Georges Ohnet
Der rote Kurs. Erster Band
Georges Ohnet

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Drittes Kapitel.

Tournemarie, der seinem Arbeitgeber gegenüber als kühner Freiheitskämpfer auftrat, war zu Hause der richtige Tyrann. Seine Frau nahm Aufwartestellen an und seine beiden Töchter gingen zum Nähen und Bügeln in die Häuser der Honoratioren. Die drei Untertanen dieses unumschränkten Herrschers verdienten zusammen im Durchschnitt täglich sechs Franken, und wenn Tournemarie sich auch seinerseits herbeiließ, zu arbeiten, so war durch die sechs Franken, die er verdiente, das Auskommen der Familie gesichert. Frau Tournemarie war eine kleine, brünette, hagere, aber in der Arbeit durchaus tüchtige Frau. Die jüngere der beiden Töchter, Gabriele, die blond und rundlich war wie ihr Vater, lachte von früh bis spät, während die achtzehnjährige Hortense, ein großes, hübsches Mädchen mit frischer Hautfarbe, schwarzem Haar und blauen Augen von ihrer Mutter eine Energie und Starrköpfigkeit geerbt hatte, die bei den häufigen Streitigkeiten mit ihrem Vater, dessen Ansichten und Handlungen sie durchaus nicht alle teilte und bewunderte, zu Tage trat. So wenig der Umstürzler sich denn auch in Gegenwart seiner Frau und Gabrieles Zügel anlegte, so vorsichtig war er doch Hortense gegenüber. Denn dieses hübsche Mädchen hatte ein gutes Mundwerk, war unheimlich schlagfertig und äußerte ungescheut ihre tiefe Verachtung für die sozialistischen Ideen ihres Vaters, die sie schlankweg als »hellen Blödsinn« bezeichnete. Sie war recht kokett, trotz ihrer einfachen Fähnchen immer mit Geschmack gekleidet, trug auf der Straße stets einen Hut und gab ihr ganzes Taschengeld, das sie von ihrer Mutter bekam, für feines Schuhzeug aus.

»Es fehlt nur noch, daß du dir hohe Stöckelschuhe anschaffst,« hatte Tournemarie einmal verdrießlich bemerkt, worauf Hortense antwortete: »Jedenfalls würde ich mir die Füße darin nicht mehr übertreten als in Holzschuhen.«

»Glaub nur nicht, daß es bei der ›Partei‹ einen guten Eindruck macht, wenn du dich so aufdonnerst.«

»Glaubst du vielleicht, die ›Partei‹ mache einen guten Eindruck in den Häusern, wo ich arbeite?«

»Ach was, die sind ja alle reaktionär!«

»Aber die einzigen, die anständig bezahlen.«

»Weißt du auch, Hortense, was meine Kameraden neulich zu mir sagten?«

»Das will ich gar nicht wissen.«

»Ich will es dir aber trotzdem sagen – in deinem Interesse. Nun also, sie behaupteten, du sehest ganz so aus, als seiest du auf dem Wege, eine Kokotte zu werden.«

»Nun, dann sag ihnen nur von mir aus, sie seien Troddel.«

Nichtsdestoweniger war Hortense das Blut ins Gesicht gestiegen, und ihre Stimme hatte bei der schroffen Antwort ein wenig gezittert. Tournemarie hatte hierauf etwas vor sich hin gebrummt und war, wie immer, wenn seine älteste Tochter ihm die Stirne bot, ins Wirtshaus gegangen, um auf andre Gedanken zu kommen. Gabriele hatte dann sofort ihre Schwester vorgenommen und mit bedeutungsvollem Blick zu ihr gesagt: »Nimm dich in acht. Du bist gestern auf dem Heimweg gegen sieben Uhr gesehen worden. Du seiest nicht allein gewesen und . . .«

»Was ist das für ein dummes Geschwätz?« entgegnete die Ältere, ihre Schwester scharf musternd.

»So ist mir bei Frau Devilliers, wo ich in Arbeit war, erzählt worden. Man hat sogar gemunkelt, dein Begleiter sei ein Dragonerleutnant gewesen, in Zivil natürlich, den man aber trotzdem erkannt habe. Sei also vorsichtig.«

Diesmal zuckte Hortense nur die Achseln, entgegnete aber nichts mehr. Sich ans Fenster setzend, nahm sie schweigend eine Näharbeit zur Hand und stichelte, bis Frau Tournemarie nach Hause kam.

Drei Monate lang war Hortense der Gegenstand täglicher Aufmerksamkeit des Leutnants Maubrun von den siebenundzwanzigsten Dragonern gewesen. Jedesmal, wenn sie eines der Häuser, wo sie arbeitete, verließ, hatte sie wie zufällig den jungen Offizier getroffen. Als steige er aus der Erde, so unfehlbar war er immer im richtigen Moment vor ihr aufgetaucht. Drei Monate lang hatte sie es täglich bemerkt, wie er sie scharf, aber ehrerbietig betrachtete, ohne ihr auch nur zuzulächeln. Stets war er ihr dann von weitem bis an ihr Haus gefolgt, wahrscheinlich nur aus Wohlgefallen an ihrem anmutigen, eleganten Gang. Sie hatte gesehen, daß der junge Mann trotz seiner kleinen Gestalt hübsch gewachsen und sehr brünett war, sowie daß er einen blonden Schnurrbart und schwarze Augen hatte. Er war immer mit Sorgfalt, aber nicht stutzerhaft gekleidet und hatte während der ersten Zeit in hohem Grade ihre Neugierde erregt. Zu gerne hätte sie gewußt, was für einem Berufe dieser unbekannte Verehrer angehöre. Vielleicht war es ein Ingenieur aus den Hüttenwerken von Lehrange, oder ein Beamter der Unterpräfektur. Allein für einen Schreiber hatte er fast zu gute Manieren und für einen Ingenieur zu viel freie Zeit. Eines Abends erfuhr sie indes die Lösung des Rätsels, als sie gegen ihre Gewohnheit über den Chevertplatz ging, um einer Kundin Stoffproben zu bringen. Eine Gruppe Offiziere stand, die Zigarette im Munde, vor dem Eingang der Dragonerkaserne. Während das Mädchen gleichgültig vorüberging, rief einer der Offiziere: »Sapperlot! Was für ein reizender Käfer! Sehen Sie doch, Maubrun!«

Unwillkürlich sah Hortense auf und erkannte zu ihrer grenzenlosen Verwirrung in dem Offizier, an den die Aufforderung gerichtet worden war, ihren Verehrer. Er war in Uniform, die ihm, wie sie fand, außerordentlich gut stand. Etwas errötend senkte sie den Kopf, dann entfernte sie sich eilig, aber doch nicht so rasch, um nicht noch zu hören, wie der Offizier sagte: »Ei, kennt diese hübsche Kleine Sie denn, Maubrun? Mir schien es, als sei sie bei Ihrem Anblick rot geworden!«

Und der Leutnant antwortete: »Keine Rede, mein Lieber! Ihr Kompliment wird sie in Verlegenheit gebracht haben. Ich kenne sie nicht.«

Am nächsten Tage begegnete ihr auf ihrem Wege zur Arbeit wie gewöhnlich der Leutnant Maubrun. Er schien keine Lust zu haben, das kleine Abenteuer vom Tage zuvor dazu zu benützen, um eine Bekanntschaft mit dem jungen Mädchen anzuknüpfen, sondern begnügte sich damit, sie noch aufmerksamer zu betrachten. Hortense aber konnte nicht umhin, ein wenig zu lächeln. Sie ging gerade in Arbeit zu der Frau eines Rittmeisters der siebenundzwanzigsten Dragoner und benützte den Augenblick, da der Bursche in dem Speisezimmer aufräumte, wo sie arbeitete, ihn geschickt auszufragen. Auf diese Weise erfuhr sie, daß Leutnant Maubrun Vicomte, aber gar nicht hochmütig sei, zwar sehr schneidig im Dienst, aber doch gut gegen seine Leute; dabei ein tadelloser Reiter, der bei den Rennen schon viele Preise gewonnen habe und beim Regiment sehr gut angeschrieben sei.

Durch diese vielfachen Begegnungen hatten sich die beiden jungen Leute bereits so sehr aneinander gewöhnt, daß Hortense, als sie den Leutnant eines Tages an der Stelle, wo er sie täglich zu erwarten pflegte, um ihr dann schweigend zu folgen, nicht vorfand, so lange stehen blieb, bis sie ihn atemlos herbeilaufen sah. Sie schien halb beunruhigt, halb ärgerlich zu sein, und so wagte es Maubrun diesmal, sie anzureden, um sich zu entschuldigen. Ohne zu bemerken, wie unbeholfen seine Entschuldigungen waren, hörte sie ihm zu, und die Unterredung gefiel ihr so gut, daß sie eine Viertelstunde zu spät nach Hause kam. Von diesem Tage an wurden die Begegnungen auf der Straße eingestellt – sie waren überflüssig geworden. Denn von nun an verließ die junge Näherin an bestimmten Tagen ihre Kunden etwas früher, unter dem Vorwand, zu Hause noch eine wichtige Arbeit vollenden zu müssen.

Die Warnungen ihrer Schwester waren denn auch ganz dazu angetan, sie zu beunruhigen, wußte sie doch wohl, daß es für ihre Mutter ein schwerer Kummer wäre, wenn sie von diesem Verhältnis erführe. Und daß Maubruns Stand und sein Beruf bei Tournemarie den fürchterlichsten Sturm erregen würden, war ihr ebenfalls klar. Die ohnehin schon glühende Feindseligkeit des Tischlers gegen solche, die er nach der Parteivorschrift »rohe Säbelraßler« nannte, würde sich dadurch noch steigern, daß der Liebhaber seiner Tochter ein Aristokrat war. Er wäre vielleicht eher zur Nachsicht geneigt gewesen, wenn sie sich mit einem Arbeiter eingelassen hätte; allein einen Mann lieben, der einer andern Gesellschaftsklasse angehörte als der seinigen, hieß bei ihm einen Verrat begehen.

Für ihre eigene Person fürchtete Hortense nichts, aber Maubruns wegen war sie in Sorge. Denn sie hielt ihren Vater, wenn er ein Glas über den Durst getrunken hatte, wohl für fähig, dem Leutnant aufzulauern und ihm heimtückisch etwas Schlimmes anzutun. Die Ehre seiner Tochter rächen, das war eine effektvolle Phrase, die ihm vielleicht ganz gut in seinen Kram paßte. Und was riskierte er schließlich, wenn er einen Offizier aus dem Weg schaffte, da ja der mildernde Umstand, im Affekt gehandelt zu haben, zu seinen Gunsten sprechen würde? Nicht viel. Eine Freisprechung vor den Geschworenen und überschwengliche Loblieder in allen sozialistischen Blättern.

Der Leutnant bewohnte ein ziemlich abgelegenes Häuschen in der Rue des Potagers. Hortense konnte ihn also besuchen, ohne sich der Gefahr einer Entdeckung auszusetzen. Ein schattiger Garten mit hohen Bäumen und dichtem Gebüsch umgab das Haus. In einer Gaisblattlaube, Maubruns Lieblingsplätzchen, pflegte das junge Paar gegen Abend eng aneinander geschmiegt zu sitzen und unter diesem duftigen, dämmrigen Blätterdache im Flüstertone zu plaudern. Die beiden liebten sich. Sie mit glühender Bewunderung für den flotten Reitersmann, dessen Adel ihrer Eitelkeit ein wenig schmeichelte; er mit einem Gefühl inniger Dankbarkeit für das hübsche Mädchen, das ihm ihr ganzes Herz geschenkt hatte. Niemals sprachen die beiden von etwas anderm als von sich selbst. Nicht ein einziges Mal hatte Hortense weder auf ihre Familie, noch auf die Ansichten ihres Vaters oder auf die Besorgnisse, die sie seinetwegen hegte, angespielt. Und Maubrun hätte, wenn er ein Waise gewesen wäre, nicht verschwiegener über seine eigenen Angehörigen sein können. Eine gewisse Scheu hielt beide von derartigen vertraulichen Mitteilungen ab. Aber über sich selbst waren sie in ihren Gesprächen unerschöpflich. Als die beiden dann das erste Mal von dieser Gewohnheit abwichen, hatte Hortense die allerdings unschuldige Veranlassung dazu gegeben. Voll Verdruß hatte der Offizier von dem Streik gesprochen, der sämtliche Tischler brotlos mache, und den Wunsch geäußert, die Bewegung möchte keine schlimme Wendung nehmen. Da waren dem jungen Mädchen in ihrer heftigen Erregung die Worte entfahren: »Es fehlte gerade noch, daß dein Regiment in diese Sache verwickelt würde. Da käme ich in eine nette Lage!«

Ein fragender Blick Maubruns traf sie. Sie errötete, entschloß sich aber zu einer Erklärung und sagte: »Weil ich dann zwischen meinem Vater und dir stände. Das wäre lustig!«

»Hat dein Vater denn auch die Arbeit eingestellt?« fragte der Leutnant.

»Ja, er ist einer der Werkführer bei Herrn Neumans.« Sie wagte indes nicht, hinzuzufügen: »Er ist es sogar, der an der ganzen Geschichte schuldig ist,« aus Angst, sich in den Augen ihres Liebhabers zu schaden.

Allein Maubrun war von einer ganz andern Sorge erfüllt, die er auch sofort äußerte: »Ich kenne deinen Vater gar nicht, Liebchen. Hast du vielleicht ein Bild von ihm, das du mir zeigen könntest? Es ist doch besser, ich weiß, wie er aussieht, damit ich ihn aus der Menge herauskenne. Man kann nie wissen, was alles passiert.«

»Ja, ich habe eine gute Photographie, die ich dir bringen werde.«

Auf diese Weise machte Maubrun die Bekanntschaft Tournemaries. Bald hatte er auch Gelegenheit, von ihm sprechen zu hören. An solchen Morgen, wo er keinen Dienst hatte, pflegte der junge Offizier mit seinem Kameraden von Berlier spazieren zu reiten und häufig schloß Moritz Didelod sich den beiden an. Die drei jungen Leute, alle hervorragende Reiter, machten dann weite Ritte durch die Wälder und kehrten erst zum Mittagessen zurück. Befand sich Moritz Didelod bei ihnen, dann nahmen sie gewöhnlich, anstatt durch das Verveilletal nach Lehrange zurückzukehren, den Weg über das Hochplateau und begleiteten den Freund bis ans Gittertor von Badonviller. An diesem Tage jedoch sagte Moritz, als die beiden Offiziere im Begriff waren, den gewohnten Weg einzuschlagen, zu ihnen: »Wir wollen heute doch lieber durchs Tal reiten. Wenn es euch recht ist, esse ich mit euch in Lehrange.«

»Das ist schön,« antwortete Maubrun. »Willst du dich am Ende von der Familientafel drücken?«

»Allerdings. Denn seit Anfang dieser Woche ist es an der väterlichen Tafel weiß Gott nicht mehr auszuhalten.«

»Was ist denn los?«

»Es wird von nichts anderm mehr gesprochen als von diesem Streik, und Papa, der aus den Unterhandlungen mit den Ausständigen nicht mehr herauskommt, ist in einer unausstehlichen Laune. Ich sehne mich wahrhaftig danach, mich mit etwas andrem als mit Politik zu beschäftigen.«

»Diese Sache ist also noch nicht wieder geregelt?« fragte Maubrun mit ziemlich gleichgültiger Miene.

»Durchaus nicht. Beim Arbeitersyndikat ist ein ganz infamer, geriebener Kerl, namens Tournemarie, der es versteht, die Arbeiter nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, und der mir den Eindruck macht, meinen braven Alten zum Besten zu haben.«

»Was ist dieser Tournemarie eigentlich für ein Mensch?« fragte Maubrun nach einer kurzen Pause.

»Ein geschickter, brauchbarer Mann in seinem Handwerk, aber durchseucht von den sozialistischen Hirngespinsten.«

»Na, höre mal, mein lieber Didelod junior, mir scheint, du bringst den Ansichten des Herrn Papa nicht die gebührende Achtung entgegen.«

»Weißt du, Papa als Industrieller ist einfach ein Genie, und als Familienvater kann man keinen liebenswürdigeren finden, aber als Abgeordneter – o, da ist er einfach unmöglich!«

»Das ist ja hübsch!«

»Ich für meine Person bin Nationalist von Grund aus, meine Mutter ist Royalistin und meine Schwester, na, die schwärmt für ›Doucet‹ – nichts geht ihr über schöne Toiletten. Ihr seht also selbst, wie das mit Papas Ansichten übereinstimmt, der ebenso rot ist wie Jaurès! Papa macht uns wirklich schweren Kummer. Ein Mann wie er mit seinem Vermögen, seinen Beziehungen, seinem ganzen Wesen und dabei auf vertrautem Fuße mit all den Heißspornen und Schreihälsen in der Kammer! Er duzt sie nämlich sogar, und öffentlich redet er sie mit ›Bürger‹ an. Nein, es ist wirklich zum Verzweifeln! Ganz unverhohlen sage ich in seiner Gegenwart, wie ich über diese Sache denke, gerade so, wie jetzt euch gegenüber. Die Wirkung läßt denn auch nicht auf sich warten. Papa wird noch röter als seine politischen Ansichten, und da ich kein Vatermörder werden will, indem ich die Gefahr eines Schlaganfalls heraufbeschwöre, so gehe ich jetzt lieber nicht nach Hause, sondern ziehe vor, mit euch zu essen.«

Die beiden Offiziere lächelten gezwungen.

»Na, weißt du,« sagte Maxime von Berlier, »es ist schon recht traurig, wenn solche Meinungsverschiedenheiten in einer Familie herrschen.«

»Ach was, du!« unterbrach ihn Moritz. »Dich durchschaut man. Während du mir zuhörst, denkst du: so etwas steht mir wahrscheinlich auch bevor!«

Maxime von Berlier errötete, und Leutnant Maubrun ging auf ein andres Thema über.

»Glaubst du, daß dieser Tournemarie, der ja an der Spitze des ganzen Streiks zu stehen scheint, imstande wäre, zu Gewaltmaßregeln zu drängen?«

»Weißt du, mein Lieber, wenn Tournemarie sich selbst überlassen bliebe, so würde er wahrscheinlich nichts Schlimmes unternehmen. Aber er wird die von Paris ausgegebenen Befehle ausführen. Und dort hat bekanntlich die revolutionäre Partei ihren Sitz. Wenn die Anführer die Absicht haben, einen Konflikt herbeizuführen, so werden die Arbeiter gehorchen. Man hat uns bereits die Ankunft Persins und Beaumonts, der Hauptagitatoren, angekündigt. Auch Stylb ist in den letzten Tagen hier gewesen und soll demnächst wiederkommen. Dann kann man für nichts stehen. Bedenkt doch, was Papa für ein Gesicht machen würde, wenn die Arbeiter von Lehrange nun auch zu streiken anfingen.«

»Ach, das ist ja unmöglich!«

»Und warum denn? Glaubst du, man könne auf die Anhänglichkeit und Dankbarkeit der Leute rechnen? Mein Großvater und mein Vater haben die ganze Arbeiterbevölkerung hier herangezogen, sie sind, wenn du so willst, ihre Wohltäter gewesen, aber zu Rentnern konnten sie sie doch nicht machen! Der eine Teil hat seine Kräfte, der andre sein Geld hergegeben. Ein Austausch von Arbeit und Lohn hat stattgefunden. Das ist alles. Seit sechzig Jahren leben die Eisenarbeiter von ihrem Taglohn, der fortgesetzt erhöht wird, während die Zahl der täglichen Arbeitsstunden in gleichem Maße abnimmt. Zugleich aber haben die Didelods, Vater und Sohn, ein ungeheures Vermögen erworben. Ich gebe zu, daß ein billiger und gerechter Ausgleich zwischen der leitenden kapitalistischen Macht und der ausführenden physischen Kraft nicht zu ermöglichen ist, und daß die erste die zweite beherrschen muß. Ebenso unbestreitbar ist es, daß jeder das Seinige beigetragen hat: die einen körperliche Energie, die andern Verstand und Geld. Und daraufhin wollt ihr an die freundlichen Gesinnungen der Arbeiter appellieren? Ins Gesicht lachen würden sie euch. Die Festsetzung des Lohnes ist einfach Geschäftssache. Um Gefühlsduseleien handelt es sich dabei nicht. Papa wird so wenig bezahlen als möglich, und die Arbeiter werden alles aufbieten, so viel als möglich von ihm herauszuschlagen. Und das ist das einzig richtige, normale Verhältnis. Kommt aber ein Redner mit der nötigen Suada nach Lehrange und läßt die hochtrabenden Schlagwörter erschallen: soziale Unabhängigkeit, Sicherung eines allgemeinen sorgenfreien Daseins, Solidarität der Arbeiter! – zweifelt ihr etwa daran, daß er Gehör findet? Mein Vater wird daraufhin natürlich auch reden; er wird von wirtschaftlichen Notwendigkeiten, von der ausländischen Konkurrenz, vom Gesetz der Nachfrage und des Angebots sprechen, und so weiter und so weiter. Aber das ist alles leeres Stroh gedroschen. Im Handumdrehen werden die Hüttenwerke von Lehrange leer stehen, und Papa wird zu seiner großen Überraschung mit seinem Sozialismus aufsitzen.«

»Herr Didelod glaubt also wohl nicht an den Ausbruch eines Streiks?«

»Papa? Ach, Papa ist ein Mann, der am hellen Tage träumt! Hypnotisiert von der Aussicht auf einen Ministerposten wandelt er dahin. Denn er will ja durchaus Minister werden, da er glaubt, das komme ihm von Rechts wegen zu, und die Gesellschaft sei gerettet, sobald er erst das Portefeuille des Handels und der öffentlichen Arbeiten in Händen habe. Felsenfest ist er davon überzeugt. Glaubt mir, diese Vertrauensseligkeit ist geradezu rührend. Und was ihn das alles kostet!«

»Wie, seine politischen Freunde ziehen ihm das Fell über die Ohren?«

»Lassen wir das. Das ist auch das wenigste bei der Sache. Papa kann sein Geld ausgeben, wie er will. Er verdient es und hat das Recht, damit zu tun, was ihm gefällt. Aber das, was ihm gefällt, ist eben das Schlimme. Und alles nur, um politisch nicht überholt zu werden, um sich die Majorität zu sichern und seine Hoffnungen auf den Minister nicht aufgeben zu müssen. Ich kann mir noch denken, wie Papa zu den Opportunisten gehörte, dann wurde er Radikalist. Aber diese Schattierung erschien ihm bald zu matt, und so hat er sich den Radikalsozialisten angeschlossen. Und ich frage mich nächstens, ob er nicht noch eines Tages zum geeinigten Sozialismus übergeht. Ich möchte auch gar nicht einmal darauf schwören, ob er nicht sogar Antimilitarist ist . . .«

»Herr Didelod? Unmöglich!«

»Wenn man nämlich das Gespräch auf den Bürger Hervé bringt, lächelt er, zuckt die Achseln, gibt aber keine entschiedene Antwort. Und dann, zum Kuckuck, die Trennung von Kirche und Staat hat ihm ja nicht einmal genügt. Sogar für das Schließen der Kirchen hat er gestimmt! Jawohl. Aber bei dieser Gelegenheit sind Mama und meine Schwester ernstlich böse geworden. Es hat einen fürchterlichen Krach gegeben, und Papa hat schließlich im Amtsblatt erklärt, er habe dagegen gestimmt. So weit ist es mit uns gekommen! Und merkt wohl, daß er all diese Niederträchtigkeiten absolut nicht billigt. Der Pfarrer von Lehrange, der ein rechtschaffener Mann ist, bekommt von Papa stets Geld für seine Armen. Und wenn das Regiment mit klingendem Spiel vorbeimarschiert, so ist mein Vater ebenso begeistert, wie nur irgend ein Hurrapatriot, was indes nicht ausschließt, daß wir an dem Tage, wo Fräulein Laurence Didelod erklärt, sie wolle den Leutnant von Berlier heiraten, eine Musik zu hören bekommen werden, die nicht ganz und gar militärisch ist!«

»Aber du, Moritz,« sagte Maxime lächelnd, »wirst doch auf meiner Seite sein?«

»Lieber Freund, die ganze Familie mit Ausnahme ihres Oberhauptes wirst du für dich haben. Im übrigen darfst du überzeugt sein, daß Papa im innersten Herzen die Wahl meiner Schwester billigt, und daß nur die traurigen politischen Rücksichten, die ich euch auseinandergesetzt habe, schuld daran sind, wenn er das nicht sofort eingesteht. Doch da wären wir ja in Lehrange. Laßt uns rasch zum Essen gehen.«

Die drei jungen Leute trabten an und ritten ins Städtchen ein. Allein schon bei den ersten Häusern schien es ihnen, als ob etwas Ungewöhnliches vor sich gehe. Die Ladenbesitzer standen unter den Türen und schauten auf die Straße hinaus, als horchten sie auf ein entferntes Geräusch, doch hinderte das Klappern der Pferdehufe auf dem Pflaster die jungen Leute, zu hören, was das war. Als sie dann aber über die Brücke der Verveille kamen, bemerkten sie in der Hauptstraße und auf dem Rathausplatze eine Volksansammlung und lebhaft erregte Gruppen von Männern. Sie ließen ihre Pferde wieder in Schritt fallen, und jetzt drang ein heftiges verworrenes Getöse bis zu ihnen. Nun hatten sie die ersten Gruppen erreicht, die zwar zur Seite wichen, um die drei vorüberreiten zu lassen, ihnen aber feindselige Blicke zuwarfen. Hier klangen die Rufe nun schon deutlicher. Vor dem Rathaus sahen sie einen Knäuel von etwa dreihundert lebhaft gestikulierenden Menschen, und nun verstanden sie auch, was da immer wieder geschrieen wurde. Die Arbeiter von Neumans, zu denen sich sämtliche Taugenichtse der Stadt gesellt hatten, waren auf dem Platz zusammengeschart und verhöhnten den Bürgermeister mit den Rufen: »Nieder mit Didelod! Nieder mit Neumans!«

Die drei jungen Leute hielten ihre Pferde an. Moritz war etwas blaß geworden, allein sich mit großer Kaltblütigkeit an seine Freunde wendend, sagte er: »Es ist möglich, daß Papa auf dem Rathaus ist. Ich werde zu ihm gehen. Reitet nur weiter und nehmt mein Pferd mit.«

»Aber du, lieber Freund?« sagte Maubrun.

»Fürchtet nichts für mich. Ihr aber macht, daß ihr von hier fortkommt, damit ihr euch durch diesen Pöbel keine Unannehmlichkeiten zuzieht. Wir sind schon aufgefallen. Fort! Fort!«

Er sprang ab, übergab Maxime von Berlier die Zügel und versetzte seinem Pferd einen kräftigen Schlag auf die Kruppe. Dann drängte er sich durch die Menge dem Rathause zu. Ein Hohngelächter und immer bedrohlicher anschwellende Rufe: »Nieder mit Didelod!« empfingen ihn; er schien jedoch nicht darauf zu achten sondern trat ins Haus. Im Flur stand, wie wenn er als Schildwache aufgestellt wäre, mit rotem Kopf, zurückgeschobenem Käppi und gesträubtem Schnurrbart der Amtsdiener, ein früherer Soldat.

»Ach, Herr Moritz,« rief er, als er den Sohn des Bürgermeisters hereinkommen sah, »das ist eine schöne Bescherung!«

»Ist mein Vater oben?« warf der junge Mann ein, um sich bei den Herzensergüssen des braven Mannes nicht aufzuhalten.

»Ja, Herr Moritz, mit Herrn Gaudin.«

Schon stürmte Moritz die Treppe hinauf und trat dann, ohne sich mit Anklopfen abzugeben, ins Amtszimmer des Bürgermeisters. Didelod saß Neumans gegenüber an seinem Schreibtisch, während Gaudin, hinter den Fenstervorhängen stehend, die Vorgänge unten auf dem Platze verfolgte.

»Wie, du hier?« rief der Abgeordnete von Lehrange mit verdrießlicher Miene, als er seinen Sohn hereinkommen sah. »Was willst denn du hier?«

»Ich bin zufällig durch die Stadt gekommen, und da habe ich den Volksauflauf gesehen und das wüste Geschrei gehört. Du kannst doch nicht annehmen, daß ich die Bande ›Nieder mit Didelod‹ brüllen lasse, ohne mich zu erkundigen, um was es sich handelt!«

»Für mich ist keine Gefahr. Übrigens wird vor allem ›Nieder mit Neumans‹ geschrieen.«

»Wenn du nur ›Nieder mit Neumans‹ schreien hörst, dann hast du eben auf einem Ohr nicht hören wollen, denn glaube mir, die Kundgebung gilt dir genau ebenso wie Herrn Neumans. Ein paar hundert Taugenichtse stehen da unten, die einen Spektakel machen wie tausend.«

»Ganz richtig, zweihundert Taugenichtse sind es, denn die richtigen Arbeiter lassen sich mit diesem Gesindel nicht ein.«

»Aber, Herr Bürgermeister,« warf Neumans bescheiden ein, »meine sämtlichen Schreiner sind da unten auf dem Platz, und das sind doch richtige Arbeiter. Die übrigen aber . . .«

»Die übrigen sind Buben – nicht ein einziger Wahlberechtigter ist darunter.«

Immer heftiger schwoll das Getöse an, die Gebärden wurden drohender, und plötzlich erscholl gebieterisch der Ruf nach dem Bürgermeister: »Didelod! Didelod!«

»Sie rufen nach mir,« sagte der Abgeordnete, entschlossen auffahrend. »Gut. Ich werde mit ihnen reden.«

Schon war er am Fenster und öffnete. Verworrenes Geschrei erscholl ihm von allen Seiten des Platzes entgegen. Sogar aus den Häusern kamen Neugierige herbeigestürzt, um bei dem, was nun folgen würde, zugegen zu sein. Am Fenster stehend, zu seinen Füßen die Fahne, die über der Rathaustür hing, betrachtete Didelod einen Augenblick die Menge und hob dann mit einer herrischen Gebärde den Arm. Stille trat ein, und über den ganzen Platz hin klang scharf und trocken die Stimme des Bürgermeisters: »Bürger! Schon so lange genieße ich euer Vertrauen, und deshalb trage ich heute keine Bedenken, direkt mit euch zu verhandeln. Ihr alle, die ihr hier versammelt seid, wißt, daß es mein fortgesetztes Bestreben war, dem Volke zu dienen, dessen Wohl mir stets als eine heilige Sache erschienen ist. Für dieses Wohl einzutreten, ist das einzige Vorrecht, das ich beanspruche. Und wenn ich auch zugebe, daß ich euch gegenüber Rechte habe, so behaupte ich doch, daß meine Pflichten noch viel größer sind.«

Nach dieser Tirade schöpfte er Atem, und schon äußerte sich die Wirkung seiner schönen Worte in einem beifälligen Gemurmel, als eine höhnische Stimme das einzige Wort fallen ließ: »Schwindler!«

Der Sprecher erfreute sich offenbar eines ganz besonderen Einflusses auf die Anwesenden, denn ein lautes, von Pfeifen begleitetes Lachen brauste über die Menge hin.

»Bürger!« nahm Didelod, ohne sich entmutigen zu lassen, das Wort wieder auf. »Ich habe, wie ihr wißt, euren berechtigten Forderungen stets Rechnung getragen. Bei allen Gelegenheiten habt ihr mich bereit gefunden, euch beizustehen. Lohnt mir das jetzt durch ein maßvolles Verhalten. Laßt uns ruhig miteinander eure Interessen besprechen. Ich werde sie durchzusetzen wissen.«

»Das kennt man schon! Neumans ist mit auf dem Rathaus!« unterbrach ihn dieselbe Stimme.

»Ja, ja, die stecken unter einer Decke! Nieder mit Neumans! Nieder mit Didelod!«

Aufgeregt wogte die vor dem Rathaus sich drängende Menge hin und her, drohend erhoben sich viele Arme. Didelod versuchte, weiterzureden, aber es war unmöglich, sich Gehör zu verschaffen. Mit der ganzen Kraft seiner Lungen schrie er: »Bürger! Einer der euren spricht mit euch!! . . . Ich bin euer Freund!!! . . . Bürger! Ihr habt kein Vertrauen!!! . . .« Allein das mehr und mehr anschwellende Geschrei erstickte seine Stimme. Von allen Seiten des Platzes ertönten Schmähworte. Am Rande seiner Kräfte und seiner Geduld, und fest überzeugt, daß nun nicht mehr zu Wort zu kommen sei, rief Didelod: »O, dieses elende Pack!« Und in den Saal zurücktretend, schloß er heftig das Fenster. Damit war der Auftritt zu Ende. Alle Anwesenden brachen in freche, beleidigende Witze aus, und sich in Reihen formierend, zogen sie, die »Internationale« singend, davon.

Nichts konnte Didelod ungelegener sein, als auf einen solch schlagenden Beweis von Unpopularität festgenagelt zu werden. Und so sagte er zu seinem Sohne: »Es ist mir höchst peinlich, daß du hierhergekommen bist!«

»Ich bin durch die Stadt geritten, habe da einen Auflauf auf dem Platz gesehen, das wüste Geschrei gehört, und da ich fürchtete, es könnte dir eine Gefahr drohen, bin ich hereingekommen.«

»Gefahr? Und von wem denn?«

»Von dem Gesindel, das unter den Fenstern brüllte.«

»Ach was, das sind Leute, die zum Zeitvertreib Radau machen. Die führen nichts Böses im Schilde.«

»Na, jedenfalls aber auch nichts Gutes.«

»Wir werden sie schon zur Vernunft bringen. Man darf sie nur nicht reizen.«

»Wenn die nur auch dieselben Skrupel hätten!«

»Ich habe mir das militärische Einschreiten verbeten und auch dem Präfekten telephoniert, er solle sich nicht zeigen. Wir müssen uns unter uns verständigen.«

»Zum Sichverständigen gehören aber immer zwei, und wenn du ganz allein bist . . .«

»Nur Geduld und nichts überstürzen! Die Arbeiter sind wie die Kinder, die ihren Sinn im Handumdrehen ändern. Die Hauptsache ist, daß man sich nicht den Anschein gibt, als wolle man ihnen Zwang antun. Dann wird man schließlich immer mit ihnen fertig.«

»Ich bin auch gar nicht für Gewaltmaßregeln; immerhin aber darf man die Güte nicht zu weit treiben, sonst wird es einem als Schwäche ausgelegt.«

»Mein lieber Junge, ich verkehre nun schon so lange mit den Arbeitern, daß ich genau weiß, wie man sich ihnen gegenüber zu verhalten hat.«

»Sie sind eben ganz anders geworden seit einigen Jahren.«

»Auch die Zeiten haben sich geändert. Die Demokratie hat den Sieg davongetragen. Und da muß man etwas Nachsicht mit dem Übereifer von Leuten haben, die noch nicht daran gewöhnt sind, ihren Willen durchzusetzen.«

»So sollen sie ihren Willen meinetwegen durchsetzen, andre Leute aber wenigstens nicht daran hindern, dasselbe zu tun. Ist man jedoch nicht ihrer Meinung, dann zeigen sie gleich die Zähne. Ich fürchte, daß deine siegreiche Demokratie nur zu bald tyrannisch wird.«

»Das Volk wird sich schon selbst erziehen.«

Mit einer Handbewegung schnitt der Abgeordnete von Lehrange die Unterhaltung ab. Es war ihm peinlich, sich mit seinem Sohn herumzustreiten; kam es ihm doch vor, als leide seine väterliche Autorität unter einem derartigen Wortwechsel. Neumans und Gaudin waren inzwischen den Kundgebungen, die sich vor ihren Augen abgespielt hatten, mit verschiedenen Empfindungen gefolgt. Gaudin, der über die Frechheit der Manifestanten aufrichtig entrüstet war, fuhr sich zornig durch die langen Haare, während Neumans, der sich im stillen darüber freute, daß Didelod nicht besser behandelt wurde als er selbst, ein Lächeln unterdrückend, zu Boden schaute.

»Die Leute werden sich schon beruhigen, Herr Neumans,« versicherte der Abgeordnete. »Sie machen jetzt eben ihrem Zorn Luft. Morgen jedoch . . .«

»Morgen,« unterbrach ihn Neumans, »werden die Abgesandten der revolutionären Partei hier eintreffen, und dann beginnt der Tanz erst recht wieder. Ich bin ganz genau unterrichtet. Unter meinen Arbeitern gibt es nämlich viele, die an mir hängen und ganz gegen ihren Willen streiken. Aber man würde sie umbringen, wenn sie sich der Bewegung nicht anschlössen. Tournemarie, der heute der Anführer ist, hat morgen nichts mehr zu sagen. Denn der berüchtigte Stylb, der vorgestern hier war, um seine Maßregeln zu treffen und seine Befehle zu geben, wird sich dann an die Spitze der Bewegung stellen.«

»Vor Stylb ist mir nicht bange. Der ist ein Freund von mir. Wir duzen uns sogar.«

Moritz fuhr entsetzt auf, und Gaudin konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken.

»Nun ja, er ist ein Mann, an dessen Seite ich in den sozialistischen Versammlungen häufig gesprochen, und dem ich schon oft einen guten Rat gegeben habe. Ein ungewöhnlich gescheiter Kerl. Der wird mir in meinem eigenen Wahlkreis keine Schwierigkeiten bereiten. Stylb sagen Sie? Es würde mich sogar riesig freuen, wenn man den hierherschickte. Das wäre ganz außerordentlich günstig.«

»Nun denn, die Freude wird Ihnen ja zu teil werden.«

Die Zugänge zum Platz waren jetzt vollständig frei. Die Arbeiter hatten sich verlaufen, um die verschiedenen Wirtshäuser der Stadt zu überschwemmen. Didelod setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, und Neumans mit Wohlwollen betrachtend, sagte er: »Ehe wir uns trennen, Herr Neumans, möchte ich Sie gerne noch fragen, was für einen Rückschlag der Streik wohl in finanzieller Hinsicht auf Ihren Kredit haben wird. Ich weiß aus langjähriger Erfahrung, daß die Bankiers keine Bedenken tragen, die schwierige Lage, in der sich ein Industrieller befindet, zu benützen, um ihn womöglich zu Grunde zu richten. Das nennt man die Solidarität der Geschäftsleute! Ich sage Ihnen also hiemit, daß ich, falls Sie Geld brauchen sollten, um dem Sturm stand zu halten, zu Ihrer Verfügung stehe.«

»Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Didelod,« antwortete der Möbelfabrikant, dessen Stimme vor Rührung bebte. »Ich habe nichts andres von Ihnen erwartet. Aber ich bedarf keiner Hilfe. Gott sei Dank bin ich ein äußerst anspruchsloser Mann, auch habe ich etwas Geld beiseite gelegt. Ich werde weniger unter dieser Krisis zu leiden haben als meine Arbeiter; aber diese braven Leute, die nun nichts verdienen, die machen mir Sorge. Ich werde allerdings Verluste haben, aber was will das heißen im Vergleich zu dem Elend, dem die Arbeiter entgegengehen, wenn der Ausstand sich in die Länge zieht! Wissen Sie, Herr Didelod, das Abscheuliche an einem Streik, so wie man ihn in unserm Lande betreibt, ist, daß die persönliche Freiheit geknechtet wird. Niemals werde ich mich davon überzeugen lassen, daß eine Majorität von Faulenzern das Recht haben soll, eine Minorität von arbeitslustigen Leuten zu unterdrücken. Und was soll man erst dazu sagen, wenn es die Minorität ist, die sich durch Gewaltmaßregeln die Herrschaft aneignet? Ihre sozialistische Partei mag sagen und tun, was sie will, niemals wird sie das grenzenlose Unrecht verantworten können, daß sie die Leute davon abhält, ihren Lebensunterhalt nach eigenem Gutdünken zu verdienen. Das ist einfach unerhört! Und ebenso unrichtig ist die Einführung der Sonntagsruhe! O, ich weiß natürlich recht wohl, daß es ein Gesetz darüber gibt. Aber nicht alle Gesetze sind gut. Und dieses ist erstens einmal albern, dann aber auch tyrannisch. Mit welchem Recht will man mir verbieten am Sonntag zu arbeiten, wenn mir das Spaß macht? Ich erinnere mich noch, wie mein Großvater sich darüber beklagte, daß man unter dem alten Regime an den Prozessionstagen die Läden schließen, die Häuser schmücken und die Hände in den Schoß legen mußte. Will man denn unter dem Vorwand eines demokratischen Fortschritts die Schnüffeleien der Pfaffen wieder einführen? Ach, glauben Sie mir, Herr Didelod, es ist nicht gut, daß der Staat sich in alles einmischt, alles regelt und in allem für den Einzelnen handeln will. Das heißt, das Volk zur Sklaverei herabwürdigen. Und wir haben doch nicht vier Revolutionen gehabt und drei monarchische Regierungen gestürzt, um schließlich unter der Herrschaft der Republikaner weniger Freiheit denn je zu genießen.«

Didelod erhob sich und sagte in mitleidigem Tone: »Sie sind jetzt ärgerlich, Herr Neumans, und haben auch allen Grund, Ihre persönlichen Widerwärtigkeiten zu beklagen. Aber deshalb darf man das bewundernswürdige Werk der Demokratie doch nicht verkennen. Seien Sie nicht ungerecht. Man mußte unbedingt dem Proletariat helfen, sich zu emanzipieren. Und das konnte nur dadurch geschehen, daß man die Allmacht des Arbeitgebers beschränkte. Ich leide ja ebenso wie Sie unter den Folgen der eingeführten Reformen. Aber ich nehme sie aus Liebe zur Menschheit auf mich. Zwischen denen, die die Arbeit ausführen, und denen, die das Kapital in Händen haben und den Lohn für jene Arbeit bezahlen, muß unbedingte Gleichheit herrschen. Das streben wir mit aller Macht an. Es ist klar, daß der erste Anlauf zu einer solchen Gleichheit nicht ohne gewisse Schwierigkeiten und ohne mancherlei Verdruß vor sich geht. Ist aber einmal das Gleichgewicht hergestellt, so werden Sie schon sehen, wie harmonisch der Gang der Geschäfte sich entwickelt. Kein Streit, keine Eifersucht mehr. Die edelste Brüderlichkeit und eine fruchtbringende Solidarität wird dann herrschen.«

Neumans schüttelte den Kopf.

»Ja, ich weiß wohl, daß das Ihr neues Evangelium ist. Aber die, denen Sie es predigen, werden zwar Ihre und meine Opfer recht gerne annehmen, sich uns aber in keiner Weise dafür erkenntlich zeigen. Je mehr Sie ihnen bewilligen, desto mehr werden sie von Ihnen fordern. Und ehe diese Leute nicht Ihr Geld, Ihre Fabrik und Ihr Schloß in Händen haben, halten sie das soziale Problem für ungelöst. Sie, Herr Didelod, werden mehr dabei verlieren als ich, denn ich bin ja selbst nur ein früherer Arbeiter, der sich zum Chef emporgerungen hat, während bei Ihnen Großvater und Vater schon Chefs waren. Sie haben nie mit den Händen gearbeitet und verstehen nur zu befehlen. Was würden Sie wohl dazu sagen, wenn Sie nun plötzlich gehorchen müßten? Stellen Sie sich mal vor, Stylb sitze in Ihrem Kontor auf Ihrem Stuhl und leite die Fabrik an Ihrer Stelle. Widersprechen Sie, bitte, nicht. Die soziale Reform dient nur dazu, Sie, der Sie oben sind, von Ihrem Platz herunterzustoßen. Oder wollen Sie mir vielleicht gefälligst erklären, wozu sie sonst da wäre? Sie bilden sich doch wohl nicht ein, obwohl Sie mit den Kommunisten auf Du und Du stehen, daß diese Ihnen gegenüber besondere Rücksichten walten lassen würden? Ich glaube es schon zu hören, wie die Arbeiter sich nicht scheuen, in unsrer Gegend herumzuschreien: ›Herr Didelod ist Sozialist. Er ist für die Gleichheit. Warum besinnt er sich dann so lange, mit gutem Beispiel voranzugehen und seine Millionen der Kasse der Besitzlosen zuzuweisen und seine Werke in eine Produktivgenossenschaft zu verwandeln? Man wird dann schon in einem Bureau Platz für ihn finden, da er mit dem Handwerkszeug nicht umzugehen versteht. Bei den Ansichten, die er hat, muß ihm sein Vermögen doch peinlich sein. Es ist gestohlenes Gut, denn alle Fabrikherren sind Diebe! Er soll machen, daß er es zurückgibt!‹«

»Schafsköpfe!« rief Didelod, der einen dunkelroten Kopf bekommen hatte. »Idioten, die keine Ahnung von den Bedürfnissen des industriellen Lebens haben! Man braucht doch bei allen Geschäften eine Leitung . . .«

»Die wäre dann auch da; nur hätten Sie sie nicht mehr. Die sozialistische Lehre gipfelt ja doch vollständig in der Umsturzformel: ›Nun will ich auch einmal in der Wolle sitzen.‹«

»So redet ein Reaktionär!«

»Sie widersprechen? Warten wir ab, was die Zukunft Ihnen bringen wird. Jedenfalls müssen Sie doch zugeben, Herr Didelod, daß es nirgends in der Natur eine Gleichheit gibt. Und für die Menschen wäre es ein schweres Stück Arbeit, sie in die Gesellschaft einzuführen. Es läßt sich nun mal nicht ändern, daß es gescheite und dumme, gesunde und schwächliche Menschen gibt. Durch den Unterschied in der physischen Beschaffenheit der Menschen wird die Gleichheitstheorie umgestoßen. In moralischer Hinsicht ist das aber noch viel auffallender. Es gibt arbeitsame und träge Menschen, geizige und verschwenderische, mäßige und ausschweifende, und so verschwindet die vielgerühmte Gleichheit mehr und mehr. Angenommen nun, man würde in Ihrer neuen Gesellschaftsordnung den faulen Arbeiter gerade so bezahlen wie den fleißigen, was eine haarsträubende Ungerechtigkeit wäre, so würde man es doch nicht hindern können, weder daß der Geizige sein Geld aufspart, während der Verschwender das seinige ausgibt, noch daß der Mäßige Ersparnisse macht, während der Schlemmer seinen Lohn verpraßt. Schon nach einem Tage wäre also das soziale Gleichgewicht gestört. Ein neuer Kapitalist und ein neuer Proletarier entsteht, und infolgedessen ein Herr und ein Diener, ein Chef und ein Arbeiter. Soll man nun jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche von neuem anfangen, denen, die sich ein Kapital erworben haben, das Geld wieder abzunehmen, um es unter solche zu verteilen, die sinnlos drauflos gehaust haben? Das wäre doch unmöglich! Denn eben dadurch wäre schon wieder eine neue Sklaverei eingeführt, bei der die Besten unaufhörlich für die Schlechtesten arbeiten müßten. Ach, Ihr Traum von einem Kommunismus ist eine der wunderbarsten Verirrungen des menschlichen Geistes. Die Philosophen mögen sagen und die Nationalökonomen schreiben, was sie wollen, und Beweis auf Beweis häufen – alles wird umsonst sein, denn Gleichheit kann es auf dieser Erde niemals geben.«

»Aber die Gesetze kümmern sich doch nicht um die Natur!« entgegnete Didelod verdrießlich. »Sie sind doch nur dazu da, die Gesellschaft zu reformieren. Jedes Gesetz ist gleichsam eine Schranke, die man dem Naturtrieb entgegensetzt. Es ist ja richtig, daß seit Jahrhunderten eine gewisse Form von Eigentumsrecht eingeführt ist, und daß nicht ohne Schwierigkeiten und ohne Widerspruch daran gerüttelt werden kann. Allein jede Änderung bringt Mißstände mit sich. Deshalb muß man stets das Resultat im Auge haben, und gereicht dies der Menschheit zum Nutzen, so darf man sich durch keinerlei Bedenken abhalten lassen. Aber wer dem alten Schlendrian folgt, hat ja immer Entschuldigungen zur Hand. Selbstverständlich gibt es Ungleichheiten in der Natur, trotzdem aber bildet die Menschheit ein ziemlich einförmiges Ganzes. Man arbeitet doch nicht für die Ausnahmen, sondern für die Allgemeinheit, nicht wahr? Wenn sich ein Hinkender in einer Gesellschaft befindet, wird man dann auch alle andern, die leichtfüßig sind, am Laufen hindern? Oder nehmen wir ein andres Beispiel. Soll man, weil vielleicht ein besonders begabter Mensch unter der Regel zu leiden hat, die für die mittelmäßig Begabten aufgestellt worden ist, deshalb die Höhe der Anforderungen ändern und die Regel umstoßen? Nein, der Fortschritt wird nicht fruchtlos sein, wenn er sich von einer idealen Brüderlichkeit leiten läßt. Die Solidarität der Menschheit muß ausgeübt werden und die einzelnen Individuen müssen lernen, sich gegenseitig beizustehen, in Liebe miteinander verbunden zu sein . . .«

In dem Augenblick, wo Didelod, den seine eigenen Worte berauschten, die Augen zur Zimmerdecke erhebend, als sehe er im Geiste die zukünftige Menschheit vor sich, diesen rührenden Aufruf zur brüderlichen Liebe vom Stapel ließ, ertönte unter dem Amtszimmer ein fürchterlicher Knall, der dem Bürgermeister das Wort abschnitt, und bei dem die entsetzten Zuhörer von ihren Sitzen auffuhren.

»Was ist denn das?« rief Neumans.

»Ein Attentat!« stieß Gaudin hervor.

»Die Elenden!« zischte Moritz.

Die Tür des Amtszimmers öffnete sich, und begleitet von einem beißenden Pulvergeruch und dichten Staubwolken, kam der Amtsdiener ohne Käppi mit angstverzerrtem Gesicht auf den Bürgermeister zugestürzt und stammelte: »Eine Bombe, Herr Bürgermeister! . . . Eine Bombe ist im Hausflur geplatzt! Man hat das Rathaus in die Luft sprengen wollen! O, dicht um mich herum habe ich die Bombensplitter pfeifen hören!«

»Nun sehen Sie selbst, Herr Didelod!« rief Neumans in triumphierendem Tone. »Da haben Sie die vielgerühmte Brüderlichkeit! Das hat man davon, wenn man für solche Tollhäusler menschenfreundliche Anstrengungen macht!«

»Ruhig, Herr Neumans!« entgegnete Didelod, der seine Kaltblütigkeit bereits wiedergewonnen hatte. »Wir wollen niemand beschuldigen, ehe wir unsrer Sache nicht sicher sind. Vor allem laßt uns jetzt mal sehen, was da unten los ist.«

Unter der Führung des Amtsdieners verließen die Männer das Zimmer und gingen die Treppe hinunter.



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