Georges Ohnet
Die lichtscheue Dame – Erster Band
Georges Ohnet

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Viertes Kapitel.

In seinem Privatzimmer mit der strengen, frostigen, grau bemalten Holztäfelung saß Elias Lichtenbach vor einem geräumigen Schreibtisch im Stil Ludwigs XIV. und unterhielt sich halblaut, als ob er Lauscher zu fürchten gehabt hätte, mit einem Priester, der, nachlässig hingestreckt, in einem tiefen Lehnstuhl mehr lag als saß. Der letzte Sonnenstrahl des Tages, der durch den breiten Kreuzstock hereinfiel, beleuchtete den knochigen Kopf des Bankiers mit dem ergrauenden Haar, den vorstehenden Augen, den sorgfältig rasierten Lippen und dem harten, ungütigen Ausdruck aufs deutlichste. Das war nicht mehr der kraftstrotzende, vollsaftige Elias von ehedem, Mühe und Arbeit hatten seine Jugend aufgezehrt und die Stirne gefurcht. Die vorstehenden Backenknochen, die jetzt noch härter und sehr abgemagert waren, verliehen dem Gesicht etwas Unheimliches: man wurde dabei an ein gewaltiges Raubtier erinnert. Die behaarten langen Hände, die auf der Platte des Schreibtisches lagen, verrieten eine unmäßige Geldgier.

Sein Gegenüber war ein junger, weltläufiger Priester mit feinem, angenehmem Gesicht. Ein Anflug südländischen Tonfalls verlieh seiner Stimme eine klangvolle Fröhlichkeit, die Lichtenbach immer wieder zu dämpfen suchte.

»Die Sache wird prächtig werden,« versicherte der junge Priester. »Das Gelände, das wir ins Auge gefaßt haben, ist augenblicklich fast wertlos, denn es besteht aus Heideland und Moorgrund. Die Erwerbung wird unter Ihrem Namen erfolgen und sobald ein Erbpachtvertrag mit Ihnen abgeschlossen sein wird, soll der Bau in Angriff genommen werden. Dazu werden wir einen Vorschuß von dreihunderttausend Franken nötig haben . . .«

»Das hat keinen Anstand,« fiel Lichtenbach ein. »Ich habe Leute zur Hand, die willig das Geld vorstrecken . . .«

»Und brauchen gar nicht weit danach zu suchen?« bemerkte der junge Priester, indem er auf die mächtige Tischplatte hinschielte, worauf Lichtenbachs gierige Hände ruhten.

»Nein, Herr Abbé, weit nicht, aber hier liegt dieses Geld nicht . . . Mein Grundsatz ist, nur auf sofort umsetzbare Werte Geld zu leihen, und der Plan, den Sie mir da entwickeln, bietet vorläufig noch keine genügende Sicherheit. Das hat aber nichts auf sich. Schaffen werde ich das Kapital.«

»Ja, und das ist die Hauptsache für uns. Indes, wir möchten nur mit Ihnen persönlich zu verkehren und abzurechnen haben. Die Herren sind nicht geneigt, dem nächsten Besten Vertrauen zu schenken . . . Ihrer sind sie sicher, aber auf Unbekannte würden sie es schwerlich ausdehnen.«

»Die Herren werden es wie bisher ausschließlich mit mir zu thun haben,« versicherte Lichtenbach fast unterwürfig. »Ich weiß, was ich den Herren schuldig bin, und Sie werden mich zu jeder Zeit dienstbereit finden.«

»Also denn . . . sobald die Grundstücke erworben und uns zur Verfügung gestellt sein werden, soll es an die Arbeit gehen. Wir lassen sofort Bohrungen anstellen, die uns Ort und Stelle der Erzlager, wovon ich Ihnen sprach, zeigen werden, und dann wird sich der Wert von Grund und Boden rasch verzehnfachen. Sie werden dann einen Teil des Grundstücks wieder verkaufen und dadurch wird sich die Anstalt unseres Ordens bezahlt machen, ohne daß wir den Säckel aufzuknüpfen brauchen.«

»Wenn die Erzlager so ergiebig sind, wie Sie mir sagen, so wird die einer Aktiengesellschaft übertragene Ausbeutung auf Jahre hinaus schönen Zins abwerfen.«

»Darauf rechnet ja Monseigneur! Das schließt er mit Sicherheit aus den Berechnungen des Technikers, der in unserem Auftrag die Untersuchungen vorgenommen hat. Ach – wir brauchen ja auch Geld, sehr viel Geld, um unser Werk richtig durchzuführen,« bemerkte der junge Priester seufzend. »Die Religion wird mit einer solchen Heftigkeit angegriffen und bedrängt, daß wir verloren wären, wollten wir sie nur beschützen. Wir müssen den Kampf ins Feindesland tragen . . .«

»Das ist ganz meine Meinung, Herr Abbé, und Sie werden sich überzeugt haben, daß meine Zeitung sie eifrig vertritt.«

»Gewiß, gewiß, Sie arbeiten tüchtig vor. Schade nur, daß die ›Weiße Helmzier‹ nicht nur ideale Ziele verfolgt und sich so viel mit Spekulationen und Unternehmungen befaßt, Ihre Spalten riechen zu stark nach der Börse.«

»Herr Abbé,« fiel ihm Lichtenbach schroff ins Wort, »nicht jeder hat die Kunst erlernt, Geschäfte zu machen, ohne Geschäftsmann zu scheinen. Ich werde aber bei den Herren in die Schule gehen.«

»Nur nicht den Jesuiten spielen, mein lieber Lichtenbach,« warf der junge Geistliche in leichtfertigem Ton hin. »Wir wissen ja Ihre Dienste wohl zu schätzen, dafür haben Sie schon manche Beweise erhalten und werden ihrer immer mehr erfahren . . . Ach, da fällt mir ein, was hat es denn mit dem Verwundeten auf sich, den wir gestern in Iffy aufgenommen haben? Er war hübsch zugerichtet, der arme Teufel, und berief sich auf Sie . . .«

Elias war erdfahl geworden. Mit erschrockener Gebärde flüsterte er: »Nicht so laut, Herr Abbé! Leise, wenn ich bitten darf! Kein Mensch darf ahnen . . .«

»Ach! Wie Sie die Fassung verloren haben! Beruhigen Sie sich nur! Außer dem Herrn Superior und mir weiß niemand von dem Unglücklichen . . . viel anvertraut hat er aber uns auch nicht, denn er war zu erschöpft von der Anstrengung, sich bis vor unsere Thüre zu schleppen. Es war ein Uhr morgens, die ganze Brüderschaft in der Frühmette, man konnte daher den Verwundeten ungesehen in den Eingangspavillon bringen. Uebrigens war es auch hohe Zeit: sobald er ins Bett gebracht war, verlor er das Bewußtsein.«

»Wer pflegt ihn?«

»Unser Superior selbst. Er hat gründliche Kenntnisse in der Heilkunde und überdies war der Arm durch ein heißes Aetzmittel so säuberlich abgetrennt, daß es sich nur um einen Verband handelte. Der Mann hat einen großartigen Heldenmut bewiesen! Jetzt liegt er im Fieber und redet irr.«

»Wovon spricht er?«

»Von ganz merkwürdigen Dingen, die nicht recht zusammengehören. Es ist gleichzeitig von einem verschanzten Feldlager in den Vogesen und von einem ganz unerhört wirksamen Schießpulver die Rede . . . und es handelt sich darum, den Plan des Feldlagers und das Geheimnis der Pulverfabrikation zu entdecken.«

»Nennt er Namen?«

»Er spricht häufig von einer Frau, die er bald Sophia, bald ›die Baronin‹ nennt. Abwechselnd holt er ihren Rat ein, gibt ihr Befehle, verfährt sehr hart mit ihr, ja beschimpft sie. Allem nach muß sie seine Gehilfin bei einem lichtscheuen Werk sein.«

»Hat er sich deutlicher darüber ausgesprochen?«

»Nein, seine Gedanken verwirren sich rasch wieder und man gewinnt keine Klarheit aus seinen Erzählungen. Uebrigens ist heute noch niemand in seine Nähe gekommen als der Bruder Pförtner und unser Superior, Sie haben also nichts zu fürchten.«

Elias atmete erleichtert auf.

»Glauben Sie mir, Herr Abbé, daß ich für meine Person überhaupt nichts zu fürchten habe, aber sehr viel für andere . . . Ich bin, wie Sie wissen, in große internationale Unternehmungen verwickelt, und die meiner Obhut unterstellten Interessen betreffen nicht nur ungeheure Kapitalien, sondern auch unzählige Menschenleben. Es ist also meine Pflicht, äußerste Vorsicht anzuwenden.«

Der junge Priester sah sehr ernst drein, als er mit abweisender Gebärde entgegnete: »Davon will ich nichts hören, Herr Lichtenbach. Die Herren sind, wie Ihnen bekannt ist, französisch, nur französisch gesinnt. Was jenseits der Grenzen vor sich geht, ist ihnen gänzlich fremd, um nicht zu sagen verhaßt. Außerhalb Frankreichs, das wir mit tiefer, erleuchteter Liebe umfassen und von umstürzlerischer Verderbnis retten wollen, anerkennen wir nur den Papst, den Beherrscher aller katholischen Christen und unser Oberhaupt, dem wir blindlings gehorchen. Behalten Sie Ihre Geheimnisse für sich, Herr Lichtenbach, wir werden sie um Ihrer Dienste willen achten und schonen. Aber erwarten Sie von uns keinerlei Unterstützung, die zum Erfolg von Unternehmungen beitrüge, die andere Zwecke verfolgen, als die Aufgaben, denen wir uns geweiht haben, die Monarchie und die Religion. In allem übrigen verhalten wir uns neutral, das ist das Aeußerste, was wir Ihnen zugestehen können.«

»Sind Sie beauftragt, mir das zu erklären?« fragte Lichtenbach beklommen.

»Nein, mein lieber Herr Lichtenbach, ich bin nur beauftragt, den Ankauf der Grundstücke mit Ihnen zu besprechen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Abbé. Wollen Sie den Herren mitteilen, daß ich morgen einen Vertrauensmann nach Grasse schicken und das Geschäft abschließen werde, so daß der Besitz vor Ablauf des Monats angetreten werden kann.«

»Ganz einverstanden.«

Der junge Priester erhob sich, blieb aber zögernd stehen und bemerkte in beiläufigem Ton: »Fast hätte ich's vergessen . . . haben Sie auch von dem entsetzlichen Unglück gehört, das sich in Vanves zugetragen hat? Die Erschütterung durch die Explosion war auch bei uns in Issy noch fühlbar. Haben Sie den General von Trémont nicht gekannt?«

Lichtenbach wand und krümmte sich förmlich, als er stotternd zur Antwort gab: »Doch, Herr Abbé . . . gekannt habe ich ihn . . . es ist indes schon lange her . . .«

»Scheint ein ganz gefährlicher Sonderling gewesen zu sein, der sich in chemische Versuche verbissen hatte, die notwendig früher oder später seinen Tod herbeiführen mußten. Uebrigens, wenn man dem Gerede der Leute Glauben schenken kann, ein Mann von zweifelhafter Sittlichkeit, trotz seines hohen Alters noch niedrigen Ausschweifungen ergeben; also kein Verlust für die Menschheit . . . Es heißt, er sei ermordet und bestohlen worden, ehe das Haus in die Luft sprang . . . das kommt davon, wenn man mit Pulver spielt! Nun leben Sie wohl, mein lieber Lichtenbach, und auf Wiedersehen! Wenn Sie den Verwundeten besuchen möchten, so lassen Sie mich's wissen. Ich werde Sie ganz insgeheim zu ihm führen.«

Ohne auf diesen Vorschlag einzugehen, geleitete Lichtenbach seinen Besuch mit zur Schau getragener demütiger Unterwürfigkeit zur breiten Haupttreppe. Dort verbeugte er sich mit den Worten: »Versichern Sie die Herren meiner tiefsten Ergebenheit, Herr Abbé,« vor dem jungen Mann wie vor einem Gebieter.

»Schön, schön! Die Herren sind davon überzeugt,« sagte der Abbé leichthin, stieg langsam die Stufen hinab und verschwand.

Nachdenklich kehrte Lichtenbach in sein Arbeitszimmer zurück, wo jetzt tiefe Dämmerung herrschte. In dem Lehnstuhl, worin der Abbé gesessen hatte, ruhte jetzt eine weibliche Gestalt und eine helle jugendliche Stimme sagte: »Bei Ihnen ist's ja finster wie in einem Backofen, Lichtenbach, erleuchten Sie mich doch ein wenig!«

»Was? Sie hier, Baronin?« rief der Bankier erfreut.

»Jawohl, soeben gekommen. Das war doch der kleine Abbé von Escayrac, der eben von Ihnen wegging?«

Lichtenbach hatte das elektrische Licht aufgedreht; von der Höhe der Zimmerdecke strahlte goldschimmerndes Licht auf den unangemeldet erschienenen Gast, den Lichtenbach »Baronin« nannte. Es war eine blonde junge Frau von großer Schönheit mit stolzem Gesichtsschnitt, blauen Augen, kluger Stirne, aber um die schmalen roten Lippen und in dem stark ausgebildeten Kinn lag ein Zug von Härte, Die Dame war höchst elegant in Schwarz gekleidet und ein schwarzes Spitzenhütchen hob den rotgoldenen Schimmer ihrer Haare. Die zierlichen Füße steckten in schwarzen Lackstiefelchen.

»Sind Sie schon länger hier?« fragte Lichtenbach mit Besorgnis

»Wie ich Ihnen schon sagte, eben gekommen. Ihr Diener hat mich ins Empfangszimmer geführt, und als ich Ihren Besuch gehen hörte, bin ich hier herüber gegangen. Beruhigen Sie sich, gehorcht habe ich nicht.«

»Als ob ich Ihnen mißtraute!«

»Gewiß mißtrauen Sie mir, wie aller Welt! Ich mache es Ihnen auch gar nicht zum Vorwurf; man muß vorsichtig sein. Von mir freilich haben Sie nichts zu fürchten, ich aber auch nichts von Ihnen!«

»O Baronin! Sie wissen, daß ich Ihnen mit Leib und Seele ergeben bin!« rief Lichtenbach feurig.

»Gewiß, gewiß – und wie gern hätten Sie, daß dieses Verhältnis auf Gegenseitigkeit beruhte!« rief die junge Frau mit spöttischem Lächeln.

Elias' bleiche Züge überzogen sich mit flammender Röte. Auf die Baronin zutretend, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich.

»Wenn Sie nur wollten, Sophia . . .«

Sie entzog ihm ihre Hand, warf den kleinen Kopf zurück und sage verächtlich: »Ich will aber nicht!«

»Werden Sie nie wollen?«

»Wer kann das wissen? Wenn ich einmal sehr übel dran bin wie eure Damen der großen Welt, werde ich vielleicht auch am Geldschrank anklopfen . . . Würden Sie mir Geld geben, Lichtenbach, wenn ich's nötig hätte?«

Sie sah den Bankier bei diesen Worten mit dämonischem Lächeln und verheißendem Blick an. Das Wort Geld hatte ihn sofort wieder zu sich gebracht. Er legte die lange Tatze auf das Knie der hübschen Frau und sagte gelassen: »Alles werde ich Ihnen geben, was Sie brauchen.«

»Das heißt viel auf sich nehmen! Hüten Sie sich . . . übrigens können Sie mir's ruhig versprechen, die Zeit ist noch nicht da.«

Sie rückte bei diesen Worten zur Seite, um sich der vertraulichen Berührung zu entziehen.

»Ach Sophia!« sagte Lichtenbach mit einem Seufzer. »Sie sind eine entsetzliche Kokette! Männer toll zu machen, ist Ihre höchste Lust.«

»Meine Lust? Sie reden irre, Lichtenbach! Haben Sie je erlebt, daß ich mich um einen Mann bemüht hätte, ohne daß meine Interessen es geboten hätten? Man könnte wirklich meinen, Sie kennten mich gar nicht, daß Sie mir solche läppischen Dinge sagen,«

»Ach, ich kenne Sie sehr wohl, Sophia! Genauer als Sie ahnen, denn es gibt Episoden in Ihrem noch so kurzen und so erstaunlich ausgefüllten Leben, die Sie mit Vorliebe in ein wohlthätiges Dunkel hüllen, das mir aber nicht undurchdringlich blieb. Sie sind sehr gewandt, sehr keck, sehr gewitzigt, aber ich bin hartnäckig und geduldig. Ich habe Witterung für das, was mir zu wissen nützlich sein kann, und weiß es zu erfahren. Demnach weiß ich genau, was Sie jetzt sind, Frau Baronin Grodsko, ich weiß aber auch, was Sie vordem waren.«

Ein lauernder Blick zuckte in Sophias Augen auf und ihre Lippen verzogen sich in Bitterkeit; ihr Gesicht zeigte in diesem Augenblick einen Ausdruck abschreckender Bosheit. Vermessen sah sie dem Bankier in die Augen und sagte trockenen Tones: »So, so! Erzählen Sie mir doch die Geschichte! Ich bin sehr neugierig, was man Ihnen über mich zugetragen hat. Ist es Wahrheit, so will ich sie Ihnen ehrlich bekennen, sind es Lügen, so können Sie Ihren Zuträgern den Laufpaß geben. Wenn man Spione besoldet, müssen sie wenigstens zuverlässig und geschickt sein.«

»Die meinen täuschen mich nie. Mich zu belügen, würde sich schlecht lohnen.«

»Wir werden ja sehen. Also denn?«

»Also denn . . . ehe Sie die Frau des Barons Elmer Grodsko wurden, eines magyarischen Edelmannes, der sich mit seiner Familie überworfen hat wegen dieser Heirat, haben Sie auf dem Belgrader Theater gesungen und getanzt und zwar als Mitglied einer durchziehenden Truppe, die unter Leitung eines Walachen stand, der, halb Gaukler, halb Bandit, Ihr Liebhaber zu sein schien. Dort hat Baron Elmer, der von Varna zurückkam, Sie gesehen, sich in Sie verliebt und Sie, nachdem er den Meister Escovico, der mit einem Dolch auf ihn losging, mit dem Revolver niedergeknallt hatte, richtig entführt.«

»Das ist alles, was Sie wissen?« sagte die junge Frau wegwerfend. »Nicht weiter zurück, als bis zum Theater in Belgrad und der Geschichte mit Escovico reicht Ihre Wissenschaft? Wohl der Mühe wert, solch ein Aufhebens davon zu machen!«

»O bitte, ich verfahre nur chronologisch und kann viel weiter zurückgreifen, wenn Sie es wünschen – etwa bis zu dem seltsamen, geheimnisvollen Tod einer Frau Ferranti, einer sehr wohlthätigen Dame in Triest, die Sie halbverhungert auf der Straße aufgelesen und in ihren Dienst genommen hat. Sie waren damals sechzehn Jahre alt. Ihre Wohlthäterin hatte einen Sohn. Am Tag, als seine Mutter starb – man nahm allgemein an, sie sei vergiftet worden, doch fehlte es an Beweisen – reiste der junge Ferranti mit Ihnen ab, sämtliches Bargeld, die umsetzbaren Wertpapiere und den Schmuck der Verstorbenen in der Tasche . . . Ob Sie oder er die Tasse Thee gereicht haben, die Frau Ferranti vor dem Einschlafen getrunken hat, um nicht wieder zu erwachen . . .«

»Mein Gott! Weder ich, noch er! Eine alte Dienerin that's, die zwanzig Jahre im Haus gewesen war. Die Person hat übrigens ein Geständnis abgelegt, doch hat man sie, weil gar keine Beweise vorlagen, weder gegen sie noch sonst jemand, wieder auf freien Fuß gesetzt.«

»Was Sie betrifft, Sie waren ja um diese Zeit samt Ihrem Liebsten in Venedig und haben ein lustiges Leben geführt. Eine nette Art hatte er, die Mutter zu betrauern, dieser junge Ferranti! Im Café Florian auf dem Markusplatz geschah es dann, daß der junge Tölpel in betrunkenem Zustand mit einem österreichischen Major Händel anfing. Dieser stieß ihm anderen Tags am Lido sechs Zoll Eisen in den Leib, woran er starb.«

»Das ist richtig! Der arme Ferranti! Er war ein reizendes Kerlchen, walzte entzückend, war aber dem Absinth gar zu ergeben. Der hat ihn umgebracht, nicht die ›Stoccata‹ des Majors Brüzelow . . . ein schöner Mann übrigens, der seine Schnurrbartenden im Nacken zusammenbinden konnte, aber dumm wie sein Säbel und nicht minder gefährlich . . . Er hat mich aus Venedig vertrieben, wo mir's doch so gut gefiel! Ich konnte ja mit keinem Herrn ein Wort sprechen, ohne daß er ihn gefordert hätte, die ganze Stadt würde er gespießt haben, und so mußte ich denn wohl oder übel abreisen . . .«

»Was nebenbei der österreichischen Polizei auch wünschenswert war, oder nicht?«

»Ich habe die ›Tedeschi‹ nie ausstehen können, und sie haben meine Gefühle von jeher erwidert!«

»Noch jetzt ist Ihnen die Rückkehr nach Oesterreich untersagt?«

»Daran ist dieser Esel von Grodsko schuld!«

»Was ist denn aus diesem vortrefflichen Grodsko geworden, der um Ihrer schönen Augen willen seine Mutter im Jammer zur Grube fahren ließ?«

»Dieser vortreffliche Grodsko lebt im Sommer in Wien, im Winter in Monte Carlo. Winter wie Sommer spielt er, um sich zu zerstreuen, und trinkt, um sich über seine Verluste zu trösten.«

»Verliert er denn regelmäßig?«

»Deshalb trinkt er ja immer.«

»Das waren also, soweit ich zu rechnen verstehe, schon mehrere Leichname, die Sie in Ihrem Soll haben, meine schöne Freundin, Verzweiflung, Herzeleid und Schande beiseite gelassen. Wirklich ein reiches Leben, wenn man die Dreißig noch nicht erreicht hat!«

»Achtundzwanzig war ich letzte Woche,« verbesserte die Baronin kühl.

»Sie schreiten über die Menschen weg, wie über einen Fußteppich, um Ihre Ziele: Luxus, Genuß, Herrschaft zu erreichen. Und heute stehen Sie da, glänzender, mächtiger, angebeteter als je, weil Ihr Wille vor keinem Hindernis zurückweicht und Ihr Gewissen zu allem bereit ist. Stimmt's?«

Sie sah Lichtenbach vermessen an, zog ein ciseliertes silbernes Cigarettenetui aus der Tasche, steckte mit größter Gelassenheit eine türkische Cigarette an, blies den Rauch in die Luft und erwiderte dann mit sanfter Stimme: »Es stimmt, aber es genügt nicht. Ich bin noch weit mehr zu fürchten, als Sie sagen – Sie wissen es auch ganz gut, wollen aber meinen Unwillen nicht erregen und schildern mich deshalb nicht so, wie ich thatsächlich bin. Darin haben Sie unrecht. Meine Verachtung der Menschheit ist derart, daß es mich nicht im geringsten verletzt, wenn Sie offen aussprechen, ich wolle einfach Gewinn aus ihr ziehen, wie der Kaufmann aus seiner Ware. Die Männer sind für mich nicht wichtiger oder interessanter, als zur Schlachtbank bestimmtes Vieh. Sie sind dazu da, mich zu ernähren und zu bereichern, dafür mühen sie sich und dafür sterben sie. Es scheint dies offenbar ihre Bestimmung zu sein, denn keiner vermag ja sich ihr zu entziehen, und sobald einer verschwunden ist, tritt ein anderer an seine Stelle. Sie werden sagen, ich sei eine Verderberin. Es mag so sein. Es gibt in der ganzen Welt Wesen, die zur Arbeit, zum Leiden, zur Aufopferung geschaffen sind, wie es andere gibt, die unwiderruflich der Faulheit, der Selbstsucht, dem Lebensgenuß frönen; die Natur bringt die einen so gut hervor wie die anderen. Der Naturtrieb führt die einen zur Knechtschaft, die anderen zur Tyrannei, es entstehen Aussauger und Ausgesaugte, Raubtiere und Schlachttiere. Darin liegt eigentlich die einzige naturgemäße Klasseneinteilung, finden Sie nicht? Sehen Sie sich nur um im Leben, Lichtenbach. Sie finden allerorten die nämliche Erscheinung – eine Herde von Nullen, die von einem Verwegenen gelenkt, ausgesogen, geprellt werden! Wollen Sie mir's zum Vorwurf machen, daß ich zu den Aussaugern gehöre, wie Sie zu den Betrügern? Wir sind von einer Partie, mein Bester, nur daß ich die Verwegenheit habe, es auszusprechen, Sie die Heuchelei, es zu vertuschen. Wir steuern aufs gleiche Ziel zu, auf die Ausbeutung der Menschheit zu unserem Nutzen und Vergnügen. So ist's! Wenn Sie es bestreiten wollen, so widerlegen Sie mich – Sie haben das Wort!«

Sie hatte in gleichmäßigem, gedämpftem Ton gesprochen, und der Gegensatz der sanften Stimme und des reizenden Mundes zur Scheußlichkeit der ausgesprochenen Theorieen erhöhte deren Wirkung so sehr, daß Lichtenbach, der sich doch schwerlich viel Illusionen über seine schöne und unheimliche Partnerin machte, einen Augenblick die Fassung verloren hatte. Er war ja kein Mann der Gewissensskrupel, dieser Schacherer mit jeder Ware, der seine Laufbahn damit begonnen hatte das bedrängte Vaterland zu prellen, und der seither fortfuhr auf Not und Elend, gesellschaftliche Schäden und menschliche Schuld zu spekulieren, aber hier stand er einer Geistesverwandten gegenüber, die noch kühner, noch rücksichtsloser, vielleicht noch gefährlicher war als er, und er wog in Gedanken die Gefahren, worin sie ihn verwickeln konnte, gegen die Vorteile ab, die sie ihm verhieß. Ein wundervolles Werkzeug war sie ja, diese hübsche, schlaue, gewissenlose Frau, von der er wußte, was sie leisten konnte, aber so weit wie sie wollte er ohne Druck der Notwendigkeit doch nicht gehen. Er war ja reich, er hatte die Macht. Die Abenteurerlaufbahn, die einer Baronin Sophia die einzige sichere Erwerbsquelle bot, war für ihn außer Frage. Ein Mann, der morgen Abgeordneter, möglicherweise Minister sein kann, und eine kosmopolitische Landstreicherin, die Schmutz und Blut zu Geld macht, haben sehr verschiedene Geschäftszweige und Geschäftsrücksichten. Lichtenbach wurde wieder kaltblütig und besonnen; er hatte die Unterredung mit ausreichenden Thorheiten eröffnet, nun galt es, die Vertraulichkeit der schönen Sophia zu dämpfen und ihr begreiflich zu machen, daß zwischen ihm und ihr eine aus Millionen und Verantwortlichkeiten aufgerichtete Schranke bestand.

»Alles in allem, liebe Baronin,« begann er, »liegt viel Wahres in Ihren Worten, wenn der Ausdruck auch etwas . . . sagen wir exotisch ist. Sie haben die pomphafte, deklamatorische Weltverachtung des Morgenlandes, man kann, was Sie mir eben vortrugen, viel einfacher und kürzer in die Worte zusammenfassen, daß die Ungleichheit der Menschen von alters her vorhanden war und immer vorhanden sein wird. Es gibt einmal Dummköpfe und Schlauköpfe! Daß die ersteren von den letzteren beherrscht und ausgenützt werden, geschieht unterm Schutz des Gesetzes und der Aufsicht der Polizei. Ihre Weltanschauung aber läßt Gesetz und Polizei etwas zu sehr beiseite, und ich möchte Ihnen dringend empfehlen, mehr damit zu rechnen. Sie sind nun einmal wichtige Faktoren in den gesellschaftlichen Problemen, die zu lösen Ihre Lebensaufgabe ist, und wenn Sie achtlos daran vorübergehen, könnte sich's bös bestrafen und die Rechnung würde nicht stimmen.«

Sie lachte wegwerfend.

»Die kleinen Fische bleiben im Netz hängen, die großen zerreißen es und sind frei. Ich fürchte nichts und niemand – nur mich selbst. Ich allein bin im stande, mir zu schaden, aber ich werde mich wohl hüten.«

»Augenblicklich ja, aber es gab auch schon Stunden, wo Sie Ihrer selbst nicht so sicher waren. Man hat mir erzählt, daß vor zwei Jahren in London . . .«

Sophia wurde ernst, eine tiefe Falte erschien auf ihrer Stirn. Die Cigarette ins Kaminfeuer schleudernd, versetzte sie mit ganz veränderter Stimme: »Ja, damals habe ich Dummheiten gemacht. Ich war verliebt, und durch die Liebe wird die Frau so dumm wie der Mann.«

»Es war ein Schauspieler, wenn ich mich nicht täusche . . . der schöne Stevenson . . .«

»Ja, Richard Stevenson, Irvings Nebenbuhler.«

»Sie waren rasend verliebt und er hat Sie mit einem kleinen Ballettmädchen von der Alhambra hintergangen. Da haben Sie das Mädchen eines Abends an Bord einer Jacht gelockt, die Sie gemietet hatten, und die auf der Themse lag. Seither hat man nichts wieder von dem jungen Ding gehört . . .«

»Ach! Die Anekdote kennen Sie auch? Sie sind wirklich gut unterrichtet! Und wissen Sie auch, daß Stevenson, dem ich in einem Wutanfall erklärte, er werde die schmutzige Dirne nicht wiedersehen, seinen Stock erhob und auf mich losschlug, daß ich für tot liegen blieb?«

»Jedenfalls den Stock, den ihm der Prinz von Wales zum Geschenk gemacht hatte? Das war immerhin ehrenvoll! Und gleichwohl saßen Sie zwei Tage nachher im Empiretheater, um Ihrem unhöflichen Geliebten vom ersten Rang aus rasend Beifall zu klatschen?«

»Ja, denn ich habe den Elenden geliebt, wie ich Liebe verstehe . . . geliebt wie die Pantherinnen, die, von ihren Männchen blutig geschlagen, sich selbst zu Tode beißen. Das ist glücklicherweise vorüber; ich bin ruhig geworden.«

»Ruhig?« rief Lichtenbach lachend. »Ja, was machen Sie denn mit dem schönen Cesare Agostini?«

»Ach! Der ist mein Spielzeug . . . man kann doch nicht so einsam leben, muß doch jemand haben, mit dem man sich beschäftigt . . . Cesare ist eine Zerstreuung, keine Leidenschaft.«

»Ein ziemlich kostbares Spielzeug, nicht?«

»Unglaublich! Diese Italiener verschlingen Geld, es ist nicht zu sagen! Dieser weiß es sich zu verschaffen, und es auszugeben, versteht er noch zehnmal besser. Erstens spielt er, und dann ist er nicht im stande, einen hübschen Ring zu sehen, ohne ihn gleich zu kaufen, aber er hat auch Tugenden und Talente. Er schießt meisterlich Pistolen und führt den Degen wie ein Fechtmeister.«

»Also ein Bravo, ganz einfach?«

»Der Ihnen zu Diensten steht, Verehrtester, wenn Sie einen großen Herrn verschwinden lassen wollen!«

»Er ist unerschrocken?«

»Namentlich treffsicher. Bedienen Sie sich doch seiner! Sie werden zufrieden sein.«

Lichtenbachs Miene wurde finster, wie immer, wenn man das Gespräch auf Dinge brachte, wovon er nichts hören mochte, und er sagte in abweisendem Ton: »Sehr verbunden, aber in der Tragödie arbeite ich nicht mit, mir genügt die Komödie.«

»In dieser Behauptung gefallen Sie sich! Sie gehören zu den sauberen Heiligen, die Missethaten ersinnen und ausführen lassen und sich dann die Hände in Unschuld waschen. Wollen Sie etwa auch an der Tragödie von Vanves nicht ›mitgearbeitet‹ haben?«

Dieses Mal wurde Elias ernstlich böse.

»Schweigen Sie! Was fällt Ihnen ein, das so laut hinauszuschreien? Sind wir etwa allein im Hause?«

Sophia lachte hell auf.

»Nein, Sie machen mir wirklich Spaß, mein Bester! Seit einer Stunde erzählen Sie ohne allen Rückhalt Geschichten über mich, und wenn ich die leiseste Anspielung auf Ihre Thaten mache, wollen Sie gleich aus der Haut fahren! Sie wollen mich bloßstellen, aber selbst nicht bloßgestellt werden? Sehr ritterlich!«

»Meine Tochter ist hier, und ich möchte nicht . . .«

»Daß sie das wahre Gesicht des Papas kennen lernte? Denn Sie sind ein Scheusal, Lichtenbach, eines von jener allerschlimmsten Sorte, die den Schein wahren will und sogar Mitschuldigen gegenüber . . . glauben Sie denn wirklich, mir Sand in die Augen streuen zu können? Bei mir richtet Ihr Jesuitismus nichts aus, ich kenne Ihre Verkommenheit! Es lebt kein verworfenerer Mensch unter der Sonne als Sie, und Sie wollen sich einen ehrbaren Anstrich geben!«

Bis in die Lippen erblaßt vor Wut und Furcht, erhob Lichtenbach stehend die Hände.

»Baronin! Wollen Sie mich ganz außer mir bringen?«

»Nein, der Anblick wäre zu häßlich! Bleiben Sie, wer Sie sind, der gute, redliche Lichtenbach! Sie sehen, wie rücksichtsvoll ich bin, ich rede ganz leise, ich flüstere nur noch . . . neigen Sie mir Ihr Ohr zu! Ich muß heute abend hunderttausend Franken haben, um Hans fortschaffen zu können und nach Genf bringen zu lassen. Er wird die Reise aushalten . . . Cesare hat ihn gesehen . . .«

»Sie glauben, daß er mit dem Leben davonkommt?« fragte Lichtenbach.

»Ja. Das paßt Ihnen wohl nicht? Sie möchten ihn los sein? Beruhigen Sie sich! Er ist der Mann, eher seine eigene Zunge zu verschlucken, wie die Neger, als einen Genossen zu verraten! Ueberdies – was weiß er denn? Nichts, als daß Ihre Interessen mit den unserigen Hand in Hand gingen und daß Sie uns für das Rezept des industriell verwendbaren Sprengstoffs die gleiche Summe bezahlt haben würden, wie unsere Auftraggeber für das Schießpulver . . . Der Streich ist mißlungen, Hans verstümmelt, aber Sie sind sicher vor jedem Verdacht, und das haben Sie mir zu danken . . .«

Sie machte eine Pause und sah Elias fest an, ehe sie hinzusetzte: »Es kostet hunderttausend Franken Entschädigung . . .«

»Entschädigung?«

»Ja, feilschen sie nicht! Man hat Ihnen den General Trémont aus dem Weg geräumt, den Sie haßten. Wieviel würden Sie für Baradier & Graff bezahlen?«

»Nichts! Nichts!« stöhnte Lichtenbach. »Wie reden Sie denn nur? Welcher Gedanken zeihen Sie mich? Ich, ich sollte den Tod des Generals Trémont gewünscht haben, ich sollte den Herren Baradier & Graff Uebles ansinnen? Wie kommen Sie auf solche Gedanken? Leiden Sie an Wahnvorstellungen? Baradier & Graff sind allerdings meine Feinde, die mir Böses gethan haben, aber ich und ein Verbrechen . . . niemals! Niemals! In der Nachricht von ihrem Tod würde ich eine Gnade der Vorsehung erblicken, das ist richtig, aber ihren letzten Augenblick nur um einen Tag, eine Stunde, eine Minute beschleunigen . . . ich . . . bei Gott dem Allmächtigen . . .«

». . . dem Gott Abrahams, Jakobs und Moses'! Jawohl, mein guter vortrefflicher Renegat, mein wackerer alter Lichtenbach,« warf die Baronin mit unsäglicher Verachtung hin. »Jawohl, die Gnade der Vorsehung – die Vorsehung ist für Sie in der Baronin Grodzko verkörpert! – wollen Sie mit Dank hinnehmen, ohne sich den Anschein zu geben, als hätten Sie diese Vorsehung in Bewegung gesetzt. Immer Heuchelei! Sie verlangen nichts, Sie nehmen nur alles an! Schön und gut – die ›Vorsehung‹ wird Sie auch ohne Gebete erhören!«

»Baronin! Stellen Sie mich ums Himmels willen nicht bloß! Handeln Sie nicht ohne Auftrag!«

»Aha! Sie sind ja ganz fassungslos vor Angst! Sie erinnern mich stark an den alten Trémont, als ich nach Tisch seine Chemikalien in die Hand nahm . . . er war so verliebt, der gute Mann, und in Todesangst um mich! ›Rühren Sie dies nicht an . . . rühren Sie gar nichts an . . . es könnte Ihr Tod sein!‹ rief er immerzu, während ich doch nur einen Wachsabdruck von dem Schloß der eisernen Truhe machte, die Hans dann allerdings geöffnet hat, die ihm aber den Arm abschnitt . . . Ach, und für nichts und wieder nichts! Diese Truhe hat durch ihre Explosion das Geheimnis den Flammen übergeben, aber einer hat es ja geteilt und besitzt es noch. Ich muß es finden und, auf welche Weise es auch sei, in meine Hand bekommen.«

»Was hat man Ihnen denn für die Auslieferung versprochen?«

Sophia sah Lichtenbach lachend ins Gesicht.

»Wie Sie neugierig sind! Seien Sie ganz ruhig. Abgesehen von der Berufsehre, – und man gibt nicht gern zu, daß eine Mission von solcher Bedeutung gescheitert ist – wird das Wagnis die Mühe lohnen! Einstweilen geben Sie meine hunderttausend Franken her – hm?«

Lichtenbach zog eine Schublade auf, nahm zehn Pakete Banknoten heraus und hielt sie der Baronin hin.

»Danke. Sagen Sie einmal, Lichtenbach, was würden Sie für ein Gesicht dazu machen, wenn der junge Marcel Baradier die Rezepte des alten Trémont besäße?«

»Was?« rief Lichtenbach, mit plötzlicher Lebhaftigkeit in die Höhe fahrend. »Wie kommen Sie auf den Gedanken? Was führt Sie zu dieser Vermutung?«

»Aha! Der Menschenfresser wittert einen Leckerbissen! Sie sehen ja ganz verjüngt aus! So denke ich mir Sie, wenn eines von den rosigen, wohlriechenden Dämchen der großen Welt hier ist, die Ihrem Geldschrank so gern ein persönliches Opfer bringen.«

»Baronin! Sie spannen mich auf die Folter.«

»So sieht's aus, aber ich sage nichts mehr, als daß Sie ein alter Rappeltopf sind. Niemals haben Sie solche Augen gemacht, wenn Sie mich Ihrer Liebe versicherten . . . ja, der Haß, der Haß! Nicht wahr, Lichtenbach, der Haß ist ein viel stärkeres Gefühl als die Liebe?«

Er gab keine Antwort, für ihn war alles versunken und verschwunden bis auf die Möglichkeit, die ihm Sophia so jählings vorgeführt hatte. Wenn der Sohn seines Todfeindes das so leidenschaftlich mit solchen Mitteln gesuchte Geheimnis in Verwahrung hätte? Wenn ihm das Schicksal die Genugthuung aufgespart hätte, mit einem Schlag die Verhaßten zu vernichten und ihnen ein Vermögen zu entreißen?

»Worauf gründet sich Ihre Vermutung, der General habe den jungen Baradier ins Vertrauen gezogen?« fragte er ungestüm.

»Darauf, daß sie viel miteinander verkehrt haben und der junge Mann ausnahmsweise Zutritt in Trémonts Laboratorium hatte. Ich weiß, daß Marcel sogar dort gearbeitet hat und daß Trémont große Stücke auf ihn hielt. Der Erfinder hat ja bei mir geplaudert. So verschwiegen, zugeknöpft und ängstlich ein Mann sein mag, es kommt unfehlbar eine Stunde, wo er seinem Herzen Luft machen muß. Einem Mann, auch dem besten Freund gegenüber, würde Trémont nie ein Wort von seinen Plänen verraten haben, denn er war mißtrauisch und verschlagen wie ein Fuchs, aber wenn er nach Tisch, mit einer guten Cigarre zwischen den Zähnen, bei mir saß, und ich ihn mit einem gewissen Blick ansah, da überkam ihn der Drang, vor mir zu glänzen, mich zu blenden. Jugend und Schönheit konnte er nicht ins Feld führen, also wollte er mir durch seinen Geist Eindruck machen. In dieser Stimmung hat er vereinzelte Aeußerungen fallen lassen, die in einem guten Gedächtnis bewahrt und klug aneinander gereiht, mir die Gewißheit geben . . .«

»Also wäre nicht alles verloren?«

»Verloren ist nie etwas!«

»Und was werden Sie jetzt beginnen, Baronin?«

»Das erfahren Sie, sobald es mir von Nutzen sein wird, es Ihnen zu sagen.«

»Sie haben kein Vertrauen zu mir?«

»Können Sie etwa Anspruch erheben auf mein Vertrauen? Ich kenne Sie, mein Guter! Sie stehen mir bei genau bis zu dem Tag, wo Sie es vorteilhafter finden, mich zu verderben.«

»Ich!«

»Ja Sie, Elias Lichtenbach. Aber das macht mir nichts aus . . . ich halte Sie in Händen.«

»Und Sie hoffen auf Erfolg?«

»Diese Hoffnung habe ich immer . . . sehen Sie mich doch nur an!«

Und sie warf sich mit einer Bewegung verführerischer Anmut im Stuhl zurück, ihren reizenden Wuchs voll zur Geltung bringend, sie lächelte, und ihre Augen, ihre Lippen hatten einen solchen Ausdruck leidenschaftlicher Glut, daß es Lichtenbach heiß überlief. Wer sollte dieses berückende Geschöpf nicht begehren? Und wer sie begehrte, wie konnte der ihrem Zauber widerstehen? Sie überschätzte ihre Macht nicht, sie konnte jeden Mann zu ihrem Sklaven machen. Sie war die Zauberin, die Gier und Leidenschaft entfachte und den zur Raserei getriebenen Mann der Schande, dem Verbrechen zuführte.

»Ja, Ihnen wird alles gelingen, was Sie unternehmen,« flüsterte Lichtenbach, von ihrem Reiz gefangen.

»Keine Uebertreibungen! Unfehlbar siege auch ich nicht, das haben Sie ja erlebt, Trémont ist mir entschlüpft. Aber was ein menschliches Wesen in diesem Kampf leisten kann, werde ich leisten, haben Sie also Vertrauen und warten Sie ruhig ab.«

Wagenrollen und Pferdegetrappel unterm Thorbogen des Hauses verkündeten Fräulein Lichtenbachs Heimkehr.

»Meine Tochter kommt nach Hause,« sagte der Bankier.

»Sie ist gegenwärtig bei Ihnen?«

»Ja, sie wollte der Totenmesse für den General Trémont beiwohnen, mit dessen Tochter sie sehr befreundet ist.«

Ein Lächeln zuckte um die Lippen der Baronin.

»Zufall oder Vorsichtsmaßregel?«

»Zufall,« versetzte Lichtenbach in eisigem Ton. »Die beiden jungen Mädchen haben sich im Kloster aneinander angeschlossen.«

»Und Sie haben nichts gegen diese Freundschaft einzuwenden?«

»Ich lasse meiner Tochter immer den Willen.«

»Ja richtig, daran habe ich nicht gedacht – Sie sind ja ein guter Vater! Das ist das letzte Zugeständnis, das Sie der Menschlichkeit machen, also auch der einzige Punkt, wo Sie verwundbar sind – nehmen Sie sich in acht!«

»Meine Tochter ist ein Engel, der für mich betet. Ich habe nichts zu fürchten – sie ist so sanft, verständig und anmutig, wie ihre Mutter war.«

»Und hält Sie für einen braven, guten, redlichen Familienpapa? Wenn man ihr eines Tages die Augen offnen wollte?«

Elias richtete sich in drohender Haltung auf.

»Wer könnte das thun?«

»Einer von Ihren Feinden; Sie haben ihrer nicht wenige – vielleicht auch ein Freund. Die Welt ist ja so schlecht!«

»Wehe ihm!« sagte Lichtenbach mit dumpfer Stimme. »Er würde es zu büßen haben.«

Die Baronin erhob sich, blieb aber zögernd stehen.

»Kann ich Ihre Fräulein Tochter begrüßen, ehe ich gehe?«

Lichtenbach sah sie fest an und sagte dann hart: »Nein.«

»Und weshalb nicht?«

»Weil es überflüssig wäre.«

»Glauben Sie, daß ich Ihre Tochter verderben könnte, wenn ich zehn Worte mit ihr redete?«

»Vielleicht.«

»Bravo! Nun sind Sie doch einmal ehrlich!«

Lichtenbach richtete seine mächtige Gestalt hoch auf, um der Baronin alle Beleidigungen, die sie ihm seit einer Stunde gesagt hatte, mit einem einzigen Wort heimzuzahlen.

»Marianne Lichtenbach soll mit der Baronin Grodsko nichts gemein haben und nicht mit ihr in Berührung kommen.«

Sophia schüttelte lächelnd den Kopf.

»Wie Sie wollen! Jeder nach seinem Geschmack! Auf Wiedersehen.«

Sie wollte zur Zimmerthüre hinausgehen, aber Lichtenbach vertrat ihr den Weg und zeigte auf eine teppichverhängte Seitenthüre.

»Hier hinaus! Gehen Sie diese Treppe hinunter, da begegnen Sie niemand!« sagte er.

»Es werden doch keine Versenkungen unten sein, durch die man ins Burgverließ stürzt?« fragte die Baronin lachend.

»Nein. Sie kommen nur an der Pförtnerstube vorüber.«

»Leben Sie wohl und nichts für ungut, Lichtenbach.«

»Keine Rede! Sie tragen ja den Beweis meiner Duldsamkeit in Banknoten bei sich! Auf Wiedersehen!«

Die Baronin verschwand und Lichtenbach setzte sich gedankenvoll vor seinen Schreibtisch. So genau er die dämonische Frau auch kannte, kalt ließ sie ihn nie, ihr Zauber reizte ihn immer wieder. Ein leises Pochen an der Thüre riß ihn aus seiner Versunkenheit; er ging hin und öffnete, und als die Tochter vor ihm stand, huschte ein Freudenschimmer über die finsteren Züge.

»Ich störe dich doch nicht?« fragte das junge Mädchen ein wenig befangen.

»Nie, mein Liebling! Ist dein Besuch gut abgelaufen?«

»Gewiß, Papa. Ich habe vortreffliche Menschen kennen gelernt!«

Lichtenbach schwieg und starrte auf den Fußboden; er hätte nicht haben mögen, daß sein Kind jetzt in seine Augen gesehen hätte.

»Bei allem Leid ist Genoveva glücklich zu preisen, weil sie solche Freunde hat! Frau Baradier ist eine ganz ideale Frau, und sie wird das arme, liebe Mädchen ganz bei sich behalten. So schmerzlich mir auch ihr Abschied vom Kloster ist, weil er uns auseinander reißt, freue ich mich doch, sie in so liebewarmer Umgebung zu wissen. Da wird sie aufleben!«

»Wie gut du bist, mein Kind!«

»Wer würde solches Unglück nicht mitfühlen! Kann einem Kind Entsetzlicheres begegnen, als die Eltern zu verlieren? Und wenn man, wie sie und ich, keine Mutter mehr hat . . .«

Die Stimme des jungen Mädchens bebte und in ihren Augen blinkten Thränen. Lichtenbach war bewegt, starrte aber unverwandt auf den Bodenteppich.

»Diese Uebereinstimmung unserer Verhältnisse hat ja Genoveva und mich vom ersten Tage an zu einander gezogen,« fuhr sie fort. »Gemeinsames Leid war der Ursprung unserer Freundschaft. Uns war, als müßten wir einander besonders liebhaben, weil jede von uns weniger Liebe genossen hatte, als andere Mädchen, und wir beide mit so besonderer Innigkeit an unseren Vätern hingen! Der ihrige scheint ein großer Gelehrter gewesen zu sein – hast du ihn nicht gekannt?«

Jetzt mußte Lichtenbach sprechen.

»Nein,« versetzte er mit unsicherer Stimme, »Nur vom Hörensagen.«

»Er war ein naher Freund von Herrn Baradier und der Pate seines Sohnes Marcel . . . sie trauern alle um ihn.«

Lichtenbachs gesenkte Lider hoben sich plötzlich und ein durchdringender Blick flog zu dem jungen Mädchen hinüber.

»Woher weißt du das?«

»Von Fräulein Baradier und Genoveva,«

»Du hast mit Fräulein Baradier gesprochen?«

»Und mit ihrer Mutter.«

»Vielleicht auch mit dem Sohn, hm . . .«

Die Herbheit, womit Lichtenbach diese Frage hinwarf, fing an, die Tochter zu beunruhigen.

»Papa,« sagte sie betroffen, »ich muß sagen, daß alle ganz reizend gegen mich waren. Herr Marcel Baradier hat mich sogar bis auf die Straße begleitet und in den Wagen gehoben . . . ist das nicht ganz natürlich?«

»Versteht sich, versteht sich, ganz natürlich! Aber erzähle mir doch genau, was gesprochen wurde. War etwa von mir die Rede?«

»Nein, Papa, dein Name wurde gar nicht genannt. Das hat mich sogar ein wenig gewundert, denn die Baradiers müßten dich doch eigentlich kennen . . . ihr stammt doch aus derselben Stadt?«

»Ja, mein Kind, wir stammen aus derselben Stadt und haben sie kurz nacheinander verlassen, indes . . . um sehr verschiedene Wege einzuschlagen. Es wird wohl besser sein, wenn ich es dir sage, wir standen gerade in der Heimat schlecht miteinander. Zwischen meinem Vater und der Familie Graff hatte es Zerwürfnisse gegeben und Graff ist Baradiers Schwager . . .«

»Aber Papa, das ist ja schon so lange her, daß der Zwist sicher längst vergessen ist.«

»Nein, mein Kind,« entgegnete Lichtenbach beinahe feierlich, »es vergißt sich nichts!«

»So willst du Genovevas Freunden nicht wohl?«

»Hätte ich dich zu ihnen gehen lassen, wenn dem so wäre?«

»Dann wären sie es, die dir übel wollten? Das wäre sicher ungerecht, denn du bist ja die Güte selbst, aber vielleicht ist's nur ein Mißverständnis. Ihr kennt euch nicht genug . . .«

»Doch, mein Kind, wir kennen uns recht gut und seit langer Zeit, und sind uns von jeher feindlich gegenüber gestanden. Du bist nun ein erwachsenes Mädchen und mußt einen Begriff davon bekommen, was dir im Leben bevorsteht. Ich muß dir leider sagen, daß du von seiten der Baradiers und Graffs nichts Gutes zu erwarten hast und auf deiner Hut sein mußt, wo und wann du mit ihnen zusammentriffst. Es war längst mein Vorsatz, dich eines Tages über die Verhältnisse aufzuklären, die vererbte Feindschaft zwischen uns geschaffen haben, und es geschieht am besten sofort. Damit du mir nie den Vorwurf machen kannst, ich hätte dir einen Teil der Wahrheit unterschlagen, habe ich dir gestattet, das Haus zu betreten, worin Fräulein von Trémont Zuflucht gefunden hat. Du hast auf diese Weise Gelegenheit gehabt, die Baradiers zu sehen und dich zu überzeugen, daß ich ihnen auf gleichem Fuß gegenübertreten kann.

»Dein Großvater Lichtenbach hat viel gelitten durch diese Leute. Er war ein braver, tüchtiger Mann, der sich aus bescheidenen Anfängen emporgearbeitet hat und dem sie viele Demütigungen und Leiden bereiteten. Auch über mich haben sie, als ich noch ein armseliger kleiner Handelsmann war, Verleumdungen ausgestreut, so häßlich man sie nur erdenken kann, aber ich habe ihnen gehörig heimgeleuchtet und sie ihren Hochmut gegen meinen alten Vater büßen lassen. Das alles hat sich noch in Lothringen und vor deiner Geburt abgespielt, ist also, wie du vorhin sagtest, lange her. Allein solche Kirchspielsstreitigkeiten hinterlassen unausrottbare Verstimmungen, was man in der Kindheit und Jugend durchgemacht hat, prägt sich dem Gemüt viel tiefer ein, als die Erfahrungen des reiferen Alters. Baradier & Graff sind nach Paris übergesiedelt, einige Jahre nach ihnen ich auch, doch das Leben hat uns getrennt, so gut als ob ein Weltmeer zwischen uns läge . . . in dieser großen Stadt ist man von Straße zu Straße, von Stadtviertel zu Stadtviertel weiter voneinander entfernt, als von Land zu Land. Vergessen haben wir einander deshalb nicht. Das Haus Baradier & Graff ist für das Haus Lichtenbach der Erbfeind. Das merke dir wohl, mein Kind, und richte dein Benehmen danach ein, unter welchen Umständen du auch mit diesen Leuten in Berührung kommen magst.«

Marianne sah den Vater ängstlich und ungewiß an.

»Ja, Papa, willst du denn, daß ich den alten Streit fortsetze?«

»Gott behüte! Ich habe dich viel zu lieb, um deine Ruhe zu gefährden, und werde alles aufbieten, dich vor schmerzlichen Erfahrungen zu schützen, aber ich hielt es für nötig, dir die Augen zu öffnen, damit du gegebenen Falls die Ursachen gewisser Ereignisse und den Wert gewisser Worte beurteilen kannst. Die Sorge für deine Sicherheit und dein Glück darfst du getrost deinem Vater anheimstellen!«

»So werde ich also nicht mehr mit Genoveva verkehren können?«

»Warum denn nicht? Wenn du sie nicht mehr besuchst, weshalb sollte sie nicht zu dir kommen?«

»Ich werde ja im Kloster sein . . .«

»Doch nicht immer!«

Das junge Mädchen sah den Vater mit zärtlich bittendem Blick an.

»Ach, wenn du mich bei dir behalten wolltest, Papa! Wie glücklich wäre ich dann!«

Lichtenbachs Züge zeigten eine seltene Weichheit und Freudigkeit.

»Was solltest du bei mir machen, Kind?« fragte er freundlich.

»Dein Haus führen, Papa! Es käme deinem Haushalt sehr zu statten, glaube mir . . . ich will mir ja keinen Tadel erlauben, aber siehst du, eine Frau würde dieses herrliche Haus nicht in solch frostigem, ungemütlichem Zustand lassen! Mit so wenigem könnte man die Zimmer wohnlich machen, und du würdest dich viel behaglicher fühlen daheim. Dann hättest du dich auch um nichts mehr zu bekümmern, außer um deine Geschäfte, und alles ginge wie am Schnürchen. Es ist ja auch gar nicht Sache des Mannes, Dienstboten zu leiten . . . und würde dir's nicht wohl thun, von Liebe umgeben zu sein, die nichts anderes will, als dich pflegen und erfreuen? Ich bin jetzt achtzehn Jahre alt, und im Kloster wissen sie gar nicht mehr, was sie mich lehren sollen . . . ich werde wohl bald Unterricht geben müssen, nur um meine Zeit auszufüllen, aber um Hilfslehrerin bei den Schwestern vom Herzen Jesu zu sein, bin ich doch nicht auf der Welt? Du hast eine Tochter und sollst sie für dich haben, nicht für andere Leute – weshalb verzichtest du auf ihre Dienste?«

Sie hatte die Arme um den Vater geschlungen bei diesen Worten, schmiegte sich an ihn und drückte ihn zärtlich an sich, und Lichtenbachs Vaterherz fühlte sich wohlig erwärmt von dieser kindlichen Zärtlichkeit. Der harte, ruchlose, begehrliche Mann wurde weich und großmütig unterm Blick seines Kindes.

»Ob ich nicht eine große Unbesonnenheit begehe, wenn ich dir nachgebe?« sagte er seufzend vor sich hin. »Um wehrhaft und sicher auszuschreiten, muß man allein gehen . . .«

»Aber wovor hast du denn Angst, Papa? Man könnte ja denken, du wärest von lauernden Feinden umlagert. Ist denn das Leben so voll von Gefahren und bietet die Gesellschaft keinen Schutz?«

»Für solche die einfältigen Sinnes sind, ist nirgends Gefahr und nirgends Angst,« versetzte Elias lächelnd. »Sie sehen und merken nichts! Für den, der sehen und beobachten gelernt hat, ist allerorten Gefahr und Besorgnis. Denke an das Meer! Wenn du zum erstenmal davor stehst, siehst du nichts als eine tiefblaue Fläche, worin sich der Himmel spiegelt, die der Wind kräuselt und worauf schlanke Boote sich schaukeln. Beuge dich aber darüber, daß dein Blick die Oberfläche durchdringt, und du wirst scharfe, zackige Riffe entdecken, die du nicht vermutet hast, entsetzliche Untiere auf der Lauer liegen sehen. Wracke und Trümmer, die kläglichen Ueberreste von Schiff und Schiffern werden dir beweisen, daß der Gefahren gar viele sind, daß unaufhörlich Tod und Verderben lauern und man ohne Unterlaß auf seiner Hut sein muß. So ist es auch in der Gesellschaft, wo du dich sicher wähnst, so im Leben, das dir leicht dünkt, die Oberfläche ist eben und lockend, der Untergrund schreckenerregend. Aber sei ruhig, dein Vater ist da, über dich zu wachen. An seiner Seite bist du sicher vor jeder Gefahr, und wenn dein Herz dich treibt, in meinem Haus zu bleiben, das dein Haus ist, so folge ihm . . . deine Nähe wird der Sonnenschein meiner alten Tage sein.«

Mit einem Freudenruf warf sich Marianne an die Brust des Vaters. Etwas beschämt über die ihm so ungewohnte rührsame Stimmung und die Freude, die er daran fand, setzte Lichtenbach in geschäftlichem, trockenem Tone hinzu: »Das wäre abgemacht! Ich werde all deine Habseligkeiten aus dem Kloster holen lassen und du kannst dich gleich heute häuslich hier einrichten.«

»Meine Habseligkeiten? Lieber Papa, es wird wohl kaum der Mühe lohnen, sie herschaffen zu lassen. Die Schwestern können sie besser verwenden für ihre Armen . . . nur kleine Andenken, Dinge, woran Erinnerungen hängen, möcht' ich haben . . . und dann gibst du mir doch auch Geld, Väterchen, viel Geld, daß ich den vortrefflichen Frauen, die mich erzogen haben, ein schönes Geschenk für die Armenkasse machen kann?«

»Du bist ein reiches Mädchen, mein Liebling,« sagte Elias lächelnd. »Dein mütterliches Vermögen, das ich mit Erfolg im Geschäft arbeiten ließ, fällt dir jetzt zu . . . ich werde dir die Abrechnung vorlegen.«

Marianne reckte sich an der hohen Gestalt des Vaters hinauf, küßte ihn und sagte: »Da hast du die Quittung!«



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