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In seinem grün tapezierten, mit Eichenholzmöbeln eingerichteten Zimmer, dessen Fenster auf den Seinequai hinausging, nahm der schöne Herr Mayeur als Untersuchungsrichter den Bericht eines Geheimpolizisten entgegen, dem die Nachforschungen über den Fall in Vanves übertragen waren. Der Gerichtsschreiber brachte gähnend und geistesabwesend die Notizen zu Papier, und der Untersuchungsrichter selbst war sehr übel gelaunt. Er war ein Mann, der das Vertrauen der Staatsanwaltschaft genoß, dem man mit Vorliebe die Fälle übertrug, die das Publikum interessierten, und er hatte sich dabei gewöhnt, mit ziemlich mäßigem Kraftaufwand große Wirkungen zu erzielen. Der Zufall schien mit Herrn Mayeur im Bunde zu sein, die Beweise waren ihm immer spielend wie durch Zauberkraft in die Hände gelaufen, und man führte ihn in juristischen Kreisen als den Untersuchungsrichter an, der immer Glück habe. An dieses Glück gewöhnt, hatte er den Fall Trémont mit siegesgewissem, zuversichtlichem Lächeln übernommen.
»Die dummen Tölpel werden wir bald in der Schlinge haben!« hatte sein Schreiber händereibend mit einem gewissen herablassenden Mitleid für die Schuldigen bemerkt.
Aber es ging diesmal nicht so rasch mit der Schlinge. Seit vollen acht Tagen vermehrte Mayeur die Nachforschungen, lud Zeugen auf Zeugen vor, entsandte Spürnase um Spürnase, rief andere Richter zur Mitwirkung an, aber alles führte zu nichts. Er tappte nach seinem eigenen Ausspruch in einem dichten Nebel herum, der sich an keiner Stelle lichten wollte. Jeden Abend ließ ihn der Staatsanwalt rufen und fragte, seine Papiere ordnend, in verschmitztem Ton: »Nun, Herr Mayeur, woran sind wir jetzt?«
Und der an Sieg und Ruhm Gewöhnte mußte immer wieder zur Antwort geben: »Auf der Suche, nicht auf der Fährte, Herr Staatsanwalt!«
»Verfluchtes Pech! Jetzt ist schon eine Woche verstrichen seit dem Attentat, da werden Ihre Aussichten immer schlechter . . . frische Spuren entdeckt man leichter als verwehte. Je mehr Zeit vergeht, auf desto mehr falsche Fährten wird man gewiesen, die Witterung läßt nach, unser anfangs sicheres Gefühl trübt sich. Das ist sehr schlimm! Ich hatte wirklich bessere Erfolge von Ihnen erwartet, Herr Mayeur. Sie sind sonst scharfsichtiger . . .«
»Aber wo nichts zu sehen ist, nützen die besten Augen nichts, Herr Staatsanwalt! In dieser verfluchten Geschichte zeigt sich einfach nichts, rein nichts.«
»Wieso nichts? Sie haben den Leichnam des Ermordeten, ein zertrümmertes Haus, den abgerissenen Arm des Mörders! Was geschieht denn mit diesem Arm? Der ist doch verräterisch genug!«
»Augenblicklich befindet er sich im Kälteapparat,« gab Mayeur brummig zurück, »das geschieht mit ihm! Aber Leichnam, Ruine, Arm, alles was Sie mir da herzählen, teilen mir rein nichts mit, es sind Beweise, aber man kann nichts damit anfangen. Es ist, als ob böse Geister über den Ort hingefegt wären, Tod, Zerstörung und Verstümmelung hinterlassend und in nichts verschwindend! Man möchte mit dem Kopf gegen die Wände rennen!«
»Nur sachte, Mayeur, Ruinen haben wir ja schon!« lenkte der Staatsanwalt lächelnd ein. Und Ihren Kopf haben Sie recht nötig, um die Untersuchung zu Ende zu führen. Sie müssen zäh und hartnäckig sein, Ausdauer haben; der Erfolg hat Sie verwöhnt, jetzt dürfen Sie sich vom Mißerfolg nicht entmutigen lassen. Ein einziger Augenblick kann ja die ganze Wahrheit an den Tag bringen.«
Was für den Untersuchungsrichter die Pein ins Unleidliche steigerte, war das Bewußtsein, daß alle Kollegen heimlich die größte Freude an seinem Mißgeschick hatten. Er fühlte, wie die rote Robe des Gerichtsrats, nach der er schon die Hand ausgestreckt hatte, durch diesen verabscheuungswürdigen Fall Trémont wieder in unabsehbare Ferne rückte. Ein Richter, der in einer so wichtigen Untersuchung nichts herausgebracht hatte, konnte nicht mehr auf eine außergewöhnliche Laufbahn rechnen, nur auf Grund auffallender Erfolge hätte man ihn über die Vordermänner hinweg so rasch befördern können. So saß Herr Mayeur denn heute, den Rücken gegen das Licht gekehrt, gesenkten Hauptes in seiner Amtsstube und richtete verdrossenen Tones die nötigen Fragen den zur Beruhigung seines Gewissens abermals ausgesandten Geheimpolizisten, der wie alle ohne Ergebnis zurückkam, und sein Schreiber renkte sich beinahe die Kinnladen aus mit Gähnen.
»Also weder in dem Steinbruch, noch in den Gemüsegärten, noch auf der Straße nach Paris hat sich die geringste Spur des Verwundeten nachweisen lassen?«
»Nein, Herr Untersuchungsrichter! Ich habe alle Wirtshäuser besucht, wo die Steinbrecher und Gemüsegärtner der Gegend einkehren, keiner aber konnte mir auch nur den geringsten Aufschluß geben. Man sollte annehmen, der Mörder sei bei der Explosion vollständig vernichtet worden.«
»Das kann man eben nicht annehmen, da sich seine Spur dreihundert Meter weit von der Unglücksstätte deutlich verfolgen läßt, bis am Rand eines Feldes das sehr sichtbare Blutrinnsal plötzlich verschwindet . . . Hat er an dieser Stelle die Mitschuldigen getroffen, die ihn erwarteten? Hat man ihn von da an weiter getragen? Und auf welche Weise? Und wohin? Immer dasselbe undurchdringliche Dunkel!«
»Die Urheber des Verbrechens sind keine gewerbsmäßigen Einbrecher, obwohl der General seiner Wertgegenstände beraubt wurde. In unserer Kundschaft sind sie darum nicht zu finden, und daher kommen die außerordentlichen Schwierigkeiten.«
Der Richter winkte ihm ungeduldig, zu schweigen, denn er wußte bis zum Ueberdruß genau, was nun folgen würde. An dem blonden Kinnbart ziehend und den Schnurrbart hinaufdrehend, stieß er einen tiefen Seufzer aus und sagte dann: »Sie können sich zurückziehen! Schicken Sie mir den Diener des Generals, mit Namen Baudoin herein, den ich wieder vorgeladen habe.«
Der Polizist verbeugte sich und ging hinaus. Gleich darauf erschien das unternehmende, pfiffige Gesicht des ehemaligen Burschen unter der Thüre. Baudoin stand mit dem Gerichtsschreiber schon auf ganz vertrautem Fuß und dieser nickte ihm freundlich zu, während der Richter mürrisch sagte: »Setzen Sie sich, Baudoin. Ich habe Sie noch einmal herbemüht, um einige Einzelheiten, die mir bis jetzt noch unverständlich sind, mit Ihnen durchzusprechen.«
»Herr Richter, von Mühe ist bei mir gar nicht die Rede, wenn sich's um meinen verstorbenen Herrn handelt, ich stehe Ihnen zur Verfügung so oft Sie wollen, und wenn ich Ihnen wirklich helfen könnte bei Ihrer Aufgabe, wäre niemand glücklicher darüber, als ich!«
Herr Mayeur rückte ärgerlich an seiner Krawatte; wie sollte dieser Bediente eine Aufgabe erledigen helfen, mit der er, der berühmte Mayeur, nicht zu stande kam? Zu allem Aerger hin mußte er sich auch noch das Mitleid der Zeugen gefallen lassen und der Schreiber schien sich obendrein an dieser Demütigung seines Vorgesetzten zu weiden. Der Mann hatte sich schon viel über das Selbstbewußtsein des Vorgesetzten geärgert, der seinen Untergebenen immer als Dummkopf behandelte, nun fand er, daß eine gehörige Schlappe dem Herrn Mayeur ganz gut bekommen und ihn vielleicht zu rücksichtsvollerer Behandlung des Nebenmenschen veranlassen würde.
»Aergere dich nur, mein Bester, tobe, rase, das fördert deine Untersuchung um kein Haar,« dachte der Gerichtsschreiber mit abermaligem verzweifeltem Gähnen.
»War die Frau, die Sie am Abend des Verbrechens aus dem Wagen steigen sahen, groß oder klein?« begann der Untersuchungsrichter mit Würde.
»Eher groß als klein, da sie aber in einen faltigen Mantel gehüllt war, konnte ich die Figur nicht so recht unterscheiden. Nach der Art, wie sie ausstieg, möchte ich behaupten, daß sie schlank war.«
»Und ihr Begleiter?«
»O, den habe ich genau gesehen! Ein kräftiger Mann mit dichtem Bart, heller Hautfarbe und grobem Gesicht. Er trug einen einfarbigen dunkelgrauen Anzug und einen etwas helleren Filzhut; der Sprache nach war er entschieden ein Ausländer . . .«
»Nehmen Sie an, daß es derselbe Mann war, den Ihr Herr ›Hans‹ nannte?« unterbrach ihn der Richter.
»Es kann gar kein anderer gewesen sein! Der General nahm sonst nie Besuch an, bis auf seine Freunde, die Herren Baradier und Graff, und die Leute, die verschiedenemal des Abends in die Villa kamen, müssen ein nettes Gesindel gewesen sein, daß er mich ums Leben nicht in der Nähe bleiben ließ!«
»Wie erklären Sie sich denn die von dem General angewendete Vorsichtsmaßregel, Sie fortzuschicken?«
»Aus seiner Angst, ich könnte Lunte riechen und die Kniffe des Frauenzimmers und ihres Spießgesellen durchschauen.«
»Sie sind also der Meinung, daß ein Liebeshandel des Pudels Kern war?«
»Scheinbar, ja.«
»Und in Wirklichkeit?«
»Hat man dem General seine neue Erfindung, Pulver zu machen, stehlen wollen.«
»Da wäre also die Frau nur eine Mittelsperson gewesen?«
»Eine Mittelsperson, nein! Man wußte sehr genau, daß der General niemals auf ein Handelsgeschäft eingegangen wäre, aber ein Köder war sie. Gesehen habe ich sie ja nicht, die Person, aber gerochen . . . jedesmal, wenn sie dagewesen ist, war das Zimmer des Generals ganz erfüllt von einem Wohlgeruch, ach, einem ganz besonders süßen Duft, der einem ordentlich zu Kopfe stieg . . . unter hundert Wohlgerüchen würde ich den wiedererkennen! Und die Stimme dieser Frau, die war gerade so einschmeichelnd und verführerisch wie der Geruch. Ach, mein armer Herr! Wenn er sie erwartete, die nichtsnutzige Person, stampfte er vor Ungeduld und wurde bald rot, bald blaß . . . man hat's ordentlich gespürt, wie ihn die Sehnsucht umtrieb, und sie wußte es wohl, sie kannte ihre Macht! Sie hätten nur hören sollen, wie sie beim letztenmal, als er ihr sagte, wie lang er schon auf ihren Besuch gehofft und wie er gefürchtet habe, sie könnte nicht Wort halten, zur Antwort gab: ›Wie konnten Sie nur zweifeln, General?‹ Und dann trug er sie fast aus dem Wagen wie eine angebetete Herrin! Sehen Sie, Herr Richter, diese Frau, die war einfach zu allem fähig – einen braven Mann mit einem feurigen Herzen wie mein General toll zu machen, ihn mit Blicken und ihrem Lächeln zu vergiften und ihn kaltblütig totschlagen zu lassen aus Gründen, die ich nicht kenne . . . Und was den Mann betrifft, diesen Hans, der war einfach das Werkzeug zur Ausführung ihrer Pläne. Unterrichtet muß er ja gewesen sein, denn der General hielt etwas auf sein Urteil und konnte mit ihm über seine Entdeckungen sprechen, aber er gehörte ganz gewiß nicht zu den vornehmen Leuten wie sie, er war ein plumper, sogar ein gemeiner Mensch, und wenn ihn das Frauenzimmer nicht so umgarnt gehabt hätte, mein General, der so vornehm und heikel war, hätte nie an solch einem Kerl Gefallen gefunden.«
»Und Sie hatten nie Gelegenheit, etwa durch die zurückgebliebene Köchin zu erfahren, was an jenem Abend nach Ihrer Abreise in der Villa vorging?«
»Die Köchin war eine sehr beschränkte Person, die außer ihrem Herd nie viel gesehen und gehört hat. Deshalb war ja der General vor ihr nicht auf seiner Hut! Sie hat die Frau verschiedenemal gesehen und mir wenigstens sagen können, daß sie ein Wunder von Schönheit sei, jung, dunkelhaarig, mit Augen, die sie selbst und andere Leute um die ewige Seligkeit bringen werden. Sie habe mit dem General in einer fremden Sprache gesprochen . . . nun sprach Herr von Trémont nur englisch und französisch . . .«
»Und hat die Köchin aus dem Benehmen des Generals und seines Gastes mit Sicherheit auf ein Liebesverhältnis geschlossen?«
»Ach, Herr Richter, daß sie meines Herrn Geliebte war, dafür stehe ich gut! Das vorletzte Mal, als mein Herr mich auch fortgeschickt hatte, habe ich am anderen Morgen beim Reinmachen in des Herrn Zimmer Haarnadeln auf dem Bodenteppich gefunden . . . unterm Plaudern wird sie die schwerlich verloren haben!«
»War Ihr Herr ein reicher Mann?«
»Nein, Herr Richter, sein Vermögen war bescheiden, es trug etwa zwanzigtausend Franken Jahreszins, aber seine Entdeckungen waren Goldes wert, und auf diese hatte es das Gesindel abgesehen . . . Vermutlich hat der Begleiter im Laboratorium meines Herrn Schriftlichkeiten durchstöbert und seine Chemikalien beschnüffelt, während sie bei ihm im Zimmer war.«
»Sie haben nie einen Brief, einen Zettel gefunden, der über seine Beziehungen zu dieser Frau Aufschluß gegeben hätte?«
»Niemals!«
»Was ist denn aus den Telegrammen geworden, die der General jedesmal vor ihrer Ankunft erhielt?«
»Die hat er eigenhändig verbrannt, ich hab's mit angesehen. Ach, der wackere Mann war von peinlichster Vorsicht, nur um seine schöne Baronin nicht bloßzustellen! Er hat sie ja, weiß Gott, angebetet! Wie ein junges Bürschlein zitterte und bebte er beim Gedanken, daß sie kommen werde!«
»Und doch hat er ihr sein wissenschaftliches Geheimnis nicht preisgegeben!«
»Weil er sein Geheimnis für Frankreich bewahrte,« versetzte Baudoin mit tiefem Ernst. »Wie oft habe ich ihn sagen hören, wenn er recht zufrieden war mit einem gelungenen Experiment: »Mein alter Baudoin, wenn unsere Artillerie einmal dieses Pulver hat, brauchen wir keinen Feind mehr zu fürchten!« Er war ja wahrhaftig vernarrt in die Frau, liebte sie leidenschaftlich, aber sein Land ging ihm doch noch darüber, und hätte er zwischen Frankreich und ihr wählen müssen, er würde sich nicht besonnen haben. Das ist ja auch sicherlich der Grund, weshalb er sterben mußte. Weil man ihm sein Geheimnis nicht freiwillig entlocken konnte, hat man's ihm mit Gewalt nehmen wollen.«
Der Schreiber gähnte jetzt nicht mehr; er folgte Baudoins Worten, die er zu Protokoll nahm, mit Spannung und Teilnahme. Nur kurze Notizen wurden zu Papier gebracht, denn es war wohl das dritte Mal, daß Mayeur sich die Angaben des treuen Burschen wiederholen ließ, immer in der Hoffnung, in seinen Worten einen neuen Sinn zu entdecken, der ihn der Wahrheit auf die Spur bringen würde. Und nichts bekam er zu hören als diese Liebesgeschichte, deren Tragweite er nicht beurteilen konnte. War es ein Streich internationaler Politik? Spionenarbeit? Oder ganz einfach ein versuchter Diebstahl, der einem Handelsartikel von großer Zukunft galt? An welche Hypothese sich der Richter auch halten mochte, immer blieben die Ursachen in gleiches Dunkel gehüllt, die Einzelheiten unerkennbar, das Geheimnis, das seine Laufbahn gefährdete und ihn zur Verzweiflung trieb, undurchdringlich. Mit einem Ausdruck von Erschöpfung zerrte er an seinem Bart, indem er seufzend sagte: »Ja, die Schuldigen haben sich wohl vorgesehen! Der General tot, die Köchin tot und Sie waren vom Schauplatz des Unglücks entfernt. Der Mann, dem der Arm abgeschnitten wurde, ist verschwunden, als ob die Erde sich aufgethan hätte, ihn zu verschlingen, und die unbekannte Dame lacht sich ins Fäustchen über unsere Nachforschungen!«
Baudoin zuckte die Achseln.
»Herr Richter – solange wir die suchen, bleibt sie in ihrem Schlupfwinkel und alle Mühe ist vergeblich. Wenn die Sache mich anginge, wüßte ich schon, wie ich's machen würde.«
Mayeur war so geknickt, daß er den unberufenen Ratgeber nicht von der Hand wies, sondern gespannt ansah. Wenn er, der für seine Kombinationsgabe und seinen erfinderischen Geist berühmte Untersuchungsrichter, nicht mehr aus und ein wußte, nicht mehr wußte, wo den Hebel ansetzen, so maßte sich ein einfacher Zeuge an, die Lage zu überschauen und den Ausweg zu finden, das war ein starkes Stück, und Mayeurs erste Regung war denn auch gewesen, die ganze Ueberlegenheit seiner Amtsgewalt herauszukehren und dem armen Teufel zu sagen, er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten bekümmern. Dann aber hatte er sich gesagt, es sei ja immer noch Zeit, den Mann zu zerschmettern, wenn er erst seine Weisheit gehört hatte. Um also seinem Ansehen nichts zu vergeben, fragte er in möglichst spöttischem Ton: »Und darf ich bitten, Baudoin – wie würden Sie's denn machen?«
»Ach, verzeihen Sie nur, Herr Richter . . . es ist ja vielleicht eine Dummheit, was ich mir so denke, aber wenn ich diese Untersuchung zu besorgen hätte, würde ich mich einfach für eine Weile tot stellen. Statt die Polizei in allen Himmelsrichtungen herumzujagen, statt bei allen Militär- und Zivilbehörden Umfrage zu halten, würde ich mich scheinbar gar nicht darum kümmern, ja ich würde das Gerücht aussprengen, das Verfahren sei eingestellt, und etwas anderes vornehmen. Sie wissen doch, wie's auf einem Speicher zugeht, wo viele Mäuse sind? Macht man die Thüre auf – husch, sind alle in ihren Löchern! Bleibt man aber ein Weilchen unbeweglich stehen, so strecken sie die Köpfe heraus, wagen sich vor und krabbeln wieder herum wie vordem . . . nun denn, so glaube ich, daß es bei den Leuten, die wir suchen, auch zuginge. Verzeihen Sie mir, Herr Richter, daß ich mich in Ihre Sache einmische, es geschieht nur, weil ich darauf versessen bin, das Gesindel zu fangen, das meinen Herrn umgebracht hat. Wenn ich dazu etwas beitragen könnte, wäre ich der glücklichste Mensch unter der Sonne!«
Mayeur sah den Ratgeber nicht mehr herablassend an, sondern nickte ihm ganz freundlich zu. Der Bursche hatte ihm ja im Handumdrehen gezeigt, wie er sich mit Ehren aus der Verlegenheit ziehen könnte, die ihm diese verwünschte Geschichte bereitete. Wenn ihn heute abend der Staatsanwalt wieder rufen ließ, um in seinem höhnischen Ton zu fragen: »Nun, Herr Mayeur, woran sind wir?« brauchte er nicht mehr durch das ewige: »Auf der Suche, nicht auf der Fährte« seine Hilflosigkeit und seinen Mangel an Erfindungsgeist einzugestehen, sondern konnte ihm zur Antwort geben: »Der Fall ist von Anfang an unrichtig behandelt worden und ich beabsichtige, das Verfahren von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus neu einzuleiten. Wir haben es mit überlegenen Gegnern zu thun, es muß von der Schablone abgegangen werden.«
Dann würde er nicht mehr dastehen wie der Schwächling, dem man eine Last aufgebürdet hat, der er nicht gewachsen ist, sondern einen ehrenvollen Abgang und damit Zeit gewinnen, und das war die Hauptsache.
»Diesen Kunstgriff anzuwenden, bleibt uns immer noch übrig,« versetzte Mayeur, wieder ganz Würde und Steifheit. »Vorläufig stehen mir noch viele Mittel zur Verfügung, um Licht in die Sache zu bringen.«
Die Feder im Mund, kicherte der Gerichtsschreiber unverhohlen. Eine Dreistigkeit hatte er doch, dieser Mayeur, nicht zu glauben! Während er geradezu verzweifelt war und gar keinen Einfall hatte, von den Schuldigen gefoppt und genarrt wurde, ohne daß er eine Ahnung gehabt hätte, wo er sie suchen sollte, setzte er sich noch auf den hohen Gaul und behauptete, »Licht« in die Sache bringen zu können! Licht! Das war ja zum Wälzen! Baudoin zuzwinkernd, rüttelte der Mann geräuschvoll an seinem Pult.
Mayeur mochte die hämische Kritik seines Untergebenen fühlen, denn er sagte rasch: »Wollen Sie einmal nachsehen, ob der Herr Oberst Ballenot vom Kriegsministerium hier ist.«
Der Schreiber stand auf, reckte sich und wies Baudoin ein Cigarettenetui, als wolle er ihm sagen, der Befehl komme ihm gerade recht, um eine Cigarette rauchen zu können, dann ging er hinaus. Sobald er fort war, stand Mayeur auf und verriegelte die Thüre.
Dann trat er vor Baudoin hin und sagte: »Ich wollte von dem, was mich beschäftigt, nur unter vier Augen mit Ihnen sprechen, denn in einer so heiklen Sache kann ein unvorsichtiges Wort alles verderben. Sie haben mir vorhin einen Rat gegeben, der unter Umständen brauchbar sein kann, aber das, was Sie eigentlich denken, haben Sie mir vorenthalten. Sie sind besser unterrichtet, als es bisher den Anschein hatte! Möglicherweise haben Sie ja nur Verdacht, aber jedenfalls sind Sie fest entschlossen, der Gerechtigkeit in die Hände zu arbeiten und die Mörder Ihres Herrn energisch zu verfolgen. Weshalb vertrauen Sie sich mir nicht rückhaltlos an? Ich wage ein hohes Spiel, verhelfen Sie mir zum Gewinn! Schließlich haben wir ja doch ein und dasselbe Ziel . . . also denn, heraus mit der Sprache, Baudoin – Sie glauben ein Mittel zu haben, die Missethäter zu entdecken?«
Baudoin sah dem Untersuchungsrichter fest in die Augen und gewann die Ueberzeugung, daß Herr Mayeur von leidenschaftlichem Eifer glühe. Er sagte sich also, daß er in ihm einen Bundesgenossen habe, der durch sein Amtsgeheimnis gebunden sei zu schweigen, und so entschloß er sich zum Reden.
»Nun denn, ja! Ich glaube wenigstens ein Mittel zu haben, um den Halunken auf die Spur zu kommen.«
»Und welches?«
»Geben Sie mir zuerst Ihr Wort, daß die Sache ganz unter uns bleiben wird.«
»Aber . . .« der Richter wollte Verwahrung einlegen.
»Entweder, oder,« erklärte Baudoin kurz angebunden. »Ich trage meine Haut zu Markte bei der Sache, und auch andere nehmen große Gefahren auf sich . . . wenn Sie mir nicht Ihr Ehrenwort geben, bei keiner Menschenseele, wer es auch sei, ein Wort davon verlauten zu lassen, so schweige ich.«
»Auch meinen Vorgesetzten darf ich nicht ins Vertrauen ziehen?«
»Nicht einmal unsern Herrgott! Keine Silbe zu keinem Menschen! Ist das abgemacht? Habe ich Ihr Wort darauf?«
»Sie haben es, nun aber . . .«
»Ja nun! Wie ich Ihnen schon angedeutet habe, hatte der General nur einen Freund, mit dem er seine gelehrten Experimente besprach, einen jungen Mann, den er wie einen eigenen Sohn ansah, den jungen Baradier . . . und ich . . . ich habe Gründe anzunehmen, daß Herr Marcel die Rezepte meines verstorbenen Herrn besitzt. Wenn die Strauchdiebe, die wir suchen, auch nur die leiseste Witterung von dieser Möglichkeit haben, so kann's wohl sein, daß sie den Streich, der diesmal nicht zum Ziel geführt hat, noch einmal unternehmen, und zwar werden sie ans Werk gehen, sobald sie sich nicht mehr beobachtet und verfolgt glauben. Dann hat meine Stunde geschlagen! Durch seinen Vater lasse ich mich als Diener bei Herrn Marcel anstellen, und dann hänge ich mich an ihn wie eine Klette. Ich habe obendrein einen Kameraden, der in solchen Geschäften gewitzt ist, und den ich gleich mit anstelle, und wir beide werden uns dann auf die Lauer legen und scharf aufpassen. Zettelt die Gaunerbande etwas an, so lassen wir ihr Zeit, die Fäden zu spannen, und greifen erst ein, wenn's not thut, das ist mein Plan, und darum habe ich mir vorhin herausgenommen, ein scheinbares Fallenlassen der Untersuchung vorzuschlagen. Daß man sich bei so abgefeimten Schurken auf das Schlimmste gefaßt machen muß, ist ja klar, und deshalb möchte ich wenigstens, daß etwas dabei herauskäme, und zu dem Ende mußte ich Ihr Wort haben, daß Sie schweigen. Jetzt bitte ich, daß der Herr Richter mir ein wenig unter die Arme greift, und Sie dürfen sich darauf verlassen, daß wir Sie benachrichtigen werden, sobald das Brot im Ofen ist und Sie es nur noch siedend heiß herauszuziehen brauchen.«
Mayeur überlegte sich die Sache noch ein Weilchen, dann sagte er: »Diese Art vorzugehen läuft juristischem Brauch zuwider, aber die Lage ist auch eine außergewöhnliche und ans Ziel müssen wir kommen, gleichviel auf welchem Wege. Ich bin überzeugt, daß wir es mit Verbrechern zu thun haben, die zum Aeußersten entschlossen und keine Neulinge in ihrem Handwerk sind – möglicherweise können wir eine ganze Bande aufheben. Machen Sie also den geplanten Versuch, und wenn Sie auf Schwierigkeiten stoßen, wenden Sie sich an mich, daß ich Ihnen Hilfskräfte zur Verfügung stelle. Wenn Sie mir nur das letzte Endchen des Fadens aufweisen, den Knoten finde ich dann schon.«
»Sehr gut, Sie dürfen ruhig sein. Sobald's an der Zeit sein wird, bekommen Sie Nachricht . . . stille . . . der Schreiber kommt . . .«
Es hatte in der That an die verschlossene Thüre gepocht, und der Richter ging hin, sie zu öffnen. Im Halbdunkel des Flurs erkannte er die schlanke soldatische Gestalt des Oberst Ballenot, der heute Zivil trug.
»Ei, Herr Oberst! Wenn ich bitten darf – treten Sie ein und nehmen Sie Platz,« sagte Mayeur verbindlich. Dann wandte er sich zu Baudoin: »Sie können sich jetzt zurückziehen, Baudoin. Ich werde Sie in nächster Zeit wohl nicht mehr nötig haben, falls Sie aber verreisen, hinterlassen Sie bei Herrn Baradier Ihre Adresse, damit eine etwaige Vorladung Sie jederzeit erreicht.«
Baudoin verbeugte sich vor dem Richter, grüßte den Oberst militärisch und ging hinaus. Mit dem sonnigsten Lächeln wandte sich jetzt der Richter seinem Besuch zu; daß er verstimmt und entmutigt war, sollte ja niemand inne werden.
»Der Herr Kriegsminister befindet sich wohl? Hat ja gestern in der Kammer eine inhaltreiche, schneidige Rede gehalten . . .«
»Jawohl, man hätte ihm gern eins ans Bein gegeben, aber er ist der Mann, sich zu wehren, und nimmt kein Blatt vor den Mund, womit man im Parlament immer Eindruck macht.«
»Imperatoria brevitas,« näselte der Richter, um nach einer Weile mit ganz anderem Gesichtsausdruck in honigsüßem Ton zu fragen: »Und was für ein Ergebnis haben seine Nachforschungen?«
»Dasselbe wie die Ihrigen!« warf der Oberst trocken hin.
»Ach! Wir rücken also nicht vom Fleck?« fragte Mayeur lächelnd.
»Doch, aber nach rückwärts, wie mir scheint . . . nehmen Sie mir's nicht übel.«
»Es ist ganz richtig, wenigstens dem äußeren Schein nach,« sagte Mayeur mit überlegener Miene.
»Nur dem Schein nach? Sollten Sie etwas herausgebracht haben?« rief Ballenot gespannt.
»Geduld, Geduld! Ich kann mich vorläufig nicht aussprechen. Sie werden Ueberraschungen erleben!«
»Donnerwetter, das käme uns sehr erwünscht, besonders für unseren Alten! Die Geschichte sitzt ihm auf die Nerven, daß es nicht sehr lieblich für uns ist. Er kommt gar nicht mehr aus dem Zorn heraus, man muß ihn behandeln wie ein schalloses Ei.«
»Kommen wir auf Ihre Anfragen im Ausland zurück . . . was haben diese ergeben?«
»Gewißheit, daß der Dreibund nicht daran beteiligt ist, wenn der Versuch, sich der Erfindung zu bemächtigen, überhaupt vom Ausland ausgeht. Alle unsere Gewährsmänner sind einig in diesem Punkt. Seit der letzten Spionenepisode haben die verbündeten Regierungen ihren Agenten die größte Zurückhaltung auferlegt. Wenn überhaupt die Politik hineinspielt, so kann der Versuch nur auf englische Rechnung gemacht worden sein. Es ist Ihnen wohl bekannt, daß die Engländer sehr veraltetes Geschützmaterial haben und sie nun alles aufbieten, zeitgemäße Ausrüstung zu schaffen. Da es diesen Krämerseelen viel näher liegt, Erfindungen zu kaufen, als zu machen, scheint es uns nicht unmöglich, daß der Auftrag von dort ausging. Selbstverständlich würden sie die Mittel, deren man sich bedient hat, mit Entrüstung verleugnen, der Schein gilt ja dort alles. Man kann so schlecht sein, als man will, wenn man nur äußerlich ehrbar auftritt; sie nennen das Anstand, wir Heuchelei . . . doch das gehört nicht zur Sache, entschuldigen Sie . . .«
»Bitte sehr. Alles zusammengefaßt, haben Sie eben auch Vermutungen und keine Beweise?«
»Keinen einzigen. Es gibt in Paris oder in Frankreich ein halbes Dutzend Frauen, die von Badeort zu Badeort ein Wanderleben führen und internationale Intriguen leiten. Jede einzelne davon könnte man eigentlich im Verdacht haben, die Baronin im Falle Trémont gewesen zu sein, aber die einen befanden sich außerhalb von Paris, die anderen waren streng überwacht. Außerdem bilden die meisten einen Teil unseres Gegen-Spionagecorps und würden uns gewarnt haben, obwohl sie auch im Sold des Auslands stehen. Nach dieser Seite hin ist gar nichts herauszubringen. Was nun den »Hans« betrifft, so meldet uns ein geheimer Polizeibericht aus Lausanne, daß in Genf ein Verwundeter mit abgenommenem Arm eingetroffen sei. Der Mann ist ein Deutscher, Namens Fichter, stammt aus Baden und wurde in einer Drahtzieherei bei Besançon verstümmelt. Gleichzeitig kann er nicht im Jura und in Vanves gewesen sein, andererseits stimmt die Personalbeschreibung merkwürdig mit den Angaben des Dieners Baudoin überein. Wenn Fichter der Gesuchte wäre, müßte der Besitzer dieser Drahtzieherei falsche Zeugnisse ausgestellt haben, oder zwischen zwei Amputierten hatte unterwegs ein Rollenaustausch stattfinden müssen . . . beides ist höchst unwahrscheinlich. Sie sehen also, wir tappen nach wie vor im Dunkeln.«
»Ja, ja, ja,« meckerte der Richter mit so geistesabwesender Miene, daß der Oberst mißtrauisch wurde.
»Die Sache scheint Sie sehr kühl zu lassen!« bemerkte er.
»Man soll sich nie aufregen; das führt zu gar nichts.«
»Sie geben die Hoffnung also nicht auf?«
»Ich wüßte nicht, weshalb!«
»Das muß ich sagen . . .«
»Nein, nein,« fuhr Mayeur in dem gleichgültigen Ton fort, der den Oberst so stutzig machte, »im Augenblick, wo man alles verloren gibt, stellt sich in der Regel der Erfolg ein.«
»Wenn man Glück hat. Das scheint in der Gerichtsbarkeit öfter vorzukommen als beim Militär . . . wenn wir Grouchy erwarten, kommt immer Blücher!«
»Das werden wir ja sehen.«
»Was haben Sie vor?«
»Die Sache für einige Zeit einschlafen zu lassen. Sie ist noch nicht spruchreif.«
»Das heißt mit anderen Worten, sie wird in der Registratur begraben?«
»Vorläufig, ja.«
»Auferstehen wird sie schwerlich! Sie geben sie auf.«
Der Richter sah Ballenot ernsthaft ins Gesicht und sagte zur großen Verblüffung seines Schreibers beinahe demütig: »Wenn kein neuer Zwischenfall hinzutritt, müssen wir sie in der That aufgeben.«
»Soll ich den Minister davon in Kenntnis setzen?«
»Ich bitte darum und bitte den Ausdruck meiner vollen Ergebenheit beizufügen. Ich wollte mein Bestes thun, aber Unmögliches gelingt nicht. Uebrigens halte ich noch nicht alles für verloren . . . wir werden später sehen . . .«
Der Oberst erhob sich, etwas bestürzt über diesen unerwarteten Bescheid.
»Ein netter Auftrag, den Sie mir da anhängen,« bemerkte er kopfschüttelnd. »Damit werde ich aufgenommen werden wie der Hund, der ins Kegelspiel rennt.«
»Ach, um Sie ist mir's nicht bange, Sie stehen ja sehr in Gunst. Ich muß mich jetzt zum Generalstaatsanwalt verfügen, der wird nicht wettern, aber höhnen. Doch was liegt daran? Warten wir den Ausgang ab . . . wer zuletzt lacht, lacht am besten.«
Damit schüttelte er dem Oberst die Hand, geleitete ihn über den Vorplatz und kehrte in seine Amtsstube zurück, um verschiedene Schriftstücke zu unterzeichnen, die ihm der Schreiber vorlegte. Diesen trieb die Neugierde derart um, daß er sich nicht enthalten konnte, zu fragen: »Also die Sache ist wirklich abgethan? Herr Mayeur, werden Sie den Fall nicht weiter verfolgen?«
»Unmögliches zu vollbringen, muß man sich nicht in den Kopf setzen,« warf Mayeur gelassen hin. »Ohne Gerüste baut man kein Haus auf. Die Akten enthalten rein gar nichts, was der Untersuchung die Wege wiese, und aus der Luft zu greifen, was ich nicht weiß, dazu bin ich nicht der Mann. Selbst aus bestimmten Beweisen die richtigen Schlüsse zu ziehen, ist nicht leicht . . .«
Der Schreiber lächelte seinen Gebieter mitleidig an. Solange dieser Selbstvertrauen und Siegesgewißheit zur Schau getragen hatte, war er ihm höchst tadelnswert erschienen, jetzt, da er sich bescheiden und ehrlich gab, flößte er ihm Verachtung ein. Ein armseliger Mensch, der im Glück ein Großmaul war und bei der ersten Schwierigkeit die Flinte ins Korn warf!
»Ordnen Sie die Akten in meine Mappe,« fuhr Mayeur fort. »Ich werde sie selbst mitnehmen zum Staatsanwalt. Dann können Sie gehen, es ist fünf Uhr . . . auf morgen.«
Der Oberst Vallenot fuhr mittlerweile in einer Droschke nach dem Ministerium zurück. Als er ins Vorzimmer des Ministers trat, stieß er auf Baudoin, der eben aus dessen Arbeitszimmer kam.
»Sie haben Excellenz gesprochen?« fragte er ihn.
»Ja, Herr Oberst.«
»Ist wohl nicht rosiger Laune, hm?«
»Doch, doch, Herr Oberst. Aber Herr Oberst müssen sich beeilen, wenn Sie Excellenz noch sprechen wollen.«
»Will der Minister ausgehen?«
»Excellenz wollen, glaube ich, noch in die Kammer.«
»Sie hatten wohl ein Bittgesuch vorzubringen, Baudoin?«
»Nein, Herr Oberst, ich wollte mit Excellenz über die Sache meines verstorbenen Generals sprechen.«
»So, so! Und von welchem Gesichtspunkt aus?«
»Von dem Gesichtspunkt aus, daß diese Schlafmütze von Untersuchungsrichter nicht vorwärts kommt und offenbar im Sinn hat, die Geschichte stecken zu lassen.«
»Das haben Sie dem Minister gesagt?«
»Es ist noch keine fünf Minuten her.«
»Und wie hat er's aufgenommen?«
»Er hat einen Pfiff hören lassen und dann gesagt: ›Schließlich ist's vielleicht am besten‹«
Der Oberst sah den Burschen prüfend an, als ob er sich vergewissern wollte, daß man sich nicht über ihn lustig mache, und zog dann die Schultern in die Höhe wie jemand, der rein nicht mehr weiß, woran er ist.
»Schön, schön!« sagte er ärgerlich. »Wenn's so steht, reden wir überhaupt nicht mehr davon. Mir ist's entschieden auch am liebsten! Wenn Sie irgend etwas brauchen von uns, Baudoin,« setzte er, dem alten Soldaten freundlich zunickend, hinzu, »so wenden Sie sich nur an mich. Wir alle sind Trémonts Freunde gewesen.«
Und vor sich hinbrummend: »Alle Welt scheint mir den Kopf verloren zu haben,« ging der Oberst weiter.
Baudoin entfernte sich über die Haupttreppe und ging, nachdem er den Pförtner begrüßt hatte, in das kleine Kaffeehaus gegenüber, wo Laforêt, sein Gläschen Absinth vor sich, einigen sehr hitzigen Billardspielern mit väterlichem Wohlwollen zusah und dabei mit der Pfeife im Mund einem kleinen Rentier aus der Nachbarschaft Gehör schenkte, der ihm sein Hauskreuz vortrug.
»Ach, Herr Laforêt, eine Frau, die nie zu Hause bleibt, und der man nicht Geld genug geben kann – ich sage Ihnen, wenn sie die Gewölbe einer Bank zur Verfügung hätte, die würden auch leer! Und sagt man nur ein Wort, so erhebt sie ein Zetergeschrei, daß alle Mietsleute im Haus zusammenlaufen . . . Keine Magd bleibt, denn sie will keinen Lohn zahlen und traktiert die Leute mit Ohrfeigen! Schon mehrmals bin ich vor den Friedensrichter geladen worden wegen ihrer Dienstbotenhändel! Zur Hölle macht sie mir das Leben!«
»Lassen Sie sich scheiden,« lautete Laforêts kurzer Rat.
»Ja, wenn unser Vermögen nur nicht zum größten Teil von ihrer Seite käme!«
»Dann müssen Sie eben die Frau ertragen.«
»Ich kann aber nicht mehr.«
»Dann behandeln Sie die Dame, wie sie ihre Dienstmädchen behandelt, geben Sie ihr Ohrfeigen.«
»Hat sich was! Die würde sie mir mit Zinsen heimzahlen. Dies hier ist der einzige Ort, wo ich ein bißchen Ruhe habe,« sagte der Unglückliche, mit einem Seufzer aufstehend.
»Das ist immerhin etwas . . . auf Wiedersehen, mein werter Herr. Wenn ich Ihnen nützlich sein kann, so verfügen Sie nur über mich.«
Baudoin hatte sich neben Laforêt gesetzt, der sich nun zu ihm hinneigte.
»Gibt's was Neues?«
»Ja, ich brauche Sie. Aber wir wollen nicht hier bleiben.«
Der Agent stand auf, griff nach seinem Stock, nickte als Stammgast, der aufschreiben läßt, der Kassiererin zu und führte Baudoin mit sich fort.
»Wohin gehen wir?«
»An einen Ort, wo wir weder gesehen, noch gehört werden können, kommen Sie nur.«
Sie schlugen die Richtung nach der Seine ein, und am Damm angelangt, wies Laforêt seinem Begleiter eine kleine Treppe, die zum Wasser hinunter führte: in der Nähe eines Schilderhäuschens für den Brücken- und Straßenaufseher bot sich auf einem Haufen Pflastersteine ein bequemer Sitz. Im Schatten der alten Ulmen, die ihre knorrigen Aeste über den schlammigen, rasch dahineilenden Fluß streckten, ließen sie sich nieder. Ihnen gegenüber am anderen Ufer breitete sich das dichte Grün des Tuileriengartens aus, fünfzig Schritte zu ihrer Linken verluden kleine Handelsleute Flußsand, die geschäftigen kleinen Seinedampfer huschten mit ihren Fahrgästen stromauf und ‑ab, und das Wagengerassel auf der Straße zu ihren Häupten dämpfte den Klang der Stimmen.
»Hier sind wir sicher, daß höchstens die Vögel uns belauschen können,« bemerkte Laforêt. »Ich empfehle Ihnen den Platz, wenn Sie mit irgend jemand Geheimnisse zu besprechen haben. Nicht einmal Angler gibt es hier; die suchen die Südseite, weil die Fische dort besser anbeißen . . . weshalb weiß niemand, aber es ist so. Und jetzt schießen Sie los.«
»Nun gut. Nach vollen drei Wochen reinen Zeitverlusts muß der Untersuchungsrichter zugeben, daß er nicht mehr weiß, als am ersten Tag. Es ist sonnenklar, daß der arme Mann aus eigener Kraft nichts herausbringt, aber wenn man auch den Geriebensten aufstellte, er wird auch nicht viel Ehre einlegen mit dem Fall. Man führt einfach einen Schlag ins Wasser und die Herrschaften sind untergetaucht. Alles ist verschwunden und Schatten fängt keiner! Des Pudels Kern ist, daß unser Herr Richter die Geschichte stecken läßt, wodurch ich frei werde und hingehen kann, wo ich will, statt mich in den Vorzimmern des Justizpalasts herumzudrücken. Natürlich reise ich ab.«
»So! Und wohin?«
»Zum jungen Herrn Baradier, der sich auf der Fabrik in der Nähe von Troyes in der Champagne aufhält. Das Nest heißt Ars; es hat heiße alkalische Quellen, die im Sommer von vielen Kranken benutzt werden.«
»Wollen Sie etwa Ihren Kummer wegbaden?«
»Nein, aber den jungen Herrn bewachen. Seit ich in Herrn Baradiers Dienst bin, habe ich mancherlei erfahren, namentlich daß der Vater genau weiß, daß sein Sohn thatsächlich die Rezepte meines verstorbenen Generals besitzt, und man sich also an ihn halten muß, um ihrer habhaft zu werden. Ich glaube, daß Herr Baradier viel darum gäbe, wenn sein Sohn nie einen Fuß ins Laboratorium des Generals gesetzt hätte, aber was geschehen ist, ist geschehen, und nun gilt's einfach, den jungen Herrn zu schützen. Dieses Amt ist mir anvertraut worden. Herr Baradier hat mir gesagt: ›Baudoin, ich habe nur den einzigen Sohn, und wenn der Schlingel auch schon gehörige Dummheiten gemacht hat, hänge ich doch sehr an ihm, was du begreifen wirst. Ich will folglich nicht, daß ihm Uebles zustoße, und sobald du hier weg kannst, wirst du dich zu ihm verfügen und ihm nicht mehr von der Seite gehen.«
»Aber warum vergräbt sich dieser reiche, junge, lebenslustige, verhätschelte Familiensohn in dem Provinznest, statt in Paris zu bleiben?«
»Aus verschiedenen Gründen. Der durchschlagendste ist wohl, daß der Papa es für zuträglicher hält, daß er in Ars ist und nicht in Paris. Auf dem Land ist einer viel leichter zu hüten, da sieht man von allen Seiten dazu! Und nach dem, was ich so gehört habe, muß Herr Marcel unlängst recht dumme Streiche gemacht haben, einer sehr schönen Frau zuliebe. Auf solche Familiensöhne haben sie's ja abgesehen, diese Frauenzimmer, und er ist also in gelinder Strafverbannung; sein Vater hat ihm den Brotkorb höher gehängt, und ohne seinen Onkel Graff säße unser Erbe so ziemlich auf dem Trockenen. Ferner hat der junge Herr auch seine Anwandlungen und hat sich zur Zeit darauf verlegt, ein neues chemisches Verfahren für das Färben der Wolle herauszukriegen. Bei allem Leichtsinn soll er nämlich sehr tüchtig sein in der Wissenschaft, und die Arbeit liegt ihm gegenwärtig mehr am Herzen als Zerstreuungen.«
»Scheint ja ein Original zu sein!«
»Und der beste Mensch unter der Sonne! Freigebig, warmherzig, heiter, gar nicht eingebildet . . . er wird Ihnen gefallen!«
»Ja, soll ich ihn denn kennen lernen?«
»Ganz gewiß.«
»Und auf welche Weise?«
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Sobald ich wußte, daß ich ruhig abreisen kann, lief ich aufs Ministerium, um es dem Herrn Minister zu melden. Ich habe ihm auseinandergesetzt, was ich vorhabe, und habe ihn im Interesse der Sache gebeten, Sie nach Ars berufen zu dürfen, sobald ich Sie nötig habe . . .«
»Dazu würde ich einen Urlaub haben müssen.«
»Den haben Sie. Der Oberst Ballenot hat schon Auftrag gegeben, den Militärpaß auszustellen. Sie können ihn jederzeit abholen.«
»Gut! Und was werde ich dann zu thun bekommen?«
»Das werden die Umstände ergeben. Ich für mein Teil, sehen Sie, ich habe einmal die Idee, daß die Geschichte, der mein armer General zum Opfer fiel, nur das Vorspiel eines großen Schauerstücks war. Es werden noch schlimmere Dinge geschehen, und wir haben die Pflicht, bei Zeiten dafür zu sorgen, daß sie den braven Leuten, auf die man es abgesehen hat, nicht zum Verhängnis werden. Es steht Großes auf dem Spiel und wir werden unsere Nasen in sehr schmierige Dinge stecken müssen, aber schließlich kann man sich ja nachher waschen. Nur gewinnen muß man's! Da fällt mir ein, können Sie sich verkleiden, sich ein anderes Gesicht machen?«
Laforêt lächelte.
»Beruhigen Sie sich darüber. Wenn Sie mir ein Stelldichein geben, werde ich pünktlich zur Stelle sein, ob Sie mich aber erkennen werden, ist sehr die Frage.«
»Das ist recht, das müssen wir haben! Ich bin nämlich sehr ungeschickt in allem, was Komödie spielen heißt, und wenn's gilt, eine Rolle zu übernehmen, darf man sich nicht auf mich verlassen. Meine eigene, als Wachhund, hoffe ich aber mit Ehren durchzuführen.«
»Gut. Damit wäre alles im reinen?«
»Ich glaube. Wenn ich Ihnen Nachricht zu geben habe, adressiere ich den Brief ans Ministerium.«
»Auf Wiedersehen also!«
»Auf baldiges!«
Laforêt wandte sich der Dominiquestraße zu. Baudoin kehrte über die Richelieustraße und die Boulevards in sein Bankhaus zurück. Baradier und Graff waren in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer, wo ihnen der Kassierer die kleinen Wechsel auf ausständige Gelder zur Unterzeichnung vorlegte. Ein Papier ums andere hinreichend, plauderte der vertraute Beamte halblaut mit seinen Vorgesetzten.
»Wissen die Herren, daß die Aktiengesellschaft für ›Industrielle Sprengstoffe‹, an deren Spitze Herr Lichtenbach steht, bedeutend wackelt? Die Aktien sind rasend gefallen. Es heißt, eine amerikanische Gesellschaft setze ihnen so stark zu,«
»Ja, ich weiß davon,« sagte Graff. »Die Amerikaner haben eine Masse gefunden, deren Zusammensetzung sehr einfach und um fünfzig Prozent billiger ist als Dynamit. Sie haben schon bedeutende Bestellungen für Australien und Südafrika, und daher geht's mit der Gesellschaft Lichtenbach abwärts. Seit einem Jahr schon bereitet sich die Sache vor,«
»Beruhigen Sie sich nur, Bernard,« warf Baradier hin. »Lichtenbach kommt dabei sicher nicht zu kurz, nur die Aktionäre, er hat sich jedenfalls vorgesehen! – Noch mehr Unterschriften?«
»Nein, Herr Baradier.«
»Dann sperren Sie Ihre Kasse zu und gehen Sie. Auf morgen!«
»Guten Abend, meine Herren.«
»Siehst du's jetzt?« begann Baradier, sobald er mit seinem Schwager allein war. »Wer so viel weiß, wie wir wissen, hat damit den unumstößlichen Beweis, daß es sich bei Trémonts Mord ebenso um den Raub seines industriellen, wie seines militärischen Geheimnisses gehandelt hat. Siehst du jetzt ein, daß es gerade für Lichtenbach von großem Wert gewesen wäre und noch sein würde, in Besitz einer Sprengmasse zu kommen, die noch billiger ist als die der amerikanischen Konkurrenz und bei hundertfach kleinerem Volumen ebenso wirksam? Denn darin liegt, wie mir Marcel auseinandersetzte, die wesentliche Bedeutung von Trémonts Rezept. Wäre Lichtenbach, auf welche Weise es auch sei, in dessen Besitz gelangt, so hätte er nur ein Patent anzumelden gebraucht, und mittlerweile die fast entwerteten Aktien unter der Hand aufkaufen lassen können. Dann würde er das Herstellungsverfahren an die neu gegründete Gesellschaft verkauft und Millionen eingesackt haben – vom zukünftigen Ertrag des Artikels gar nicht zu reden.«
»Ja, das wäre ein hübscher Schachzug und Lichtenbachs würdig gewesen! Den Gewinn aus dem Schießpulver hätte er seinen Helfershelfern dann leichten Herzens überlassen können, denn das wäre im Vergleich zu dem Handelsartikel eine Kleinigkeit gewesen. Der Staat hat die Gewohnheit, die Menschenfreunde, die ihm die Mittel zum Massenmord liefern, sehr mäßig zu bezahlen!«
»Darüber täuschest du dich! Marcel sagt, daß Trémonts Erfindung ganz verheerende Wirkungen hat. Der Stoff soll seiner Zusammensetzung nach unerhörte Kraft haben und nicht einmal im Wasser erlöschen.«
»Wie griechisches Feuer?«
»Aehnlich ja, etwa wie ein heutiges Geschütz den Schlüsselbüchsen des sechzehnten Jahrhunderts ähnlich sieht! Mit diesem Sprengstoff geladene und durch einen fein berechenbaren Mechanismus entladbare Torpedos wären im stande, ein Kriegsschiff binnen einer Sekunde in eine Flammensäule zu verwandeln.«
»Damit wäre ja alle Überlegenheit zur See hinfällig!«
»Aha! Du begreifst endlich: und nun sage mir, lieber Freund, wo der Besitzer eines solchen Geheimnisses noch Sicherheit finden kann. Der Staat müßte ja von Heiligen regiert werden, der nicht alle Hebel ansetzen würde, um sich die ungeheuerliche Macht zu verschaffen, alle Feinde zu vernichten, alle Nebenbuhler zu überflügeln! Deshalb mußte Trémont sterben und deshalb flieht mich der Schlaf, – daß mein Sohn mit ihm gearbeitet hat, wissen viele, und viele mögen vermuten, daß er den geheimnisvollen Träger von Zerstörung und Herrschaft in Händen hält!«
»Schicke ihn auf Reisen . . . ins Ausland.«
»Da wäre ja die Gefahr noch größer! Nein, nein, er ist verhältnismäßig am sichersten daheim unter Menschen, die uns kennen. Ach, ich wollte, er hätte sich dieser schweren Bürde entledigt! Ich habe ihn angefleht, zum Minister zu gehen und Trémonts Vorschriften bei ihm niederzulegen. Dann hätte man in allen Zeitungen lesen können, Marcel Baradier habe der technischen Kommission des Kriegsministeriums die Aufzeichnungen des Generals von Trémont übergeben, und er wäre entlastet gewesen und hätte ruhig seine Wege gehen können! Weißt du, was er mir entgegnet hat?«
»Nein! Laß hören!«
»Ganz gelassen und heiter gab er mir zur Antwort: »Lieber Vater, Trémonts Pulver hat noch gewisse Verbesserungen nötig. Ich weiß, was er damit vorhatte, er hat es mir genau erklärt, ich werde also die Experimente fortsetzen, und erst, wenn das Tüpfelchen auf dem i sitzt, werde ich seinem deutlich ausgesprochenen Willen gemäß das Schießpulver dem Staat übergeben und selbst eine Aktiengesellschaft zur Herstellung der industriellen Sprengmasse gründen, die seiner Tochter ein großes Vermögen schaffen wird.«
»Der Junge ist rein des Teufels!« rief Graff bewegt. »Er muß doch begreifen, was auf dem Spiel steht!«
»An mir hat's nicht gefehlt, ich habe mich heiser geredet, es ihm nur auseinander zu setzen, aber er ist ein echter Lothringer, ein Eisenkopf! All meinen Vorstellungen hat er unerschütterlichen Widerstand geleistet. ›Ich allein kann die Sache durchführen, wie sich's gehört,‹ hat er mir entgegnet. ›Uebergebe ich das Schießpulver der technischen Kommission, so geht einer von den Springinsfelden her, führt die letzte Verbesserung aus und reißt den Ruhm an sich – vorausgesetzt, daß er die ganze Erfindung nicht durch abgeschmackte Zuthaten verhunzt, was noch wahrscheinlicher ist. Und wenn ich von dem Handelsprodukt den Mund aufthue, ehe ich mir alle nötige Sicherheit verschafft habe, so ist es im Handumdrehen gestohlen, und Trémonts Tochter kann betteln gehen. Aus all diesen Gründen und dem weiteren, daß mir die Sache Spaß macht, werde ich nicht darauf verzichten, das begonnene Werk persönlich und allein zu Ende zu führen.‹ – ›Aber wenn es dein Leben kostet?‹ habe ich ihm vorgehalten. – ›Ist mein Leben denn so kostbar, Papa?‹ war seine Antwort. ›Du sagst ja immer, daß ich ein Nichtsnutz sei, der dich um Hab und Gut, ja demnächst um Ehre und guten Namen bringe . . . dann sei doch froh, wenn du den undankbaren, verlorenen Sohn loswirst!‹«
»Siehst du! Siehst du!« rief Graff. »Das kommt von deiner Härte gegen dieses Kind! Du hast immer nur Vorwürfe und Tadel für ihn gehabt, wie kannst du da erwarten, daß er auf dich hört?«
»Sei so gut und verschone mich mit Predigten!« schrie Baradier, den die innere Angst ganz blaß machte. »Ich trage schwer genug an dem, was mir widerfährt! Du darfst mir nicht etwa die Verantwortung dafür aufbürden! Ich habe Marcel so lieb wie du, wenn ich ihn auch nicht immer mit Samthandschuhen anfasse und bewundere und ihm die Taschen mit Geld vollstopfe! Wenn er nur dich als Mentor gehabt hätte, da wären wir jetzt nett daran! Du hast ihn immer nur in seinen schlechten Anlagen bestärkt, an allen dummen Streichen, die er gemacht hat, bist du schuld!«
»Versteht sich, versteht sich! Ich habe ihn verführt, ich habe ihm ein schlechtes Beispiel gegeben! Alle Welt weiß ja, daß ich sein böser Geist, sein Verderber war! Wahrhaftig, Baradier, man könnte sich fragen, ob du nicht verrückt wirst.«
Baradier rannte aufgeregt durchs Zimmer, trat dann auf seinen Schwager zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Du hast ganz recht, Graff,« sagte er mit bebender Stimme. »Ich verliere wirklich manchmal den Kopf – verzeih mir nur. Die Unruhe bringt mich ganz aus dem Geleise! Wir haben nur diesen einen Jungen, Graff – was würde aus uns, wenn das Schicksal es wollte . . .«
Graff fuhr heftig auf.
»Schweig'! Man darf den Teufel nicht an die Wand malen! Nicht einmal andeuten darf man Möglichkeiten wie diese! Aber trotz allem kann ich Marcel nicht tadeln, daß er durchführen will, was ihm als Pflicht gilt. Er wäre weder ein Baradier noch ein Graff, wenn er anders handelte, und er ist ein wackerer Junge! An uns ist's, ihn zu überwachen und gegen seine eigenen Unbesonnenheiten in Schutz zu nehmen.«
In diesem Augenblick wurde zweimal an die Thüre geklopft. Baradier eilte, sie zu öffnen, und Baudoin erschien auf der Schwelle.
»Du kommst wie gerufen, tritt nur ein . . . und vor allen Dingen, wie stehen die Dinge im Justizpalast?«
»Auf Null, Herr Baradier. Der Untersuchungsrichter findet nichts, die Thäter sind verschwunden, als ob sie der Wind davongewirbelt hätte.«
»Und darum?«
»Darum gibt der Untersuchungsrichter die Hoffnung auf, stellt die Nachforschungen ein und läßt die Geschichte im Sand verlaufen.«
»Ein geistreicher Ausweg! Ist er selbst darauf verfallen?«
»Nein, Herr Baradier.«
»Nun, welcher Schafskopf hat ihm denn die Idee eingeblasen?«
»Ich, Herr Baradier.«
»Alle Achtung, Baudoin! Du bist ja ein netter Kerl! Nun werden die Halunken, die deinen Herrn umgebracht haben, ungestraft bleiben und sich von neuem an die Arbeit machen!«
»Darauf rechne ich.«
»Aber Marcel! Esel, der du bist, denke doch an meinen Sohn! Was soll denn aus dem werden?
»An den denke ich ausschließlich. Ich bin jetzt frei und werde mit Ihrer Erlaubnis heute noch abreisen. Um Mitternacht bin ich dann in Ars. Die Nachricht von der Einstellung des Verfahrens wird erst übermorgen in den Zeitungen stehen, bis dahin habe ich meinen Nachtdienst da unten schon eingerichtet, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß Herrn Marcel kein Härchen gekrümmt werden soll – jedenfalls müßte man mich vorher totgeschlagen haben.«
»Das ist ja außerordentlich beruhigend,« brummte Baradier. »Aber freilich – was soll man mit einem eigensinnigen Burschen wie mein Sohn anfangen? Wo er auch sein mag, in Gefahr ist er immer! Das verfluchte Pulver! Wenn es dem Feind, gegen den man's anwendet, so verderblich ist wie seinen Erfindern, so werden im nächsten Krieg nicht viel Menschen übrig bleiben.«
Baudoin ließ den väterlichen Groll ohne Widerrede über sich ergehen, denn er sah ein, daß Baradier von seinem Standpunkt aus recht hatte. Aber was konnte er mehr thun, als sich mit Leib und Seele zum Schutz des möglicherweise so schwer Bedrohten hingeben? Als Baradier seiner Verstimmung Luft gemacht hatte und sich ganz erschöpft niedersetzte, nahm Graff das Wort.
»Die Suppe ist einmal eingebrockt und muß nun auch ausgelöffelt werden,« sagte er. »Die Hauptsache ist nur, daß man sich nicht damit vergiftet. Die Lage der Dinge ist doch nicht dieselbe wie im Fall des Generals, denn wir sind gewarnt und auf unserer Hut. Mit Besonnenheit und Umsicht kann viel verhütet werden. Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Bist du mit deinen sinnlosen Sprichwörtern bald fertig?« rief Baradier, den des Schwagers Zuversicht aufs neue außer Rand und Band brachte. »Statt der schönen Redensarten muß man Baudoin Vollmacht geben, die Polizei anzurufen, sobald sich in Marcels Nähe etwas Verdächtiges zeigt. Ich habe mehr Vertrauen in den Schutz der Waffen, als den der Vorsehung!«
»Wenn du nur derlei Abgeschmacktheiten vorzubringen hast, würdest du besser thun, zu schweigen und mich reden zu lassen. Marcel soll an seiner Arbeit bleiben – je eher er damit fertig wird, desto eher ist er außer Gefahr. Bis dahin vertraue ich ihn deiner Obhut an, Baudoin.«
»Sie können es auch, Herr Graff. Ich verbürge mich für seine Sicherheit! Und ich stütze mich dabei einzig und allein auf mich selbst! Ich lasse mir einen Gehilfen kommen, der allein zehn Schutzleute aufwiegt, aber mehr sage ich nicht, Sie müssen mir alles anvertrauen.«
»Ja, das wollen wir!« rief Baradier schnell umgestimmt.
»Dann ist's gut!« sagte Baudoin, sich die Hände reibend. »Haben Sie etwas zu bestellen an Herrn Marcel?«
»Er soll vernünftig sein und an uns denken, die wir ihn über alles lieben . . . Hast du denn auch Geld zu deiner Reise, Baudoin?«
»Ich habe, was ich brauche, Herr Graff, danke schön. Auf Wiedersehen, meine Herren . . . Ihr ergebener Diener.«
Er grüßte und ging, indes die beiden Schwäger schweigsam, in trüben Gedanken zurückblieben. Nach einer Weile erhob sich Graff mit den Worten: »Es wird kein Unheil geschehen, ich fühle es, ich bin dessen gewiß. Du weißt, daß mich mein Gefühl nie täuscht. So oft im Geschäft etwas schief gegangen ist, habe ich ein deutliches Vorgefühl davon gehabt. Beruhige dich, Baradier, wir werden nicht Schiffbruch erleiden.«
»Geb's der Himmel,« versetzte der Vater sorgenvoll. »Sobald ein Weib die Hand im Spiel hat, ist bei Marcel nichts vorauszusagen. Ja, wenn sich's um dich handelte oder um mich, da könnte man ruhig sein, aber dieser junge Tollkopf.«
»Die Alten sind auch nicht immer die Weisesten, siehe Trémont!«
»Nun denn – stellen wir's Gott anheim,« sagte Baradier, seinem Schwager die Hand hinstreckend. »Und noch eins, mein Alter – zanken wir uns nicht mehr! Es hilft zu nichts und thut uns beiden weh!«
»Ach was, mich kannst du zausen, wie du willst,« rief Graff gerührt. »Wenn dir's wohlthut, deinen Kropf zu leeren, mir schadet's nichts! Aber hüte dich, deiner Frau etwas zu sagen, sie soll sich nicht auch noch quälen.«
Dann traten sie aus dem Bureau und sahen eben noch, wie Baudoin ganz unternehmend und vergnüglich mit seiner Reisetasche über den Hof ging.