Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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16.
Zwei Weihnachten.

1. Gestorben am vierundzwanzigsten Dezember.

Seither war alles anders gewesen. Der Finanzrat Bernhard Wehrenpfennig war ein hervorragender Beamter, ein Mann von Initiative im Amte und ein überaus pünktlicher und regierungsfähiger Hausherr. Er war ein vornehmer Mann, und seine Frau »immer noch eine vornehme Erscheinung«, beide ernst, sie sichtlich bemüht, alles zu seiner Zufriedenheit zu ordnen, und die etwas verscheuchten Kinder warm zu halten wie eine Suppe, die für einen zu spät kommenden Gast auf kleiner Flamme steht. Auf ihrem Gesichte lag, daß sie kein Glück hatte, ohne unglücklich zu sein; ihr Auge schwieg.

Und nun war er krank. Sein Bett stand im sogenannten »Schulzimmer«, dem Raume, wo seine Knaben arbeiteten, und hier hatte er einige Wochen höchst unzufrieden gelegen und das Haus in Atem gehalten. Auf einmal war er still geworden. Seine Frau besann sich 96 später genau auf den Tag, es war der siebente Dezember gewesen; von diesem Tage an war er nicht mehr der Alte. Wenn man sein Wesen zu bestimmen gehabt hätte, so wäre vor dem siebenten Dezember zu sagen gewesen: ein Mann, der alles sieht, der geborene Beobachter; mir entgeht nichts, hatte er ein langes Leben hindurch täglich gedacht, zuweilen, aber doch selten, hatte er das, was in seinem Blicke und in seiner Haltung immer ausgesprochen lag, auch scharf geäußert: ich sehe alles. Nun, am siebenten Dezember, hatte er sich wie immer das Rezept zeigen lassen, das sein Hausarzt kurz vor seinem Weggange unter freundlichem Bericht über das Neueste von Hof und Stadt so nebenbei und zwischen hinein geschrieben hatte.

Seit diesem siebenten Dezember war er nicht mehr der Alte. »Es entging ihm nichts.«

An eben diesem Tage, um dieselbe Zeit, da er sein Rezept las und – verstand, ging sein Schwager durch die Straßen der Stadt, die schon das kommende Weihnachtsfest verriet, und tat das, was er vom achtundzwanzigsten Dezember jedes abgelaufenen Jahres bis zum vierundzwanzigsten Dezember jedes neuen Jahres zu tun pflegte: er musterte die Läden und fand prächtige Sachen zum Schenken, etwa einen Tiger in Gummi, täuschend ähnlich für seinen Jüngsten, denselben Jüngsten, für den er eine Woche später ein Eimerchen mit Sandschaufel sehr angebracht finden mußte, und den er dann nach den herzerfreuenden Möglichkeiten, an denen er sich für seinen Knaben in buntem Wechsel 97 gelabt hatte, endlich am heiligen Abend mit etwas Wunderbarem zu beschenken gedachte, das irgendwo noch in einem Laden gespannt auf ihn harrte. Es konnte vorkommen, daß ihn im Februar oder im Juli ein Bekannter anredete: Sage, Ritz, warum hast du eben gelächelt und die Hände gerieben? Nicht wahr – Gehaltszulage? – oder gar . . . . ? Torheit, hatte der Angeredete erwidert und mit keiner Silbe verraten, daß er eben einen Kleiderstoff hatte ausliegen sehen, mit dem er seine Frau mit Hilfe der Kleidermacherin und einer sehr zusammengesetzten Verschwörung mit dieser und jener Bekannten überraschen wollte.

Ich kann nicht finden, daß Ritz ein hübscher Name ist. Trotzdem hieß er Ritz.

Sein Onkel, der Oberförster, hatte ihn zu der Zeit, in der der Knabe noch die Gewehre von der Wand nahm, um damit auf die Wasserflasche oder die Jubiläumstassen zu zielen, Jaköble Unnütz genannt.

Aber er hieß Ritz.

Trotzdem galten die Zettel und die Briefe mit der Aufschrift: an Herrn Richard Steinbach, die der Steuerbeamte oder der Briefträger ihm übergaben, für richtig bestellt. Aber eigentlich hieß er Ritz. Wer ihm von Jugend auf zugetan war, nannte ihn so. Auch der Briefträger wußte ganz genau, daß der freundliche Empfänger der Postsendungen nur so aus allgemeinen Anstandsrücksichten Richard genannt werde, daß aber Ritz das Wesen des Mannes genauer bezeichne. Nicht, daß er schmal, oder, wie seine Landsleute das so 98 bezeichnend nennen, leibarm gewesen wäre, sein Herz wohl ging in die Tiefe, aber sein äußerer Mensch neigte sich zu bedeutender Raumerfüllung. Er selbst hörte auf beides, auf Richard allerdings nur dann, wenn der Name aus offenbarer Unkenntnis gebraucht wurde, denn seit seinen Knabenjahren empfand er an sich einen leisen Tadel heraus, wenn das korrekte, hochdeutsche und kalte Richard angewendet wurde.

Sein Schwager nannte ihn Richard.

Wer sonst ihm befreundet war, nahm das alte liebe Kosewort. Seine älteste Tochter, »ein scharfsinniges Kind«, wie Herr Richard nur dann zu bemerken unterließ, wenn er ahnte, daß man ihn für einen etwas zärtlichen und schwachen Vater hielt, hatte in ihrem sechsten Lebensjahre einmal sehr entrüstet bemerkt, als ein Gast den Vater Richard genannt hatte: der weiß auch nicht, wie der Papa eigentlich heißt!

Seit dem siebenten Dezember beschäftigte sich der kranke Mann viel mit seinem Schwager. Er hatte eine Abneigung gegen ihn, die eigentlich so alt wie ihr beider Leben war. Sie standen im gleichen Alter. Er dachte sonst nicht gern an ihn, Richard war ihm irgendwie im Wege, aber ein sonderbarer Umstand hatte die Gestalt, das Wesen und das Leben des verschwägerten Mannes gerade ihm gegenüber an die Wand gezaubert, und er mußte hinsehen und dort etwas enträtseln und verstehen, ehe die Uhr zum letztenmale aushob, wer weiß wie bald. Zunächst war das, was da drüben stand, nichts als die Inschrift: »Wer nicht arbeitet, soll auch 99 nicht essen«, auf einem weißen Pappdeckelstreifen von der Länge und Breite eines Schülerlineals; sie hing über dem Tische des jüngsten Sohnes; die Schrift war sehr leserlich, denn der Herr Finanzrat hatte eine sehr feste Hand. Mit diesem Denkzettel und einigen begleitenden Nebenumständen, die mit Arnolds Mittagsbrot in näherem Zusammenhange standen, hatte der Vater das Herbstzeugnis seines Tertianers beantwortet.

Das war bis zum siebenten Dezember in der besten Ordnung gewesen; aber nachher war ihm etwas eingefallen, das er bis dahin unbemerkt gelassen hatte: Richards Ältester, auch Tertianer, war mit einem noch schlechteren Zeugnis nach Hause gekommen, aber anders als Arnold, und Richard hatte es anders angefangen als Bernhard – es war nicht zu leugnen, daß jener nicht bei dem Mittagbrote seines Erwin eingesetzt hatte.

Bernhard konnte nicht verhindern, daß ihm das Städtchen einfiel, in dem er, wie Richard, jung gewesen war, und in dem Regine und Lorle erst Zöpfe, dann ein Krönchen, dann die Myrte auf dem Krönchen getragen hatten, Regine für ihn, Lorle für Richard. Wenn man längs der Seitenwand des Hauses hinging, in dem die Schwestern gewohnt hatten, kam man damals auf einem ganz schmalen Pfade zwischen Scheuern und Gärtchen hindurch, hinaus auf Wiesen, in denen nach Richards Ansicht wunderschönes Wiesenschaumkraut zu einer Zeit und wunderschöne Orchideen zu einer andern Zeit wuchsen, nach Bernhards Ansicht aber war es verboten, in den Wiesen Blumen zu brechen. Der kranke 100 Mann fand, daß Richard damals eine merkwürdige Meinung vom Flurschützen gehabt hatte, die von der Voraussetzung ausging, daß Fuchs, so hieß der Gewaltige, selbst Freude an Blumen habe.

Am Rande dieses schönen Wiesenlandes war etwas Fatales, der Kranke wollte nicht hinsehen, aber er mußte. Das letzte Rezept des Hausarztes verlangte es. Dort stand ein Feldbrunnen, wie man deren in jener Gegend öfter sah, Brunnen, die man benutzte, um aus ihrem bis zum Rande gefüllten Troge entweder die Pflanzenländer zu begießen oder auch das durstige Zugtier sich in großen Zügen laben zu lassen. Jener Brunnentrog war ein langer, ausgehöhlter Baumstamm von hohem Alter, so schien es wenigstens den Knaben. Ritz hatte lange darauf bestanden, daß schon die Schweden anno 1632 ihre Pferde daraus getränkt hätten, bis Bernhard ihm aus einem alten Schulprogramm ihres Gymnasiums bewies, daß die Schweden nie nur in die Nähe des Städtchens gekommen wären.

Nun, am Fuße dieses Troges hatte Richard ein Mühlchen angebracht, ein armes, hübsches Ding von einem Rädchen, das sich mit Ruhe und entsprechenden Pausen so weit drehte, als es gelang, den Trog zum Überfließen zu bringen und einen Wasserfall über die Mühle herzuleiten. Bernhard sah einen schlanken, schmalgesichtigen Knaben einen großen, mächtigen Feldstein eilig aufheben und in das Wasser werfen und eine Welle damit erzeugen, die das Mühlchen zusammenriß und Richards Herzensfreude fortschwemmte. Der Kranke 101 sah es nicht gerne, er hätte die Züge des schlanken Knaben lieber nicht gekannt.

Ach, und eines rief das andere, und dann wollte keines mehr gehen, weder das Alte noch das Spätergekommene.

Ein Silvesterabend stand ihm namentlich stark im Wege.

Regine war längst Bernhard in kleinere Städte, dann in die Hauptstadt gefolgt, Richard war gleich von Anfang in die amtliche Laufbahn in der Hauptstadt eingetreten, und Lorle hatte sich liebevoll aus einer Registratorin in eine Rechnungsrätin verwandelt, da Richard gleichzeitig diese Verwandlung vornahm, und war dann auch eilig zur nächst höheren Stufe vorgeschritten, als Richard die Visitenkarte drucken ließ: R. St. Oberrechnungsrat an usw. Die beiden Familien hatten, seitdem sie das Leben zusammengeführt hatte, die Feste immer miteinander verlebt, gewöhnlich bei Richard, der mit seiner Einladung früher kam als Bernhard, vielleicht weil dieser, der so vieles verstand, doch nicht verstand Feste zu feiern, vielleicht aber auch nur, weil Richard acht Tage jünger war und die jüngeren haben es immer etwas eilig. Auch die Silvesterabende wurden immer gemeinsam verlebt und bei dieser Gelegenheit der Christbaum »abgebrannt«. Damals fing es eigentlich an, daß Bernhard seinen Schwager nicht mehr von oben herab ansah, sondern ihn mit innerer Gereiztheit betrachtete.

Wenn sie in den Gymnasiastenjahren und auch später 102 noch gesagt hatten, Richard habe vierblättrige Kleeblattaugen, so hatte Bernhard das mit ironischem Lächeln abgetan. Allerdings fand Richard merkwürdigerweise allen diesen Glücksklee, den Bernhard je zu Gesicht bekam; auch nahm Ritz niemand etwas übel, man hatte gern mit ihm zu tun, Leute lächelten ihm zu, die Bernhard nicht vorgestellt waren; aber dieser dachte damals, daß Richard schwerlich im Leben vorwärts kommen werde; und bei dieser Vorstellungsreihe fühlte er, daß er selbst gut sitzende Stiefel trage. Das war so gegangen bis zu jenem Silvesterabend. Gesprochen hatte nie jemand etwas zu Bernhard, das ihn hätte stören können, er hatte die Menschen fest am Zügel; aber an diesem Abend war doch etwas vorgekommen, das besser in der Erinnerungswelt des Kranken, so meinte er auch noch einige Tage nach dem siebenten Dezember, fehlte, weil es schlimmer als gesprochen war.

Jener Abend war gekommen und verflossen wie immer, die Gesichter hatten sich angelächelt, die Glückwünsche waren hinüber und herüber gegangen, die Gläser hatten aneinander geklungen. Nach Mitternacht, also schon im neuen Jahre, ward der Christbaum zum letztenmale in sein lichtes Kleid gehüllt, die Lampe war hinausgetragen worden, und nun saßen die Freunde in der wachsenden Dämmerung, denn eine der schon stark verminderten Kerzen nach der anderen erlosch, man ließ die Flamme in den metallnen Befestigungshülsen verglimmen, endlich löschte die letzte Kerze so langsam hin; im dunkeln Zimmer verlor sich der auf- und 103 abkämpfende feierliche Schein, und nun war es seltsam und wie ein Märchen ward es empfunden, als ein hohes Kelchglas, das auf einem Schränkchen zur Seite stand, diesen letzten Schimmer widerspiegelte und, indem die stumme und geweihte Aufmerksamkeit sich auf den Kelch richtete, das Glas mitten in der Nacht dieses Raumes bald in Grün, bald in Purpur funkelte, wie ein geheimnisvoller Metallschimmer aus jenen Bergtiefen, von denen die Sage erzählt.

Alle außer Bernhard waren von dieser Erscheinung ergriffen worden. Ihm war nur das Schweigen befremdlich gewesen, und er fragte: Warum seid ihr denn alle so still geworden? Da sah er bei dem hellen Aufflackern der Kerze, in dem sie erlosch, wie ein nicht zu beschreibendes, ganz flüchtiges Lächeln über das Gesicht seines Jugendfreundes glitt, ein Lächeln, das er im ersten Augenblicke vor Gericht hätte stellen mögen. Vielleicht, daß Richards Lächeln das Erwachen aus einer Seligkeit war, in die der Abend und sein schönes Verklingen ihn versetzt hatte, Bernhard aber sah die Verurteilung seines Wesens darin: dir fehlen Augen für das Unsichtbare und Flügel für die sehnsuchtsreiche Weite, du bist niemals jung gewesen, so meinte er in jenem Lächeln lesen zu sollen, und nach dem siebenten Dezember las er es darin und fand, daß die Anklage wahr sei.

Er sah um sich und fand, daß auch niemand von den Seinigen jung war; er erkannte, wie alle Tage seither gewesen waren: Regine war recht und gewissenhaft 104 und sah auf ihn, die Kinder lebten so für sich hin, wie der Tag es brachte, bemüht, es zu keinem Zusammenstoß mit dem Vater zu bringen; auch den Zimmern fehlte die Jugend, im Schulzimmer waren keine weißen Vorhänge, die Fenster waren kahl, Bernhard hatte hier den Schmuck für überflüssig erklärt.

Aber es eilt, wenn hier herein noch das Sonnenlicht fallen soll. Auf die unerwartete und kurze Frage Bernhards: Werden die Kräfte noch bis Silvester halten? hatte der Arzt erstaunt zuerst, dann ernst ihn angesehen und Ja gesagt, nicht mehr und nicht minder.

Das war Mitte Dezember geschehen.

Der Vater ist heute stiller als sonst, sagte Regine zu ihrer Tochter Marianne, die beide furchtsam, still und treu um den Kranken bemüht waren. Ach, er suchte das erste Wort, er wußte selbst nicht welches, er wollte die erste Weihnacht seines Lebens feiern und auch den Seinen, den ahnungslosen, die nicht merken sollten, wie es stand, die erste Weihnacht bereiten.

Als Marianne einen Tag später an seinem Bette saß, ruhte der Blick des Vaters anders auf ihr als sonst. Sie war aus der Art geschlagen; in einer Familie, in der alle dunkel waren, war sie lichtblond, ein frisches, zartes Kind von fünfzehn Jahren. Mein Kind – sagte der Kranke und schwieg. Sie zitterte, denn das war etwas Neues. Dann fuhr er fort: Wo versteckst du denn deine Weihnachtsarbeiten, die niemand im Hause sehen soll? – Vater, wir arbeiten ja nichts! Ja, so war es, Bernhard hatte dem Zeit- und Augenverderb seit Jahren 105 dadurch ein entschiedenes Ende gemacht, daß alle Christgeschenke gekauft wurden. Schüchtern sagte der Kranke: Willst du nicht für die Mutter etwas arbeiten, wenn du bei mir bist? Wenn sie kommt, steckst du es rasch unter die Decke. – O, wie gern, sagte Marianne und ihre Wange glühte. O, wie gern, wiederholte Bernhard still in sich und sah über die blonden Zöpfe seines Kindes hin, und seine Seele schluchzte, daß er das alles nun verlassen müsse!

Sein Schwager kam, und Bernhard sah dem Gefährten so vieler Jahre in das Gesicht und hätte gerne etwas gesagt, aber vier Jahrzehnte standen neben dem kranken Manne und sagten: Es hat noch Zeit und ist vielleicht auch gar nicht nötig. Und doch war es nötig und ward gesagt, ehe der Zeiger an der Uhr um Sekunden vorgerückt war und ohne daß der Kranke es wußte. Er sagte nur: Ritz höre einmal. – Und Richard neigte sich zu dem Kranken, das Herz voll Glück über diese Anrede und voll Liebe zu dem armen Kranken. Höre, Ritz, besorge mir doch Edeltannenzweige und zeige Arnold, wie er sie um die Bilder hier befestigen kann und – nimm die Inschrift über dem Schreibtische weg.

Der neue Tag kommt, und Edelreis umsteckt den Spiegel und die Bilder und duftet stark und für den Kranken beruhigend.

Und ein neuer Tag kommt, und als der Kranke aufwacht, steht ein bunter Strauß von Astern auf dem Tischchen neben dem Bette, und Regine nimmt sich das Herz und blickt in der Richtung nach Marianne dem 106 Erkrankten zu, und dieser ergreift die Hand des Kindes und sagt: Auf so einen Gedanken kann nur meine Marianne kommen! und die Tochter beugt sich verlegen und anmutig, halb Kind und halb Samariterin über ihn und küßt ihn.

Bleibe stark, mein Bernhard, du mußt ein Weihnachtsfest bereiten!

Und er sorgt dafür! Die Söhne Friedrich und Arnold haben Wunschzettel geschrieben, zum erstenmale rechte Knabenwunschzettel, nicht lateinische Wörterbücher, Logarithmentafel und Socken, sondern ein Schmetterlingsbuch, Indianergeschichten und eine Armbrust, wie sie die Ritter gehabt haben. Siehst du, mein kranker Mann, so sieht es in der Seele deiner Knaben aus. Und verstehst du, warum Friedrich doch innerlich etwas unruhig den Wunschzettel in deine Hand legt?

Sieh, das war recht von dir, daß du die Kinder alle zu dir riefest, als du das Zögern deines Ältesten merktest und mit ihm flüstertest, obgleich Regine, ernst und doch rühriger als sonst, fern vom Krankenzimmer in der Küche hantierte, und liebe, schöne Gaben für die Mutter vorschlagen ließest und dann die Kinder fortschicktest, daß sie in den Läden kauften und es heimlich brächten und es in der Söhne Bücherschränkchen hinter den Büchern versteckten.

So gehen die Tage, und an sie reihen sich Nächte, in denen ein Kind tröstend auf dem Bettrande sitzt, dessen sich Bernhard erst nicht entsinnen wollte, und doch hatte er als kleiner Knabe auf dem Schoße der Mutter es 107 in einer großen Lithographie wie oft angeschaut, ein schönes Kind, das derselbe Maler dann in andern Bildern, die Bernhard später kennen gelernt, aber nie geschätzt hatte, bis zum Stadttor führte, vor dem es unter der Kreuzeslast zusammenbrach. Das Kind nahm die Hand des Kranken und sagte Worte zu ihm, wie sonst nur einen seine Mutter tröstet.

Kannst du nicht mehr davon Kunde geben und die blasse, ernste Frau, die dich immer ehrte und dich gerne geliebt hätte, wie die Beglückten lieben, damit in tiefster Seele froh machen? Kannst du nicht von jenem Kinde reden? Nicht? – oder noch nicht?

Es soll unter dem Weihnachtsbaum geschehen, so denkst du.

Und der heilige Abend kam, nachdem durch dies sonst unfrohe Haus die Weihnacht leise und wärmend, heimlich und tröstlich in alle Ecken und Räume gegangen war. Eine hohe Edeltanne war in das Gemach gestellt und nur mit weißen Flöckchen und weißen Kerzen geschmückt worden, die Arbeit von den Kindern mit Eifer ausgeführt und von den müden, aber liebevollen Blicken des Vaters begleitet. Dann zündete Regine die Kerzen an, ach, schweren Sinnes, wenn auch das Herz in neuer Art bewegt, und die Bescherung begann und schritt voran, eine Jugendfreude und ein Erlebnis, das Bernhard in Tiefen der Seele erlebte, die in dem harten Gestein sich so spät erst eröffnet hatten.

Noch brannten die Kerzen, da rief der Kranke die Seinigen zu sich, sie wollten alle danken, weil nun die 108 wahre Weihnacht, wie sie sonst nur sehnsuchtsvoll sie in weiter Ferne an sich hatten vorüberziehen sehen, ihnen bereitet worden war, aber der Kranke winkte zum Schweigen und bat, sie möchten einander alle an der Hand fassen und nahe zu ihm treten, seine Rechte gab er Regine, seine Linke ergriff die Hand der Tochter, dann zog er die Frau seiner Jugend zu sich herab und sagte leise: Regine, du hast wenig Glück gefunden, verzeihe mir – ihre Antwort vernahm er nicht mehr. Sein Herz stand still.

Als Richard mit den Seinen kam, um den Freunden in dieser Stunde die alte Liebe zu bezeugen, da fand er einen stillen Mann.

* * *

Unter dem Kopfkissen des Toten lag ein Zettel, mit schwerer Schrift kaum leserlich beschrieben: Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen. Regine aber schrieb darunter: Ich ward in einer Stunde Geliebte, Braut, Frau und Witwe, Du machtest mich arm und reich – so erhörtest Du die Gebete Deines Kindes.

2. Der Koffer.

Was werden Sie Ihrem Manne zum ersten Weihnachtsfeste schenken, das Sie miteinander verleben? – Was wirst du deinem Manne zum ersten Weihnachtsfeste schenken? – Was werde ich Gerhard wohl schenken? Das waren die Fragen, die die Welt, die Freunde an 109 Klara und Klara an sich selbst richteten, so etwa im November, ja auch noch anfangs und Mitte Dezember. Alle Fragestellerinnen legten dabei etwas in die Frage hinein, das sie umgab wie ein Trauerschleier, oder das sie umrankte wie Ranken mit seinen Widerhäkchen, oder das wie Streuzucker mild über die Worte hingestreut wurde, je nachdem der Fragende der jungen Frau die Lage der Dinge andeuten wollte.

Klara, du richtest ja gar nichts für deinen Mann! sagte dann ihre Mutter am 20. Dezember mit ermahnendem Nachdruck, das geht doch nicht! Er mag so prosaisch sein, wie er will, du mußt ihm etwas von deiner Hand unter den Christbaum legen! – Weihnachten darf man nicht neugierig sein, erwiderte die junge Frau. – Nun, das wird etwas Gutes geben, dachte die Frau Oberbetriebsinspektor und sah die geniale Tochter seufzend an; hat sie ihm etwas gedichtet, ja oder vielleicht komponiert oder gemalt, und wie wird sich der stille Schwiegersohn dabei ausnehmen? Wir hätten ihm doch das Kind nicht geben sollen. – Die gute Mutter sah über die Brille still und betrübt nach der Tochter hinüber, sah sich in dem Zimmer um, ließ den Blick in das anstoßende, offene Empfangszimmer gleiten und dachte dann: Nun, sie hat es ja gut, aber die Frau ist so bedeutend und der Mann wohl gut, auch gut situiert, aber so langweilig!

So langweilig! – sagte sie endlich halblaut und fuhr erschrocken zusammen, als Klara ihre Arbeit sinken ließ und verwundert fragte: Was ist langweilig? 110 Langweilst du dich bei mir? – Ach nein, alte Leute reden manchmal so vor sich hin, und es ist dann gar nicht artig von den Kindern, sie zu fragen, was sie gedacht haben! sagte die Mutter mit schlecht verdeckter Verlegenheit.

Aber Klara bestand nicht weiter auf ihrer Frage, sie nahm die Arbeit wieder auf, und um die beiden Frauen breitete sich dieselbe Stille wieder aus, die vorhin den neuen Winterhut der Frau Oberbetriebsinspektor ermahnt hatte, die Aufmerksamkeit des freundlichen alten Gastes nicht auf sich zu lenken, damit er nicht zu früh aufbreche, und die die Schritte draußen auf dem Schnee der Straße noch lautloser gemacht hatte, als sie es schon aus freien Stücken gewesen waren, und die das Ofenfeuer an seinen lautesten Spitzen und Zungen gefaßt und niedergedrückt und ihm zugeraunt hatte: nur hübsch wärmen, fein wärmen, still wärmen, aber nicht knistern, nicht prasseln, nicht sich mit der Ofentür schelten und an ihr drücken und stoßen, damit die sonst so laute und bewegliche Frau Klara denken kann, nachdenken, versteht ihr?! – – Ein Gedicht? tickt die Uhr und bewegt den Perpendikel mit einem Eifer, als hinge Zeit und Ewigkeit an der schnellen Antwort. – Ich glaube nicht, sagt die Stille flüsternd, diesmal nicht – aber ein Koffer!

* * *

Mit dem Koffer hatte es seine Richtigkeit, und zwar seit Montag, dem 15. Dezember. Es war ein Reisekoffer 111 mittlerer Größe, nicht neu, ja an den Ecken leider etwas verstoßen, und über und über durch den Eifer der Portiers und Hoteldiener mit den Anpreisungen des Österreichischen Hofes in Bregenz, des Hotels Albula in Tiefenkasten, des Wilden Mannes in Silvaplana und anderer Gasthöfe beklebt, in denen das junge Paar vor einen. halben Jahre gewohnt hatte. Klara hatte sich den Koffer aus der Dachkammer herunterholen lassen, hatte mit neuem Anteil die Hotelbilder und Namen angesehen, offenbar mit wärmerer Erinnerung das Zeichen der Pension Beauregard in Lugano betrachtet und war dann im Zwielichte zu einer Bekannten geschlüpft, die nur acht Häuser von ihr entfernt wohnte.

Hast du meine Verlobungsanzeige aufgehoben? hatte sie nach den einladenden Begrüßungsworten sofort, aber nicht ohne Verlegenheit gefragt. – Ja, gewiß! – Und nun war ein schönes Kästchen aufgeschlossen und ein Bündel »Erinnerungen« aufgeschnürt worden, und da lag die Karte. Doch hatte sie die Freundin mit einem Male nur zögernd dargereicht: hinter dem Namen des Verlobten, Gerhard Autenrieth, Amtsrichter, stand ein Ausrufungszeichen, offenbar mit einem Faberschen Schreibblei Numero eins im äußersten Erstaunen nachdrücklich hingeworfen. Weißt du, erläuterte die Freundin, es kam so überraschend! Die Mutter hatte die Post in Empfang genommen, sie kommt rasch in das Zimmer und ruft schon in der Türe: Rate, wer hat sich verlobt?! – Ich sage sofort: Klara! – Und mit wem?!! – Doch nicht mit dem Hofkapellmeister?! – Nein! – 112 Ach, sicher mit dem Bildhauer Zumbusch! – Nein! – Am Ende gar mit dem Dichter Jessen!!? ^ Nein, du rätst es nicht! Mit dem Amtsrichter Autenrieth!! – Nun Klara, es war doch merkwürdig, du, unsere sprühende Klara, und dieser stille Herr! – Klara lächelt, küßt die Freundin und fragt: Hast du auch noch die Einladung zur Hochzeit – ja – und die Tischkarte? – Herrlich, es ist alles da, was sie begehrt hatte. Ehe aber die Freundin fragen konnte, warum Klara alle diese Dinge in einem fremden Hause holen müsse, war Klara nach rascher Umarmung zur Türe draußen, und die Haustüre läutete schon, ehe die Stubentüre kaum wieder geschlossen war.

Dann war Klara in einen fernen Stadtteil gegangen. Hinter einem Vorgarten mit noch jungen Linden lag hier ein kleines Haus, vor zweihundert Jahren die Winterwohnung der Herren von und zu Bubenheim und Spechteshart, vor hundert Jahren im Besitze eines frommen Sonderlings, den seine Perücke, seine Bücher, seine Armen und sein Testament, durch das er sein Haus an die Pfarrgemeinde zu Sankt Theodor schenkte, einst stadtbekannt gemacht hatten; heute war es das Pfarrhaus zu Sankt Theodor, ein warmes, heimliches, einladendes, tröstendes Pfarrhaus, ein Pfarrhaus mit Kinderköpfen unter dem Eßtische, mit Kinderköpfen an dem großen Fenster mit den Hyazinthen und mit Kinderköpfen in der Studierstube, die dort über Atlanten, Bilderbücher und Raritäten gebückt waren. Klara ging bis an den Schellenzug und streckte die Hand nach ihm 113 aus, dann ging sie zögernd ein paar Schritte weiter, dann stand sie abermals vor dem Glockengriffe, und endlich ging sie rasch weiter.

Am Dienstag, den 16. Dezember hatte sie sich ein Herz gefaßt und hatte geläutet und den Kinderköpfen, die am Fenster erschienen, zugenickt und den Kopf, der sie an der Treppe erwartete, geküßt und dem, der die Stubentür öffnete, eine weiche, winterliche Patschhand gegeben und dann von dem Herrn Pfarrer sich den Text ihrer Traurede ausgebeten. Der Herr Pfarrer hatte »gern« gesagt, so ein Gern, wie es auf den hellen Gesichtern seiner Kinder lag, denn dort flog es alle Tage um den Mund und die lachenden Augen: gern, gern, herzlich gern! Aber was er dachte, sagte er der jungen Frau nicht, aber er dachte etwas und irrte sich auch in seinen Gedanken nicht.

Am Mittwoch stand der Koffer da und brüstete sich, diesmal nicht, weil gerade unter dem Schlüsselloche breit und stolz: Hotel Reichmann, Mailand, stand, nein, es war ihm der Gedanke mächtig zu seinem gewölbten Deckel gestiegen, daß er ein Geheimnis barg – und daß er allein wußte, warum es im Hause roch. Denn im Hause roch es, es war nicht zu leugnen: um fünf Uhr abends, als der Briefträger Schmidt die Post brachte, sagte er: Frau Amtsrichter, es brenzelt, – und um halb sechs Uhr sagte Ursula, das Zimmermädchen: Gnädige Frau, es riecht so sonderbar, und Christine, die Köchin, bemerkte um sechs Uhr: irgend etwas riecht im Hause, so als wäre Papier angegangen, aber ich 114 finde nichts, nichts im Bratöfchen, nichts unter dem Herde. Der Koffer allein und Frau Klara konnten nicht finden, daß es nach etwas Verbranntem rieche.

* * *

Aber Verbündete haben doch manchmal noch Geheimnisse vor einander, und so wußte auch der Koffer nicht, was am Sonntag vorgegangen war, drei Tage, ehe er begriffen hatte, daß etwas vorgehe, bei dem er selbst offenbar die Hauptperson war.

Sonntag, den 14. Dezember, nachmittags, fiel der Schnee weich und fröhlich herab auf Kinder und junge Leute ohne Schirme und auf gesetzte Menschen mit Schirmen, Klara sah es von ihrem Fenster und Gerhard von dem seinen; zwischen beiden stand das Nähtischchen der jungen Frau, auf ihm eine schöne, gelbe Aster mit breiten, vielzerschnittenen, ernsten Blüten, und beide sahen vom Schnee zurück auf die geheimnisvolle, edle Blume und von ihr hinaus auf gesetzte und ungesetzte Leute, – dann ging die Haustüre, Christine und Ursula durften zusammen ausgehen, Läden anzusehen und ihr Geldbeutelein zu prüfen und wieder Läden anzusehen und wieder einen stummen Kassensturz vorzunehmen. Auf dem Tische standen zwei Tassen, und eine Wiener Kaffeemaschine war zum Anzünden bereit und sah ungeduldig nach den Zeigern der Uhr, ob sie nicht bald aus dem vornehmen rechten Winkel, in dem sie sich um drei Uhr gefallen hatten, zu dem energischeren spitzen halb-vier-Winkel sich verengern wollten, der 115 den Spiritus ärgerte, daß es in ihm kochte, und daß er seinen Ärger an dem Wasser über ihm ausließ und ihm den Kopf heiß machte. Gerhard schwieg; er zögerte oft, der schönen, klugen, ideenreichen und von ihm bewunderten und geliebten Frau gegenüber zu reden, er meinte, ihr nichts geben zu können, und hatte auch erfahren, daß das, was er etwa hatte, ihr nicht entsprechen wollte.

Gerhard, was denkst du? fragte auf einmal Klara. – Ich denke, daß es weihnachtet. – Waren es freundliche Gedanken? fragte sie zurück, denn der Ton seiner Antwort war ihr aufgefallen. – Ja, freundliche Gedanken, ich dachte an frühere Weihnachten und an das, vor dem wir stehen, vor allem an Weihnachten im Elternhause! – Klara sah, daß er nun schweigen würde, aber sie wollte mehr wissen, sie fühlte, daß er auf andere Christfeste zurücksehe, als sie im gesellschaftlich unruhigen Elternhause sie erlebt hatte. Erzähle mir, bat sie, und Gerhard überwand die Scheu, die ihn so oft zurückhielt, von seinem eigenen Leben zu reden, und begann erst stockend, wie sie seine Mitteilungsweise kannte, dann aber eifrig und fast zärtlich zu erzählen und einen Vorhang damit vor der Seele zu entfernen.

Ich dachte vorhin an all das liebe Treiben vor Weihnachten, wie wir es zu Hause hatten. Weihnachten fing bei uns mit den Auslagen der kleinen Läden an, ehe wir Kinder uns noch so recht überlegt hatten, daß diese Zeit der Wunder nahe – die Gärtnereien in Bleifigürchen und die Tierzüge der Archen mit den 116 armseligen Holzpuppen der Noahkinder drehten uns das Herz vor Sehnsucht nach dem Besitze dieser Herrlichkeiten um, – dann tauchten in uns Erinnerungen an die seitherigen Weihnachtsfeste auf, und die Möglichkeiten, daß wieder gehäufte Teller mit großen Äpfeln und Nüssen und Honigkuchen für uns gefüllt würden, wurden mit bangen Zweifeln erwogen, – dann kam die Frage, ob Bruder Rudolf auch diesmal in dem großen gelben Postwagen angefahren komme und seinen jüngsten Bruder, sein »Schimmelchen«, wie er mich nannte, auf der Schulter wie ehedem in das Weihnachtszimmer trage, – dann wurden Weihnachtsgeschenke vom vergangenen Jahr, über Sommer vergessen und von der Mutter aufgehoben, ihr in dringliche Erinnerung gebracht und kamen zu neuen Ehren. An den Adventssonntagen brannten nach Anbruch der Dämmerung drei Wachskerzen um das liebe Weihnachtsbild von Ludwig Richter, sonst war kein Licht im Zimmer, die Mutter stimmte ein Weihnachtslied nach dem andern an, der Vater spielte die Melodie dazu, und wir sangen mit und vergaßen, daß wir eigentlich sehr ungern vom Eise nach Hause gegangen waren – o, diese Adventsstunden in dem matterhellten Wohnzimmer, die ahnungsvolle Stille in unsern jungen Seelen, das war das Größte in unserer Kinderzeit – – –

Klara unterbrach hier. Sie hatte seither Gerhard unverwandt angesehen, und nun brannte ihr eine Frage auf der Seele. Glaubst du noch an Christus, wie damals? – Ich bete zu ihm, ich spreche mit ihm, ich 117 erhoffe Hilfe von ihm, und ich danke ihm. Ja, dann glaubst du an ihn, sagte Klara, und sie spürte, daß ein Schweigen neben ihr gewaltet hatte, das auf Kraft ruhte, und es sehnte sich etwas mächtiger in ihr, das schon als ein Unbehagen, als eine Unruhe inmitten des Tumultes ihres Mädchenlebens sich geregt hatte, eine Sehnsucht nach Stille voll Kraft. Über dieser Unterbrechung und den Gedanken, die sie in Klara angeregt hatte, waren ihr die Universitätsjahre ihres Mannes eingefallen. – Hier hast du als Student dann andere Weihnachten gehabt?

Gerhards Wangen hatten sich leicht gerötet, gute Erinnerungen wallten in ihm fröhlich empor, und er antwortete voll Eifer: Hier habe ich nur einmal als Student den Weihnachtsabend verlebt – ganz allein, traurig, weil ich keine Eltern mehr hatte, aber doch war es eine herrliche Stunde. Du weißt, daß ich wenig Verkehr hatte, am Weihnachtsabend konnte ich ohne alle künstlichen Vorkehrungen völlig ungestört sein, ich hatte mir am Mittag drei von jenen starken, buntbemalten Wachskerzen gekauft, die wir als Kinder Lebenslichter nannten, und als die Stunde kam, in der wir zu Hause bescherten, um sechs Uhr, begann auch meine heilige Stunde: die Kerzen standen brennend auf dem weißgedeckten Tische, drei gelbe Asterblüten, wie diese hier, standen in dem schönen hohen Blumenglase davor, Bilder Anselm Feuerbachs, des Malers, der von der Verbannung Iphigeniens, der von Gott gekommenen und aus dem Vergänglichen nach Gott heimverlangenden 118 Seele mehr gewußt hat als alle seine malenden Zeitgenossen, lagen schön geordnet vor mir, seine »Erinnerung an Tivoli«, in der die herrlichen Kinder von der ernsten Weihnacht des Glaubens, der Sehnsucht und der Lebensverklärung singen, hatte ich an das Asternglas gelehnt; die Briefe meiner Eltern, alte Weihnachtsgeschenke und Erinnerungen hatte ich ausgebreitet. Dann las ich im Evangelium die Geschichte des heiligen Tages und fühlte die Eltern, alle Menschen, die ich lieb hatte, und alle Propheten des heiligen Ernstes unsichtbar mit mir vereint, ich las die Briefe und nahm die alten Gaben in die Hand und dachte der Geber und der Stunde, wo ich jene empfing, und liebkoste die Geschenke und erhielt sie wieder, neu und liebreich.

Klara unterbrach ihn mit flammenden Wangen: Hast du die Kerzen noch? – Ja, ich hebe ja, wie du weißt, nur zu viel Vergangenheit auf. – O nein, du nicht! Hole sie, sieh, es ist Dämmerung geworden, wir haben den gedeckten Tisch vergessen und haben ihn nicht nötig; wir sind köstlich allein, hole die Kerzen und die Briefe deiner Eltern und die Bilder Feuerbachs. O, hole sie!

Gerhard ging, er sah, eine neue Weihnacht brach an.

Im Wohnzimmer zog Advent durch alle Ecken und Winkel und lag auf den Bildern, auf der Uhr und auf dem vergessenen Kaffeegeräte, das den Wachskerzen und dem Asternstocke und Medea an der Urne, Orpheus und Eurydike, Iphigenie, dem Kinderständchen und andern heiligen Blättern des großen Malers der Lebensüberwindung hatte weichen müssen, und Gerhard gab 119 zum erstenmale und mit beglückter Seele der geliebten Frau den von ihr begehrten Anteil an seinem Leben. Er las die Briefe vor, er erklärte Verwandtschaftsbeziehungen, er sprach von den Bildern, Klara horchte hin, sog ein, weinte, lachte, fuhr ihm zärtlich über Stirne und Haupt, kniete vor ihm und fragte ihn: Sag es nur, nicht wahr, heute lasse ich dich zum erstenmale ausreden? In Lugano aber hätte ich dich beinahe ausreden lassen!

* * *

Das Glöckchen läutete.

Frau Klara zog die Türe an sich, und Gerhard trat mit den Eltern seiner Frau in das seither sorglich vor allen verschlossene Weihnachtszimmer. Auf kleinen Tischen lagen die Gaben für die Eltern und Ursula und Christine. Aber das war diesmal nur so nebenbei gemeint. Etwas anderes war das eigentliche Christkind. Drei mächtige Tannen standen auf dem Boden, über und über mit Lichtern bedeckt, zwischen ihnen aber stand auf dem Fußboden der Reisekoffer mit seinen zerstoßenen Ecken und Hotelbildern. Triumphierend zog Klara ihren Mann zu ihm hin und nötigte ihn zu knien und aufzuschließen. Kopfschüttelnd folgten die Eltern, namentlich die Mutter, die seither mit großem Mißtrauen die ganze Anordnung betrachtet hatte. Gerhard schloß auf, Klara kniete voll Ungeduld neben ihm, froh wie ein Kind, wenn sein Geheimnis sich enthüllt. Oben lag ein weißer Bogen, der den ganzen Raum einnahm, und auf ihm lag nur ein goldener Ring. Gerhard 120 nahm ihn prüfend auf und Klara sagte: Nun stecke mir ihn an den Goldfinger der linken Hand, es ist der Ring, den du mir gabst. – Mit glücklichem Lächeln steckte Gerhard den Ring an den leeren Finger der jungen Frau. Diese aber küßte Gerhard und sagte mit einer ernsten Innigkeit, an der beide Eltern merkten, daß Klaras Verhältnis zu Gerhard von Grund aus anders geworden sein müsse: Nun verlobe ich mich dir zum zweitenmale! Und nun weiter! – Gerhard hob den Bogen auf, eine neue Lage erschien unter ihm mit der Verlobungsanzeige, der Einladung zur Hochzeit, dem Brautkranze, der Tischkarte, vom Hochzeitsmahle und der Trauungsrede, wie sie die freundliche Hand im Pfarrhause nun in das Reine geschrieben hatte. Wieder umarmte die Kniende ihren Mann und zupfte ihn am Ohre und sah ihm voll dankbarer Liebe in die Augen: Und nun weiter! – Gerhard beseitigte gehorsam die feste weiße Unterlage, und Feuerbachs Grablegung und seine Iphigenie mit dem Segelfalter lagen in guten Wiedergaben vor seinem erfreuten Auge: Und nun weiter! – Auf dem Grunde des Koffers standen sechs große Gläser, wie Gerhard sie selbst im Spätsommer zum Einmachen der Früchte mit einem Verschluß, den der Kaufmann sehr gepriesen hatte, für Klara erstanden hatte, und trugen weiße Zettel aufgeklebt, die sorgfältig, fast künstlerisch beschrieben waren, die Gläser aber waren mit einer eigentümlichen schwarzen Masse gefüllt. Gerhard hob neugierig ein Glas empor und las laut: Klaras Aufsätze in der Selekta, – schon hatte 121 Klara das zweite Glas bereit und wies es Gerhard triumphierend hin, die Aufschrift lautete: Klaras Gedichte. Um Gotteswillen, Kind, sagte die Mutter mit wahrer Bestürzung, das ist ja alles verkohltes Papier, hast du das alles verbrannt, die schönen Gedichte, die Aufsätze! – Ja, Mutter, noch viel mehr, sieh nur, und Gerhard las vom dritten Glase ab: Klaras Tagebuch. Als es sich aber ergab, daß im vierten Glase Goethes Frauengestalten von Kaulbach zu Asche verbrannt waren, stöhnte die gute Mutter und sagte der Vater: Das teure Werk! Die Verlesung der fünften Aufschrift: Klaras Beiträge zu Zeitschriften, begleiteten dann die Eltern nur noch mit einem tiefen Seufzer. Auf dem letzten Glase endlich stand: Dreiundzwanzig Photographien von Schauspielern, Geigern, Komponisten, Sängern, Dichtern, Genies und idealen Mädchenköpfen in Kabinettformat.

Der Koffer hatte kein Geheimnis mehr. Gerhard stand auf und faßte Klaras Hand und trat mit ihr zu den Eltern und sagte mit zitternder Stimme: Aus dieser Asche erwächst euch, geliebte Eltern, ein Feierabend des Lebens, der herrlicher sein wird, als sein Morgen und sein Mittag. Frau Klara aber sagte: So – nun will ich beschert haben. Und sie erhielt, was sie erbeten hatte, die erste Bibel ihres Lebens. 122

 


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