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Mit noch röterem Gesicht als sonst und gefurchter Stirne ging der Kriegsminister, an seinem Schnurrbart kauend, in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Die Fieberhaftigkeit, womit er seinen Kneifer zwischen den Fingern drehte, verhieß dem zunächst vor ihm Erscheinenden keinen freundlichen Empfang, und die Offiziere mochten diese Wetterzeichen und ihre Ursachen kennen, denn in den anstoßenden Amtszimmern herrschte tiefe Stille; nur die Vögel im Garten vor den Fenstern wagten es, die Einsamkeit des Gewaltigen durch ihr keckes Zwitschern und Flattern zu stören. Nach kurzem Hin- und Herstürmen schien dem Minister die Geduld vollends ausgegangen zu sein, und er eilte an den Kamin, um auf die elektrische Klingel zu drücken. Mit besorgter Miene trat der Bureaudiener ein.
»Ist der Oberst Vallenot zurückgekehrt?« fragte der Minister in einem Ton, wie er etwa das Kommando: »Gewehr in die Hand! Zur Attacke!« gegeben haben würde.
Der Diener beugte und krümmte sich, als ob er am liebsten unter dem Fußteppich verschwunden wäre, und gab mit tonloser Stimme zur Antwort: »Euer Excellenz . . . ich weiß es wirklich nicht . . . ich will nachfragen . . .«
Des Ministers Züge färbten sich bläulich; gleich einer platzenden Granate kam der erste Fluch über seine Lippen, dann ein zweiter, ein dritter, der aber verlorene Liebesmühe war, denn der Diener hatte sich schon verflüchtigt und die Thüre hinter sich zugezogen.
»Was dieser verdammte Vallenot nur treiben mag die ganze Zeit, die er fort ist?« brummte der Minister, seinen zornigen Spaziergang fortsetzend. »Nett bedient ist man, hol's . . .«
Er hatte keine Muße, sich weiter Luft zu machen, denn die Thüre flog auf und dieses Mal erschien der Bureaudiener mit strahlender Miene, um vernehmlich zu melden: »Der Herr Oberst Vallenot.«
Ein großer, schlanker Mann, etwa fünfzig Jahre alt, mit blauen Augen und blondem Schnurrbart, trat rasch ein und begann nach einer Verbeugung vor dem Vorgesetzten in zuversichtlich vertraulichem Tone: »Excellenz scheinen ungeduldig geworden zu sein? Der Offizier vom Dienst hat mich schon an der Hausthüre abgepaßt . . . die Sache war eben nicht kurz zu erledigen, ist vielmehr sehr langwierig, und ich habe meine Zeit wahrlich nicht vergeudet . . .«
»Zur Sache!« fiel ihm der Minister ungeduldig ins Wort, »Sie kommen von Vanves?«
»Ja. Excellenz.«
»Allein?«
»Nein, ich hatte einen von unseren Agenten mitgenommen, den gewandtesten, über den wir verfügen. Excellenz hatten zwar nicht Befehl dazu gegeben, aber ich habe mich auf eigene Verantwortung des Mannes bedient . . .«
»Was ich gutheiße, vorausgesetzt, daß Sie des Mannes sicher sind.«
»Soweit man der Menschen überhaupt sicher sein kann. Es ist ein ehemaliger Unteroffizier, dem ich überdies den wahren Zweck meiner Untersuchung nicht enthüllt habe. Von dem, was uns eigentlich besorgt macht, weiß er nichts, vielmehr muß er einfach annehmen, daß er mir bei der Aufklärung der Ursachen eines noch rätselhaften Unglücksfalles an die Hand gehen soll. Nach dieser Seite hin sind wir vollständig gedeckt . . .«
»Nun, und das Ergebnis Ihrer Nachforschungen?«
»Wenn Excellenz gestatten, möchte ich das Geschehnis unter zwei Gesichtspunkten betrachten, einerseits die greifbaren Thatsachen, andererseits deren psychologische Ursachen entfalten . . . der Fall ist nämlich verwickelter, als Excellenz zuerst annahmen, und ich fürchte, daß mein Bericht Excellenz eher mehr in Zweifel stürzen, als Ihre Unruhe beschwichtigen wird.«
»Alle Wetter!«
Der Minister ließ sich, das Kinn in die Hand gestützt, an seinem Schreibtisch nieder und bedeutete dem Oberst, in einem Lehnstuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Beginnen Sie . . . ich höre.«
»Das vom General von Trémont bewohnte Haus liegt oberhalb des Dorfes Vanves in geringer Entfernung vom Fort, so daß die Schildwache des Forts zuerst Alarmzeichen gegeben und die Besatzung die ersten Versuche zur Löschung des Brandes gemacht hat. Von dem ganzen Gebäude ist sozusagen nichts übrig geblieben. Die Explosion der im Laboratorium angehäuften Sprengstoffe hat selbst die Fundamente aufgewühlt und furchtbare Wirkungen hervorgebracht. Man hat in einer Entfernung von zwei Kilometern noch zersprengte Steine aufgefunden, und die anstoßenden Gärten, meist Gemüsezüchtern gehörend, sind übersät mit Trümmern. Wenn Häuser in der Nachbarschaft gestanden hätten, wäre das Unglück unübersehbar . . .«
»Kurz gesagt, die bekannten Wirkungen des Melinits?« unterbrach ihn der Minister.
»O nein, Excellenz, ungleich stärkere! Nehmen Sie die hundertfache Wirkung des Pulvers an, womit wir unsere Granaten laden, dann mag etwa die Sprengkraft herauskommen, die den im Laboratorium des Generals von Trémont entdeckten Zündstoffen innewohnte . . .«
Der Minister nickte mit dem Kopf.
»Ja, ja . . . derartiges hat er mir gesagt, als ich ihn das letzte Mal in der Sitzung der Artilleriekommission sah. Er war einer Entdeckung auf der Spur, die unseren Geschützen eine derartige Überlegenheit gesichert hätte, daß wir auf lange Zeit des Sieges Gebieter geworden wären. Der Widerstand gegen uns würde so furchtbare, mit unfehlbarer Sicherheit eintretende Verwüstungen zur Folge gehabt haben, daß unsere militärische Stellung fast unangreifbar zu nennen sein würde. Liegt hierin die Ursache der Katastrophe?«
»Excellenz nehmen also an, daß Neid und Bosheit dem Ereignis nicht fern stehen?«
»Ich nehme gar nichts an und vermute alles. Wenn Sie mich von den Thatsachen unterrichtet haben werden, können wir erst Folgerungen ziehen. Fahren Sie fort!«
»Den Anordnungen des Ministeriums gemäß fanden wir bei unserer Ankunft schon einen um das ganze Besitztum gezogenen Kordon von Truppen vor; außerhalb dieser Kette eine wohl aus drei- bis vierhundert Köpfen bestehende Menge neugieriger, schwatzender Landleute und dazu etliche zwanzig Zeitungsberichterstatter, die zu Wagen oder Fahrrad herbeigeeilt waren und allein mehr Lärm verursacht hatten, als alle übrigen Anwesenden miteinander. Sie waren sehr empört, daß man ihnen den Zutritt zur Unglücksstätte, in die noch qualmenden Trümmer des Anwesens verweigerte, aber ein schneidiger junger Leutnant, der den Ordnungsdienst leitete, wies alle ihre Klagen und Ansprüche mit militärischer Schroffheit ab. Wir können also darauf rechnen, daß die Presse ein Zetergeschrei erheben wird, aber vor taktlosen Mitteilungen sind wir gesichert, und das ist immerhin etwas. Innerhalb des Truppenkordons befand sich niemand als der Sekretär des Polizeipräsidenten, der Staatsanwalt und der Vorstand der Sicherheitswache. Mein Agent und ich trafen zu günstiger Stunde ein, man fing eben an, den Augenschein aufzunehmen.«
»Wo? Im Haus selbst?«
»Auf der Stätte, wo das Haus gestanden hat, Excellenz, die jetzt nur noch das Bild eines gähnenden Schlundes bot, auf dessen Grund man noch den gemauerten Keller unterschied und eine von ausgelaufenem Wein herrührende rote Lache. Das Gewölbe war vollständig eingestürzt, von den Treppenstufen nichts mehr zu erblicken, die Steine waren in taubeneigroße Brocken zerrieben worden, eine Zerbröckelung, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte! Ein schauderhafter Anblick! Durch eine unerklärliche Laune der Explosionskraft war eine Wand stehen geblieben, die Wand der Waschküche, und in den Eisenstäben des darin enthaltenen schmalen Fensterchens sah man einen Fetzen Stoff hängen. Wir alle hatten diese Beobachtung fast gleichzeitig gemacht. Der Sicherheitsbeamte war der erste, der sich vorsichtig dem Einsturz drohenden Gemäuer näherte. Mit der Spitze seines hocherhobenen Stockes rührte er an dem formlosen Klumpen zwischen den Gitterstäben, brachte ihn zu Fall, griff mit einem Ruf der Ueberraschung danach und kam rasch damit zurück, den Gegenstand vor uns auszubreiten. Es war ein noch mit Hemd- und Rockärmel bekleideter, überm Ellbogen abgeschnittener, blutüberströmter Arm, samt einer geschwärzten, nahezu verkohlten Hand.«
»Außerordentlich seltsam!« rief der Minister.
»Der Eindruck war furchtbar unheimlich,« fuhr der Oberst fort. »Ich habe wahrhaftig Tote genug auf dem Schlachtfeld, Schwerverwundete in den Ambulanzen gesehen, aber nichts hat mir je einen Eindruck gemacht wie dieser Männerarm, der da vor uns auf einem Stein lag als einzige Spur einer Tragödie, die wir zu verfolgen und zu ergründen suchen. Der Staatsanwalt fand am ehesten seine Kaltblütigkeit wieder und bemerkte: Mein Herr, wir haben hier ein wichtiges Beweismittel . . . dieser Arm ist augenscheinlich durch die Gewalt der Explosion abgerissen und zwischen die Gitterstäbe geschleudert worden. Aber wem hat er angehört? Ist es der Arm des unglücklichen Generals?
»›Der General war ja nicht der einzige Hausbewohner,‹ gab der Sicherheitsbeamte zu bedenken, ›er hatte einen Diener und eine Köchin. Mit der brauchen mir uns nicht zu beschäftigen, denn es ist zweifellos ein Männerarm, entweder der des Generals oder seines Dieners‹ – ›Wenn es nicht . . .‹ es war unser Agent, der mit dieser abgerissenen Bemerkung zum erstenmal etwas sagte. – ›Bitte, fahren Sie fort,‹ mahnte der Staatsanwalt, sich zu ihm wendend. – ›Wenn der Arm nicht dem Urheber der Katastrophe selbst entrissen wurde.‹«
»Aha! Der Bursche setzt also auch von Anfang an die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens voraus?«
»Allerdings, Excellenz, und er beugte sich bei diesen Worten ganz dicht über die verkohlte Hand, um sie mit größter Aufmerksamkeit zu untersuchen. Mit äußerster Vorsicht hob er die einzelnen Finger und zog mit einiger Anstrengung vom vierten einen Ring, den keiner von uns bemerkt hatte. ›Wenn dieser Ring Eigentum des Generals war,‹ rief er, seinen Fund triumphierend in die Höhe haltend, ›wissen wir, woran wir sind. Wenn nicht, so besitzen wir darin einen unschätzbaren Fingerzeig, der uns in die Möglichkeit versetzen wird, den Fall zu entwirren.‹«
»Einen Ring! Ich entsinne mich nicht, je einen Ring an Trémonts Hand gesehen zu haben . . . ich möchte sogar darauf schwören, daß er niemals in irgend welcher Form Juwelen trug, am allerwenigsten Ringe. Für einen Mann, der von früh bis spät mit Säuren hantiert, wäre es ja auch ein Unding gewesen, Ringe zu tragen, kein Metall hätte ja den Reagenzien, womit er arbeiten mußte, Widerstand geleistet . . . Was für ein Ring war es denn, Vallenot?«
»Ein Trauring, Excellenz. Nachdem man Schmutz und Blut mit einem Stück Handschuhleder abgerieben hatte, kam das Gold ganz blank zum Vorschein. Unser Agent drehte den Reif hin und her und öffnete ihn durch einen Druck des Fingernagels: er bestand aus zwei durch eine Feder geschlossenen Hälften. ›Sehen Sie her, meine Herren!‹ rief er. ›An der Innenseite sind Buchstaben eingeschnitten. Was auch erfolgen mag, ein Beweismittel haben wir!‹«
»Der Bursche scheint wirklich sehr brauchbar zu sein, Vallenot,« bemerkte der Minister. »Soweit ich die Sache übersehe, ist er der einzige, der uns gefördert und Scharfsinn gezeigt hat. Man muß ihm eine Belohnung zukommen lassen.«
»Wir sind noch nicht zu Ende, Excellenz. Hören Sie weiter! Der Staatsanwalt hatte nach dem Ring gegriffen und sah ihn sich genau an, dann steckte er ihn mit den Worten: ›Das werden wir später untersuchen,‹ gelassen in seine Westentasche. Ich muß sagen, dieses eigenmächtige Verfahren, das uns so jählings um den Gegenstand unserer Neugierde brachte, hatte etwas Verblüffendes, und wir alle sperrten, wie man zu sagen pflegt, Mund und Nase auf. Bei näherer Ueberlegung muß man indes zugeben, daß es vielleicht richtig war, es der richterlichen Untersuchung vorzubehalten, was an Aufklärung von diesem Beweisstück ausgehen mag, und nicht etwa Dinge von entscheidender Wichtigkeit allzufrüh in die Oeffentlichkeit dringen zu lassen. Indes die Vorsicht des Staatsanwalts sollte bald zu Schanden werden! Unser Agent, der seine Untersuchung des abgerissenen Arms fleißig fortgesetzt hatte, schob im selben Augenblick die beiden Aermel zurück, um das Fleisch bloßzulegen, und was jetzt zu Tage trat, konnte unseren Blicken nicht entzogen werden! Auf dem Unterarm war über der Handwurzel in bläulicher Tättowierung ein flammendes Herz sichtbar, das die Umschrift ›Hans und Mina‹ trug, darunter das deutsche Wort: ›Immer‹.
»›Meine Herren‹ sagte der Staatsanwalt, seinen Kneifer zurechtrückend, ›ich ersuche Sie dringend, über diese Entdeckung Stillschweigen zu bewahren. Ein unvorsichtig hingeworfenes und weitergetragenes Wort könnte die unheilvollsten Folgen haben. Möglich, daß wir es mit einem anarchistischen Attentat, möglich, daß wir es mit einem Eingriff des Auslands zu thun haben . . . der Fall nimmt ja gänzlich unvorhergesehene Dimensionen an. Daß ein Verbrechen vorliegt, ist im höchsten Grade wahrscheinlich.‹«
»Donnerwetter! Das ist ja eine verteufelte Geschichte, finden Sie nicht, Vallenot? Am Ende sollte man den Senatspräsidenten benachrichtigen . . .«
»Das hat der Sekretär des Polizeipräsidenten ohne Zweifel bereits gethan, Excellenz. Er hat nämlich nach dieser Wendung den Abschluß des Augenscheins nicht abgewartet, sondern ist sofort im Wagen nach dem Beauvauplatz gefahren.«
»Die Hauptsache ist jetzt, Dummheiten der Presse zu verhüten. Falls wir mit dem Ausland ein Hühnchen zu pflücken bekämen – und über Trémonts Versuche wurden in ganz Europa Mutmaßungen aufgestellt – so ist es von höchster Wichtigkeit, daß keinerlei Warnungsruf hinausdringt, ehe wir die Urheber dieses verbrecherischen Versuchs in Händen haben.«
»Das war unser aller erster Gedanke, Excellenz, und wir haben daher sofort die nötigen Maßregeln getroffen. Die öffentliche Meinung muß unbedingt auf eine falsche Fährte gelenkt werden. Dafür erschien uns die Annahme einer zufälligen Katastrophe am geeignetsten, und wir beschlossen auf der Stelle, sämtliche Mitteilungen an die Presse in diesem Sinn zu halten. General von Trémont muß als eine Art von Sonderling hingestellt werden, der sich zu industriellen Zwecken mit chemischen Versuchen abgab und durch eigene Unvorsichtigkeit den Unglücksfall herbeiführte, der ihm das Leben kosten sollte.«
»Mein armer Trémont! Ein so ernsthafter, vornehmer Gelehrter! Aber freilich . . . die Rücksicht auf das Staatswohl geht jeder anderen vor. Sauer wird es mir aber, zur Verdächtigung eines so alten, braven Kameraden beizutragen.«
»Uebereilen Sie sich nicht mit Mitgefühl, Excellenz,« fiel ihm der Oberst lächelnd ins Wort. »Es stehen Ihnen noch Überraschungen bevor, die Ihre Trauer vielleicht abschwächen werden . . .«
»Was wollen Sie mir weismachen?« brauste der alte Soldat auf. »Sie werden einen Jugendfreund und Kriegskameraden wohl nicht bei mir anschwärzen wollen?«
»Gott behüte mich davor, Excellenz! Ich werde mich darauf beschränken, Sie über die Thatsachen zu unterrichten, deren Erforschung mir auferlegt wurde. Wenn ich Ihnen peinliche Eröffnungen zu machen habe, so denken Sie ja viel zu gerecht, um mich dafür verantwortlich zu machen . . .«
»Was haben diese Vorbereitungen zu bedeuten? Sprechen Sie frei heraus, Oberst, und sagen Sie mir alles!«
»Das ist ja meine Absicht, Excellenz. Der Sekretär des Polizeipräsidenten hatte es also eben übernommen, den vor Ungeduld vergehenden, ungebärdigen Berichterstattern, die nur durch den Truppenkordon von der Unglücksstätte ferngehalten wurden, die zwischen uns verabredete Lesart des Falles zu unterbreiten, und den Minister des Innern vorläufig zu benachrichtigen, daß unter Umständen von der Pariser Polizei Gebrauch gemacht werden müßte, als in der Richtung des Dorfes Lärm und Unruhe entstanden. Man hörte Geschrei, einzelne Rufe, und schon wollte der Offizier eine Wache abschicken, als sich ein Mann mit Gewalt zwischen den Soldaten durchdrängte und bloßen Kopfs, mit verzerrten Zügen auf uns zugestürzt kam.
»›Mein Herr! Ach mein Gott, mein guter General!‹ schrie er in wahrer Verzweiflung. ›Ja, was ist denn mit dem Haus geschehen? Kein Stein mehr auf dem anderen!‹ Jetzt stand er still, sank wie gebrochen auf einen Trümmerhaufen und fing bitterlich zu schluchzen an. Wir umstanden ihn schweigend, gerührt von seinem Jammer, bestürzt von seinen Worten, neuer wichtiger Enthüllungen gewärtig.
»›Wer sind Sie denn, guter Freund?‹ fragte der Staatsanwalt.
»Der Mann hob den Kopf und wischte die Augen. Wir sahen jetzt erst das biedere, verständige Gesicht.
»›Der Bursche des Generals Trémont, sein Diener seit zwanzig Jahren! Ach, wenn ich dagewesen wäre, hätte das Unglück vielleicht verhütet werden, oder ich hätte wenigstens mit meinem Herrn sterben können!‹«
»Aha, das war Baudoin!« rief der Minister. »Der wackere Bursche ist mit dem Leben davongekommen! Das trifft sich glücklich! Durch ihn werden wir am ehesten etwas erfahren!«
»Allerdings, nur daß Excellenz den Inhalt seiner Mitteilungen vielleicht anders gewünscht hätten!«
»Wieso? Wie wäre das möglich?«
»Urteilen Sie selbst! Am Tag vorher war der General gegen sechs Uhr abends nach einem im Laboratorium verbrachten Arbeitstag in seinem Garten spazieren gegangen, als der Telegraphenbote von Vanves eine Depesche brachte. Der General las sie, ging gesenkten Hauptes, wie in tiefem Nachdenken, eine Weile auf und ab, dann rief er Baudoin und sagte ihm: ›Du fährst sofort nach Paris! Ich habe dringende Bestellungen bei meinem Drogisten am Sorbonneplatz zu machen. Du übergibst ihm meinen Brief und gehst dann zu Herrn Baradier, um ihm meine Grüße zu bestellen . . . darauf kannst du zu Nacht essen, auch ins Theater gehen . . . ich gebe dir einen Franken zum Eintrittsgeld . . . morgen früh erst kannst du das Bestellte beim Drogisten abholen und kommst dann sofort damit nach Hause.‹
»Baudoin, der genau wußte, daß ihm keine Widerrede zukam, sagte sich, der General wolle ihn für zwölf Stunden aus dem Hause haben. Das verdroß den Mann, weil es sich, wie er sagt, nicht zum erstenmal und immer in gleicher Weise zutrug – ein Telegramm kommt, und er muß das Haus räumen! Die Köchin wurde nie in dieser Weise entfernt, ohne Zweifel, weil der General ihr weniger mißtraute und weil sie die Gewohnheit hatte, sehr zeitig ins Bett zu gehen, wodurch von ihrer Seite keine Ueberraschung zu fürchten war. Der General hatte demnach von Zeit zu Zeit das Bedürfnis, allein zu sein, und nahm sich die Mühe, sogar den treuen Diener zu entfernen, auf dessen Ergebenheit er doch unbedingt zählen durfte. Warum? Diese Frage beschäftigte und ärgerte den wackeren Burschen, der seine Verstimmung so wenig zu verhehlen wußte, daß der General noch hinzufügte: ›Was hast du denn? Es ist dir nicht genehm, daß ich dich nach Paris schicke und dir ein Vergnügen gönne?‹ – ›Am Vergnügen liegt mir viel weniger,‹ gab ihm Baudoin zur Antwort, ›als an meinem Dienst.‹ – ›Und zu deinem Dienst gehört, daß du meinen Befehl ausführst. Mit den gefährlichen Stoffen, die ich zu meiner Arbeit brauche, kann nicht jeder umgehen, auch möchte ich den Auftrag an meinen Freund Baradier mündlich bestellt haben . . . das genügt! Morgen früh brauche ich dich, heute abend nicht.‹ – ›Zu Befehl, Herr General.‹
»Das war ihre Unterredung, Baudoin konnte sich aber nicht dabei beruhigen, ihn wurmte die Geschichte sehr. So ging er denn noch in die Küche, um herauszubringen, ob während seiner letzten Abwesenheit nichts Besonderes im Haus vorgefallen sei, und die Köchin zu fragen, ob der General gespeist habe wie sonst, ob er nach Tisch in den Garten oder auf sein Arbeitszimmer und wann er zu Bett gegangen sei, kurz, ob sie nichts Auffälliges bemerkt habe.
»Die Person versicherte indes, gar nichts bemerkt zu haben, und war sehr verwundert über seine Fragen. Baudoin sah ein, daß sie meilenweit entfernt war von irgend welchem Argwohn und drang nicht weiter in sie, aber trotzdem ihm sonst der Wille seines Herrn Gesetz war, entschloß er sich, gerade aus Liebe zu ihm, sein Geheiß nicht buchstäblich zu befolgen. Er machte sich reisefertig, nahm die Aufträge und Briefe seines Herrn in Empfang, verabschiedete sich und ging auch wirklich zur Bahn, aber nur um in einer kleinen Kneipe in der Nähe des Bahnhofs zu Abend zu essen und nach Einbruch der Dämmerung zurückzukehren. In den Garten wagte er sich nicht, aus Furcht, von dem General entdeckt zu werden, aber er schlich sich in einen angrenzenden Gemüsegarten, dessen Besitzer sein Freund war, und verbarg sich in einer kleinen Hütte, die zur Aufbewahrung von Gartengeräten diente.
»Von dort aus konnte er den Zugang zur Villa vollständig überblicken und sich auch im Schutz einer dichten Hecke bis an den Garten des Generals schleichen. Er machte sich's«
Oberst Vallenot verstummte. Nur die Vögel, die in den großen Bäumen zwitscherten, unterbrachen die tiefe Stille, die im Zimmer herrschte. Den Kopf in die Hand gestützt, blieb der Minister längere Zeit in Nachdenken versunken.
»Die Umstände sind höchst befremdlich,« sagte er endlich mit einem Seufzer, »und ohne Zweifel ist hier des Rätsels Lösung zu suchen. Diese zwei Unbekannten, die nächtlicherweile heimlich zu Trémont kommen, wovon der Mann ein Ausländer ist, und deren Besuch diese furchtbare Explosion zur Folge hat – wie soll man sich das zusammenreimen? Verbrechen oder Zufall? Und wenn Verbrechen, was kann die Triebfeder sein?«
Er stand auf und trat ans Fenster, dann setzte er sich wieder an seinen vorigen Platz und sah den Oberst fragend an.
»Und nachdem Baudoin diese Aussage gemacht hatte, was erfolgte dann noch?«
»Man hatte weitere Mannschaft aus der Festung herbeschieden, Excellenz, und die Leute mußten unter Aufsicht der Polizei eine gründliche Untersuchung der Trümmer vornehmen. Sie blieb indes ganz ohne Ergebnis. Die Zerstörung war eine vollständige: mit Ausnahme jener Zwischenwand war auch kein Stein auf dem anderen, kein Gegenstand erhalten geblieben. Doch entdeckte man nach zweistündigem Durchwühlen der Schuttmassen, denen ein ausgesprochener Dunst von Knallsalzen entströmte, eine eiserne Truhe. Die Scharniere waren ausgehoben, und der Boden tausendfach durchlöchert, wie ein Sieb, gerade als ob man ihn mit einem Bohrer mühsam bearbeitet hätte.«
»Das ist eine Wirkung der Sprengung,« unterbrach der Minister den Berichterstatter. »Sie wissen ja, daß bei unseren Shrapnels auch derartige Brüche vorkommen. Jedenfalls ist die Erscheinung beachtenswert, denn möglicherweise ist die Explosion gerade vom Inneren dieser Truhe ausgegangen. Sie ist doch aufbewahrt worden?«
»Sie wurde dem Staatsanwalt übergeben.«
»Möglicherweise muß das Kriegsministerium sie zurückfordern, um Untersuchungen über die Natur des Sprengstoffs anstellen zu lassen. Aber fahren Sie nur fort! Was ist aus dem Wagen geworden, der vor dem Thore hielt?«
»Der Wagen muß vor Ausbruch der Explosion abgefahren sein, denn es hat sich nirgends eine Spur davon vorgefunden. Auf Nachfrage erhielt man von der Oktroistelle die Auskunft, daß ein zweispänniges Coupé gegen elf Uhr nach Paris zurückgekehrt ist. Der Angestellte, der die üblichen Förmlichkeiten zu erledigen hatte, erinnerte sich deutlich, daß auf seine Frage: ›Haben Sie Steuerbares?‹ eine Frauenstimme die Antwort gab: ›Nichts.‹ Die Wache vom Fort gibt an, daß die Explosion gegen drei Uhr morgens stattgefunden habe.«
»Demnach wäre also der Mann mit der ausländischen Betonung nach Abfahrt des Wagens zurückgeblieben?«
»Das ist außerordentlich wahrscheinlich.«
»Sie wissen es nicht gewiß?«
»Ich habe den Schluß der Aufnahme nicht abgewartet, um Ihnen rascher berichten zu können, was ich wußte, habe aber den Agenten dort gelassen mit dem Auftrag, ins Ministerium zu eilen, sobald die Sache zum Abschluß gebracht wäre.«
»Am Ende ist er schon hier? Klingeln Sie doch!«
Der Oberst drückte auf den Klingelknopf.
»Ist Laforêt gekommen?« fragte er den sofort erscheinenden Diener.
»Soeben kommt er an.«
»Führen Sie ihn her.«
Ein fester Tritt, eine mit Vorsicht zugeklinkte Thüre, ein lautes Räuspern, und der Agent stand in stramm militärischer Haltung vor seinen Vorgesetzten.
Der Minister sah sich das ehrliche, mannhafte Gesicht prüfend an und sagte dann in befehlendem Ton: »Der Herr Oberst hat mir berichtet, was vor seiner Abreise von Vanves festgestellt war, ergänzen Sie den Bericht . . . nehmen Sie doch Platz, Vallenot.«
»Excellenz, ich will ohne Umschweife die wichtigste Entdeckung voranschicken,« sagte Laforêt. »Die Leiche des Generals von Trémont ist gefunden worden.«
»Unter den Trümmern?« rief der Oberst.
»Nein, Herr Oberst, im Garten. Man hatte sich nur mit dem Haus und den Schuttmassen beschäftigt, solange Herr Oberst da waren. Später durchforschte man das Gebüsch im Garten und fand unmittelbar bei dem kleinen Gitterthor der Gartenmauer die Leiche des Generals.«
»Wie! Bis dorthin soll ihn die Sprengung geschleudert haben?«
»Der General ist nicht durch die Explosion getötet, nicht fortgeschleudert worden, er wurde durch einen Messerstich, der am linken Schlüsselbein eindrang, getötet. Als die Explosion stattfand, war er längst tot, und ohne Zweifel ist sein Mörder auch deren Urheber.«
»Der Mann mit der ausländischen Betonung?«
»Der Begleiter der Dame, die vom General ›Baronin‹ genannt wurde?«
Der Agent zuckte nicht mit der Wimper bei diesen hastigen Fragen. Nach kurzer Ueberlegung sagte er ruhig: »Ja, derselbe, der seinen Arm in den Trümmern zurückgelassen, der nur durch ein Wunder beim Aufbrechen der Truhe dem Tod entging, der Mann Namens Hans.«
»Ja, worauf begründen Sie denn die Annahme, daß er überhaupt dem Tod entgangen sei?« fragte der Minister.
»Darauf, daß ich seine Spur außerhalb des Gartens verfolgen konnte, auf der Landstraße, die er mit seinem Blut begoß. Der Mann muß eine unerhörte Willensstärke gehabt haben, um sich, verstümmelt wie er war, zu retten, ins offene Feld zu flüchten und vermutlich irgend einen Gemüsekarren aufzutreiben, der ihn in der Frühe nach Paris brachte . . . Doch das ist eine Untersuchung für sich, eine Fährte, der man nachspüren muß.«
»Ihrer Ueberzeugung nach ist es also der Begleiter der Dame, der den General getötet hat?«
»Ja, Excellenz, und zwar höchst wahrscheinlich in dem Augenblick, als der General die Dame zum Wagen führte. Zwei Schritt vom Thor ist die That ausgeführt worden. Der Weg ist zerstampft, wie wenn ein Kampf stattgefunden hätte, und die Leiche lag im Gebüsch. Man sieht deutlich, wie sie hineingeschleppt worden ist, die Beine haben Streifen im Sand gezogen . . . möglich, daß die Frau dabei geholfen hat. Jedenfalls ist sie davongefahren, nachdem der Mord begangen war, der Mann aber geblieben. Er hat den General seiner Schlüssel beraubt, die er immer bei sich trug, und die nirgends aufgefunden werden können. Auch Uhr und Brieftasche hat er ihm genommen, wohl um einen Raubmord vorzutäuschen, darauf ist er ins Haus gegangen und hat sich im Laboratorium ans Werk gemacht . . . nur ums Laboratorium war es ihm zu thun.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Aus Aeußerungen des Dieners Baudoin. Kürzlich sei der General aus dem Laboratorium heruntergekommen, als Baudoin gerade sein Zimmer in Ordnung brachte. Händereibend sei er hin und her gegangen und habe dabei halblaut vor sich hingebrummt: ›Dieses Mal halt ich's, das Glück! Wir wollen nur sehen, was Hans für Augen machen wird!‹ Der General hatte sich in der Woche vorher förmlich verbissen gehabt in einen Versuch, der zuerst fehlgeschlagen war, wovon er aber Großes erwartete . . . schon einigemal hatte er seinen Diener unter irgend einem Vorwand entfernt, jedenfalls um bei Nacht geheimnisvolle Besuche zu empfangen.«
»Gut, nehmen wir an, daß Ihre Voraussetzungen richtig sind,« sagte der Minister, von der lebhaften Darstellung gefangen genommen. »Aber welche Rolle schreiben Sie der Dame zu?«
»Die ist am leichtesten zu erklären, Excellenz, und dafür haben wir mehr Anzeichen und Beweise, als nötig wären,« versetzte der Agent. »Wir sind vollständig berechtigt, an ein Liebesabenteuer zu glauben. Des Herrn Generals Schwäche für die Frauen ist bekannt, und wir dürfen ohne weiteres annehmen, daß er dieser zum Opfer gefallen ist. Von den Arbeiten des Generals weiß ich nichts, über die Versuche, die er in seinem Laboratorium anstellte, bin ich nicht unterrichtet, aber die Zeitungen haben sich des öfteren damit beschäftigt. General von Trémont war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und hatte einen weitverbreiteten Ruf als Gelehrter.
»Setzen wir also voraus, daß Herr von Trémont eine Entdeckung gemacht habe, die für die Zukunft der europäischen Heere bedeutungsvoll gewesen wäre und daß irgend eine der Mächte sich darüber zu unterrichten, ja die Entdeckung an sich zu bringen gewünscht habe? Nun gut . . . daß die Frauen gerade in unserem Land schon oft wichtige Rollen als politische Unterhändler gespielt haben, wissen wir ja nur zu wohl! Der General war trotz seiner Jahre ein Mann galanter Abenteuer . . . man führt ihm also, scheinbar zufällig, eine junge, schöne, geistreiche Dame zu, und er verliebt sich. Allein die Dame wird überwacht, sie muß sehr vorsichtig sein, Rücksichten nehmen, ist nicht in der Lage, ihren Anbeter bei sich zu empfangen . . . folglich muß sie zum General kommen. Ein gefälliger Freund, ein Verwandter, vielleicht ein Bruder, leistet Hilfe, begleitet die Schöne, knüpft, um einen eifersüchtigen Ehemann zu täuschen, unterm Deckmantel wissenschaftlicher Interessen, Verkehr mit dem General an, und während der ältliche Liebhaber im siebenten Himmel schwebt, schnüffelt der gefällige Begleiter alles aus, stellt geschickte Fragen und erschleicht sich das Vertrauen des Mannes, dem er solchen Dienst leistet. Die Liebe schläfert die Furcht ein, ein süßes Lächeln läßt alle Vorsicht vergessen, und eines schönen Abends stellt sich das unbekannte Paar wieder bei dem General ein, der ohne Zweifel seiner großen Entdeckung sicher geworden ist. Die Frau sucht ihm das Geheimnis zu entlocken, es gelingt ihr aber nicht, der Mann entschließt sich zum Aeußersten, der General fällt. Die Mitschuldige entflieht, der Mörder bemächtigt sich der Schlüssel, durchsucht das Laboratorium, will die Truhe erbrechen, worin der geheimnisvolle Schatz geborgen ist, allein die furchtbare Sprengmasse, mit der er nicht umzugehen versteht, rächt ihren Schöpfer und vernichtet das Geheimnis ihrer Herstellung zugleich mit dem Räuber, der danach trachtet. Auf diese Weise können wir uns den Vorgang lückenlos zusammenreimen, Excellenz, aber ich verhehle mir gar nicht, daß dies eben nur eine Vermutung, eine Lesart ist – es mögen ihrer mehrere, wenn auch kaum wahrscheinlichere aufgestellt werden. Gewißheit haben wir vorläufig nur darüber, daß der General von Trémont ermordet wurde, und zwar durch eine der beiden Personen, die heute nacht in der Villa empfangen worden sind, und daß die Explosion, die später eintrat als der Mord, durch die Unvorsichtigkeit des Mannes Namens Hans entstand, sowie daß dieser dabei schwer verwundet wurde.«
Der Minister und Oberst Vallenot tauschten einen Blick aus, dann sagte die Excellenz: »Ich danke Ihnen, Laforêt. Beschäftigen Sie sich bis zu neuem Auftrag nicht mehr mit dem Fall, der jetzt in den Händen der bürgerlichen Justiz liegt. Wenn wir ergänzende Nachforschungen nötig haben, werde ich Sie damit betrauen. Vorläufig sind Sie entlassen. Hüten Sie sich wohl, auch nur ein Wort über die Angelegenheit zu verlieren.«
Laforêt verbeugte sich, grüßte militärisch und verließ das Zimmer in ebenso ruhiger Haltung, wie er eingetreten war. Die beiden Offiziere sahen sich schweigend an; jeder war auf seine Weise mit den Einzelheiten der Tragödie beschäftigt, deren thatsächliche Aufklärung die psychologische Erklärung wenig förderte. Die Schuldigen, der Mann wie die Frau, waren offenbar mit solcher Umsicht verfahren, daß auf ihre Entdeckung kaum zu rechnen war, nur der abgerissene Arm bot einen Anhaltspunkt. Der Verwundete konnte ja unmöglich weit gekommen sein, vielleicht daß er unterwegs erschöpft liegen geblieben war, vielleicht daß Nachfragen auf dem Gemüsemarkt, in den Hallen, auf seine Spur führen würden. Ohne Zweifel war die Polizei schon in voller Thätigkeit und hatte ihre feinsten Spürnasen in Bewegung gesetzt.
»Ein Teufelskerl, dieser Trémont!« warf der Minister hin. »Wissen Sie denn, daß er älter war als ich, Vallenot? Er hat als Brigadegeneral, noch ehe die Altersgrenze erreicht war, seinen Abschied genommen, um sich ungehemmter seinen wissenschaftlichen Untersuchungen widmen zu können, und zwar weil er Geld brauchte. Die Weiber – ach mein Bester, man ahnt gar nicht, welche Plage sie für den Offizier sind! Alle großen und kleinen Dummheiten, verpfuschten Carrieren und Selbstmorde vom Leutnant bis zum Feldmarschall haben die Weiber auf dem Gewissen!«
»Sehr richtig, Excellenz,« stimmte der Oberst bei. »Gerade auf diesen Punkt wollte ich kommen, als ich zu Anfang meines Berichtes die Bemerkung machte, daß wir uns nach Erwägung der festgestellen Thatsachen mit ihren inneren Beweggründen zu beschäftigen haben werden. Wir haben einen Mord, höchst wahrscheinlich einen Raubversuch und ein durch Sprengstoffe zerstörtes Haus, aber aus welchen Ursachen sind all diese verbrecherischen Handlungen hervorgegangen?«
»Da liegt der Hund begraben! Ich verstehe wohl, was Sie denken . . . Sie vermuten mehr als ein gewöhnliches Verbrechen, eine sehr heikle, sehr komplizierte, ja sehr gefährliche, weitverzweigte Geschichte . . .«
»Allerdings, Excellenz, schon weil wir in solchen Fällen die Hände nicht frei haben, durch Diplomatie und Politik im Vorgehen gegen die Schuldigen gehemmt sind, mitunter auch durch ganz unerwartete Teilhaberschaft an dem Verbrechen, eine Teilhaberschaft, die wir zu schonen, zu umgehen, und schließlich frei ausgehen zu lassen gezwungen sind. Darf ich Ihnen die Fälle aufzählen, Excellenz, worin wir im Lauf der letzten Jahre nichts ausrichten konnten?«
»Sie meinen Spionage und Verrat?«
»Ja, Excellenz.«
»Nicht nötig, ich weiß so ziemlich, was in Ihren Archiven aufgespeichert ist. Seit wann sind Sie im Kriegsministerium, Vallenot?«
»Seit zehn Jahren, Excellenz, freilich mit mehrfacher Unterbrechung durch Frontdienst. Ich wurde in verschiedenen Abteilungen verwendet und kenne jetzt so ziemlich alle. Ununterbrochen werden wir trotz aller Abwehr vom Ausland mit einer Vermessenheit, Waghalsigkeit und Beharrlichkeit ohnegleichen ausgeplündert, und immer waren es Frauen, die uns die schwersten Schädigungen zufügten. Sobald dieser Baudoin von der nächtlich erscheinenden Dame anfing, haben denn auch meine Gedanken eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen.«
»Excellenz, diese geheimnisvolle Unbekannte, die, Tod und Verderben hinterlassend, verschwunden ist, tritt nicht zum erstenmal in unseren Gesichtskreis, dafür möchte ich gutstehen! Ihr Verfahren ist immer dasselbe – sie wirft ihre Netze aus nach dem Mann, den sie im Besitz eines wichtigen Geheimnisses weiß oder glaubt, verführt ihn, treibt ihn zum Wahnsinn und zum Verrat. Hat sie ihm entlockt, was sie wissen wollte, so wirft sie ihn zur Seite wie ein lästig gewordenes Spielzeug. Ihren Erfolgen nach zu urteilen, muß sie eine mächtige Verderberin sein, der so leicht keiner widersteht. Sie weiß das Gift ihrer Liebe wohl abzuwägen und geschickt einzuträufeln, die edelsten Geister, die strengsten Gewissen, die tapfersten Seelen erliegen dem Zauber. Erinnern Sie sich des unglücklichen Cominges, der sich eines schönen Tages erschossen hat, ohne daß je bekannt geworden wäre, was ihn dazu trieb? Die Frau war aufgetaucht, Cominges war ihr Sklave geworden – ein Teil unserer Mobilisierungspläne war verraten. Cominges hat vor seinem Tod mit heiligem Eid versichert, die Pläne seien aus seinem Haus gestohlen worden, während er bei ihr gewesen sei. Er hatte das Unrecht begangen, diese Pläne mit sich in seine Wohnung zu nehmen, und das noch größere, davon zu sprechen . . . der arme Bursche hatte an seine Geliebte geglaubt! Er war ein Ehrenmann, ein braver Soldat gewesen – ein Pistolenschuß war das Ende vom Lied.«
»Und wie hieß die Dame?«
»Frau Ferranti. Sie hatte ihren Verkehr mit Cominges in tiefstes Geheimnis gehüllt, angeblich aus Rücksicht auf ihre Verwandten, trotzdem hatte einer unserer Agenten sie gekannt. Sechs Monate darauf starb er – es war ein Unglücksfall. Er fuhr eines Abends von Auteuil herein, und zwar saß er auf dem Verdeck des Wagens; später wurde im Tunnel seine Leiche aufgefunden, es hieß er müsse sich zu weit vorgebeugt haben und abgestürzt sein.
»Das Jahr darauf ließ sich der kleine Hauptmann Fontenailles, ein reizender Mensch, der uns allen ans Herz gewachsen war, durch eine Frau, die keiner von uns kannte, und die man daher die ›Lichtscheue‹ getauft hatte, sogar verlocken, den Schlüssel der Chiffreschrift herzugeben. Sobald es gethan war, erkannte er die Tragweite seines Vergehens und vertraute sich dem Regimentskommandeur an, der seine Unvorsichtigkeit durch rasche Abänderung der Zeichen wieder gut machte. Fontenailles nahm am Feldzug in Tonkin teil und fand einen ehrlichen Soldatentod.«
»Und das soll immer ein und dieselbe Frau gewesen sein?«
»Die Kameraden waren der Meinung, daß Cominges' Frau Ferranti und Fontenailles' ›Lichtscheue‹ die nämliche Person sei, gesehen hatte sie ja keiner. Auch in der Gibson, die in der Luftschiffergeschichte eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, glaubt man sie zu erkennen, und wie manche Fälle sind gar nicht oder höchst unvollständig bekannt geworden. Immer dieselbe Lichtscheue, mit demselben Verfahren: Verführung, Verrat, hinter ihr Zusammenbruch, Blut und Thränen.«
»Und seit wann übt denn die Dame dieses niedliche Handwerk aus?«
»Seit mindestens zehn Jahren, Excellenz, und in keiner ihrer Gestalten hat man sie je fassen können. Nach vollbrachter That taucht sie unter und ist verschwunden. Sie gleicht dem Aal, der sich in den Schlamm verkriecht, bis das Wasser wieder ruhig geworden ist, und weiß jede Verbindung abzuschneiden. Excellenz werden sehen, daß wir abermals im Dunkeln tappen. Eine Zeitlang wird man suchen und forschen, dann wird der Eifer nachlassen und schließlich kommt das Aktenfascikel zur Ruhe, höchstens daß die Verwundung des Mitschuldigen uns diesmal auf die Strümpfe helfen könnte. Wenn wir nur den geringsten Anhaltspunkt haben, so werde ich alles daran setzen, daß wir in diesem Fall unseren Zweck erreichen, schon um unsere armen Kameraden zu rächen.«
»Und die Wiederholung derartiger Unfälle zu vermeiden, denn Sie werden mir zugeben, Vallenot, daß es eine starke Zumutung ist, dem Ausland unsere wichtigsten Geheimnisse preiszugeben, als ob sie auf dem offenen Markt zu haben wären!«
»Wir sind zwar über die des Auslands auch recht wohl unterrichtet.« bemerkte Vallenot mit minder entrüsteter Miene. »Im ganzen heißt es auf diesem Gebiet: wie du mir, so ich dir, und so war es von jeher. Während sich Rußland im Jahre 1812 die Armeeliste des Kaisers zu verschaffen wußte, schickte Caulaincourt die Kupferplatten der russischen Karten an Napoleon . . . ich greife auf geschichtliche Thatsachen zurück, um nicht an die jüngste Vergangenheit zu rühren, aber bei Licht besehen, sind unsere wichtigen Geheimnisse eben keine solchen, und wenn unsere Aussichten im Kriegsfall nur auf Geheimhaltung der Mobilisierung beruhten . . .«
»Vor allen Dingen müßte man eben die Presse unterdrücken können,« brummte der Minister.
»Und das kann man eben nicht! In diesem Fall aber haben wir ein Reinigungswerk auszuführen, und da muß man alles aufbieten . . .«
»Vorläufig ist das Sache der bürgerlichen Gerichte.«
»Offiziell, ja, Excellenz, wir können aber in aller Stille auch unser Möglichstes thun . . .«
»Ach Vallenot! Die Moral von der Geschichte ist, daß die Offiziere zu viel Liebschaften haben!«
»Wenn Excellenz ein Mittel wissen, dagegen reglementsmäßig vorzugehen, soll's mich freuen,« sagte der Oberst lachend.
»Dieser alte Trémont! Mit sechzig Jahren! Allerdings hätte man ihm höchstens fünfzig zugetraut, so stramm und frisch und elastisch war er. Und in welcher Lage er wohl seine Tochter zurückläßt?«
»General Trémont war Witwer?«
»Längst, das ist ein mildernder Umstand für ihn! Aber er hat eine Tochter, noch in der Klosterschule, achtzehn Jahre alt, ohne Mitgift. Zum Glück ist ja Baradier da . . .«
»Vom Bankhaus Baradier & Graff?«
»Ja. Er hat den Krieg von 1870 mitgemacht, ein in der Wolle gefärbter Patriot, kann ich Ihnen sagen. Sein Sohn Marcel, ein prächtiger Junge, der Chemie studiert hat, pflegte viel mit Trémont zu arbeiten. Marcel befaßte sich zwar hauptsächlich mit Pflanzen und mineralischen Farbstoffen, weil sein Vater ausgedehnte Wollspinnereien besitzt, aber das Laboratorium des Generals stand ihm offen und er hatte sicher Einblick in dessen Arbeiten. Durch diesen jungen Mann würde man am ehesten etwas darüber erfahren können.«
»Diese Baradiers sind sehr reich?«
»Ungeheuer. Ein sicher gestelltes Vermögen, das durch die Bank und die Spinnerei fortwährend Zuwachs erhält. Graff, Baradiers Schwager, ist hauptsächlich an der Börse thätig, Baradier selbst mehr Fabrikant, beide arbeiten von früh bis spät, und die Millionen häufen sich trotz der Nebenbuhlerschaft des Hauses Lichtenbach, das der Bank am liebsten den Garaus machen würde.«
»Konkurrenzneid?«
»Mehr als das, persönlicher Haß, dessen Wurzeln weit zurückreichen und sorgfältig genährt werden. Man erzählt sich, Lichtenbach habe Graffs Schwester heiraten wollen und könne es nie verwinden, daß Graff sie ihm verweigert und Baradier gegeben habe, kurz zwischen den beiden Familien muß mancherlei vorgefallen sein, was sie unversöhnlich macht.«
»Aber ein Zusammenhang zwischen diesen Feindseligkeiten und der Ermordung des Generals Trémont ist nicht anzunehmen?«
»Unmöglich! Lichtenbach ist ein eifriger Katholik, der der orleanistischen Partei angehört, und verbrecherischer Handlungen unfähig. Was könnte ihm überdies an Trémonts Leben oder Tod liegen?«
»Könnten die Entdeckungen des Generals nicht von großem geschäftlichen Wert sein für das Haus Lichtenbach?«
»Ohne Zweifel! Aber wir wissen, daß Trémont in letzter Zeit hauptsächlich an der Herstellung von Sprengstoffen gearbeitet hat, deren verheerende Wirkung Sie ja leider gesehen haben . . . Allerdings könnte dieses Pulver ja auch in der Industrie Verwendung finden: bei Bergwerken, Erdarbeiten, Tunnelbohrungen würde es vielleicht das Dynamit ersetzt haben. Trémont wußte auch sehr wohl, daß es Reichtum bedeutete, aber nun ist ja die ganze Erfindung samt ihren zukünftigen Früchten in Rauch aufgegangen.«
»Vorausgesetzt, daß der junge Baradier nicht in das Geheimnis der Herstellung eingeweiht ist.«
»Alle Wetter! Das ist eine Idee!«
Es schlug drei Uhr. Der Minister stand auf und griff nach Hut, Stock und Handschuhen.
»Excellenz gehen aus?«
»Ja, ich möchte die ganze Sache mit Baradier besprechen. Frau Baradier nahm immer besonderen Anteil an Trémonts Tochter, und ich möchte dem jungen Mädchen meine Teilnahme persönlich aussprechen. Ihr Vater stand mir sehr nah; schon auf der Schulbank saßen wir beisammen und er war mein Kriegskamerad in Mexiko und bei Metz. Ein braver Soldat war er, der den Tod auf dem Schlachtfeld wohl verdient hätte! Aber das sind so Schicksalstücken und keiner kann sich seine Todesart herauslesen! Auf morgen, Vallenot! Falls Sie Neues erfahren, telephonieren Sie mir.«
Der Oberst begleitete seinen Vorgesetzten bis zur Haupttreppe und kehrte dann in seine eigene Amtsstube zurück.