mit wütendem Gesicht auf seine Tochter deutend, fuhr er fort: »Hat dir denn dieses Frauenzimmer da nichts gesagt?«
»Was hätte sie mir denn sagen sollen?«
»Wo sie vorhin gewesen ist, anstatt direkt nach Hause zu gehen.«
Und als er Hortense zwar blaß, aber unbeweglich und stumm dasitzen sah, schrie er sie an: »So rühr dich doch, anstatt hier ruhig sitzen zu bleiben, wenn ich mit dir rede, du freche Person!«
Dabei faßte er sie am Arm und schüttelte sie.
»Aber Tournemarie,« rief die erschrockene Mutter, »wenn du nur wenigstens erklären wolltest . . . Wo ist sie denn gewesen, daß du eine solche Wut auf sie hast?«
»Bei ihrem Liebhaber! Jawohl, hörst du, bei ihrem Liebhaber! Die Soldatendirne!«
»Geh in dein Schlafzimmer,« befahl die Mutter der jüngeren Tochter, und sich wieder an ihren Mann wendend, fuhr sie fort: »Was faselst du da? Hortense, mein Kind? Das ist ja ganz unmöglich!«
»Sieh sie dir nur an,« entgegnete Tournemarie.
Hortense, die kerzengerade mit kaltem, todesblassem Gesicht in einer Ecke neben der Anrichte an die Wand gelehnt dastand, schleuderte ihrem Vater haßerfüllte Blicke zu, während die entsetzte Mutter, auf sie zugehend, sagte: »Sprich, liebes Kind. Du siehst meine Angst, meinen Kummer, du weißt, wie lieb ich dich habe. Befreie mich von einem solch grenzenlosen Schmerz, da du es ja doch sicherlich kannst . . . Du antwortest nicht? Großer Gott, mein Hortensechen! Ist es möglich? Du, mein gutes, wackeres, stolzes Töchterchen! O, wodurch habe ich ein solches Unglück verdient?«
Und weinend ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.
»Du? Nein, du hast das nicht verdient,« sagte das junge Mädchen traurig. »Und wenn ich nur dich gehabt hätte, wäre es auch nicht so weit gekommen!«
»Ei, sieh nur,« rief Tournemarie, »nun soll am Ende ich gar noch schuld daran sein!«
»Jawohl,« rief Hortense unerschrocken, »du bist schuld daran! Ich habe es satt, deiner Faulheit zu dienen, mir von früh bis spät die Beine abzulaufen, damit du die Hände in den Schoß legen kannst. Ich nähe mir die Augen blind, während du deine Kameraden im ›Tannenzapfen‹ traktierst. Alles Geld, das du von der Streikkasse bekommst, geht in Alkohol auf. Und wir, die Mutter und ich, schinden uns ab, um wenigstens nicht zu verhungern. Ja, wenn ich nur das Beispiel der Mutter gehabt hätte, wäre ich schon brav geblieben. Aber warum soll denn ich mir Zwang antun, da du doch auch nur tust, was dir gefällt? Jeder nach seinem Geschmack. Du machst den Großsprecher in den Wirtshäusern, und ich, ich folge meinem Herzen.«
»Und das für solch einen verfluchten Säbelraßler!«
»O, verschone mich mit deinem hohlen Zeitungsgeschwätz. Du hast kein Recht, etwas gegen meinen Liebhaber zu sagen, nachdem du ihn hast ermorden wollen!«
»Ermorden?« wiederholte die Mutter entsetzt.
»Jawohl, ermorden!« rief Hortense höhnisch. »Und dabei war er auch noch betrunken! Übrigens glaube ich, daß er sonst nicht so dumm gewesen wäre, Skandal zu machen, und zwar für nichts und wieder nichts. Er kann von Glück sagen, daß man ihm nicht die Knochen entzwei geschlagen hat!«
»Du bedauerst das wohl, was?«
»Ich? Das ist doch mir egal!«
»Wenn man deinen Vater umbringt?«
»Ist das denn überhaupt ein Vater? Wodurch hat er mir denn gezeigt, daß er Vaterrechte über mich hat? Durch die Dachteln, die ich von ihm bekommen habe, seitdem ich auf der Welt bin? Was für ein Beispiel hat er mir gegeben? Das der Liederlichkeit, der Faulheit und der Trunksucht. Das sind nette Lehren! Nicht einmal taufen hat er mich lassen, o nein! Nicht mehr wert bin ich als unseres Nachbars Hund. Ich habe keine Religion, keine Moral, niemals habe ich von etwas andrem reden hören, als man solle das Leben hier auf der Erde genießen, denn nachher sei doch alles aus. Nun denn, ich tue, was man mich lehrt. Ich habe einen netten jungen Mann kennen gelernt, der mir gefällt. Warum hätte ich ihn zurückweisen sollen? Man lebt ja nur einmal, wie Papa und seine Freunde sagen. Also genießen wir den Augenblick!«
»Hortense!« rief ihre Mutter stöhnend. »Du zerreißt mir das Herz!«
»O, Mütterchen,« fuhr das junge Mädchen fort, »dir gilt das nicht. Ich weiß wohl, daß du ebenso ein Opfer bist wie ich. Wenn es nach deinem Willen gegangen wäre, dann hätte man mir andre Grundsätze eingepflanzt, und vielleicht wäre ich durch die Lebensanschauungen, die ich dann bekommen hätte, in Schranken gehalten worden. Ich bin nicht schlecht, das weißt du, und ich hätte dir auch so gerne keinen Kummer gemacht, aber wenn man sich so unglücklich fühlt, wenn man um sich her so viele schlechte Menschen sieht, denen alles glückt, dann bäumt man sich schließlich auch auf, hat keine Kraft mehr, sich in sein Schicksal zu finden. Und überdies, wozu auch? Man sieht das Glück vor sich auftauchen, man fürchtet, es könnte einem für immer entschwinden, und da läßt man sich denn hinreißen, danach zu greifen. Verzeih mir, liebe Mutter, wenn ich dir Kummer gemacht habe. Ach, weißt du, das allein tut mir leid, denn das andre bereue ich nicht, brauche ich nicht zu bereuen. Ein jeder ist Herr über sein Leben, und ich habe das meinige so eingerichtet, wie es mir gefällt.«
»Na, dann scher dich mal vor allem von hier fort,« schrie Tournemarie sie an. »Ich will keine Dirne in meinem Hause haben.«
»Und wer soll morgen Bäcker und Metzger bezahlen?« fragte das junge Mädchen voll Bitterkeit. »Fortscheren soll ich mich! Hübsche Redensart! Und was dann? Wird Herr Tournemarie, der Streikfabrikant und berühmte Volksredner, das nötige Geld herbeischaffen? Willst du dir vielleicht das Faulenzen abgewöhnen? Na, wenn man auf dich rechnen wollte, um etwas zu essen zu bekommen, dann würde einem bald der Magen einschnurren.«
»Willst du schweigen, du Lästerzunge!«
»O, ich fürchte mich nicht vor dir. Deinen Revolver, den hast du ja auf dem Polizeiamt gelassen.«
»Ich kann dich auch totschlagen!«
»Bah, das wäre eine zu große Anstrengung für dich. Du wirst dich wohl hüten!«
»Hortense!« rief die Mutter. »Ich befehle dir, zu schweigen.«
»Gut, Mutter, ich sage nichts mehr.«
»Und du, Tournemarie, sei nicht so hart gegen sie; ihr Betragen ist ja skandalös, aber mit Schelten bringen wir sie nicht auf den rechten Weg zurück. Komm, setz dich, Mann, und laß uns zu Abend essen; es ist schon schrecklich spät.«
Damit öffnete die arme Frau die Schlafzimmertür und rief Gabriele herein: »Komm, wir wollen jetzt essen.«
»Na, Zeit wäre es dazu.«
»Gib deinem Vater zuerst einen Kuß.«
Mit mürrischem Gesicht ließ Tournemarie es geschehen. Als seine Frau dann aber die Suppe hereinbrachte, schnüffelte er gierig, sein Gesicht hellte sich auf, und sich setzend, fing er schweigend an zu essen. –
Am nächsten Vormittag zu derselben Zeit, als Bouillaud mit Didelod in der Kanzlei des Unterpräfekten verhandelte, hatte Hortense, von ihrer Arbeit kommend, den Weg nach der Rue du Pont eingeschlagen. Sie konnte es kaum erwarten, den Freund wiederzusehen. Nach der stürmischen Auseinandersetzung, die sie mit ihrem Vater gehabt hatte, war sie weniger ängstlich bemüht, ihre Besuche bei Maubrun zu verbergen. Ihr Gang war eilig; sie zitterte, den Geliebten zu verfehlen, obgleich er ihr gesagt hatte, daß er zu dieser Zeit keinen Dienst haben werde. In der Stadt hatte sich jedoch das Gerücht verbreitet, dem Militär sei infolge der Geschichte vom Tage vorher das Verlassen der Kasernen verboten worden. Die kleine Gartentür stand offen, und Chauvin putzte ein Pferd im Hofe. Als er das junge Mädchen hereinkommen sah, ließ er seine Bürste fallen, grüßte militärisch und sagte: »Der Herr Leutnant sind soeben nach Hause gekommen; aber ich glaube nicht, daß er hier zu Mittag ißt.«
Hortense dankte dem Burschen mit einem Nicken und trat ins Haus. Maubrun, der in Uniform war, kam ihr entgegengelaufen und fing sie in seinen Armen auf.
»Nun, mein Liebchen, wie geht es dir heute morgen? Kannst du ein wenig hierbleiben?«
»Ich habe eine Stunde frei.«
Er führte sie in ein Zimmer des Erdgeschosses, das er als Arbeitszimmer benützte. Waffen, Bilder und Gobelins schmückten die Wände. Ein Bücherschrank, bequeme Lehnstühle und ein riesiger Diplomatenschreibtisch vervollständigten die Einrichtung.
»Setze dich, Geliebte, und erzähle.«
»Ach, Eduard, die Unterredung gestern abend mit meinem Vater war kein Spaß. Er war wütend: wenig fehlte, so hätte er mich geschlagen.«
»Aber hat er sich jetzt wenigstens beruhigt?«
»Ja, als er erfuhr, daß die Sache keine schlimmen Folgen für ihn hatte.«
»Was für Scherereien, um das zu erreichen! Der Kommissär wollte nämlich durchaus nicht locker lassen, trotzdem ich ihm mehrmals wiederholte, daß ich keine Beschwerde führen wolle, daß ich nicht wisse, um was es sich handle, und daß dein Vater nicht auf mich geschossen habe. Allein er warf ein, der Revolver, der Polizeidiener und die Zeugen sprächen alle gegen diese Behauptung. ›Wenn ich Ihnen aber doch versichere, daß er in die Luft geschossen hat,‹ sagte ich. ›Er wollte mich nur aus dem Hause herauslocken und hat deshalb in meinem Garten Spektakel gemacht. Ihre Zeugen aber, die ohne Erlaubnis in meinen Garten eingedrungen sind, haben gar nichts gesehen.‹ Schließlich mußte dann die Vermittlung des unvermeidlichen und allmächtigen Didelod eingeholt werden, der in seiner Eigenschaft als Bürgermeister dem Polizeidiener, und in seiner Eigenschaft als Deputierter dem Polizeikommissär die entsprechenden Weisungen erteilte. Kurz, der Vorfall wird nun keine weiteren Folgen haben. Aber wenn auch für dich und mich alles wieder im reinen ist, so stehen die Sachen sonst doch recht schlecht. Die Streikenden haben gestern abend Ausschreitungen vor der Kaserne begangen und die Fahne heruntergerissen und zerfetzt. Darüber sind die Soldaten so wütend, daß man sie in die Kaserne konsignieren mußte, um Zusammenstöße zu verhüten. Und diese Internierung wird ihre Stimmung nicht gerade verbessern. Säbelhiebe schweben in der Luft. Und ich kann dir nicht sagen, wie demütigend es für uns Offiziere ist, der Gefahr ausgesetzt zu sein, vor den Augen der Deutschen, die von der Grenze aus zuschauen, auf die eigenen Landsleute einhauen zu müssen.«
»Ach, Geliebter, wie gut du bist! Wie schön ist alles, was du tust und sagst!«
»Na, na, Hortense! Werde mir nur nicht sentimental, mein Puttchen. Ich bin nämlich gar nichts Besonderes. Alle meine Regimentskameraden denken wie ich. Ei, ei, du weinst?«
»Ja. Ich bin so glücklich, es tut mir wohl. Meine Nerven waren entsetzlich erregt. Eduard, ich liebe dich! Wie so ganz anders bist du, als die Leute, unter denen ich lebe!«
»Es sind brave, aber keine glücklichen Menschen, mein Herzchen, mit denen man viel Nachsicht haben muß. Weißt du, es wird ihnen so viel dummes Zeug vorgeschwatzt, daß sie schließlich gar kein richtiges Urteil mehr haben. Man versichert ihnen, man könne reich werden, auch ohne zu arbeiten, man könne durch eine Wahl alles erreichen, und daß das allgemeine Stimmrecht volle Freiheit des Wortes und der Tat einschließe. Wie soll man sie eines Besseren belehren, wenn sie sehen, daß solche Wunder bei einigen von ihnen tatsächlich geschehen? Da vergeht ihnen die Lust zum Arbeiten; sie werden verbittert und versuchen, durch Gewaltstreiche eine Umwälzung ihrer sozialen Lage herbeizuführen. Niemals werden sie zum Erwerben angehalten, sondern immer nur zu einem gewaltsamen Ansichreißen. Die Besitzenden stellt man als Räuber hin. Da glauben sie natürlich, sie hätten das Recht, die Reichen auszuplündern, machen es sich aber nicht klar, daß sie dadurch ja selbst zu Räubern werden. Das Hauptunglück ist eben, daß man sich nicht mehr damit befaßt, das Rechtsgefühl zu wecken, sondern nur noch damit, die Begierden zu reizen. Dadurch muß die Welt notgedrungen in Barbarei und Roheit zurücksinken.«
Mit lächelndem Munde und verzücktem Blick hörte das Mädchen zu.
»Ach, wie gut verstehe ich alles, was du mir da sagst, und wie sehr fühle ich, daß du recht hast! Niemals hat man über diese Dinge mit mir gesprochen, und doch hätte man mir gerade das vor allem andern beibringen sollen. Lehrt denn deine Religion das alles?«
»O, du kleine Barbarin, denn du bist wirklich von einer barbarischen Unwissenheit,« sagte Maubrun belustigt. »Die Religion lehrt allerdings die moralischen Grundsätze; aber auch die Bildung lehrt sie.«
»Warum sagt man uns dann in den Schulen nichts davon?«
»Ah! Warum? Das ist eine sehr schwierige Frage, mein Kind, die ich dir nicht so im Handumdrehen beantworten kann. Aber möchtest du denn wirklich, daß wir uns mit solch ernsten Dingen beschäftigen?«
Er hatte sie in seine Arme genommen und liebkoste mit den Lippen die Haare, die sich an den Schläfen des jungen Mädchens kräuselten. Die blauen Augen zu ihm aufschlagend, sagte sie ein wenig schmollend: »Du findest mich sehr dumm, nicht wahr? Und es langweilt dich, mich zu belehren. Ich möchte aber doch so gerne alles das wissen, was du weißt. Mir ist, als brächte mich das dir näher.«
Lachend antwortete er: »Da hat sich die schöne Hortense einen seltsamen Lehrmeister ausgesucht. Von einem Dragonerleutnant will sie sich einen gelehrten Vortrag halten lassen?«
»Eduard,« entgegnete sie, den Kopf schüttelnd, »mach dich nicht lustig über mich. Das ist nicht nett. Ich möchte so gerne deiner Religion angehören.«
»Nun, da mußt du zum Pfarrer von Lehrange oder zu einem seiner Vikare gehen, die werden dich mit tausend Freuden darin unterrichten. Aber was werden die Deinigen dazu sagen?«
»O, das ist mir ganz gleich! Übrigens wird meine Mutter schon damit einverstanden sein. Ach, mir scheint, als wäre ich weniger traurig, wenn ich zum lieben Gott beten könnte. In allen Büchern, die ich lese, in den Zeitungsromanen, die meine Freundinnen mir leihen, haben alle rechtschaffenen Leute religiöse Gesinnungen, und das hält sie in den Prüfungen des Lebens aufrecht. Ist das nun richtig? Oder ist es nur eine Erfindung des Schriftstellers, um den Leser zu fesseln?«
»Nein, mein süßer Schatz, das ist keine Erfindung, sondern die reine Wahrheit. Seit Jahrhunderten haben alle guten Menschen die Hilfe des Himmels angerufen. Die Religion bietet viel Trost. Ich selbst, weißt du, gehöre ja nicht zu denen, die die Religionsgebräuche beobachten, und besuche nur selten mal die Messe, aber in wichtigen Augenblicken habe ich meine Gedanken doch stets zu Gott erhoben, um Mut und Zuversicht von ihm zu erbitten.«
»Erzähle mir einen solchen Fall.«
Der Leutnant lächelte, und den Kopf des jungen Mädchens an seine Schulter lehnend, begann er: »Vor zwei Jahren, als ich bei den Chasseurs d'Afrique in Tlemcen stand, brachen Unruhen im Süden aus. Die Bu-Salem, sehr wilde, räuberische und abenteuerlustige Araber, hatten unter Stämmen, die uns unterworfen sind, eine Razzia unternommen. Eine Expedition wurde abgeschickt, und ich bekam den Auftrag, mit sechzehn Mann den Feind zu beobachten. Wir waren schon recht weit vorgedrungen, als die Nacht uns zwang, bei einem Brunnen in der Nähe eines Marabu, wo ich meine kleine Schar unterbrachte, halt zu machen. Gegen zwei Uhr Morgens hörte ich – denn ich wachte, da in solchen Fällen der Anführer stets die Augen offen halten muß – einen Schuß fallen, und mit dem Rufe: ›Die Araber!‹ ging der Wachtposten zurück. Im Nu war alles auf den Beinen, den Karabiner in der Hand. Es war herrlicher Mondschein, man konnte fast so gut sehen wie am Tage, und vom Dach unsres Marabus, auf das ich geklettert war, entdeckte ich, daß wir von einer starken Schar umringt waren.«
»Wie viele waren es denn?«
»Wenigstens zweihundert. Ohne weiteres eröffneten sie das Feuer. Die Kugeln klatschten nur so auf die steinerne Mauer. Wir aber besaßen nicht mehr als fünfzig Patronen pro Mann. Hätten wir auch geschossen, so wäre uns nach einer Viertelstunde Schnellfeuer nichts andres übrig geblieben, als uns mit der blanken Waffe zu verteidigen. Wir mußten also einen Angriff abwarten, ehe wir von unsern Karabinern Gebrauch machten.«
»Und dann?«
»Dann stürzten sich die Araber auf den Marabu, um ihn zu stürmen. Viermal wiederholten sie den Angriff, wobei jedesmal einige von ihnen auf dem Platz blieben. Ich sah, wie unsre Munition zusammenschwand, auch hatte ich schon drei Verwundete und einen Toten. Nur zwölf von uns waren noch kampffähig, und ich sagte mir: wenn die Kameraden das Gewehrfeuer nicht hören, wenn sie uns bei Sonnenaufgang nicht zu Hilfe kommen, wird uns nichts übrig bleiben, als aufzusitzen und uns zu Pferd durchzuhauen. Wie viele werden zur Truppe zurückkehren? Wie viele auf dem Kampfplatz bleiben? Weißt du, Hortense, in solchen Stunden, da überkommt einen das Gefühl der eigenen Ohnmacht und man schaut nach oben, um sich Kraft zur Erfüllung seiner Pflicht zu erflehen. Unter diesem klaren Himmel, in dieser Sternennacht, da wurde es mir zur Gewißheit, daß nicht der Zufall die Welt regiert, sondern eine höhere Macht unsre Geschicke lenkt, überwältigt von der erhabenen Größe um mich her, habe ich im Gefühl meiner Schwäche ganz so wie ein kleines Kind mein Gebet gesprochen.«
»O mein geliebter Eduard! Und dann?«
»Dann, nun dann ist mein Gebet erhört worden, da ich ja hier bin, bei dir.«
»Deine Kameraden sind also gekommen?«
»Ja, bei Tagesanbruch.«
»Und die abscheulichen Araber?«
»Sind geflohen wie ein Zug Raubvögel.«
»Und deine Vorgesetzten haben dich belobt?«
»O nein; was ich getan hatte, war ja nur selbstverständlich. Man hat die Verwundeten im Tagesbefehl lobend erwähnt, den Toten begraben und die Expedition fortgesetzt, die von diesem Augenblick an keine Schwierigkeiten mehr bot.«
»Einerlei. Dir hatte man eben doch alles zu verdanken.«
»Für einen Helden hältst du mich also, mein Engel?«
»Lache nicht. Ja, dafür halte ich dich.«
»Ich verbiete es dir ja auch gar nicht. Aber die Zeit vergeht, lieber Schatz. Ich muß in die Kaserne zurück.«
»Ist es denn absolut notwendig?«
»Gewiß. Unsern Leuten ist das Ausgehen verboten, da gehört es sich, daß wir bei ihnen bleiben.«
»Es wird mir furchtbar schwer, mich von dir zu trennen. Setzst du dich wenigstens keiner Gefahr aus?«
»Was denn für einer? Wir ziehen doch nicht in den Krieg.«
»Das nicht; aber wenn die Ausständigen euch nun angreifen, so wie gestern?«
»Dann tritt man ihnen mit den Pferdehufen auf die Füße.«
»Und wenn sie nach euch schießen?«
»Wozu denn?«
»Wer kann das wissen? Ein Bösewicht hat nicht immer Gründe für seine Bosheit.«
»Bah! An so etwas muß man nicht denken. Und dann, es ist nun mal unser Handwerk.«
»So schickst du mich fort?«
»Ich muß es ja, leider Gottes.«
»Wann werde ich dich wiedersehen?«
»Morgen, wenn du um dieselbe Zeit kommen kannst.«
»Ich werde es so einrichten. Nun, dann will ich eben gehen.«
Den Hals des Leutnants umschlingend, küßte sie ihn inbrünstig, während Tränen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, ihr über die Wangen rollten. Zärtlich lächelte er ihr zu.
»Ei, ei, du Dummerchen! Was soll das heißen?«
Auch sie zwang sich zu einem Lächeln, trocknete die Augen und sagte in entschlossenem Tone: »Du hast recht. Es ist zu dumm! Auf Wiedersehen also.«
Er begleitete sie noch bis ans Gartenpförtchen, dann entfernte sie sich eilig.
* * *
Im großen Speisesaal von Badonviller war das Gabelfrühstück nahezu beendigt. Bouillaud, der rechts von Frau Didelod saß, hatte den Gastgebern die Ehre angetan, seinen Geist leuchten zu lassen, und wirklich sehr glänzende Eigenschaften an den Tag gelegt. Der Abgeordnete von Lehrange strahlte. Auf seinem Gesicht stand geschrieben: »Nun seht ihr selbst, was für ein Mann er ist. Ich habe nicht zu viel gesagt!«
Bouillaud schloß soeben ein mit großem Feuer vorgetragenes Loblied auf die Demokratie und drückte seine stolze Befriedigung darüber aus, daß die Sozialisten nun doch ans Ruder gekommen seien. Es war dies Didelods Lieblingsthema, ein Thema, das seiner Frau ganz besonders greulich war, und das bei Laurence und Moritz den lebhaftesten Widerspruch zu erregen pflegte. An diesem Tage aber entgegnete niemand etwas darauf, und es schien, als sei jegliche Opposition gegen die neuen Ideen erstickt. Didelod war dieses Schweigen verdächtig, denn ein solcher Sieg wäre gar zu glänzend gewesen. »Sollte Bouillaud«, so dachte er, »wirklich das Wunder vollbracht haben, meine Familie durch die Macht seiner Beredtsamkeit zu den mir teuren Ansichten zu bekehren? Nein. So hinreißend diese auch ist, das kann sie in dieser kurzen Zeit doch nicht zuwege gebracht haben. Hinter dieser anscheinenden Nachgiebigkeit steckt eine heimliche Falle. Meine reaktionären Angehörigen wollen wahrscheinlich die sich vorbereitende Manifestation abwarten und erst dann Farbe bekennen. Doch wenn Bouillaud schlau ist, macht er sich nichts daraus, sondern läßt die Tiraden meiner Umgebung lachend über sich ergehen. Jedenfalls muß Laurence, die doch ein sehr gescheites Mädchen ist, unbedingt der Unterschied zwischen Bouillaud und dem unbedeutenden kleinen Berlier auffallen. Die beiden sind ja wie Tag und Nacht.«
Man erhob sich jetzt, um in den Salon zu gehen. Bouillaud, der in der Tat sehr gute Manieren hatte, bot Frau Didelod den Arm, während der Abgeordnete von Lehrange mit Sohn und Tochter folgte. Er konnte es sich nicht versagen, die beiden zu fragen: »Nun, wie gefällt er euch?«
»O, er ist ganz so, wie ich ihn mir vorgestellt habe,« antwortete Moritz; »er verfügt über eine erstaunliche Suada und eine nicht gewöhnliche Dialektik. Schon aus seinen Reden in der Kammer konnte man entnehmen, was für ein Mann er im gewöhnlichen Leben ist. Eine interessante Sprechmaschine, weiter nichts.«
»O nein, er ist mehr als das,« entgegnete Laurence, »denn er hat wirklich schöne Gedanken und eine wunderbar bestechende Grazie des Ausdrucks. Ich begreife den Einfluß vollkommen, den er auf seine Zuhörer ausübt.«
»Ah, du wenigstens läßt dich nicht von Vorurteilen leiten!« rief Didelod erfreut.
Er trat nun an den Tisch, auf dem der Kaffee bereit stand, griff nach einem Kistchen Zigarren und bot es seinem Gaste an. Als dieser jedoch eine ablehnende Bewegung machte, sagte er: »Hier wird nämlich überall geraucht, mein Lieber.«
Allein das Kistchen zurückweisend, antwortete der junge Abgeordnete lächelnd: »Danke sehr, ich habe mir das Rauchen abgewöhnt.«
»Aber ich bitte Sie, Sie essen fast nichts, trinken nicht, rauchen nicht . . .«
»Das ist bei einem Revolutionär erstaunlich, nicht wahr?«
»Robespierre soll überaus mäßig gewesen sein,« warf Frau Didelod kalt ein.
»Allerdings, gnädige Frau,« entgegnete Bouillaud lachend, »und Marat war es noch viel mehr! Heutzutage sind aber auch Etikette, Klassenunterschiede und Titel vollständig in Mißkredit gekommen, weil man ihre Wertlosigkeit erkannt hat. Von einem Jakobiner sagt man nicht mehr, er sei ›blutdürstig‹, und von einem Reaktionär nicht mehr, er sei in Weihwasser getaucht. Man hat die alten Formeln fahren lassen. Und ebenso den alten Aberglauben. Alles entwickelt sich, wandelt sich um. Über kurz oder lang wird der Adel nur noch eine historische Erinnerung sein. Ein Mann wird künftighin lediglich nach seinem persönlichen Wert geschätzt werden und seine soziale Stellung von seinen Leistungen abhängig sein. Es wird nur ein Vorrecht geben, das der Tüchtigkeit. Das trifft übrigens derart zu, daß die jungen Leute, die sich früher damit begnügten, die Söhne ihrer Väter zu sein, und behaglich ihre Renten zu verzehren, sich jetzt bemühen, ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu betätigen und sich an Unternehmungen wenigstens zu beteiligen, wenn sie sie nicht selbst gründen. Die herkömmliche Sitte, untätig dahinzuleben, wird, wie noch so vieles andre, heutzutage scharf verurteilt. Und ich bin überzeugt, daß Ihr Herr Sohn die Absicht hat, ebenfalls zu arbeiten, so wie sein Vater, der seinerseits dem Beispiel seines Vaters gefolgt ist.«
»O, ich, Herr Bouillaud,« antwortete Moritz, der bis dahin noch keinen Ton von sich gegeben hatte, »ich wäre, wenn mein Vater mich hätte wählen lassen, Soldat geworden. Denn ich kenne keinen edleren, schöneren Beruf, da er ganz und gar auf eine Tradition gegründet ist, die nicht abgeschafft werden kann, ohne daß Frankreich vom Erdboden verschwindet, nämlich auf den Patriotismus und auf die Ehre.«
»Donnerwetter noch mal!« rief Bouillaud, Didelod anschauend. »Nun, lieber Freund, da haben wir ja den Nationalismus, wie er im Buch steht!«
Noch ehe der Abgeordnete von Lehrange den Mund zu einer Antwort öffnen konnte, hatte Laurence sich erhoben, und lebhaft das hübsche, blonde Köpfchen bewegend, fügte sie lachend hinzu: »Und Papa hat nicht nur ein solches Kind, sondern ein Pärchen.«
»Wie, gnädiges Fräulein, Sie auch?«
»Ja, ja, Herr Bouillaud, ich auch. Sie sehen, Sie und ich sind weit davon entfernt, miteinander übereinzustimmen.«
Dabei schaute sie Bouillaud mit einem solch scherzhaften Ausdruck an, daß der junge Abgeordnete im höchsten Grade betroffen war. Und doch pflegte er sonst nicht so leicht die Fassung zu verlieren. Fräulein Didelod aber fuhr mit einem solchen Freimut zu reden fort, daß ein Lächeln um die Lippen ihrer Mutter zuckte und ihrem Vater vor Verlegenheit und Verdruß der Schweiß ausbrach.
»Sie haben uns vorhin mit einer wahrhaft blendenden Kunst und Gewandtheit einen Vortrag über die Zukunft der Demokratie gehalten. Aber sie wollten Leute bekehren, die im tiefsten Innern von ihren Ansichten überzeugt sind. Diese Ansichten aber sind deshalb so unerschütterlich, weil wir aus nächster Nähe beobachten können, wohin das von Ihnen gepriesene Regime führt. Hier in Badonviller, unter der neuen Generation der Didelods, wird in erster Linie Wert auf Ordnung und Autorität gelegt; die Anarchie, zu der in der Praxis all die schönen Theorieen, die Sie uns soeben auseinandergesetzt haben, führen, ist uns ein Greuel. Selbstverständlich wollen wir nicht die Zeiten Ludwigs XIV. wieder heraufbeschwören, aber wir können doch wenigstens verlangen, daß die Gedankenfreiheit auch von denen respektiert wird, die sie seit einem Jahrhundert für sich beanspruchen, und die nur dadurch zur Macht gelangt sind, weil sie diese Freiheit unterdrückt und zu Boden getreten haben. Mein Bruder und ich stehen am Anfang des Lebens und werden beide ohne Zweifel eine neue Familie gründen. Wahrscheinlich werden wir auch Kinder bekommen. Nun denn, Herr Bouillaud, uns erscheint der Gedanke unerträglich, daß wir nicht das Recht haben sollen, ihnen eine Erziehung in der von uns gewünschten Form geben zu lassen, und von Leuten, die nach unserm Geschmack sind. Aber ich will nicht so weit in die Zukunft greifen, sondern ein näherliegendes Beispiel nehmen. Uns droht die Gefahr, am Sonntag nicht mehr die Messe hören zu können, weil die Gemeinde zu arm ist, sich einen Pfarrer zu halten. Mein Vater, der Abgeordnete von Lehrange, wird es aber für seine Pflicht halten, einem armen Pfarrer, den er seit zwanzig Jahren kennt und von dem er weiß, daß er absolut harmlos ist, seine Unterstützung ferner zu versagen. Und das alles nur, um nicht das Mißfallen seiner Parteigenossen zu erregen. Es wird also meiner Mutter und meinem Bruder nichts andres übrig bleiben, als jenseits der Grenze im Dörfchen Steingel zur Kirche zu gehen. Das sind die Folgen der Intoleranz. Wir aber lassen uns solche Zustände nicht gefallen. Sie sind uns verhaßt, weil wir uns schließlich fragen müssen, ob wir nicht ein glücklicheres, freieres Leben geführt hätten, wenn wir Deutsche geworden wären, anstatt Franzosen zu bleiben.«
»Aber gnädiges Fräulein!«
Laurence lächelte.
»Sie sind entsetzt? Warum denn? Sie müssen ja doch Internationalist sein; können also das, was ich sage, nicht unpatriotisch finden.«
»So weit gehe ich aber gar nicht, gnädiges Fräulein,« antwortete Bouillaud plötzlich mit einer gewissen Traurigkeit, »sondern ich beschränke mich darauf, die Klage zu prüfen, die aus dem Herzen einer gläubigen Christin kommt, und die sicherlich noch viele Frauen und Mädchen Frankreichs mit Ihnen teilen, und über die ich tief bekümmert bin. Das also ist das Resultat unsrer Parteikämpfe! Glauben Sie mir, der von Ihnen geäußerte schlichte, rührende Schmerz über die Aussicht, Ihre Dorfkirche könnte geschlossen werden, bedrückt mich mehr als alle die vielen hochtrabenden Beteuerungen der klerikalen Redner. Aber was tun? Seit Jahrhunderten kämpfen wir gegen die Kirche an und finden, daß ihre Vernichtung für das Gedeihen der modernen Gesellschaft absolut notwendig ist. Wie könnten wir wohl mit dieser festen Überzeugung frommen Seelen ein paar aufrichtige Tränen ersparen, indem wir auf eine unsrer notwendigsten Forderungen verzichten? Leider gibt es ja keine Evolution, die nicht Nachteile und Verluste im Gefolge hätte. Und die Männer, die mit der Durchführung der sozialen Umwälzung betraut sind, müssen sich nicht nur gegen Klagen, sondern auch gegen Kränkungen wappnen. Ohne Zaudern, die Augen immer nur aufs Ziel geheftet, müssen sie vorwärtsschreiten, getragen von ihrem guten Gewissen und von zuversichtlicher Hoffnung.«
»Und gerade das will man hier nicht anerkennen. Meine Frau . . .«
»Nun, lieber Mann,« unterbrach ihn Frau Didelod, »du mußt wenigstens zugeben, daß ich den Kindern heute das Wort gelassen und bis jetzt noch nicht eine einzige Bemerkung gemacht habe, trotzdem ich manches zu sagen gehabt hätte.«
»Eben diese korrekte Zurückhaltung ist es, was mich reizt, denn ich fühle ja, daß du all das, was ich sage und tue, mißbilligst. Täglich, stündlich ertappe ich meine Kinder bei intellektueller Auflehnung gegen mich. Ihre Denkungsart ist so verschieden von der meinigen, daß man glauben könnte, wir sprächen nicht dieselbe Sprache und gehörten nicht demselben Lande an. Kurz, man stellt mich hin, als sei ich ein Tyrann, trotzdem ich ihnen volle Freiheit lasse, und als sei ich ein Quälgeist, ich, der ich doch mit solch zärtlicher Liebe an ihnen hänge.«
»O, lieber Papa,« rief Laurence, »auch wir hängen ja doch mit zärtlicher Liebe an dir. Aber wir können doch unmöglich dir zu Gefallen weder Sozialisten werden, noch den Papst schlankweg Herr Sarto oder gar nur Sarto nennen, wenn wir von ihm reden. Ebensowenig wollen wir aus Rücksicht für deine politischen Anschauungen den Töchtern von Arbeitern, die sich in der Kirche trauen lassen, die Aussteuer, und solchen Eltern, die ihre Kleinen taufen lassen, das Kindszeug vorenthalten. Du magst solch grausames Verlangen noch so sehr mit deiner Politik beschönigen, wir finden es nun einmal abscheulich. Es ist deiner und unser und all derer unwürdig, die uns im Leben vorangegangen sind, die unsern Namen tragen und die uns zugleich mit einem großen Vermögen alle möglichen Verpflichtungen gegen unsre Mitmenschen hinterlassen haben.«
»Diese Verpflichtungen erfülle ich aber doch,« wehrte sich Didelod. »Die vielen Stiftungen, die ich gemacht habe, wirken gewiß segensreich.«
»Aber sie kommen nur einzelnen zu gut,« rief Moritz. »Auch hierin ist bei dir die Politik ausschlaggebend. Um in den Genuß deiner Wohltaten zu kommen, muß man eine gewisse politische Richtung haben. Arm zu sein, genügt nicht, man muß dabei auch knallrot sein.«
»Ich kann den Klerikalen und Reaktionären doch unmöglich Renten aussetzen!«
»Du hast aber auch kein Recht, Unterschiede zu machen! Die Humanität verbietet das. Wenn du deine Wohltaten nach Kategorieen austeilst, so heißt das als Fanatiker handeln!«
»Aber Moritz!« rief der in die Enge getriebene Abgeordnete von Lehrange. Und sich an Bouillaud wendend, fuhr er fort: »Sie sehen hier eine Familie, deren Einmütigkeit durch die Politik zuschanden geworden ist, und leider Gottes ist dies das beklagenswerte Abbild des an inneren Zwistigkeiten krankenden Frankreich.«
»Und das seinem Untergang entgegengeht,« warf Moritz ein, »wenn es nicht von einem Diktator gerettet wird.«
»Aber wer, unglückseliges Kind, wer sollte das denn sein?« rief Didelod in kläglichem Tone.
»Das weiß ich auch nicht. Allein er wird sich schon zeigen. Wer weiß? Vielleicht ist es Herr Bouillaud mit seiner gewaltigen, die Massen hinreißenden Beredsamkeit, seinem klaren, kalten Verstand und seiner politischen Kombinationsgabe.«
Lächelnd verbeugte sich Bouillaud.
»Sie schmeicheln mir und machen mich zugleich schlecht, junger Herr, denn ich könnte mich niemals dazu verstehen, meine Pflicht als Republikaner dadurch zu verletzen, daß ich die persönliche Macht zu meinem eigenen Nutzen wieder einsetzte.«
»Zum Nutzen des Vaterlandes, Herr Bouillaud,« entgegnete Moritz. »Damit würden Sie auch Ihre Pflicht als Republikaner nicht verletzen. Es würde genügen, die Verfassung zu ändern und den Präsidenten der Republik durch Volksabstimmung zu ernennen, so wie in Amerika und in der Schweiz. Damit hätte alles im Nu ein andres Gesicht. Das Autoritätsprinzip wäre wieder hergestellt. Den Ministern würde die Verantwortung entzogen, auch brauchten sie nicht mehr aus den Kammern hervorzugehen. Die Folge wäre Beständigkeit in der Verwaltung.«
»Und dann?« fragte Bouillaud neugierig.
»Und dann . . . nun, nichts weiter. Dank dieser einfachen Veränderung wäre das Vaterland nicht mehr den Intriganten und Egoisten preisgegeben. Alles würde zur Ordnung zurückkehren, kurz, wir hätten keine Regierung von Unruhestiftern mehr, die es sich nur angelegen sein lassen, das Gemeinwohl zu stören, anstatt zu sichern.«
»Das ist einfach die Lehre vom Plebiszit,« antwortete Bouillaud lächelnd. »Ich kann Ihnen aber versichern, mein lieber junger Herr, daß ich ein solches Regierungssystem niemals anerkennen würde.«
»Warum denn nicht?«
»Weil man dann am Tage nach seiner Einführung zweitausend Personen, die meine Kollegen, meine Freunde, sowie die Stützen und die belebende Kraft der republikanischen Partei sind, deportieren müßte.«
»Ja, die Aktionäre des Bankhauses ›Block & Comp.‹«
»Pst!« machte Bouillaud. »Ihr Vater ist einer seiner hervorragendsten Teilhaber.«
»Mein Vater?« widersprach Moritz energisch. »Gott sei Dank, nein! Sie täuschen sich, Herr Bouillaud. Er ist nur stiller Teilhaber, folglich der Betrogene. Und, zu unser aller Ehre sei es gesagt, er riskiert damit nichts weiter, als Geld zu verlieren!«
Die Achseln zuckend, sagte Didelod zu seinem Gast: »Messen Sie diesen Hirngespinsten nur keine zu große Wichtigkeit bei. Das Leben wird schon dafür sorgen, den Verstand dieses jungen Mannes wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Er ist ja weder dumm noch bösartig, es fehlt ihm nur die richtige Einsicht. Die Zukunft wird ihm schon die Augen öffnen. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir jetzt in die Fabrik.«
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« Und sich an Frau Didelod und deren Kinder wendend, verbeugte er sich mit tadellosem Anstand, indem er sagte: »Hoffentlich haben Sie mir meinen Freimut nicht übelgenommen, aber ich hätte mich geschämt, Ihnen gegenüber meine Ansichten zu bemänteln. Überdies habe ich dadurch die Ihrigen kennen lernen dürfen. Und ich bin weit davon entfernt, sie zu unterschätzen, da ich vor jeder Überzeugung, wenn sie selbstlos ist, die größte Hochachtung habe. Und daß die Ihrige es ist, bezweifle ich nicht im mindesten, da Sie ja nur Gutes bezwecken.«
»Werden Sie uns das Vergnügen machen, heute abend mit uns zu speisen?« fragte Frau Didelod.
»Sehr gerne, gnädige Frau,« antwortete der sozialistische Abgeordnete. »Ich werde dadurch Gelegenheit haben, noch einige Lanzen mit Ihrem Herrn Sohn zu brechen und mich vor Fräulein Didelods scharfem Verstand zu beugen.«
Die beiden Herren traten in die Vorhalle hinaus, und auf dem Wege zum Wagen, der sie nach Lehrange bringen sollte, sagte der Industrielle zu Bouillaud: »Hoffentlich nehmen Sie das Geschwätz meiner Kinder nicht ernst?«
»Ei, mein Lieber, wie könnte ich wohl anders? Haben mir doch beide das zu verstehen gegeben, worauf es ihnen vor allem ankam, daß nämlich eine unübersteigbare Kluft zwischen unsern beiderseitigen Ansichten, Gefühlen und Hoffnungen besteht. Niemals, hören Sie wohl, wird Fräulein Didelod, die durch und durch Aristokratin ist, ihre stolze Hand in die proletarische Pfote des Bürgers Bouillaud legen. Sie sind ein schlechter Beobachter, wenn Sie sich darüber auch nur der geringsten Illusion hingeben.«
»Aber, mein Lieber . . .« warf Didelod ein.
»Nein,« schnitt ihm Bouillaud das Wort ab, »nein. Ihre Kinder sind Ihnen gegenüber vollständig im Recht, denn bei Ihrer pekuniären Lage, mit Ihren Familienbeziehungen, Ihren gesellschaftlichen Verbindungen können Sie nur Bourgeois sein, und durch Ihren Verkehr mit der Demokratie deklassieren Sie sich einfach selbst. Früher oder später muß der Bruch zwischen Ihnen und unsrer Partei kommen, denn Sie und wir haben nichts miteinander gemein. Wir sind ein Heer, das sich auf dem Eroberungszuge nach dem befindet, was wir nicht besitzen: Reichtum und Macht. Sie aber und Ihresgleichen besitzen das, was wir an uns reißen wollen. Sie sehen also wohl, daß Ihr Sohn und Ihre Tochter recht, und daß Sie unrecht haben.«
»Das werde ich niemals einsehen.«
»Nun, die Ereignisse werden Sie ohne Zweifel dazu zwingen.«
Daraufhin fuhren die beiden ab.
Schluß des ersten Bandes.