Georges Ohnet
Der rote Kurs. Erster Band
Georges Ohnet

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Erstes Kapitel.

Am Zusammenfluß der Verveille und der Mosel, dicht bei der Grenze von Elsaß-Lothringen, baut sich an einem Hügel, der ein starkes Verteidigungsglacis bildet, die Stadt Lehrange mit ihren rotgedeckten Häusern und hohen Fabrikschloten auf. Unten am Ufer der Verveille grenzen fette Weideplätze an, während die Höhe des Abhangs von frischgrünen Eichenwäldern, den Ausläufern der Ardennen, gekrönt wird. Dieses Lehrange, der Hauptort des Bezirks, das etwa in der Mitte zwischen Nancy und Metz liegt, ist nicht nur Fabrikstadt, sondern hat auch eine Garnison, die aus einer Dragonerbrigade und vier Batterieen Artillerie besteht. Der Haupterwerbszweig der Bewohner ist die Eisenindustrie, die durch die umliegenden reichen Kohlen- und Erzlager außerordentlich gefördert wird. Um die Hüttenwerke von Lehrange mit den dazugehörenden Gebäuden haben sich schon früh die ersten Häuser gruppiert und damit den Grundstock zu der sich später entwickelnden Stadt gelegt.

Kaspar Didelod, der Gründer des weltberühmten Unternehmens, hat im Jahre 1817 den ersten Spatenstich in diesen an Schätzen überaus reichen Boden getan. Er ist der verdienstvolle Urheber nicht nur des Wohlstandes seiner eigenen Familie, sondern auch der ganzen Gegend. Lehrange und Didelod sind ebenso unzertrennliche Begriffe wie Creusot und Schneider, sind doch sowohl Lehrange als Creusot Orte, wo sich die Tätigkeit eines industriellen Genies entfaltet hat. Armand Didelod, der Enkel des großen Didelod, heute ein Mann von fünfzig Jahren, ist Abgeordneter des Departements Meurthe-et-Moselle, Generalrat des Bezirks Lehrange und Radikalsozialist, eine Richtung, die er nicht aus politischem Snobismus heuchelt, sondern die er aus aufrichtiger Überzeugung vertritt, so schlecht sich auch anscheinend die beiden Gegensätze – Didelods großes Vermögen und seine Gleichheitstheorieen – miteinander vertragen.

Der Großvater und der Vater des jetzigen Abgeordneten von Lehrange hatten freilich eine ganz andre politische Richtung verfolgt; der eine war ein leidenschaftlicher Parteigänger Louis Philipps, der andre ein nicht minder begeisterter Anhänger des zweiten Kaiserreiches gewesen. Sie hatten ebenfalls den Kreis Lehrange als Abgeordnete vertreten und bereits einen überwiegenden Einfluß ausgeübt, sowie die Grundlage zu dem ungeheuren Vermögen und zu der glänzenden Stellung geschaffen, die Armand Didelod zufallen sollte. Dieser brauchte somit das Werk der beiden älteren Didelods nur weiterzuführen, war aber, wie seine politischen Gegner ihm voll Bitterkeit zu verstehen gaben, der undankbarste und emanzipierteste »Sohn seines Vaters«. Denn er, dem vierzig Millionen Franken, die Hüttenwerke und Fabriken von Lehrange-Steingel, sowie eine durch Verbindungen mit den ersten Familien der Aristokratie äußerst festbegründete gesellschaftliche Stellung in die Wiege gelegt worden waren, er hatte eine ganz seltsame Wandlung durchmachen müssen, um sich schließlich den Vertretern der äußersten Linken anzuschließen. Und das war es eben, was seine Feinde und auch einige seiner Freunde ihm nicht verzeihen konnten.

Die Gründung von Lehrange war viel neueren Datums als die von Steingel. Durch die Annexion, die das lothringische Gebiet zerstückelt hatte, war der Didelodsche Besitz in zwei Teile geteilt worden, so daß die Fabriken von Steingel nun zu Deutschland gehörten. Dadurch hatte sich der Vater Didelod gezwungen gesehen, die Fabrik von Lehrange zu gründen. Diese Spaltung des Unternehmens, die möglicherweise einen Rückgang hätte bewirken können, war im Gegenteil zur Quelle eines neuen, glänzenden Aufschwungs geworden. Der zu beiden Seiten der Grenze sich erstreckende Betrieb hatte sich ganz bedeutend entwickelt und macht jetzt, was den Maschinenbau betrifft, den Creusotwerken eine ernste Konkurrenz. Der in industrieller und kommerzieller Hinsicht so günstige Dualismus hatte jedoch in politischer Hinsicht ganz eigenartige Konsequenzen nach sich gezogen.

Mit mißtrauischen Blicken hatte die Regierung der Reichslande es mit angesehen, daß sich die Direktion der auf annektiertem Gebiete gelegenen Werke in den Händen eines Franzosen befand. Es war deshalb eine Trennung vorgenommen worden, die Steingel unter die Direktion Julius Reismanns, Didelods Schwager, stellte. Reismann, der sich für die deutsche Nationalität entschieden hatte, war in Steingel derart zu Hause, daß er den Wahlkreis im Reichstag vertrat, wo er als Katholik einen Sitz im Zentrum hatte. Beide Besitzer der Werke saßen also im Parlament, der eine in Deutschland, der andre in Frankreich. In Wirklichkeit aber waren Lehrange und Steingel ein einheitliches Ganzes und bildeten eine Interessengemeinschaft. In Fällen, wo die wirtschaftliche Lage Frankreichs zufällig schlecht war, konnten die Bestellungen aus Deutschland um so leichter ausgeführt werden. Und so vereinigten sich die beiden, durch eine gemeinsame Eisenbahn verbundenen und nur durch die Verveille, ein schmales, der Grenze entlang fließendes Flüßchen, getrennten Fabriken zu einem einzigen großindustriellen Etablissement, wo sich die Interessen zwar vermischten, die Nationalitäten aber scharf getrennt waren.

Die herrschenden politischen Meinungen der Oberleitung gingen ebenfalls ganz bedeutend auseinander. Der radikalsozialistische Didelod verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, in der Kammer schwungvolle Reden über die Bedürfnisse der arbeitenden Klasse und über die Rechte des Proletariats zu halten. Dabei hatte er jedoch Worte und Handlungen miteinander in Einklang zu bringen gewußt, und die Stiftungen, die er zum Wohl seiner Arbeiter machte, wurden immer zahlreicher. Der herrische, hochfahrende Reismann dagegen behandelte seine Arbeiter von oben herab wie preußische Rekruten und duldete nicht, daß an der hergebrachten Form der Arbeiterverträge gerüttelt wurde. Das hinderte ihn indes nicht, auch seinerseits persönlich aufs sorgfältigste über das Wohl seiner Arbeiter zu wachen und ihnen freigebig dieselben Vergünstigungen zur Erleichterung ihres Daseins zu gewähren, die Lehrange zu einer Musterwirtschaft machten. Der Unterschied lag nur darin, daß Reismann seine Großmut mit fast militärischer Strenge ausübte. Unverkennbar machte sich in der Verwaltung von Steingel die deutsche Zucht fühlbar. In Lehrange dagegen trat überall die in Frankreich überhandnehmende soziale Lockerung zutage.

Die Art des Betriebs dieser beiden Schwesterfabriken war also so verschieden als irgend möglich. Was jedoch die geschäftlichen Resultate betrifft, so stand keine der andern nach. In Steingel machte freilich alles einen geordneteren, systematischeren, ernsteren Eindruck als in Lehrange, wo der Sozialismus hohe Wellen schlug und die Arbeiter sich dem Chef des Unternehmens gegenüber Rechte anmaßten, die bei einem weniger liberalen Arbeitgeber, als Didelod es war, zu fortgesetzten Konflikten geführt hätten. Es herrschten in der Tat ganz eigentümliche Verhältnisse in diesem Lehrange, wo die sozialistischen Führer und die politischen Drahtzieher zugeben mußten, daß der Chef noch sozialistischer gesinnt sei als seine Arbeiter, und daß er, wenn diese irgend eine Reform verlangten, ihre Wünsche sogar meistens überbiete, indem er die betreffende Reform noch erweiterte. Die übertriebensten Forderungen hatte Didelod seinen Arbeitern bereits bewilligt, es fehlte jetzt nur noch, daß er ihnen auch vollends den Betrieb seiner Fabrik überlassen hätte. In ihren geheimen Sitzungen sagten sich die Hohenpriester des Kollektivismus ganz offen: »Ein Fabrikbesitzer wie Didelod schadet unserer Partei weit mehr als hundert reaktionäre Arbeitgeber, denn ihm gegenüber hört unsre Daseinsberechtigung auf.«

Übrigens wäre niemand imstande gewesen, die Fabrik so zu leiten wie er, und es steht außer allem Zweifel, daß es rasch abwärts damit gegangen wäre, wenn er sie in ein Genossenschaftsunternehmen verwandelt, das heißt, den Betrieb den Arbeitern überlassen hätte. Ein solcher Verfall wäre freilich eine heilsame Lehre für die Umstürzler gewesen, da er die Sinnlosigkeit ihrer Theorieen unwiderleglich bewiesen hätte. Das Gegenseitigkeitsregime, worauf die einzig mögliche Lösung der sozialen Frage beruht, wurde unter Didelod im großen Stile durchgeführt und zeitigte nicht abzuleugnende Erfolge. Es war unbestreitbar, daß die Arbeiter dabei höhere Löhne erzielten, als wenn sie sich auf eigene Rechnung abgeschunden hätten. Arbeiteten sie jetzt doch ohne persönliches Risiko, ohne jede Produktionshemmung und mit einem riesenhaften Betriebskapital, das alle Geschäftsoperationen erleichterte und die Existenz des Unternehmens sicherstellte.

Jeder Arbeiter bekam bei seinem Eintritt in die Fabrik ein Büchlein, wodurch er an einem Pensionsfonds beteiligt wurde, für dessen Fortbestand sowohl der Arbeiter als der Fabrikherr einen monatlichen Beitrag bezahlte. Am Tage seines Eintritts wurde ihm ein Häuschen mit Garten übergeben, dessen Besitz er sich nach zwanzig Jahren durch Entrichtung einer Jahresmiete von hundertfünfzig Franken erwarb. Für die Angestellten der Fabrik, die sich in den Ruhestand zurückzogen, waren Zivilstellen gesichert, entweder als Bahnwärter oder sonstige Bedienstete der Lokalbahn, oder als Aufseher der Schleusen und der Flußschifffahrt. Aber die meisten von den alten Arbeitern zogen es vor, da sie genug zum Leben hatten, ruhig in ihren Häuschen zu bleiben, ihren Kohl zu bauen und irgend ein leichtes Handwerk zu treiben, das sie beschäftigte und zugleich ihre Einkünfte vermehrte. Es gab eine ganze Anzahl Leute, die schon unter dem Vater Didelod gearbeitet hatten, deren Häuschen jetzt eine zahlreiche Familie beherbergte und die durch den Ertrag der gemeinsamen Arbeit in behaglichem Wohlstand lebten.

Allein nicht nur für das materielle Behagen war in Lehrange gesorgt. Didelod hatte auch einen Gesangverein und eine Musikkapelle gegründet, die bei den Wettbewerbungen des Distrikts glänzende Erfolge erzielten. Auch eine Bibliothek und sogar ein Festsaal waren vorhanden, wo von umherziehenden Schauspielertruppen Vorstellungen gegeben wurden. Das Hervorragendste in dieser Musterfabrikstadt aber waren das Spital, die Altersversorgungsanstalt und die Schule. Diese drei Anstalten lagen dem Fabrikherrn ganz besonders am Herzen. Sein Spital und seine Altersversorgungsanstalt waren vollendete Vorbilder sanitärer Einrichtungen. Seine Schule aber hatte ihm bei der Ausstellung von 1900 die große Ehrenmedaille eingetragen. Sie zählte dreihundert Kinder beiderlei Geschlechts und wurde von zwei Lehrern und zwei Lehrerinnen geleitet. Eine Herrn Didelod gehörende Zeitung, »Das Echo von Lehrange«, berichtete über die Tagesereignisse und legte Zeugnis ab von einer politischen Mäßigung, die bewies, wie wenig der Fabrikherr das Bedürfnis fühlte, Propaganda zu machen. Der Pfarrer sowohl als auch der sozialistisch gesinnte Bürger konnte das »Echo« lesen, ohne irgend etwas darin zu finden, woran er hätte Anstoß nehmen können.

Dieser Zustand der Ruhe und der allgemeinen Zufriedenheit hatte sehr lange gedauert und dem Orte Lehrange unter der Herrschaft von Vater und Sohn Didelod ein Gedeihen ohnegleichen verschafft. Die Stadt war allmählich immer mehr gewachsen: sie nahm jetzt eine doppelt so große Fläche ein als nach der Annexion und zählte fünfzehntausend Einwohner, darunter sechstausend Fabrikangestellte. Der Rest bestand aus Arbeitern, die sich in den Ruhestand zurückgezogen hatten, aus Bürgern, die durch die Vorteile, die Lehrange bot, angelockt worden waren, ferner aus Verwandten der in den Werkstätten beschäftigten Arbeiter und endlich aus Kaufleuten, die reichlich ihre Rechnung unter einer wohlhabenden Bevölkerung fanden, die sich nur zu gerne der Mühe enthoben sah, nach Toul oder Nancy zu fahren, um ihre Einkäufe zu machen.

Ein bedeutender Viehhandel bestand zwischen Frankreich und dem Elsaß zur Verpflegung der deutschen, ebenso wie der französischen Truppen, und es war eine sonderbare Tatsache, daß die gleichen Lieferanten die Verpflichtung auf sich genommen hatten, beide Heere zu versorgen. Auf den ausgedehnten, üppigen Weideplätzen, die sich längs der Verveille hinziehen, wurden ganze Herden von Ochsen, die Didelods Pächtern gehörten, gemästet. Alle paar Wochen kam neues Vieh an, das dann auf der Ostbahn über Metz bis Saarbrücken und Saint-Avold einerseits und über Nancy, Chillons, Rheims, Epernay, Meaux anderseits bis Paris transportiert wurde. Die Hämmel kamen aus der Champagne. Dieser ganze Handel warf natürlich auch für Lehrange an den Markttagen ganz beträchtliche Summen ab.

Sogar eine neue Industrie war in der Gegend aufgeblüht, die der Kunsttischlerei. Durch sie hatte sich in diesem Teile von Lothringen ein gewisser künstlerischer Einfluß, eine Hebung des Geschmacks geltend gemacht, und schon zählte die Fabrik etwa hundert Kunstschreiner, die den derben Eisenarbeitern etwas feineren Schliff beibrachten. Zugleich war aber auch eine neue Strömung eingerissen, die demnächst eine ganz unerwartete Wirkung auf das friedliche Lehrange ausüben sollte. Zu dem Grundstock der lothringischen Arbeiter hatten sich nämlich auch pariserische Elemente gesellt. Männer, die Gewerbeschulen besucht hatten, gute Zeichner, gewandte Arbeiter, waren an die Spitze der einzelnen Schreinerwerkstätten getreten, und bald hatte ihr kecker, aufrührerischer Geist die Oberhand über die harmlosen Gemüter ihrer Kameraden gewonnen.

Die von einem früheren Tischlermeister geleitete Möbelfabrik lag am Ufer der Verveille. Ein mit einer Schleuse versehenes Wehr lieferte nicht nur die Triebkraft, sondern auch die Beleuchtung. Dies kam infolge eines Abkommens mit Neumans der ganzen Stadt zugute. Denn sobald bei Neumans die Arbeit aufhörte, wurde die Wasserkraft zur elektrischen Beleuchtung von Lehrange verwandt. Es war dies wie ein Symbol jener Arbeit, die die Kunstschreiner in den Köpfen der Bewohner von Lehrange vollbrachten, wo unter ihrem Einfluß sich ein neues Licht, neue Ideen entwickelten.

Lachend hatte eines Tages der Unterpräfekt gesagt: »Herr Neumans erleuchtet Lehrange.« Ein Ausspruch, der Didelod schwer gekränkt hatte. Denn Lehrange und Didelod waren unzertrennlich. Und zu behaupten, daß irgend jemand imstande sei, Didelod zu erleuchten, kam dem Hütten- und Fabrikbesitzer wie die tollste Umsturzidee vor. Dies war indes nur die erste Offenbarung eines Zustandes, der Didelod binnen ganz kurzer Zeit über viele Dinge, die ihm bis jetzt Nebensache gewesen waren, zu denken gegeben hatte. War er doch, auf die vermeintliche Unantastbarkeit seiner althergebrachten Stellung bauend, der bestimmten Meinung gewesen, im Tale der Verveille sei alles in schönster Ordnung. Er hatte die feste Überzeugung gehabt, die Arbeiter, denen er das höchste Maß materieller Vorteile, auf die sie irgendwie Anspruch erheben konnten, gewährte, würden es dankbar anerkennen, daß ihr Los im Vergleich zu dem andrer Arbeiter besser und glücklicher sei.

Geradeso, wie wenn ganz plötzlich ein Vorhang in die Höhe ginge und von unbekannten Schauspielern ein im stillen geprobtes Drama auf einem Schauplatz begänne, wo Didelod bisher unbestrittene glänzende Lorbeeren geerntet hatte, so trat in Lehrange ganz unvermittelt eine revolutionäre Bewegung zutage. Gelegentlich eines Streites zwischen Neumans und einem seiner Pariser Arbeiter, der in fünf Minuten hätte beigelegt werden können, kam das Bestehen eines Syndikats unter den Kunsttischlern von Lehrange an den Tag. Ein Ultimatum wurde dem Chef gestellt, und voller Wut, die um ein Haar einen Schlaganfall zur Folge gehabt hätte, sah sich der Möbelfabrikant plötzlich vor einen Streik gestellt, wenn er den Forderungen des Syndikats nicht nachkam. Die Nachricht war im Handumdrehen aufs Rathaus gedrungen, von dort aus dann sofort in die Fabrik telephoniert worden und hatte Didelod in seinem Schlosse Badonviller erreicht, als er gerade beim Gabelfrühstück saß. Zuerst war er wie benommen, dann aber, als das Gefühl, hier der Herr zu sein, wieder die Oberhand gewann, rief er empört, daß man »diese Geschichte« nicht dulden dürfe, sondern in einem wohlorganisierten Orte wie Lehrange mit solchen Aufruhrgelüsten, die ein sehr schlechtes Beispiel wären, kurzen Prozeß machen müsse.

Rasch stürzte er seinen Kaffee vollends hinunter, sprang in den Wagen und ließ sich nach dem Rathause fahren. Dort fand er den Elementarlehrer der Knabenschule vor, der auch das Amt eines Sekretärs versah, und rief ihm ohne Umschweife zu: »Die Kerle bei Neumans sind wohl verrückt geworden! Was soll denn das heißen? Wissen Sie denn etwas von einem Syndikat, Gaudin? Ein Syndikat in Lehrange! Und wer steht denn an der Spitze dieses Syndikats?«

»Tournemarie, Herr Bürgermeister.«

»Natürlich. Wer hätte es auch sonst sein sollen als Tournemarie! Ein Mann, den Neumans und ich voriges Jahr aus den Klauen des Exekutors der Arbeitergenossenschaft befreit haben! Jener Kerl war nämlich von Paris gekommen, um Tournemarie wegen ausstehender Monatsbeiträge zur Rede zu stellen und seinen Arbeitslohn mit Beschlag zu belegen.«

»Er hat Frau und Kinder,« wandte Gaudin in sanftem Tone ein.

»Alle Wetter! Wie können Sie Frau und Kinder als mildernden Umstand anführen, wenn ein Kerl in einem Betrieb wie hier alles unter dem Vorwand durcheinander bringt, sein Chef – – Übrigens, was hat es denn zwischen ihm und seinem Chef gegeben?«

»Herr Neumans hat es sich nicht gefallen lassen, daß Tournemarie drei Tage hintereinander die Arbeit schon um fünf anstatt um sechs Uhr, also eine Stunde vor dem Glockenzeichen, einstellte, kurz, daß er . . .«

»Neumans hat vollständig recht gehabt! Und da hat er ihm wohl den Lohn für drei Stunden abgezogen?«

»Ja, Herr Bürgermeister.«

Heftig erregt ging Didelod im Rathaussaale auf und ab. Mit einem Schlage trat das soziale Problem, über das er so viele Reden gehalten hatte, bei ihm selbst auf, und ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß er gezwungen sein werde, in einem Kampfe Stellung zu nehmen, der auf den Gang seiner Geschäfte eine verhängnisvolle Rückwirkung haben könnte.

»Es ist der Achtstundentag, der in Lehrange zu spuken beginnt,« rief Didelod. »Dieser Tournemarie stellt da einfach als überzeugter Propagandist der Tat aus eigener Machtvollkommenheit Arbeitsregeln nach seinem eigenen Gutdünken auf und kümmert sich den Kuckuck um das Weitere. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, was für wirtschaftliche Folgen die Herabsetzung der Arbeitszeit um täglich eine Stunde für die Industrie, die so vielen seiner Kameraden und ihm selbst den Lebensunterhalt verschafft, haben würde. Ihm ist es natürlich einerlei, ob der Chef dann auch die Bestellungen ausführen, rechtzeitig liefern und der ausländischen Konkurrenz standhalten kann. Aber das ist noch das Geringste, was der Fabrikherr zu befürchten hat. Tournemarie will, um einem revolutionären Losungswort zu folgen, Neumans ein Zugeständnis abzwingen, und damit ist von seiten des Syndikats der erste Angriff auf die Fabrik gemacht.«

Gang und Rede unterbrechend, stellte Didelod sich plötzlich zornbebend, mit dunkelrotem Kopf vor den demütig zusammenknickenden Gaudin, und heftig mit der Faust auf den Tisch schlagend, rief er: »Vor allem soll man mir in Lehrange mit einem Syndikat vom Leib bleiben! Das Syndikat bin ich! Habe ich je gewartet, bis man mir Zugeständnisse abverlangt hat? Nein. Dem Beispiel meines Vaters folgend, bin ich dem Fortschritt stets entgegengekommen. Ich bin der Freund meiner Arbeiter, die wissen, daß sie auf mich zählen können, daß ich niemals ein Opfer in ihrem Interesse scheuen werde, daß ich lieber mein Vermögen preisgeben möchte, als sie irgend welchen Mangel leiden zu sehen. Würden diese Leute aber nach all dem, was ich für sie getan habe, auf den unglückseligen Gedanken kommen, sich gegen meine Autorität aufzulehnen . . .«

Eine Gebärde schloß den Satz, den Didelod trotz seiner heftigen Aufwallung nicht zu vollenden wagte. Es war eine herrische Gebärde, die andeutete, daß dieser Mann trotz allem wohl imstande wäre, Gewaltmaßregeln anzuordnen, Strafen zu verhängen, das Militär gegen den zusammengerotteten Pöbel aufzubieten und Massenverurteilungen zu veranlassen. Gaudin war entsetzt darüber, und Didelod mußte sich bei ruhiger Überlegung selbst sagen, in der Hitze etwas zu weit gegangen zu sein. Aber dieser Demokrat war zugleich auch ein Mann des Autoritätsprinzips, und dieses äußert sich immer auf die gleiche Weise. Didelod war sich dessen vollkommen klar in der Stunde, wo er sich zum ersten Male einer Tatsache gegenübersah, die die bisher gänzlich ungetrübte Harmonie seines politischen Lebens zu stören drohte. Von neuem ging er auf und ab, um die Erregung, die seinen Geist trübte, zu beschwichtigen. Dann begann er, den Sekretär auszufragen.

»So sind also sämtliche Kunstschreiner ausständig?«

»Ja, Herr Bürgermeister, und sie haben erklärt, nicht eher zurückzukommen, als bis Neumans Tournemarie wieder angestellt habe.«

»Und Neumans will ihn nicht wieder anstellen?«

»Sie kennen ja Herrn Neumans. Er ist ein äußerst ruhiger Mann, der nicht viel Wesens macht, sondern bedächtig seines Weges geht, aber auch nicht um eines Haares Breite davon abweicht, was auch geschehen mag. Er hat seinen Arbeitern erklärt, daß Tournemarie nun mal draußen sei und auch draußen bleiben werde.«

»Gut. Wo ist Tournemarie?«

»Im ›Tannenzapfen‹ bei seinem Syndikat.«

»In der Weinkneipe natürlich. Na, Gaudin, tun Sie mir, bitte, den Gefallen und sagen Sie Tournemarie, ich ließe ihn freundlich bitten, mal zu mir herüberzukommen, ich hätte mit ihm zu reden.«

»Ich gehe sofort und werde ihn gleich mitbringen.«

Nach seinem Hut greifend, stürmte Gaudin die Treppe hinunter. Er war ein kleiner, kränklich aussehender Mann mit einer auffallend hohen Stirne unter den zurückgekämmten Haaren, einem melancholischen Zug um den Mund und schwachen Augen, die eine Brille brauchten. Sein glattrasiertes Gesicht und der schwarze Anzug gaben ihm den Anschein eines Pfarrers in bürgerlicher Tracht. Er war Junggeselle und lebte mit seiner sechzig Jahre alten unverheirateten Schwester zusammen, die ihn erzogen hatte. Seine Hingebung für Didelod war unbegrenzt. Alles was der Großindustrielle sagte und tat, versetzte den Schullehrer in einen Zustand ununterbrochener Begeisterung. Er verehrte Didelod wegen seiner Wohltätigkeit, seines Liberalismus, seiner Freundlichkeit gegen die Armen und wegen der Höflichkeit, die er im Verkehr mit seinen Angestellten stets an den Tag legte. Die humanen Ansichten und menschenfreundlichen Stiftungen des Fabrikherrn hielten Gaudins Bewunderung stets wach. Und Didelod, der Gaudins blinde Verehrung kannte, wußte dies sehr zu schätzen und tat alles, um sie sich zu erhalten. Er setzte sich dem Lehrer gegenüber gerne in ein vorteilhaftes Licht und durfte im voraus überzeugt sein, dessen Beifall zu finden. Anderseits überhäufte er ihn aber auch mit Aufmerksamkeiten. In der ganzen Gegend hieß es: »Ja, Gaudin, das ist Herrn Didelods erklärter Liebling. Wollt ihr etwas beim Chef erreichen, dann beauftragt nur Gaudin damit.« Allein Gaudin, der ein rechtschaffener Mann war, sträubte sich gegen den Mißbrauch, den man mit seinem Einfluß treiben wollte. Es fehlte sogar nicht viel, so hätte er Didelod abgeraten, gerade solchen eine Bitte zu erfüllen, die sich um seine Protektion bemühten. Jedenfalls wies er beschämt und energisch die ihm persönlich zugedachten Vergünstigungen zurück. Die Geschichte der Ordensverleihung hatte einst viel Aufsehen erregt. Didelod hatte nämlich, ohne Gaudin vorher etwas davon gesagt zu haben, für diesen beim Minister, der ihm nicht leicht eine Bitte abschlug, um das violette Bändchen nachgesucht. Glückselig war er dann mit dem kleinen Etui, das die Abzeichen der akademischen Würde enthielt, zu Gaudin geeilt. Allein beim Anblick dieser Auszeichnung hatte der gute Gaudin, ohne seinem Gönner Zeit zu einer Erklärung zu lassen, lebhaft ausgerufen: »Ei, Herr Bürgermeister, was für ein guter Gedanke! Wie wird Herr Grangel sich freuen!«

Grangel war nämlich Gaudins Kollege, der die zweite Klasse der Elementarschule unter sich hatte.

»Wieso Herr Grangel?« hatte Didelod gefragt. »Es handelt sich doch nicht um Grangel, sondern um Sie, Gaudin. Für Sie habe ich um jene Auszeichnung gebeten, und Sie sollen sie auch haben.«

Gaudin war ganz blaß geworden.

»Ach, Herr Bürgermeister,« stammelte er, »ich soll sie haben, während Grangel sie verdient!«

»Was schwatzen Sie da?«

»Er ist doch älter als ich.«

»Aber Sie sind Sekretär beim Bürgermeisteramt.«

»Gerade deshalb. Das ist doch auch schon eine Auszeichnung.«

»Und eine weitere Arbeit.«

»Die gut bezahlt wird.«

»Das fehlte auch noch, daß Sie die umsonst tun müßten! Aber darum handelt es sich jetzt doch gar nicht. Für Sie habe ich um diese Auszeichnung nachgesucht, und der Minister hat meine Bitte erfüllt, folglich müssen Sie die Auszeichnung auch annehmen.«

»Herr Bürgermeister, ich werde Ihnen selbstverständlich die Kränkung nicht antun, ein Zeichen Ihres Wohlwollens, das mich tief rührt, zurückzuweisen. Aber dieser Orden wird in meiner Schublade bleiben . . .«

»Wie?«

»Ja, weil es mir unmöglich wäre, ihn zu tragen, solange Herr Grangel ihn nicht ebenfalls bekommen hat.«

»Das ist aber doch wirklich zu arg! Soll das heißen, daß Sie mich zwingen wollen, beim Minister auch für Grangel darum nachzusuchen?«

»Ich bin weit entfernt, dem Herrn Bürgermeister irgend welchen Schritt zuzumuten, aber ich wäre sehr dankbar, wenn von diesem Orden auch nicht einmal gesprochen würde, solange mein Kollege ihn nicht ebenfalls erhalten hat.«

Didelod mochte reden so viel er wollte, sowie den Gekränkten spielen und sich ernstlich böse zeigen – es half alles nichts, Gaudin blieb unerschütterlich. Didelod mußte wohl oder übel ein zweites Mal ins Ministerium gehen, die verschiedenen Instanzen ablaufen und Grangels Auszeichnung erbitten, um dann mit einem zweiten Etui, das den Orden und das violette Bändchen enthielt, zurückzukehren. Nun erst hatte Gaudin sich herbeigelassen, schüchtern einzugestehen, er habe die gleiche Auszeichnung bekommen wie sein Kollege. Didelod pflegte mit Vorliebe zu sagen: »Gaudin ist eine ganz uneigennützige Seele, die absolut nicht unter unsre Streber paßt. Der hätte zur Zeit der Benediktiner leben, in einer einsamen Zelle Manuskripte abschreiben und Meßbücher kolorieren sollen. Übrigens ein Mensch, der für mich durchs Feuer ginge.«

In seinem tiefsten Innern freilich verachtete er den Mann trotz seiner Tugendhaftigkeit ein wenig, und es fehlte nicht viel, so hätte er es auch ausgesprochen, daß diesem edlen Charakter etwas von einem Einfaltspinsel anhafte.

Tournemaries Eintritt unter Gaudins Führung unterbrach den Bürgermeister in seinen Betrachtungen. Im Gegensatz zu dem Schullehrer machte der Kunsttischler fast den Eindruck eines Bonvivants. Er hatte eine untersetzte, gedrungene Gestalt, ein rotes Gesicht, lebhafte Augen, einen blonden Vollbart und eine laute, selbstbewußte Sprechweise. Mit einem Lächeln ging er auf Didelod zu.

»Na, was muß ich hören?« rief ihm dieser schon von weitem zu. »Sie haben die Arbeit eingestellt? Setzen Sie sich, Herr Tournemarie, und reden wir mal offen miteinander, wenn's Ihnen recht ist.«

»Ich hab' nichts dagegen, Herr Bürgermeister,« antwortete der Tischler, indem er einen Stuhl heranzog und sich in ehrerbietiger Entfernung niederließ. »Sie wissen, daß ich immer zu Ihrem Befehl stehe.«

»Von befehlen kann keine Rede sein, Herr Tournemarie,« sagte Didelod, »aber ich glaube immerhin das Recht zu haben, Ihnen einige Ratschläge zu geben. Was da in Lehrange vor sich geht, ist sehr schlimm. Weniger in materieller Hinsicht – obwohl ein Ausstand immer bedauerlich ist – als in moralischer. Seit Menschengedenken hat man keinen Streik in unserm Bezirk erlebt.«

»Ja, solange Ihr Herr Vater und Sie die einzigen Arbeitgeber waren, das ist richtig, Herr Didelod. Aber jetzt gibt's eben auch noch andre, die mit Ihnen nicht zu vergleichen sind. Die Arbeiterklasse . . .«

Didelod fuhr auf, und Tournemarie unterbrechend, rief er: »Was ist das, die Arbeiterklasse? Ich höre jetzt so viel von Arbeiterklasse reden. Gesehen aber habe ich sie nie . . . Arbeiter kenne ich . . . aber eine Arbeiterklasse . . . Wer bildet und wer vertritt sie denn?«

Der Tischler schleuderte Didelod einen lebhaften Blick zu, kniff die Lippen ein, antwortete dann aber, sich mäßigend: »Die Arbeiterklasse ist gebildet aus einer Vereinigung von Männern, die sich um einen festgesetzten Lohn abplagen, ohne die Aussicht zu haben, jemals in Besitz des Unternehmens zu kommen, das sie durch ihre Arbeit in Gang halten. Vertreten wird die Arbeiterklasse durch ihre Syndikate.«

Didelod ließ sich Zeit, die Bedeutung dieser Antwort zu überlegen. Den Kopf schüttelnd, sagte er dann: »Die Arbeiterklasse, Herr Tournemarie, beabsichtigt also, durch ihre Syndikate einer andern Klasse, der Klasse der Arbeitgeber, den Krieg zu erklären.«

»Ach, Herr Didelod«, protestierte der Tischler, »wenn alle Arbeitgeber wie Sie wären!«

»Gut, gut, aber es ist jetzt nicht von mir die Rede. Ist es denn so schwer, sich mit Herrn Neumans zu verständigen?«

»Er ist ein Mann, der einen andern nicht zu Wort kommen lassen will.«

»Was verlangt ihr denn nun eigentlich von ihm?«

»Den Achtstundentag.«

»Das ist eine sehr folgenschwere Sache, die ihr da anregt, Herr Tournemarie. Sie wissen, daß ich keine Opfer scheue, um das Los der Arbeiter zu verbessern, aber der Achtstundentag, glauben Sie mir, ist eine internationale Frage. Wenn unsre Nachbarn nicht damit einverstanden sind, können wir auch nichts tun.«

»Jemand muß aber doch den Anfang machen.«

»Warum soll es denn aber immer unser Land sein?«

»Weil es das intelligenteste ist.«

»Oder vielleicht das waghalsigste.«

»Wenn nun Ihre Arbeiter den Achtstundentag von Ihnen verlangten, Herr Didelod, was würden Sie ihnen antworten?«

»Das bleibt abzuwarten, Herr Tournemarie,« erwiderte der Bürgermeister gelassen. »So weit sind wir zum Glück noch nicht. Jedenfalls aber dürfte ich als Abgeordneter nicht ohne weiteres eine solche Maßregel treffen, die mit einem Schlage die ganze französische Industrie gefährden könnte.«

»Wie, Sie würden sich weigern?« rief Tournemarie lebhaft. »Auf wen soll man denn dann noch zählen? Und Sie nennen sich doch einen Sozialisten.«

»Ich beweise täglich, daß ich es bin. Aber einen Umstürzler habe ich mich nie genannt.«

»Ah, da haben wir's!« rief der Arbeiter. »Sobald man euresgleichen etwas in die Enge treibt, weicht ihr aus. Ihr Arbeitgeber seid doch alle gleich! Umstürzler! Wenn es sich darum handelt, denen, die sich für euch abplagen, das Leben etwas zu erleichtern, verschanzt ihr euch hinter Vorschriften und Gesetze, die ihr allein aufgestellt habt. Nun denn, von jetzt an habt ihr zuerst die Meinung derer einzuholen, die von euch ausgebeutet werden!«

»Halt, nicht weiter, Tournemarie!« unterbrach Didelod ihn mit Festigkeit. »Ich kann nicht dulden, daß Sie in diesem Ton mit mir reden. Sie mißbrauchen das Wohlwollen, das ich Ihnen entgegenbringe, dazu, mir Drohungen entgegenzuschleudern. Ich gehöre nicht zu denen, die sich dadurch einschüchtern lassen, und fürchte mich vor nichts und vor niemand. Meine Arbeiter hängen an mir . . .«

Bei diesen Worten drückte Tournemaries ganzes Gesicht eine solch freche Heiterkeit aus, während ein höhnisches Pfeifen seinen Lippen entfuhr, daß Didelod sprachlos war. Dieses Verdutztsein des Bürgermeisters benützte der Tischler dazu, aufzustehen, indem er in erkünstelt respektvollem Tone sagte: »Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Verzeihung wegen des nutzlosen Geschwätzes, zu dem ich mich habe hinreißen lassen. Ich war mit den ehrerbietigsten Gesinnungen gekommen und bin bereit, soviel an mir liegt, alles zu tun, um meine Versöhnlichkeit zu beweisen.«

»Das klingt schon besser,« sagte Didelod, den Tischler fixierend. »Aber machen wir uns lieber gleich an die praktische Lösung. Wollen Sie sich mit Herrn Neumans einem Schiedsrichterspruche unterwerfen?«

»Wer wird den Schiedsrichter machen?«

»Eigentlich sollte es der Friedensrichter sein, aber ich möchte dieser Sache nicht gerne einen offiziellen Anstrich geben. Deshalb schlage ich mich vor als Freund beider Parteien.«

Tournemarie überlegte einen Augenblick, dann sagte er, die Augen zu Didelod aufschlagend: »Gut, im Namen meines Syndikats nehme ich den Vorschlag an.«

»Dann will ich jetzt sofort zu Herrn Neumans gehen und ihm diesen Vergleich vorschlagen. Ist er, wie ich hoffe, damit einverstanden, so werde ich Sie durch Herrn Gaudin benachrichtigen lassen. Was gedenken Sie nun weiter in der Sache zu tun?«

»Wir werden Ihnen Delegierte schicken.«

»Zu denen Sie aber wohl nicht gehören werden?«

»Zu denen ich nicht gehören werde, um nicht in den Verdacht zu kommen, als schürte ich das Feuer in einem Konflikt, der zum Ausgangspunkt eine Angelegenheit hatte, die meine Person betrifft.«

»Gut. Das ist sehr klug.«

»Ich freue mich über Ihre Billigung, Herr Bürgermeister,« antwortete Tournemarie verbindlich, indem er sich zum Gehen anschickte. Didelod reichte ihm die Hand, die der Kunsttischler etwas verlegen drückte, worauf er sich mit einer Verbeugung entfernte. Sofort erschien Gaudin wieder.

»Hat er Vernunft angenommen?« fragte der Sekretär.

»Natürlich,« antwortete Didelod mit naiver Zuversicht. »Ich wußte es ja im voraus, daß alles gütlich beigelegt werden würde. Ein schiedsrichterlicher Spruch wird entscheiden. Man kommt den Arbeitern entgegen, gibt Neumans gute Worte, und von Streik wird nicht mehr die Rede sein. Ich gehe jetzt zu Neumans . . .«

Stumm starrte Gaudin seinen auf dem Schreibtisch liegenden Hut an. Dann warf er seine langen Haare, die ihm bis auf die Nase fielen, zurück, und mit bebender Stimme sagte er: »Verzeihen Sie, Herr Bürgermeister, wenn ich noch weiter in Sie dringe. Tournemarie hat Ihnen also wirklich den Eindruck gemacht, als sei er zu einem Vergleich geneigt?«

»Aber hören Sie mal, das sieht ja aus, als bezweifelten Sie das, was ich sage!« rief Didelod, wieder auf Gaudin zugehend.

»O, nicht was Sie sagen«, versicherte der Lehrer lebhaft, »aber das, was Ihnen gesagt worden ist. Das steht auf einem andern Blatt.«

»Wie, was, Gaudin! Sie scheinen mehr zu wissen, als Sie mir eingestehen wollen. Hoffentlich treiben Sie keine Geheimniskrämereien mit mir, was?«

»Gott soll mich bewahren! Ich möchte Sie ja auch ganz gewiß nicht unnötig ängstigen. Anderseits aber halte ich es für meine Pflicht, Sie auf das, was im Werk ist, aufmerksam zu machen.«

»Es ist also etwas im Werk?«

»Soeben habe ich davon erfahren. Der Amtsdiener, ein Landsmann von mir, ist vorhin, während Sie mit Tournemarie sprachen, zu mir gekommen. Da sehen Sie nur! Dies Plakat ist heute morgen am Rathaus angeschlagen gewesen. Er hat es sofort abgerissen und es mir vorhin gebracht.« Und vor Didelods verwunderten Augen breitete Gaudin ein rotes Papier aus, worauf mit fettgedruckten Buchstaben stand: »Proletarier! Genug der Sklaverei in den Kerkern des Kapitalismus! Werft das Handwerkszeug, das Symbol eurer Knechtschaft, von euch und streikt, um euch Freiheit zu erkämpfen. Erhebt euch alle einmütig gegen die Tyrannei eurer Arbeitgeber. Diese Sorte Menschen hat kein Herz, sondern nur einen Geldbeutel. Am Geldbeutel müßt ihr sie also packen, indem ihr die Arbeit einstellt. Dadurch allein werdet ihr sie zu Paaren treiben. Einerlei, welcher Gewerkschaft ihr angehört. Bergleute und Hammerschmiede, und auch ihr, Feldarbeiter, vereinigt euch, und die Zukunft ist euer. Den Arbeitern die Fabriken, den Bauern der Boden und das Kapital denen, die es durch ihre Mühe errungen haben. Fort mit dem Lohnsystem! Wirtschaftliche Gleichheit bei vollkommener Gütergemeinschaft! Unterzeichnet: Das Komitee des Allgemeinen Arbeiterbundes.«

Didelod hatte das Plakat, das Gaudin ihm mit zitternden Händen hinhielt, laut gelesen.

»Na, das ist ja ein nettes revolutionäres Stück!« rief der Abgeordnete von Lehrange. »Es scheint also, daß es hier ein Komitee des Allgemeinen Arbeiterbundes gibt, was? Schade, daß ich die Namen der Kerls, aus denen es sich zusammensetzt, nicht kenne! Ich hätte mich gerne mit ihnen ausgesprochen. Jedenfalls drücken sie ihre Forderungen ziemlich unklar aus. Das reinste Kauderwelsch! Man weiß, was man davon zu halten hat. Immerhin aber muß man der Sache auf den Leib rücken und herausbringen, was diese Leute da eigentlich wollen. Denn wenn man sich bei einem wirtschaftlichen Streite auf das kommunistische Programm beruft, so heißt das mit andern Worten: wir verlangen das Unmögliche. Die Durchführung des kommunistischen Programms ist ja ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Das will ich gerne glauben, Herr Didelod.«

»Ja, ja, Sie können sich darauf verlassen!« sagte dieser, und seine Stimme klang etwas lauter. »Ein Esel, der sich einbildet, die Menschheit könne ohne soziale Rangordnung und ohne persönlichen Besitz leben. Kein Lohnsystem! Das ist rasch gesagt. Aber was dann? Jedermann Rentner? Und wer bezahlt dann die Renten? Etwa ein Vorsehungsstaat? Geistesverirrung! Hirngespinste! Strafbarer Wahnsinn! Jawohl, strafbar! Hören Sie wohl, Gaudin?«

Didelod war dunkelrot geworden und fuchtelte aufgeregt in der Luft herum. Das Blut des Bourgeois stieg ihm zu Kopf, und sein geschäftsmännischer Blick zeigte ihm mit erschreckender Deutlichkeit die vernichtenden Folgen der kommunistischen Utopieen.

»Und doch«, sagte er, »treibt man gerade mit solchem Blödsinn die Massen zur Revolution, als ob es sich, vom sozialen Standpunkt aus gesprochen, um etwas andres, als um die natürliche Entwicklung handeln könne.«

»Ja, ja, Herr Didelod, die Leute haben es gar eilig,« antwortete Gaudin in sanftem Tone. »Vor zwei Jahren hat man das Kruzifix aus der Schule entfernt. Voriges Jahr sind die Augustinerinnen, die der Krankenpflege in den Spitälern oblagen, entlassen worden. In diesem Jahr hat man die Kirche vom Staat getrennt. Und jetzt wird die Abschaffung der Rechte des Arbeitgebers und die Aufhebung des persönlichen Eigentums verlangt.«

»Aber, Gaudin,« rief Didelod eifrig, »die Reformen, die wir vorgenommen haben, waren notwendig!«

»Das gleiche sagen die Kommunisten von den Reformen auch, die sie jetzt verlangen.«

»Ei, ei, Gaudin, Sie führen ja die Sprache eines Revolutionärs! Sollten auch Sie vom anarchistischen Giftstoff angesteckt sein? Es ist ja unerhört, daß Sie es fertig bringen, solche Ungeheuerlichkeiten vor mir auszukramen!«

Traurig lächelte der Sekretär.

»Nein, Herr Didelod, ich bin nicht angesteckt worden, und ich habe auch keine revolutionären Gesinnungen, sondern ich bin einfach ein armer Teufel ohne Hab und Gut, dem niemand mißtraut, und vor dem man alles verhandelt, weil man ihn eben für eine Null hält. Geben Sie sich nur keinen Illusionen hin, Herr Didelod. Ein verderblicher Geist erfüllt die Massen, und die Leute, auf die Sie sich verlassen zu können glauben, Ihre Arbeiter, denen Sie so viel Gutes erwiesen haben, kennen weder Anhänglichkeit noch Dankbarkeit. Ihre Wohltaten hält man lediglich für Wahlreklame, und die pekuniären Opfer sollen Sie nur gebracht haben, um bei einer Revolution einen Rückhalt zu haben. Wissen Sie auch, Herr Didelod, wie man Sie in den geheimen Versammlungen nennt?«

»Na, wie sollte man mich denn nennen? Herr Didelod natürlich.«

»Nein, Herr Bürgermeister: den ›Vierzigmillionenbürger‹, oder einfach ›die vierzig Millionen‹.«

»Mich! Mich!« stammelte Didelod verblüfft. »Und warum denn?«

»Weil behauptet wird, Sie hätten vor zehn Jahren etwa zwanzig Millionen von Ihrem Herrn Vater geerbt, die seither von Ihnen verdoppelt worden seien, was vierzig machen würde.«

»Ah, wirklich!« rief der Deputierte mit mattem Lächeln. »Vierzig Millionen? Woher wollen denn die Leute das wissen? Und kennen die Kerls auch die Summe, die mein Vater und ich ausgegeben haben, um die Existenz unsrer Arbeiter zu erleichtern?«

»Gewiß; aber das ist ihnen ganz gleich. Das zählt nicht mit; nur das, was Sie erworben und beiseitegelegt haben, kommt in Betracht. Die ungeheure Anhäufung von Reichtümern, die diese Leute förmlich hypnotisiert, und nach denen man Sie jetzt nennt – diese vierzig Millionen würden ein ganz nettes Betriebskapital abgeben für die in eine Arbeitergenossenschaft umgewandelten Hüttenwerke. Da brauchte man keinen Chef mehr.«

»Und was würde man mit dem Chef anfangen?« rief Didelod außer sich. »Ihn niedermetzeln, nachdem man ihm das Geld abgenommen hat, falls man ihn nicht zwingt, unter seinen Arbeitern selbst Hand anzulegen, damit er ihnen allmählich die Kunst beibringe, wie man mit Didelods Kapital zum besten der Gesamtheit das Unternehmen leitet? Na, wissen Sie, Gaudin, da ließe ich mich schon lieber umbringen, ehe ich in solche Bedingungen willigte.«

Heftig erregt ging Didelod ein paarmal im Zimmer auf und ab. Er atmete schwer, und nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, sagte er: »Ach was, Sie bringen mich mit solchen Hypothesen ja auf die tollsten Abwege. Sie phantasieren, Gaudin, und ziehen mich mit in Ihre Hirngespinste hinein. Die Lage mag ja ernst sein, und ich schlage Ihre Warnungen auch gewiß nicht in den Wind, sondern werde mir die Sache reiflich überlegen. Vor allem aber will ich jetzt mit Neumans verhandeln.«



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