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Mit jugendlicher Raschheit stieg der Kriegsminister in der Provencerstraße aus seinem Wagen, schritt über den Hof, betrat die Geschäftsräume und fragte mit seiner Kommandostimme: »Herr Baradier zu sprechen?«
Unwillkürlich nahm der Bankdiener eine militärische Haltung an, schlug die Hacken zusammen und erwiderte mit der Hand an der Hosennaht: »Zu Befehl, Excellenz, Ich werde Euer Excellenz melden.«
Damit machte er kehrt, während der Minister ungeduldig im Vorzimmer auf und ab ging, wo hinter Glasscheiben aufgesteckte Depeschen die Kurse aller Börsen von Europa kundgaben. Rasch ging eine Thür auf und ein beleibter, rotbackiger Herr kam mit ausgestreckten Händen hereingestürzt.
»Sie, Excellenz! Sie bemühen sich selbst! Bitte . . . hier in mein Privatzimmer . . .«
Schon war auch Graff dort erschienen, und kaum daß die Thüre nach dem Vorsaal zugezogen worden war, begann der Minister: »Ach, meine armen Freunde! Was mußten wir erleben!«
»Ach,« sagte Graff, dem Minister einen Lehnstuhl hinschiebend, »wir sind noch gar nicht zur Besinnung gekommen . . . bitte, Platz zu nehmen, Excellenz!«
»Durch wen haben Sie die Nachricht erhalten?«
»Durch Baudoin, der die letzte Nacht in unserem Haus geschlafen hatte und heute nachmittag ganz außer sich mit der Schreckensbotschaft zu uns kam. Wie soll man sich erklären, was dahinter steckt? Die Umstände, unter denen die Katastrophe stattfand, sind ja noch gräßlicher als das Unglück an und für sich. Mein Schwager und ich zerbrechen uns den Kopf, fragen und beraten, ohne das grauenhafte Rätsel lösen zu können.«
»Wenn nur Marcel hier wäre!« warf Graff seufzend dazwischen. »Der könnte uns am ehesten aufklären. Er kannte Trémonts häusliches Leben so genau, seine Gewohnheiten, Liebhabereien, Schwächen . . .«
»Seine Schwächen?« wiederholte der Minister fragend. »Sie denken an eine Frau?«
»Ja. Excellenz, leider.«
»Sie fassen die Sache rein persönlich, von der Gemütsseite auf,« erwiderte der Minister in bestimmtem Ton, »wir haben uns aber nicht mit dieser flüchtigen Liebschaft zu befassen, uns beschäftigen ernstere Dinge als ein galantes Abenteuer. Eine Frau spielt freilich darin mit, leider, muß auch ich sagen, aber sie war nur das vielleicht unbewußte Werkzeug eines sorgfältig ausgedachten, kühn ausgeführten Unternehmens . . .«
»Das welchen Zweck verfolgt hätte?« warf Varadier ein. »Reden wir ganz offen, Excellenz, werfen wir all unsere Vermutungen zusammen, um vielleicht Licht in die Sache zu bringen.«
»Welchen Zweck man verfolgt hat? Das ist doch klar! Trémonts Erfindung war Zweck und Ziel des Verbrechens, und ich bin überzeugt, daß bei dem verabscheuungswürdigen Versuch, der uns einen teuren Freund, einen hervorragenden Gelehrten kostete, das Ausland die Hand im Spiel hat. Das ist meine Ueberzeugung, die ich aber selbstverständlich nur im Vertrauen auf Ihre Verschwiegenheit, nur hier lautwerden lasse.«
Eine Stille trat ein. Baradier und Graff tauschten fragende, sorgenvolle Blicke, allein der ungestüme Baradier konnte die Gedanken, die ihn Umtrieben, nicht auf die Dauer für sich behalten.
»Und wir, Excellenz, wir glauben in dem gegen unseren Freund geführten Streich eine Hand zu erkennen, die gleichzeitig ihn und uns treffen wollte, einen Feind, dessen Haß . . .«
»Baradier,« fiel ihm Graff ins Wort, »du bist zu hastig und gehst zu weit! Wie kannst du es nur wagen, derartige Aeußerungen lautwerden zu lassen, ohne irgend einen festen Anhaltspunkt dafür zu haben?«
»Ach was, du bist ein Hasenfuß!« brauste Baradier auf. »Von deinen ewigen Bedenken geknebelt! Zum Kuckuck damit! Ich wittere Verrat! Ich fühle, daß ich auf der richtigen Spur bin, wenn ich's auch nicht beweisen kann! Ich . . . laß mich nur reden! Ich gehe jede Wette ein, daß Lichtenbach dahinter steckt!«
»Du hast kein Recht, eine solche Anklage auszusprechen!« rief Graff aufspringend. »Wie kannst du einen Mann, der sich weder im Geschäft, noch im Privatleben eigentliches Unrecht zu schulden kommen ließ, der Teilhaberschaft an einem Verbrechen zeihen, einzig und allein, weil er unser Feind ist? Das ist empörend, sinnlos, ungerecht im höchsten Grad.«
Baradier rannte wutschnaubend im Zimmer hin und her, dann sagte er mit halb erstickter Stimme: »Excellenz, so zanken wir uns jetzt seit zwei Stunden, mein Schwager und ich, und doch weiß er mir nichts entgegenzuhalten, als daß ich ungerecht sei! Als ob man sich mit Abwägen von Recht und Unrecht befassen könnte, wenn eine innere Stimme, wenn unser Instinkt uns sagt: ›Der hat's gethan!‹ Zwar hat man ihn nicht dabei ertappt, denn er hat sich wohl gehütet, die Maske zu lüften, man hat ihn nirgends erwischt, kann ihn nicht packen, wird ihn vielleicht nie erwischen und trotzdem weiß man, er und kein anderer hat den Streich geführt und zwar weil sein Vorteil wie sein Haß ihn dazu trieben! Es ist nicht auszuhalten mit diesem Graff! Sein Rechtssinn, seine Menschlichkeit, sein Edelmut machen ihn zuweilen einfach verbohrt!«
Trotz der ernsten Stimmung mußten die also Angeredeten einfach lachen, und Graff verbeugte sich mit einem humoristischen »Danke für die Artigkeit!«
»Sprechen Sie sich deutlicher aus, Baradier,« sagte der Minister, bestrebt, die Gemüter zu beschwichtigen. »Gefühle und Ahnungen sind, wie Ihr Schwager mit Recht sagt, ungenügend, um eine Anklage zu begründen. Vermutungen führen zu Nachforschungen, und erst wenn man der That auf die Spur gekommen ist, schreitet man zur Anklage. Uebrigens will ich Sie darauf aufmerksam machen, daß der Fall in den Händen des Staatsanwalts liegt, daß die Untersuchung eingeleitet ist und daß, wenn Sie Beweise . . .«
»Beweise liefern kann ich nicht! Ihnen gegenüber bin ich rückhaltlos offen, dem Untersuchungsrichter dagegen würde ich meine Gedanken nicht offenbaren!«
»Da haben wir's!« sagte Graff triumphierend. »Was habe ich gesagt?«
»Ich würde nur dann damit hervortreten, wenn Entdeckungen gemacht würden, die meine rein psychologischen Mutmaßungen durch greifbare Thatsachen ergänzen und bestätigen würden. Glauben Sie aber ja nicht, daß ich damit meine Anklage widerrufe . . . ich werde suchen, und wenn ich finde . . .«
»Du wirst eben nichts finden, und selbst wenn dein Verdacht richtig wäre, so hätten wir es mit einem hundertfach überlegenen Gegner zu thun.«
»Das müßte mir erst gezeigt werden!«
»Sie sprechen doch von Lichtenbach, dem großen Unternehmer, dem Schoßkind der monarchistisch-klerikalen Partei?«
»Von demselben.«
»Und den halten Sie eines Verbrechens für fähig?«
»Ich traue ihm jedes zu.«
»Es ist Ihnen doch bekannt, daß er großen Einfluß im Ministerium hat und alles erreicht, was er will?«
»Er hat überall Einfluß und setzt alles durch.«
»Aber welches Interesse hätte er denn daran, einen Mann wie Trémont umgarnen und verschwinden zu lassen?«
»Bedenken Sie doch, was Trémont herzustellen versuchte, Excellenz! Lichtenbach steht an der Spitze des französischen Syndikats für Ausbeutung der Bergwerke, er ist in Rußland, Oesterreich und Spanien am Bergbau beteiligt. Ein leicht zu handhabender Sprengstoff, dessen Wirkungen genau zu berechnen sind und dessen Herstellung billig ist, wäre dafür von ungeheurem Wert, und diese Vorzüge hat der General vor sechs Monaten in einer Mitteilung an die Akademie der Wissenschaften für seine Erfindung in Anspruch genommen – genügt das nicht, um die Begehrlichkeit eines Geschäftsmannes zu reizen, der ohne Unterlaß nach neuen Erwerbsquellen sucht? Von verschiedenen Seiten waren schon glänzende Anerbietungen an Trémont gelangt, aber nur ein englisches Haus hatte geradezu Unterhandlungen anknüpfen wollen, worauf Trémont indes nicht einging. Er hat damals mir und Graff gegenüber offen die Absicht kundgegeben, eine ausschließlich französische Gesellschaft zur Ausbeutung seiner Erfindung zu gründen, es war sein Ehrgeiz, daß nur das eigene Volk Gewinn aus seiner Arbeit ziehen sollte.«
»Mein wackerer Freund! Das sieht ihm ähnlich!«
»Er wußte ganz genau, daß er Gelegenheit haben würde, ein reicher Mann zu werden, und er freute sich dessen, aber ausländisches Geld sollte nichts damit zu schaffen haben. Gleichzeitig war er ja auch einem Schießpulver auf der Spur, und er wollte das Handelsunternehmen nicht ins Leben rufen, ehe er der Regierung die für Kriegszwecke wichtige Erfindung vorgelegt haben würde. ›Beide Erfindungen sollen zugleich vor die Welt treten,‹ pflegte er zu sagen, ›die eine, die uns reich, und die andere, die uns wehrhaft macht. Um der Macht willen, die ich unserem Heer verleihe, wird man mir zu gute halten, daß ich auch meinen persönlichen Vorteil wahre.‹«
»Gewiß. Es sind ja schon insgeheim Versuche angestellt worden mit Trémonts Schießpulver. Ich selbst habe mich wie alle beteiligten Offiziere von seiner unerhörten Zerstörungskraft überzeugt. Gegen eine Artillerie, deren Geschütze mit diesem Pulver gearbeitet hätten, wäre jeder Widerstand vergeblich gewesen. Die Tragweite wie die Durchschlagskraft waren erstaunlich, und das alles ist dahin! Ein schwerer Verlust für Frankreich!«
Um Graffs schwermütigen Mund spielte ein geheimes Lächeln und mit gesenktem Blick warf er die Frage hin: »Wer weiß?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß wir nicht wissen, ob das Geheimnis des Generals thatsächlich verloren ist . . . es könnte ja sein, daß jemand eine Abschrift seiner Rezepte besäße.«
»Und wer könnte das sein?« fragte der Minister gespannt.
»Mein Neffe.«
»Marcel? Hat er Ihnen davon erzählt?«
Baradier war sehr bleich geworden bei dieser Mitteilung.
»Unglücksmensch!« rief er seinem Schwager zu. »Laß davon keine Silbe verlauten, laß es niemand ahnen oder erraten. Man hat Trémont umgebracht, willst du, daß man auch meinen Sohn ermorde?«
»Aber Baradier! Da hätte ich Ihnen mehr Mut zugetraut!« rief der Minister. »Sind Sie der Mann, sich vor Ihrem eigenen Schatten zu fürchten? Wenn Ihre Hypothese richtig ist – und ich bin sehr geneigt, daran zu glauben – bilden Sie sich denn ein, die Leute, die jenen Streich geführt haben, könnten ohne weiteres einen zweiten führen wollen? Nein, nein, wir sind jetzt auf unserer Hut, und wir haben Zeit vor uns – was zum Teufel wäre da zu fürchten? Vorläufig haben sich die Urheber des Attentats in ihre Mauslöcher zurückgezogen, denn sie wissen ja, daß die Polizei hinter ihnen her ist. Da können Sie ruhig sein und sich offen aussprechen.«
»Excellenz, wenn der Besitz dieses Geheimnisses dem General Trémont, den man doch nur berauben wollte, das Leben gekostet hat, was wird dann Marcel Baradier dafür bezahlen, angenommen, daß unser aller Todfeind das grausame Unternehmen leitet? Hätte man Trémont das Rezept stehlen können, man würde sein Leben geschont haben, Marcel hat kein Erbarmen zu erwarten, weil man in ihm Graff und mich, weil man seine Mutter vernichten kann!«
»Wir werden ihn zu schützen wissen,« sagte Graff mit bebender Stimme. »Ich bin ein friedlicher Mann, aber ich fühle mich jeder Gewaltthat fähig, wenn man meinem Neffen etwas anhaben will.«
»Sie werden es begreiflich finden,« bemerkte der Minister, »daß ich der Polizei, da nichts auf die von Ihnen vermutete Fährte weist, einen Wink geben werde,«
»Die Vorsicht gebietet, das zu unterlassen,« fiel ihm Baradier rasch ins Wort. »Wenn meine Voraussetzung zutrifft, wenn Lichtenbach der Urheber des schrecklichen Wagnisses ist, so wissen wir im voraus, daß nichts zu erreichen sein wird. Er und seine Helfershelfer sind jedenfalls vollständig gedeckt; die Frau, die man offenbar als Lockvogel benützt hatte, wird verschwunden sein, der Mann, der seinen Arm dahinten lassen mußte, wird in irgend einem versteckten Winkel, vielleicht im Ausland, sorgfältig gepflegt und geheilt werden, und der Kutscher, der die Herrschaften nach Vanves gebracht hat, ist ohne Zweifel ein Spießgeselle der Bande. Man wird nichts herausbringen, Excellenz, und der Untersuchungsrichter mag sich darauf gefaßt machen, daß der Fascikel mit dem Fall Trémont in der Registratur Ruhe finden wird.«
»Das ist auch meine Meinung, aber ein Grund, die Untersuchung lässig zu betreiben, ist es nicht. Wenn Lichtenbach überwacht wird, ist immerhin die Möglichkeit vorhanden, daß sich Beweise finden – doch sprechen mir jetzt von anderem. Der General Trémont hinterläßt seine Tochter ohne jede Stütze . . .«
»Verzeihen Sie, Excellenz, was an uns liegt, sie zu stützen und zu trösten, wird geschehen.«
»Ja, lieber Freund, ich weiß, daß die arme Kleine auf Sie zählen kann, aber sie ist auch ohne Vermögen. Trémont war kein reicher Mann, das Landhaus, in das er sich zurückgezogen hatte, war fast sein einziger Besitz.«
»Darüber beruhigen Sie sich nur, Excellenz! Dem jungen Mädchen wird nichts abgehen. Meine Frau hat sie heute in aller Frühe aus dem Kloster in unser Haus gebracht, sie soll die Gefährtin meiner Tochter bleiben und wird ebenso behandelt werden, als ob sie meinen Namen trüge.«
»Immerhin werde ich darauf antragen, daß ihr der Staat eine Pension aussetzt.«
»Wie Sie für gut finden, Excellenz. Nötig ist es nicht, aber diese Fürsorge wird Ihnen eine Befriedigung sein. Ich übernehme Fräulein von Trémonts Zukunft und werde für sie sorgen wie für ein eigenes Kind.«
»Kann ich sie sprechen? Ist sie im Stande, einen Besuch anzunehmen?«
»Sie ist sehr traurig, aber ruhig. Graff wird sie benachrichtigen.«
Graff ging und Baradier trat so dicht auf den Minister zu, als ob er fürchtete, die Wände könnten seine Worte weiter tragen.
»Unter vier Augen, Excellenz – würden Sie auf den Besitz des von Trémont erfundenen Verfahrens großen Wert legen?«
»Den allergrößten! Wer es unserem Land zu verschaffen wüßte, würde Frankreich einen großen Dienst leisten.«
Baradier wurde sehr ernst.
»Excellenz,« versetzte er gesenkten Hauptes, aber in entschlossenem Ton, »ich hänge an meinem Vaterland, ich habe für Frankreich mitgekämpft, bis zur letzten Stunde, all die Meinigen, die Lothringer sind, haben ihre Heimat aufgegeben, um nicht unter den Siegern zu wohnen. Wenn das Vaterland mein Leben forderte, ich würde es ohne Zögern opfern, aber ich werde ihm noch mehr geben, ich werde das Leben meines Sohnes aufs Spiel setzen. Wenn Marcel das Geheimnis des Generals kennt, so verbürge ich mich dafür, daß der Staat es haben soll.«
Ein Freudenstrahl leuchtete in den Augen des alten Soldaten auf, sein Schnurrbart zuckte und seine Stimme bebte als er, Baradier die Hand hinstreckend, einfach sagte: »Sie sind ein wackerer Mann! Ich danke Ihnen!«
Da in diesem Augenblick die Thüre aufging, mußte er seine Erregung bezwingen. Von Graff gefolgt, trat Frau Baradier mit ihrem Schützling über die Schwelle. Ihre schlanke, hohe Gestalt war unverändert geblieben, wenn auch Silberfäden das reiche blonde Haar durchzogen; der leuchtende klare Blick, die frischen Lippen erinnerten noch stark an das junge Mädchen, das einst Lichtenbach eine Leidenschaft eingeflößt hatte. Das schmächtige Fräulein von Trémont in dem schwarzen klösterlichen Gewand mit dem jungen Gesicht, das seinem Leid fast verwundert ins Auge sah, hatte allen Jugendreiz ihrer sechzehn Jahre. Schüchtern, aber nicht linkisch trat sie dem Freund ihres Vaters entgegen, doch bei den ersten Worten, die er an sie richtete, füllten sich ihre dunklen Augen mit Thränen, die langsam über die schmalen, bräunlichen Wangen rollten. Mit schmerzlicher Genugthuung lauschte sie seinen Worten der Teilnahme und des warmen Lobes für den so jäh Verschwundenen, und das gesenkte Köpfchen drückte wehmütige Ergebung in das Leid und Weh des Lebens aus, das so plötzlich für sie begonnen hatte.
Sie hatte ihn ja leider wenig gekannt, diesen Vater. Früh verwitwet, war er genötigt gewesen, die Sorge für sein Kind den milden frommen Schwestern zu überlassen, und sie hatte die Freuden der Häuslichkeit kaum kennen gelernt. Von der Mutter war ihr nur eine verschwommene Erinnerung geblieben; wie ein verblaßtes Pastell stand das liebe Bild vor ihrer Seele. Wie oft machte Genoveva nicht den Versuch, sich die Stimme ihrer Mutter zurückzurufen, und wie traurig war sie, daß es ihr von Jahr zu Jahr weniger gelang! Nie hatte ihr junges Herz die Wonne erfahren, sich von Zärtlichkeit umgeben zu fühlen. Einsam unter Fremden, so wohlwollend und weise sie auch sein mochten, das war ihr Schicksal gewesen, und nun hatte der Tod auch das lockere Band, das sie mit dem Vater verknüpfte, jäh abgerissen. Und wie grauenerregend war dieses Ende, welch entsetzliche Vorstellungen von Blut und Gewaltthat drängten sich nicht in ihre Trauer und störten gewaltsam die Weihe des Todes!
Nicht einmal der Trost blieb ihr, daß der Beweinte eines friedlichen Todes gestorben sei. Er war Soldat gewesen und nicht auf dem Schlachtfeld gefallen, nicht als Gelehrter ein Opfer seines Forschungstriebs geworden, sondern feig und heimtückisch von Banditen ermordet worden. Sie hörte, wie der Minister sie seines Schutzes versicherte, sie dankte ihm auch, in abgebrochenen Worten stammelnd, für seine Güte, aber blind vor Thränen verließ sie an Frau Baradiers Arm das Zimmer, trostloser als sie es betreten hatte – die Teilnahme, die man ihr entgegenbrachte, hatte ihr erst die ganze Tragweite ihres Verlustes enthüllt.
Mit schwerem Herzen verabschiedete sich auch der Minister von den Freunden, die ihn durchs Vorzimmer geleiteten, wo sich ihm Trémonts Diener in den Weg stellte. Wohlwollend betrachtete sich der General das charaktervolle und kluge Gesicht des alten Soldaten.
»Mein armer Baudion!« sprach er ihn freundlich an. »Das ist ein großes Unglück.«
»Eine große Scheußlichkeit, Excellenz!«
»Hätte er dich nicht fortgeschickt gehabt, das ganze Unheil hätte nicht entstehen können.«
»Wenn ich so sagen darf, Excellenz, die Schürzen haben wieder einmal alles zu Grund gerichtet.«
»Davon zu reden ist jetzt nicht am Platz!«
»Verzeihen, Excellenz, ich will meinem Herrn selig auch ganz gewiß nichts Uebles nachreden, aber wenn man das Frauenzimmer nicht aufspürt, das alles eingefädelt hat, so wird man nichts herausbringen und mein General wird nicht gerächt werden.«
»Ja, kennst du denn diese Person?«
»Ach du liebe Zeit! Wenn ich sie gekannt hätte, wäre ich jetzt auch tot!«
Die drei Herren tauschten einen Blick aus. Was Baudoin da sagte, war eine so unverhohlene Bestätigung von Baradiers Befürchtungen für seinen Sohn, daß die drohende unheimliche Gewalt der Unbekannten dem Minister beängstigend vor die Seele trat. Er und seine Amtsvorgänger hatten sie ja zur Genüge kennen gelernt, diese Abenteurerinnen, die immer auf dem Sprung sind, ein Wagnis zu bestehen, eine Intrigue anzuzetteln, ein Geheimnis an sich zu reißen. Er hätte sie an den Fingern herzählen können, diese Namen, von solchen an, die Schacher treiben mit Orden, bis zu denen, die Aktenschränke durchstöbern, und alle Erfahrungen der Vergangenheit, die ganze Unzahl begangener Unbesonnenheiten, nachgewiesener Thorheiten standen vor ihm auf, als Belege für die Richtigkeit dessen, was der unbefangene redliche Baudoin geäußert hatte.
»Ja, wie meinst du denn, daß man die Person ausfindig machen könne, wenn niemand sie gekannt hat als der Verstorbene?« fragte er den treuen Diener.
»Ich habe ihre Stimme gehört, Excellenz, gestern abend habe ich sie gehört und ich würde sie wiedererkennen . . .«
»Ach, mein armer Junge! Eine Stimme, von der man ein einziges Mal ein paar flüchtige Worte gehört hat, ist ein schwacher Anhaltspunkt, um eine solche Anklage zu erheben! Weißt du nicht, daß Stimmen sich so ähneln können, daß selbst nahe Angehörige sie miteinander verwechseln? Wenn du sonst kein Beweismittel hast, mein guter Baudoin, wirst du am besten thun, dich ruhig zu verhalten!«
»Das wird sich ja zeigen, Excellenz.«
»Du beharrst auf deiner Idee?«
»Jawohl, Excellenz.«
»Nun, so versuch's eben! Ich möchte übrigens gerne etwas für dich thun. Du warst ein guter Soldat und treuer Diener, dein Herr würde sicher gewünscht haben, daß ich mich deiner annehme. Möchtest du als Bureaudiener auf dem Ministerium eintreten?«
»Ich danke, Excellenz. Herr Baradier hat mir schon eine Stellung in seinem Haus angeboten und ich habe sie angenommen, aber wenn Excellenz sehr gnädig sein wollten . . .«
»Nun denn! Heraus mit der Sprache!«
»Würden Excellenz mir sagen, wie der Agent heißt, der mit dem Herrn Oberst beim Augenschein war? Der Mann kam mir findig und gerieben vor . . . mit dem möchte ich reden.«
»Er heißt Laforêt, aber du mußt diesen Namen für dich behalten. Es ist ein Beweis von Vertrauen, daß ich ihn dir nenne, bekannt darf er nicht werden.«
»Excellenz können sich auf mich verlassen, ich kann schweigen.«
»Abgemacht! Laß dir's gut gehen!«
Der Minister schüttelte den beiden Herren die Hände und stieg in seinen Wagen. Baradier wie Graff hatten sich vorgenommen, mit Baudoin zu sprechen, er war aber verschwunden, als sie ins Vorzimmer zurückkehrten. Kaum daß er den Namen des Agenten erfahren hatte, war er über die Dienerschaftstreppe aus dem Haus und ins Ministerium geeilt, wo er schon bei der Schildwache mit Erkundigungen anfing. Als alter Soldat wußte er sich zu helfen, und eine Ordonnanz gab ihm im Vorplatz Bescheid, in welchen Flügel des Gebäudes er sich zu wenden habe: quer über den Hof, Treppe A. Dort hatte ihn aber der Thürsteher aufgehalten, denn ohne Weisung könne er niemand die Amtsräume betreten lassen. Baudoin hatte keine vorzuzeigen, er müsse sie sich erst verschaffen.
»Ich möchte ja nur Herrn Laforêt sprechen.«
Der Thürsteher sah ihn mißtrauisch an und sagte: »Herrn Laforêt? Der ist nicht im Ministerium zu treffen. Gehen Sie in seine Privatwohnung.«
»Und wo ist die?«
»Danach können Sie sich anderswo erkundigen.«
Baudoin merkte wohl, daß dem Mann untersagt war, Auskunft zu geben, und daß dagegen nichts auszurichten war, wußte er. So grüßte er denn, dankte und ging. An einer Straßenecke, dem Ministerium fast gegenüber, fiel ihm ein kleines Café auf und er ging hinein, um sich seine weiteren Schritte zu überlegen, vielleicht auch hier etwas zu erfahren. Im ersten Saal befand sich ein Ringspiel, und vier Herren, kleine Kaufleute aus der Nachbarschaft, vergnügten sich damit, wobei der Wirt wohlgefällig zusah. Im anstoßenden Raum rollten Billardkugeln. Vom Billard selbst sah man nur eine Ecke, aber die Spieler wurden abwechselnd unter der offenen Thüre sichtbar und die Partie hatte eine ganze Anzahl von Zuschauern angelockt, vielleicht daß eine Wette dabei zum Austrag kam.
»Sie wünschen?« fragte der Kellner.
»Ein Glas Bier . . . aber sagen Sie, findet hier ein Preisspiel statt?«
»Nicht gerade das, aber wir haben ausgezeichnete Spieler. Einige Herren vom Ministerium kommen jeden Abend . . . und Herr Trousset, der Vizedirektor, könnte es mit den abgefeimtesten Spielern von Paris, ja auch mit ausländischen aufnehmen.«
»Wahrhaftig? Darf man zusehen?«
»Ich werde dem Herrn das Bier in den Billardsaal bringen.«
Baudoin trat ein. Der tiefe, nach rückwärts gelegene Raum enthielt zwei Billards, dazwischen standen kleine Tischchen und Bänke. An dem einen Billard wurde die Carambolagepartie ausgefochten, die etliche zwanzig Zuschauer fesselte, am anderen ging eine Kegelpartie vor sich. Baudoin suchte sich einen Platz aus und sah sich um. Der eine von den Spielern war ein beleibter Bruder Lustig, der seine eigenen Stöße und die des Gegners unermüdlich mit sehr abgedroschenen Witzen begleitete, die in der Provinz vielleicht noch gangbar sein mochten, der andere, ein großer magerer, einsilbiger Mann, war der gesuchte Laforêt in Person.
»Glück muß der Mensch haben!« entfuhr es Baudoin zur Verwunderung eines Tischnachbarn.
Vor dessen neugierigem Blick verstummte er, steckte sich eine Cigarette an und schlürfte den Schaum von seinem Bierglas. Der dicke Witzbold rief unter Augenzwinkern seinem Gegner zu: »Die Kugeln sind im Kessel . . . die schöne Amerikanerin ist unser!«
Darauf führte er eine Reihe von siebzehn Stößen aus, fehlte aber beim achtzehnten. Laforêt griff gelassen wieder nach dem Queue, erreichte aber nur fünf Points, der Gegner schnalzte mit der Zunge.
»Ich spiele aus fünfzehn, mein Sohn – ich glaube, Sie können an Ihre Familie schreiben!«
Er trug mit Leichtigkeit den Sieg davon, zog die Hemdärmel herunter, die er bis zum Ellbogen aufgestülpt hatte, fuhr in seinen Rock und streckte dem Besiegten treuherzig die Hand hin.
»Sie tragen mir's doch nicht nach?«
»Alle Achtung vor Ihrem Spiel, Herr Trousset«, sagte Laforêt. »Ich hoffe, mich demnächst herausbeißen zu können.«
»Ich stehe immer zu Diensten,«
Mit dem gleichgültigsten Gesicht von der Welt trat Lafortêt jetzt an Baudoins Tisch, indem er dem Kellner zurief: »Einen Bittern!«
»Suchen Sie mich?« fragte er den Diener des Generals halblaut.
»Ja. Sie haben mich erkannt?«
»Gesichter erkennen ist ja mein Handwerk. Etwas Neues?«
»Nein, aber ich möchte mit Ihnen sprechen.«
»Gut!«
Die Zuschauer zogen sich allmählich in den besser erleuchteten vorderen Saal nach der Straße, die Spieler am anderen Billard setzten ihre Kegelpartie fort, so waren Baudoin und Laforêt bald ungestört.
»Sie können es hier thun, kein Mensch achtet auf uns. Fangen Sie nur an!«
»Gut, Herr Laforêt! Die Sache ist die – als ich Sie heute früh unter all den Herren sah, kam mir's vor, als ob Sie einer wären, der nicht leicht von etwas abläßt und auf den man sich verlassen kann, wenn man ein heikles oder gefährliches Geschäft zu erledigen hat . . . habe ich recht gesehen?«
»Ich will's meinen.«
»Vielleicht täusche ich mich, aber mir kommt's vor, als ob Sie in andern Schuhen steckten als die eigentlichen Polizisten, die nur im Dienste handeln? Wie soll ich nur sagen? – Sie kamen mir vor, wie einer, der die Sache aus Liebhaberei betreibt und nur nach seinem Belieben Auskunft gibt, der daher auch mehr Freiheit hat, auf eigene Faust einen Entschluß zu fassen . . .«
»Wenn Sie sich wegen der Geschichte in Vanves an mich wenden wollen,« schnitt ihm Laforêt das Wort ab, »so muß ich Ihnen gleich sagen, daß ich von meinen Vorgesetzten den Befehl habe, mich nicht weiter damit zu befassen. Die Untersuchung ist jetzt Sache der Staatsanwaltschaft . . . man darf einander nicht ins Gehege kommen. Bis auf weiteres wird das Kriegsministerium sich jeder Einmischung enthalten.«
»Wenn ich Sie aber um Rat bäte?«
»Rat kann man ja immer geben.«
»Nun denn! Die Polizei fahndet jetzt auf die Urheber des Verbrechens, dem mein Herr zum Opfer gefallen ist. Ich möchte aber nicht die Hände in den Schoß legen, sondern meinerseits auch etwas thun.«
»Wer hindert Sie daran?«
»Niemand, aber ich weiß nicht, wie ich's angreifen soll, man wird nicht im Handumdrehen Jäger. Wo soll ich die Sache anpacken?«
»Ueberlegen wir's uns! Hatte der General Familie?«
»Eine Tochter.«
»In deren Interesse es nicht gelegen hätte, ihn verschwinden zu lassen?«
»Ganz und gar nicht, im Gegenteil.«
»Wußten Sie von einer Geliebten?«
»Ja und nein, er war so mißtrauisch! Die Frau, die ihn besuchte, kam nur bei Nacht und jedesmal hat er mich fortgeschickt.«
»Sie meinen die Frau von gestern abend?«
»Ja.«
»Ist Ihnen bekannt, daß er Feinde gehabt hätte?«
»Nein.«
»Hatte irgend jemand Grund, ihm schaden zu wollen?«
»In gewissem Sinn, ja.«
»Worauf gründet Ihr Verdacht?«
»Auf persönlichen Beobachtungen, die mir ein Freund meines seligen Herrn bestätigt hat.«
»Ein vertrauenswürdiger Mann?«
»Unbedingt!«
»Dann muß also dieser Fährte nachgespürt werden.«
»Wenn Sie wüßten, auf welche Schwierigkeiten ich da stoße!«
»Das ist ja das Schöne an der Sache! Einen Kohlenhändler fassen, der sein Weib mit einem Holzscheit erschlagen, oder einen Friseur erwischen, der seiner Geliebten mit dem Rasiermesser den Hals abgeschnitten hat, ist einfach langweilig! Was uns begeistert, ist der Kampf, die Notwendigkeit, Scharfsinn, Erfindungskraft aufzuwenden! Ein Polizist muß Phantasie haben – wenn unsereiner einen Roman liest, muß er über die Zahmheit der Herren lachen.«
»Sie sind eben Fachmann und ich nicht, ich bin nicht einmal neugierig, mich gelüstet's nie, zu erfahren, was ich nicht zu wissen brauche. Wenn mir's nicht am Herzen fräße, daß mein guter Herr hingeschlachtet worden ist, ich würde mich wohl hüten, meine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken, aber meinen General rächen, das ist mir wie ein Befehl, den er mir hinterlassen hätte! Wenn er im Augenblick, als ihn der Streich traf, noch bei Besinnung war, so hat er denken müssen: ›Wenn Baudoin da wäre! Der würde mich verteidigen!‹ Sie sehen also, ich muß seine Mörder auftreiben – vorher finde ich keine Ruhe im Leben.«
Laforêt sah sich den Mann nachdenklich an.
»Sie sind ein wackerer Geselle,« sagte er überlegend, »aber Sie haben nicht das Zeug, eine so verwickelte Geschichte zu ergründen, falls es überhaupt möglich sein sollte. Sie werden alles verpfuschen, indem Sie die Leute, denen Sie mißtrauen, aufmerksam machen. Rühren Sie sich lieber gar nicht! Warten Sie ab! Geduld ist die erste Tugend, die der Fahnder haben muß, die Zeit ein unschätzbarer Bundesgenosse. Zuerst ist jeder Verbrecher ängstlich und vorsichtig, nach und nach aber fühlt er sich sicherer, seine Vorsicht läßt nach, er wagt sich wieder hervor, wagt sich an ein neues Unternehmen – dann muß man ihn fassen. Statt einen Feldzug zu eröffnen, bleiben Sie lieber ganz unthätig. Wenn Sie es mit einflußreichen, entschlossenen Leuten zu thun haben, so können Sie sich darauf verlassen, daß Sie ihrerseits sorgfältig überwacht werden. Das Interesse der Betreffenden fordert ja solche Maßregeln. Sie erreichen viel mehr, wenn Sie die Gegner von Ihrer Harmlosigkeit überzeugen, als wenn Sie ohne rechte Grundlage Schritte gegen sie thun. Gehen Sie ruhig Ihren Geschäften nach, bitten Sie auch die Freunde, die Ihren Verdacht teilen und den General rächen möchten, ruhig zuzuwarten und der Sache ihren Lauf zu lassen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß irgend ein Vorkommnis Ihnen eine Handhabe liefern wird – dann heißt es handeln, zugreifen! Wenn Sie mich nötig haben, so treffen Sie mich gegen fünf Uhr nachmittags regelmäßig in diesem Lokal. Vielleicht, daß mein Vorgesetzter mir erlauben wird, für Sie zu arbeiten.«
Baudoin stand auf.
»Ich werde Ihren Rat befolgen, und wenn Sie mir etwas mitzuteilen haben sollten, so bin ich bei Baradier & Graff zu finden.«
»Bei den Bankiers in der Provencerstraße?«
»Gewiß.«
»So? Hm . . . unser alter Herr ist vorhin auch dort gewesen, sein Kutscher hat mir's gesagt . . . Gut! Wenn die Zeit da ist, soll alles zum Klappen kommen. Guten Abend!«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und Baudoin kehrte ins Haus Baradier zurück, wo Marcel auf ein Telegramm hin eben von Ars angekommen war. Sein Vater und sein Onkel hatten sich mit ihm zu einer ernsten Beratung eingeschlossen, an der nicht einmal die Mutter teilnehmen durfte. In dem stillen Arbeitszimmer auf und ab gehend, gab Marcel kurzen Bescheid auf die an ihn gerichteten Fragen. Der große, schlanke Mensch mit seinen blauen Augen und dem blonden Schnurrbart bot das Urbild eines kräftigen Lothringers dar, eine prächtige Erscheinung, auf der Onkel Graffs Blicke mit stiller Wonne ruhten.
»Also was hat dir Trémont bei deinem letzten Besuch gesagt?«
»Damals haben wir von wissenschaftlichen Dingen nur die Anilinuntersuchungen besprochen,«
»Nicht sein Pulver?«
»Das Ergebnis seiner Versuche damit hatte er mir früher schon anvertraut, und ich war, wie er selbst, der Ansicht, daß die Erfindung im wesentlichen fertig sei. Es handelte sich nur noch um einige Handgriffe zur Erleichterung der Herstellung.«
»Und du kanntest die Rezepte?«
»Längst! Ich kenne sie alle!«
»Du wärest in der Lage, sie wieder zusammenzustellen?«
»Ohne jede Schwierigkeit sogar.«
»Also genau, was ich fürchtete!« rief Baradier erregt.
»Fürchten? Ja, das ist doch gerade ein großes Glück für alle Welt. Für Genoveva, der dadurch ein Vermögen gesichert ist, für die Armee, die das Trémontsche Pulver erhalten wird, und nicht zum mindesten für das Gedächtnis unseres Freundes, dessen Name fortleben wird durch seine ruhmvolle Erfindung,«
»Und ich, mein Sohn,« fiel Baradier mit bebender Stimme ein, »ich beschwöre dich um unserer und um deiner selbst willen, kein Wort von dem, was du uns eben geoffenbart hast, anderen gegenüber zu verraten. Dein Leben steht auf dem Spiel! Solange Trémonts Mörder nicht entdeckt, verhaftet und bestraft worden sind, ist keiner seines Lebens sicher, der auch nur im Verdacht stehen kann, sein Geheimnis zu besitzen. Nur um seiner Erfindung habhaft zu werden, hat man ihn ermordet. Ich flehe dich an, ängstlich geheim zu halten, daß du eingeweiht warst in seine . . .«
»Beruhige dich nur, Papa,« versetzte der junge Mann lächelnd, »außer dir und dem Onkel weiß kein Mensch darum, und auf den Dächern werde ich's nicht ausschreien. Ebensowenig aber verzichte ich darauf, die Erfindung zu passender Zeit zur Geltung zu bringen, selbst wenn Gefahren damit verknüpft sein sollten.«
»Darin geben wir dir recht, aber warten wir diese passende Zeit ab! Und nun laß uns weiter hören! Trémont war dir gegenüber sehr mitteilsam, auch über sein Privatleben . . . Er hat gern den Schwerenöter gespielt und dir von seinen Abenteuern erzählt . . .«
»Ja, das war sein schwacher Punkt! Im Herzen war er ein junger Leutnant geblieben und von einer Entzündbarkeit ohnegleichen! Im Nu war er immer wieder verliebt, und ich mußte ihm manchmal förmlich den Text lesen. Er war entschieden der Leichtfertigere von uns beiden!«
»Das will viel heißen,« brummte Baradier.
»Ja, als Beispiel des Guten für christliche Kinder spiele ich mich ja nicht auf,« gab Marcel lachend zu.
»In der letzten Zeit hatte er dir aber nichts anzuvertrauen?«
»Nein. Er war zurückhaltender als sonst und schien mir innerlich in Anspruch genommen zu sein. Vielleicht, daß man ihm besondere Verschwiegenheit auferlegt hatte und er sich dazu verpflichtet glaubte. Trotzdem warf er wieder einmal nach dem Frühstück sein gewohntes: ›Ich sage dir, eine entzückende kleine Frau!‹ hin, wobei er sich schmunzelnd die Hände rieb. Sie waren stets entzückende kleine Frauen, wer sie auch sein mochten! Putzmacherinnen, Tänzerinnen, Bürgersfrauen oder Dirnen, entzückend waren sie, eine wie die andere. Ehrlich gesagt, war mir dieser Liebeshunger bei einem Mann von sechzig Jahren ein wenig widerlich, und ich forderte seine Bekenntnisse nie heraus, weil ihre greisenhafte Ueberschwenglichkeit mir für seinen vornehmen, klaren Geist etwas Verletzendes hatte. Als er dann in letzter Zeit verschwiegen sein wollte, gab ich ihm keinen Anlaß zu sprechen, denn es war mir lieb, die Geschichte nicht hören zu müssen.«
»Schade! Es wäre wohl die einzig wertvolle darunter gewesen.«
»So trifft sich's ja immer.«
»Und du erinnerst dich nicht, daß er von neuen männlichen Bekanntschaften gesprochen, Namen genannt hätte?«
»Er erzählte mir von einem fremden Gelehrten, mit dem er in Beziehung getreten war und den er für etwas Außerordentliches hielt. Dabei hatte er den Verdacht, daß sein Freund Nihilist sei, was ihn einigermaßen beunruhigte, im übrigen aber zollte er dem Mann die höchste Anerkennung«
»Es war ein Russe.«
»Ich weiß es nicht. Er nannte ihn Hans . . .«
»Hans!« rief Baradier ungestüm. »Das ist ja der Mann, dem der Arm abgerissen wurde! Auf dem Arm selbst fand man den Namen Hans eintättowiert, und auf einem Ring, den er am Finger trug, steht er auch . . . das ist der erste Lichtstrahl, der ins Dunkel fällt. Also der General kannte diesen Hans? Hans ist aber doch ein deutscher Name?«
»Nur ein Vorname, allerdings ein deutscher, doch sind ja bekanntlich viele Russen deutschen Ursprungs. Wenn der in Frage stehende Hans thatsächlich der Urheber der Katastrophe ist, so hat er sich natürlich nur in der Absicht, das Geheimnis an sich zu bringen, bei dem General eingeführt . . . aber wie kann er zur Kenntnis gelangt sein, daß eine Entdeckung vorhanden war, die der General doch sorglich geheim hielt?«
Graff, der bisher kein Wort gesprochen hatte und den Reden von Vater und Sohn mit träumerischem Sinnen gefolgt war, bat mit einer Handbewegung um Schweigen und begann langsam, als ob er das zarte Gewebe eines erst entstehenden Gedankengangs festhalten müßte: ›Ihr verirrt euch! Die Triebfedern, denen die Urheber des Verbrechens – ein einzelner war es ja entschieden nicht! – gehorcht haben, sind viel verwickelterer und höherer Art, als ihr annehmt. Ihr sucht entweder gemeine Diebe, die sich eine nutzbare Entdeckung aneignen wollten, oder Anarchisten, die ein mächtiges Zerstörungsmittel wittern. Das ist viel zu niedrig: wir haben es mit Verbrechern höherer Gattung zu thun. Daß sie sich die Mühe machten, Trémont nach der Ermordung auszuplündern, beweist, daß sie falsche Vorstellungen erwecken wollten. Wenn man ein Haus zu plündern vorhat, hält man sich nicht mit einer Taschenuhr und einer Börse auf. Das geheimnisvolle Gebaren der Thäter entspricht dem Wesen politischer Verschwörer und was der Ausführung der That insbesondere das Gepräge eines politischen Anschlags verleiht, ist die Mitwirkung einer Frau. Seit einem Jahrhundert sind alle Intriguen auswärtiger Politik bei uns durch Frauen geleitet worden.
»Meine Auffassung ist in Kürze die folgende. Ein Staat oder auch mehrere europäische Staaten hatten Kenntnis von Trémonts Studien und Versuchen. Möglich, daß seine eigenen Mitteilungen an die Akademie hinreichend waren, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Sofort wurden Mittel und Wege gesucht, sein Vertrauen zu erschleichen, in seine Häuslichkeit zu dringen. Man hat sich über die Lebensweise unseres Freundes unterrichtet, seinen Hang zu Liebesabenteuern ermittelt. Eine hübsche, gewandte junge Frau wurde ausgesandt, und wußte bald einen Verkehr zwischen Trémont und diesem Meister ›Hans‹ zu vermitteln, der natürlich kein Russe ist, sondern vermutlich aus Baden stammt. Die Frau ist eine Spionin und steht im Sold unserer Feinde. Als es dem von ihr eingeführten Hans nicht gelang, sich Trémonts Geheimnisse durch List zu verschaffen, ging er zur Gewalt über, aber ihr dürft überzeugt sein, daß der Streich in weit höherem Auftrage geführt wurde, als bis jetzt angenommen wird. Ihr vermutet einen Lichtenbach hinter der Scene – glaubt ihr, daß die Unbekannte und der sogenannte Hans um seinetwillen ein so gefährliches Spiel gewagt hätten? Das hieße denn doch die Bedeutung des Mannes überschätzen! Der Auftraggeber ist höheren Orts zu suchen oder vielmehr besser nicht zu suchen, da er ja doch nicht zu finden sein wird.«
»Ich will deine Hypothese nicht unbedingt verwerfen,« versetzte Baradier. »Du bist ein Phantast, der oft genug Gespenster sieht, aber in dem vorliegenden Fall wäre es kühn, dir die Möglichkeit deiner Mutmaßungen zu bestreiten. Möglich ist sogar, daß wir beide recht haben, du und ich, und gewiß ist, daß die Urheber der verwegenen That Leute sind, die vor nichts zurückschrecken. Seien wir also auf unserer Hut und legen wir vorläufig keinerlei Mißtrauen an den Tag. Wir wollen ruhig weiterleben nach unseren Gewohnheiten und uns wenigstens scheinbar jeder Beteiligung an der gerichtlichen Untersuchung enthalten. Erreicht sie ihr Ziel, so können wir uns als Unbeteiligte dessen freuen, findet die Polizei nichts, so ist es immer noch Zeit, ihr einen Wink zu geben. Meiner Ansicht nach sind geschickte und kaltblütige Verbrecher fast nie auffindbar, nur Unvorsichtigkeiten liefern die Schuldigen aus. Sobald sie anfangen, sich nicht mehr für verfolgt und gefährdet zu halten, dann läßt sich viel eher eine Unbesonnenheit erwarten, die auf ihre Spur führt. Also gedulden wir uns und schweigen wir, das ist die vorsichtigste und zugleich zweckmäßigste Taktik. Marcel wird nach Ars zurückfahren . . .«
»Nicht ehe ich Genoveva Trémont gesehen habe!«
»Versteht sich. Du bist heute abend bei Tisch, schläfst im Hause und fährst morgen mit dem Frühzug. Deine Mutter und dein Onkel werden seelenvergnügt sein, wenn sie dich ein wenig haben können.«
»Und mein Vater nicht?« fragte der junge Mann lächelnd.
»Und dein Vater auch! Ich führe dich jetzt zur Mutter hinauf – Graff, du wirst noch aufs Bureau gehen?«
»Bis die Unterschriften erledigt sind. Dann gehe ich heim, werde aber zu Tisch kommen.«
Vater und Sohn gingen über eine Privattreppe in die Wohnräume hinauf, wo sie zu ihrer Ueberraschung im Vorsaal einen fremden Bedienten vorfanden, der wartend auf einer Bank saß.
»Die Mutter scheint Besuch zu haben,« bemerkte Baradier. »Merkwürdig – sie hat doch heute nicht Empfangstag.«
Die beiden Herren traten durch einen Seitengang in Frau Baradiers kleines Empfangszimmer und fanden diese am Fenster sitzend, eine Stickerei in der Hand, aber mit müßigen Fingern ihren Gedanken nachhängend.
»Du bist hier?« rief Baradier verwundert, »Ich glaubte, du habest Besuch zu empfangen?«
»Der Besuch gilt nicht mir.«
»Nicht dir? Und nicht Amalie? Also wohl Fräulein von Trémont?«
»Allerdings,« versetzte Frau Baradier beinahe verlegen.
»Aber was hast du denn nur?« fragte der Bankier, aufmerksam werdend. »Es scheint irgend etwas Ungewöhnliches vorzugehen im Hause, sag mir doch . . .«
»Ja, dieser Besuch ist ungewöhnlich, sehr merkwürdig sogar! Eine Schulfreundin von Genoveva kam eigens vom Kloster her, um unserem lieben Gast Teilnahme zu beweisen, und sie mußte allein kommen, das heißt von einem vertrauten Diener begleitet, weil ihr Vater unser Haus nicht wohl betreten könnte . . .«
Baradiers Gesicht färbte sich dunkelrot, seine Brauen zuckten.
»Also ist es . . .«
Seine Frau ließ ihn nicht ausreden: sie verständigte sich mit ihm durch einen raschen Blick.
»Ja, es ist Fräulein Lichtenbach.«
Ein Schweigen trat ein. Marcel umarmte jetzt erst die Mutter und konnte dabei den Blick nicht vom Vater verwenden, der, vor dem Kamin stehend, offenbar bestrebt war, sich diesen auffallenden Schritt der Tochter seines Gegners und dessen Tragweite zurechtzulegen.
»Wie ist sie denn, diese Fräulein Lichtenbach?« fragte Marcel.
»Ich gestehe dir, daß ich sie nicht recht angesehen habe,« erwiderte die Mutter, »die Meldung ihres Besuches hatte mich ein wenig verblüfft. Amalie und Genoveva waren bei mir, und nachdem der Besuch eingetreten war, ließ ich die jungen Mädchen allein. So viel ich bemerkt habe, ist sie groß und hübsch gewachsen, aufgefallen ist mir die Stimme, eine helle, süße, einschmeichelnde Stimme,«
»Die hat sie nicht vom Vater,« brummte Baradier.
»Und wie lang ist sie denn schon hier?«
»Eine halbe Stunde oder länger,«
»Und meine Schwester sitzt als dritte im Bunde dabei?«
»Sie hätte nicht wohl verschwinden können, das hätte einem Zurschautragen von Gehässigkeit ähnlich gesehen, das nicht am Platz wäre. Ich will auch hoffen, daß Kinder die Feindschaften der Eltern nicht notwendig als Erbteil übernehmen müssen . . .«
»Aber Mama, das wäre gegen alles poetische Herkommen! Denke doch nur an Romeo und Julia! Was sollte aus den Dichtern werden, wenn man ihnen den vererbten Haß nähme? Der gehört zum eisernen Inventar der Romantik! Berauben wir sie nicht, ihr Rüstzeug nimmt überhaupt von Jahr zu Jahr ab!«
Baradier, der seine Gedanken ausgesponnen hatte, ohne auf die Worte des Sohnes zu achten, sagte halblaut vor sich hin: »Was will sie hier? Wozu hat er sie hergeschickt oder wenigstens herkommen lassen?«
»Soll ich sie fragen, Papa?« sagte Marcel übermütig.
»Verschone mich mit Witzen,« rief Baradier gereizt. »Die Sache ist kein Scherz!«
»O, ich weiß, es wird hier überhaupt nicht gescherzt! Aber nehmt mir's nicht übel, ihr scheint mir aus der Mücke einen Elefanten zu machen! Meine Mutter ist blaß, du glühst vor Zorn, alles, weil ein junges Mädchen ihre Schulfreundin besuchen und trösten will! Ist das wirklich etwas so Unerhörtes?«
Baradier warf dem Sohn einen ärgerlichen Blick zu und versetzte mürrisch: »Du bist ein Grünschnabel! Laß mich zufrieden! Ueber Dinge, die man nicht versteht, soll man nicht reden!«
Marcel verbeugte sich mit spöttischer Unterwürfigkeit.
»Du bist zu liebenswürdig, Papa, danke!«
Baradiers Zorn sollte nicht zu weiterem Ausbruch kommen; die Thüre des anstoßenden Zimmers war leise geöffnet worden und Amalie stand auf der Schwelle.
»Mama,« rief sie herein, »Fräulein Lichtenbach möchte sich von dir verabschieden, ehe sie geht.«
»Scheint ja gute Manieren zu haben, das Fräulein,« bemerkte Marcel leise. »Gehst du hinein, Mama? Ich begleite dich . . . ich muß wissen, wie sie aussieht.«
»Du bleibst hier, Marcel,« raunte Baradier dem Sohne wütend zu, »ich verbiete dir . . .«
Aber Marcel war schon mit leisem Auflachen hinter der Mutter aus der Thüre geschlüpft.
»Er wird seiner Lebtage nicht vernünftig werden,« stöhnte Baradier, sich plötzlich allein sehend.
Mit einem Seufzer ließ er sich auf dem Sitz am Fenster nieder, den seine Frau eben verlassen hatte, und lauschte unwillkürlich dem Klang der verschiedenen Stimmen, der aus dem Nebenzimmer hereindrang.
Auf den ersten Blick bemerkte Marcel, daß Fräulein Lichtenbach eine vornehme Erscheinung war und ein sanftes, angenehmes Gesicht hatte. Bei näherer Betrachtung sagte er sich, daß sie nicht eigentlich hübsch zu nennen sei, denn die Züge waren ganz unregelmäßig, doch war der Blick ihrer hellblauen Augen, die lautere Güte und Offenheit strahlten, sehr fesselnd. Sie hatte sich erhoben und stand schlank und kerzengerade in dem schwarzen Schulkleid mit dem blauen Band auf der Brust vor Frau Baradier, die ihr den Sohn vorstellte. Sie begrüßte ihn mit einer anmutigen Kopfneigung und sagte dann mit ihrer wohlklingenden Stimme: »Gnädige Frau, ich hätte nicht gehen mögen, ohne Ihnen für Ihre gütige Aufnahme zu danken. Fräulein von Trémont ist mir sehr teuer, wir haben seit einem Jahr ausschließlich miteinander gelebt, und ich empfinde ihr Unglück, als ob es mich selbst betroffen hätte . . . Mir ist es ein großer Schmerz, von ihr getrennt zu werden, aber ein großer Trost, sie bei Freunden zu wissen, die sie lieben . . . Ich hoffe, Sie werden ihr auch gestatten, von mir zu sprechen, damit sie mich nicht zu schnell vergißt . . . vielleicht wird sich die Neigung, die sie für mich hat, auch Ihnen ein wenig mitteilen . . .«
Marcel stand ganz umfangen vom Zauber der Stimme, womit diese demütigen Worte gesprochen wurden, als die klaren Augen plötzlich mit leuchtendem Blick die seinigen trafen. Er gab den Blick feurig zurück, vielleicht sogar etwas keck, denn die Lider senkten sich jählings und leise Röte glitt über das offene Gesicht des jungen Mädchens, das vor diesem Blick erbebt war.
»Ich danke Ihnen für die freundlichen Gesinnungen, die Sie für unsere liebe Genoveva und uns selbst aussprechen,« erwiderte Frau Baradier jetzt. »Seien Sie versichert, daß wir ihren Gefühlen keinen Zwang auferlegen werden.«
Fräulein Lichtenbach verbeugte sich, nickte Amalie freundlich zu und erschrak sichtlich, als Marcel mit einer Verbeugung sagte: »Gnädiges Fräulein gestatten, daß ich Sie begleite.«
Er hielt die Flügelthüre für sie auf, folgte ihr in den Vorsaal, ergriff den schwarzen Umhang, den sie dort gelassen hatte, und legte ihn um ihre Schultern, Angesichts der etwas bestürzten Mutter und Schwester begleitete er sie auch die Treppe hinunter, während ihr Diener hinter ihnen herging. Sie hatten dann den weiten Hof zu überschreiten und Marcel begann zutraulich zu plaudern.
»Nach Fräulein von Trémonts Abreise wird Ihnen das Leben im Kloster wohl ein wenig traurig vorkommen, gnädiges Fräulein?«
»O . . . ich hoffe, daß Genoveva mich nicht vergessen und mich zuweilen besuchen wird . . .«
»Und Sie selbst werden wohl auch nicht mehr lange bei den Schwestern bleiben?«
»Ich . . . ich habe nur meinen Vater . . . gerade wie es bei Genoveva war . . . Sie findet nun in Frau Baradier eine Mutter, ich aber . . .«
Das junge Mädchen vollendete den Satz nicht, aber Marcel ergänzte ihn im stillen und verstand ihre ernste Traurigkeit wohl.
»Ich werde einsam sein, wie ich's meine ganze Kindheit über gewesen bin,« dachte sie. »Meine Jugend wird zwischen kahlen Klostermauern verfließen, unter pedantischer Aufsicht der Schwestern, die ja verehrungswürdig und gut sind, aber nicht im stand, mir den Hauch warmer Liebe zu geben, den ich so nötig hatte, um glücklich zu sein. Meine Freundin verläßt mich und mit ihr alles, was mir das Leben fröhlich gemacht hat.«
Das war so wehmütig und wurde so ergeben getragen, daß Marcel sich bewegt fühlte. Er betrachtete sich das junge Geschöpf an seiner Seite mit aufrichtiger Teilnahme, und als sie an dem Coupé angekommen waren, dessen Schlag der voraneilende Diener aufriß, sagte er mit Wärme: »Sie dürfen überzeugt sein, daß Genoveva von Trémont Sie nicht vergessen wird, gnädiges Fräulein . . .«
Sein Blick ruhte fest auf Fräulein Lichtenbachs Zügen, die im hellen Tageslicht der Straße noch feiner und mädchenhafter wirkten, und er setzte mit einer tiefen Verbeugung leiser hinzu: »Ich glaube, Sie gehören zu denen, die keiner so leicht vergißt.«
Fräulein Lichtenbach neigte lächelnd den Kopf, sagte dem Diener: »Nach Hause!« und stieg ein.
Während der Bediente auf den Bock stieg und der Kutscher die Zügel faßte, wechselten die beiden kein Wort mehr, aber Marcel blieb bloßen Hauptes auf dem Fußsteig der Provencerstraße stehen und blickte durchs Wagenfenster zu dem jungen Mädchen hinein, das er heute zum erstenmal gesehen hatte und das ihm so schlicht, wahr und rührend erschien. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber das Lächeln, womit sie ihn gegrüßt hatte, schwand nicht von ihren Lippen. Jetzt setzte sich der Wagen in Bewegung und der Zauber war gebrochen.
»Schade um die Tochter, wenn der Vater wirklich ein solches Scheusal ist, denn die Tochter ist entzückend,« dachte Marcel, indem er jetzt wieder über den Hof ging, und als er an die Hausthüre trat, überlegte er: »Schließlich kann sie doch wahrhaftig nichts dafür, daß sie diesen Vater hat, und ist nicht verantwortlich für seine Handlungen.« An der Thüre des väterlichen Arbeitszimmers war er indes zu der abschließenden Erwägung gelangt: »Was kümmert's mich! Es ist außerordentlich wahrscheinlich, daß ich und diese junge Dame nie mehr zusammentreffen werden . . . mag sie also sein, wie sie will.«
Trotzdem ließ sich bei ihm der Eindruck nicht verwischen, daß Fräulein Lichtenbach, die Tochter des Todfeindes von Baradier & Graff, eine eigenartige Persönlichkeit sei, die nie und nirgends unbemerkt bleiben würde.
»Da bist du endlich!« begrüßte ihn der Vater, der ihn mit Ungeduld erwartet hatte. »Du machst ja große Umstände mit dieser kleinen Person! Was würdest du denn thun, wenn wir eine Prinzessin zu Besuch hätten?«
»Genau dasselbe, Papa,« versetzte der junge Mann gelassen.
»Wirst du vielleicht die Güte haben, mir zu erklären, was dich zu einem solchen Aufwand von Höflichkeit der Tochter unseres Todfeindes gegenüber veranlaßt?«
»Vielleicht gerade der Umstand, daß sie die Tochter deines Gegners ist.«
»Das mag äußerst ritterlich gedacht sein, mir aber kommt's einfach albern vor!«
»Hast du im Sinn, Frauen in geschäftliche Händel hereinzuziehen?«
»Ich möchte wohl sehen, wie Lichtenbach deine Mutter oder deine Schwester behandeln würde, wenn sie ihm je in die Hände liefen!«
»Hoffen wir, das nicht zu erleben! Aber wenn Lichtenbach deiner Ansicht nach einer Rüpelhaftigkeit fähig wäre, so folgt doch nicht daraus, daß man im Hause Baradier & Graff auch ungehobelt sein muß. Frage nur den Onkel, was er davon hält.«
»Ach, dein Onkel ist ein Schmachtlappen und mit schönem Gefühl bekämpft man einen Satan wie Lichtenbach nicht. Ich zerbreche mir nur den Kopf, in welcher Absicht er seine Tochter hergeschickt haben mag . . . daß er es war, der diesen Besuch veranlaßt hat, steht für mich fest. Jedenfalls wollte er uns mit dieser Aeußerung von Teilnahme und Zärtlichkeit für Fräulein von Trémont Sand in die Augen streuen, aber gerade diese Schaustellung von Mitgefühl ist mir verdächtig . . . Ich sage dir, dieser Lichtenbach hat die Hand im Spiel! Ich lasse mir's nicht nehmen! Sein Haß, wie sein geschäftlicher Vorteil treiben ihn dazu, aber wie es beweisen?«
»Die Untersuchung ist ja eingeleitet.«
»Ach was, die Gerichte! Bringen die denn je ein Verbrechen an den Tag? Weißt du, was der Senator Barentin, der im Kassationshof für den ersten Kriminalisten gilt, mir erst neulich gesagt hat? Auf hundert Fälle kommen höchstens fünfundzwanzig, wo man die Schuldigen erwischt, und dann geschieht es meist zufällig, durch Unbesonnenheiten, die der Verbrecher begeht. Reiche Leute, die kaltblütig sind, die eine gewisse Macht in Händen haben, ihre Schritte klug berechnen, gehen immer ungestraft aus.«
»Mein lieber Vater, wenn der ganze in Bewegung gesetzte Apparat der Gerechtigkeit mit seinen Schutzleuten, Fahndern, Staatsanwälten und Richtern nicht im stande ist, einen Mörder zu entdecken, wie sollten Baradier & Graff es fertigbringen? Unmögliches muß man sich nicht zumuten und etwas Philosophie ist wohl angebracht im Leben. Wir werden die Wirkung des Verbrechens aufheben, soweit es in unseren Kräften steht, du, indem du Fräulein von Trémont unter deinen Schutz nimmst; die Mutter, indem sie ihr Liebe und Heimat gibt; ich, indem ich ihr das Vermögen verschaffe, das ihr Vater erworben haben würde, und fürs übrige lassen wir den lieben Gott sorgen!«
»Den lieben Gott sorgen lassen – nein, laß lieber den Teufel schalten und walten,« murrte Baradier. »Vergiß wenigstens nie, was ich dir sage, Marcel! In das Zerwürfnis zwischen Lichtenbach und deinem Onkel ist Trémont hineingezogen worden, und auch ich sowohl als deine Mutter haben darunter zu leiden. Lichtenbach ist einer von den rachsüchtigen Menschen, die jede Schuld einfordern, und sei es erst vom Sohn oder vom Enkel, Jetzt hat er Trémont getroffen, aber auch an uns wird die Reihe kommen . . .«
»Nein, Vater, an keinen von uns wird sie kommen,« entgegnete Marcel ernst und bestimmt, »denn ich schwöre dir, bei der ersten Drohung, dem ersten Wetterleuchten, würde ich vor Lichtenbach hintreten und ein für allemal Abrechnung mit ihm halten!«
Frisch rasiert und mit höchster Sorgfalt gekleidet erschien der Onkel Graff wieder in seines Schwagers Zimmer. Baradier machte seinem Sohn ein Zeichen, das Gespräch abzubrechen, und alle drei gingen in die Wohnräume hinauf.