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Ihr wollt, daß ich heute über Pharisäismus spreche?
Ich will es tun, aber sagt mir dann nicht nachträglich, ich sei lieblos gewesen, ich sei ein Pessimist, es sei nicht so schlimm, ich solle doch nur an diesen oder jenen wackern Mann denken!
Aber ich traue euch nicht. Ihr könnt nicht anhören und prüfen. Ihr müßt euch für euren Traum vom Menschen wehren.
Laßt mich darum über etwas anderes reden, was mir doch zurzeit die Seele bewegt, etwas, das ihr unwidersprochen annehmen könnt.
Nicht wahr, wenn einer, der nicht in Florida, sondern in der reinen Luft eines Alpenlandes wohnt, niemals das Fieber kennen gelernt hat und nun seine Gesundheit rühmt, als habe sie den verborgenen Gegnern der körperlichen Kräfte Widerstand zu leisten gehabt, so kommt euch das lächerlich vor, und ihr erkennt sofort, daß er das Lob, das der großen Gunst der Verhältnisse gilt, eitel und kurzsichtig für sich in Anspruch nimmt. 48 Nun, wie es euch da ergeht, so ergeht es mir, wenn ich jemand rühmen höre, daß er sich kein fremdes Gut angeeignet habe, daß er den Nachbar nicht um die hohe Erbschaft, die diesem zugefallen war, beneidet habe, daß er einen gewissen Stolz, eine ablehnende Fremdheit den Reichen gegenüber habe. Ich erfahre aus alledem nur eines: er hat nie die Not kennen gelernt. Wenn ihr einen anderen rühmen hört, daß er die Ordnung selbst sei, die Gewissenhaftigkeit in Person, daß sein Wesen wie eine Uhr gestellt sei, daß er nie zu spät komme, daß sein Anzug wie sein Wesen wohl geordnet, wohl gehalten und ohne ein Stäubchen sei, so höre ich aus allem heraus: ein Mann ohne Phantasie, einer, den das lockende Spiel heiterer und in ihren Wirkungstrieben rasch zum Ausleben drängender Geisteskräfte niemals innerlich in Versuchung führen konnte.
Seht, meine Freunde, dahin bin ich gelangt: wenn die Welt mir einen Mann dringend wegen seiner Prinzipientreue empfiehlt, dann ist mein erster Gedanke, es fehle ihm am Gemüte, an jenem Gemüte, das wie eine liebende Frau schüchterne oder mutige Einwürfe und Warnungen wagt.
Ich ginge zu weit? Das sei übertrieben?
Ich spreche ja nicht von den durchgebildeten Charakteren, deren Bildungskämpfe der freundliche Gott gesehen hat, ich spreche von der falschen Beurteilung der Welt. Warum hat sie gleich das hochtönende Wort »Charakter« zur Hand, wenn sie Erscheinungen sieht, die auf vieles schließen lassen können, und unter hundert 49 Fällen vielleicht auch einmal auf Charakter. Ist denn alles Gold, was goldenen Glanz hat?
Erzieht in euch den Mut, bei jedem Menschen, den euch die Welt als Charakter rühmt, sofort und ausnahmslos zu fragen. »Wo fehlt es ihm also? Welchen Mangel verwandelt ihm der blinde Riese mit dem Kinderverstand, das Publikum, zu einem Kompliment?«
Wie nun aber einer selber dazu gelangt, in sich den »großen Charakter«fertig zu entdecken, das sah ich jüngst. Schon lange hatte ich erkannt, daß eine laute, eine mächtige, eine nicht zu ermüdende oder sehr wohlklingende Stimme sich durch den rechten Gebrauch eine mächtige, moralische Schallverstärkung erzeugt. Nun konnte ich neulich ein sonderbares und höchst anziehendes Hinüber- und Herüberwerfen wachsender Ton- und Überzeugungsstärken wahrnehmen. Ich wohnte einem heftigen Wortstreite in einer größern Versammlung bei, und dabei fiel mir einer der Anwesenden durch viererlei auf: er war wohlgewachsen, hatte einen wohlgepflegten, glänzenden schwarzen Bart, schwieg beharrlich und saß am Tische des Ausschusses – vier Dinge, die jedes für sich schon genügen, eine sehr günstige Vorstellung im Beobachter zu erwecken, wie ihr anerkennen müßt. Ich nahm an, er kenne den Gegenstand des Streites nicht genug, um mitreden zu dürfen, und fühlte mich um des Grundes willen, den ich seinem Schweigen lieh, zu ihm hingezogen. Er hatte übrigens, wie ich von einem Nachbar hörte, noch nie gesprochen, sei aber, wie jener hinzusetzte, kein unebener Mann. Aber nach einer 50 Weile ergriff er, von anderen Ausschußmitgliedern getrieben, doch das Wort; er sprach anfänglich absetzend, befangen, in mangelhaften Sätzen und unbedeutend, aber mit einer kräftigen, den Saal ausfüllenden Stimme; nun aber überraschte der Klang seiner Worte den Redner, er nahm an, daß sie Inhalt haben müßten, da man nach ihm hinhorchte, er sah, daß er sich nicht blamiere, die entstehende Freudigkeit verstärkte seine Stimme, die Sicherheit der Rede verstärkte abermals die Überzeugung, die wachsende Zuversicht, daß er den Nagel auf den Kopf treffe, gab dem Organ und dem Ausdrucke rasch etwas Diktatorisches, und als der Redner sich nicht mehr steigern konnte und schloß, setzte sich die megaphonische Steigerung in dem stürmischen Bravoruf und Händeklatschen der Zuhörer fort. Der Redner, der vor einer halben Stunde noch keine eigene Meinung, ja nicht einmal eine ausgesprochene Teilnahme an den Meinungen seiner Partei gehabt hatte, besaß nun Prinzipien und ein festes Vertrauen auf die unbeugsame Festigkeit seines Charakters.
Ihr sahet eben mit mir, daß es eine moralische Schallverstärkung gibt, die sich innerhalb des Menschen vollzieht und ihn zum Charakter macht. Es bieten sich aber dem sorgfältigen Beobachter auch genügende Zeugnisse für das Vorhandensein der äußern Reflexion charakterbildender Schälle. So bilden die schallbrechende und zurückwerfende Wand namentlich die ängstlichen oder harmlosen oder beschränkten Gegenüber des »Charakters«. Das Gras kann man nicht wachsen sehen, aber 51 wie zollweise ein Charakter wächst in wenigen Minuten, wenn er auf ein ängstliches Gemüt trifft, das läßt sich jeden Tag beobachten.
Wie schade, wie sehr, sehr schade ist es, daß nicht der Selbstzufriedene und Stolze in dem Augenblicke, wo er anerkennungsbedürftig um sich blickt im Gefühle seiner Vortrefflichkeit, in den Zauberspiegel zu blicken genötigt werden kann, in dem er sich als Falstaff erkenne, der den toten Percy noch einmal ersticht.
Ich hätte doch von den Pharisäern gehandelt? Und wenn ich kein Pessimist sei, so wisse man nicht, was denn ein Pessimist sei?
Meint ihr? Nun, wir wollen nicht streiten. 52