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Auf ihrem Wege nach Los Muertos hörten Hilma und Frau Derrick in der Ferne schießen.
»Halt!« rief Hilma und legte ihre Hand auf Vaccas Arm. »Halten Sie! Horch, was ist das?« Der Wagen hielt; von weither kam über den im leisen Luftzug wehenden Weizen das gedämpfte Knattern von Gewehren und Revolvern.
»O,« rief Vacca, die Augen rollend, »sie schießen dort drüben!«
Frau Derrick bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Sie schießen,« rief sie, »o, o, das ist schrecklich! Magnus ist dort – und Harran.«
»Wo glauben Sie, daß es ist?« fragte Hilma.
»Drüben bei Hoovens Farm.«
»Ich muß hin. Drehen Sie um. Fahren Sie schnell nach Hoovens Farm.«
»Lassen Sie's lieber, Frau Annixter,« wandte der junge Mensch ein. »Herr Annixter sagte doch, wir sollten nach Los Muertos. Bleiben Sie lieber von Hoovens weg. Wir kämen so wie so erst hin, wenn alles vorüber ist.«
»Ja, ja, wir wollen nach Hause,« rief Frau Derrick. »Ich ängstige mich, o, Hilma, ich ängstige mich so.«
»Kommen Sie mit mir zu Hoovens!«
»Dorthin, wo sie schießen! O, ich kann's nicht. Ich – ich kann's nicht. Ehe wir hinkommen, ist doch alles vorbei, wie Herr Vacca sagt.«
»Ganz gewiß,« versicherte Vacca.
»Fahren Sie nach Hoovens Farm,« befahl Hilma. »Wenn Sie nicht wollen, so gehe ich zu Fuß hin.«
Sie ließ die Wagendecke von den Knien gleiten und schickte sich an, auszusteigen. »Und Sie,« rief Hilma, sich nach Frau Derrick umwendend, »wie können Sie nur – wenn Harran und Ihr Mann vielleicht – nein, sie sind sicher in Gefahr.«
Murrend drehte Vacca um und fuhr querfeldein, bis er die Straße nach Guadalajara gerade unter der Mission erreichte.
»Schnell!« rief Hilma.
Von der Peitsche angetrieben, gingen die Pferde mit einem Ruck in eine schnellere Gangart über. Die Gebäude von Quien Sabe kamen in Sicht.
»Soll ich am Hause halten?« fragte Vacca über seine Schulter hinweg.
»Nein, nein. O schneller, schneller! Lassen Sie die Pferde laufen!«
Das Gespann raste zwischen den Gebäuden durch.
»O Gott!« rief Hilma plötzlich. »Sehen Sie nur, sehen Sie, was die gemacht haben!«
Vacca riß die Pferde zurück, denn die Straße vor dem Wohnhause war versperrt. Eine Menge Hausrat lag und stand wirr umher – Stühle, Sofas, Geschirr, Lampen. Man hatte Hilmas kleines Heim geplündert; alles war herausgeschleppt und rücksichtslos auf die Straße geworfen worden, alles, was sie mit ihrem Manne während der herrlichen Woche nach ihrer Hochzeit eingekauft hatte. Da war der weißlackierte »Satz« aus dem Schlafzimmer, die drei Stühle, der Waschtisch und die Kommode, deren herausgerutschte Schubladen ihren Inhalt in den Staub der Straße verstreut hatten. Da lagen die weißen Wollteppiche aus dem Wohnzimmer und der Blumentisch; alle seine Töpfe waren zerbrochen und die Blumen welk; zerbrochen war auch die Goldfischschale, die Fische lagen tot im Sande. Da sah man den Schaukelstuhl, die Nähmaschine, den runden großen Tisch von gewachstem Eichenholz, die Lampe mit ihrem Schirm von geknittertem roten Seidenpapier, die schönen farbigen Photographien, die an den Wänden gehangen hatten – die Chorknaben mit den schönen Augen, die sinnigen jungen Mädchen in rosa Kleidern –, die aus Holz geschnitzten Stillleben mit ihren Wachteln und Enten und vor allem andern das Bett, das prächtige Himmelsbett, der Stolz Hilmas. Aus der verschwiegenen Heimlichkeit ihres bräutlichen Gemachs hatte man es in den Staub der Straße gezerrt; zum Spott und Hohn, entheiligt und geschändet, angestarrt und bewitzelt stand es dort im grellen Sonnenschein.
Hilma hatte das Gefühl, als ob etwas von ihr selbst, von ihrer Person preisgegeben und erniedrigt, als ob alles, was sie heilig hielt, zum Gespött der Welt an den Pranger gestellt worden wäre. Tränen seelischer Qual stürzten aus ihren Augen, und die flammende Röte verletzter Schamhaftigkeit überzog ihr Gesicht.
»O, wie konnten sie das tun!« rief sie schluchzend. Bange Ahnungen aber verdrängten ihre schmerzliche Entrüstung; Fürchterlicheres stand ihr bevor.
»Schnell weiter,« rief sie Vacca zu. »Nur schnell!«
Vacca aber weigerte sich. Er hatte zwei von Hilma nicht bemerkte Männer – Deputys jedenfalls – auf der Veranda des Wohnhauses gesehen; sie wahrten die Rechte des neuen Besitzers. Die Gewißheit, daß der Feind sich Quien Sabes bemächtigt hatte, schüchterte den jungen Menschen ein.
»Nein, nein,« erklärte er vom Wagen steigend. »Ich nehme Sie nirgends hin, wo Ihnen was passieren könnte. Der Weg ist auch von all den Sachen da versperrt. Man kann mit den Pferden gar nicht vorbei.«
Hilma sprang aus dem Wagen.
»Kommen Sie,« sagte sie zu Frau Derrick.
Zögernd gehorchte ihr die ältere Frau; sie zitterte vor Angst und war einer Ohnmacht nahe. Hilma wand sich zwischen den Trümmern ihres zerstörten Heims durch und schlug dann den nach der langen Trestlebrücke und Hoovens Farm führenden Pfad ein.
Als sie dort anlangte, fand sie die Straße vor dem Hause des Deutschen und den ganzen Hofraum voller Menschen. Weiterhin auf der Straße lag ein umgeworfener Buggy; zwei Männer hielten die in ihr Geschirr verwickelten Pferde. Sie sah Carahers Buckboard unter der großen Lebenseiche; daneben stand noch ein Buggy, der, wie sie wußte, einem Arzt aus Guadalajara gehörte.
»O, was ist geschehen, was ist geschehen?« wehklagte Frau Derrick.
»Kommen Sie,« sagte Hilma von neuem.
Die junge Frau nahm die ältere bei der Hand; zusammen schritten sie durch die Menschenmenge in das Gehöft. Rechts und links machten die Leute, ohne ein Wort zu sagen, den beiden Frauen Platz.
»Presley,« rief Frau Derrick, als sie ihn in der Haustür stehen sah, »o, Presley, was ist vorgefallen? Ist Harran nichts geschehen? Ist Magnus unverletzt? Wo sind sie?«
»Gehen Sie nicht hinein, Frau Derrick,« sagte Presley auf sie zukommend, »gehen Sie nicht hinein.«
»Wo ist mein Mann?« fragte Hilma.
Presley wandte sich ab; er mußte sich am Türpfosten festhalten.
Hilma verließ Frau Derrick und trat in das Haus. Das Vorderzimmer war voller Männer. Sie war sich dunkel bewußt, daß Cyrus Ruggles und S. Behrman, beide leichenblaß, im Flüsterton eifrig mit Cutter und Phelps sprachen. Der scharfe, eigenartige Geruch eines ihr unbekannten Arzneimittels erfüllte die Luft. Auf dem Tische vor ihr lagen neben einer Handtasche wundärztliche Instrumente, zusammengerollte Binden und eine längliche blaue Pappschachtel mit Verbandwatte. Das Flüstern der Männer und das behutsame Ab- und Zugehen wurde übertönt von einem schrecklichen Geräusch, dem anhaltenden, halb erstickten, nach Luft ringenden Todesröcheln.
»Wo ist mein Mann?« rief Hilma und schob die ihr den Weg Versperrenden zur Seite. Sie sah Magnus barhäuptig vor drei oder vier auf dem Fußboden liegenden Männern stehen; einer von ihnen war halb nackt und sein Oberkörper mit Binden umwickelt. Der Doktor in Hemdsärmeln kniete neben dem lang ausgestreckten Körper eines Mannes. Jetzt stieß Hilma auf Garnett; sein Gesicht wurde bei ihrem Anblick so weiß wie eine Kalkwand.
»Wo ist mein Mann?« fragte sie wieder.
Garnett antwortete nicht, sondern trat zur Seite, und Hilma sah ihren toten Gatten auf dem Bett liegen. Sie schrie nicht auf. Kein Laut kam über ihre Lippen. Sie setzte sich auf das Bett und legte Annixters Kopf, den sie sanft in beiden Händen hielt, in ihren Schoß. Unbeweglich blieb sie, den Kopf ihres Mannes im Schoß, sitzen und blickte unstet von einem der Anwesenden zum andern. Kein Schrei der Herzenspein, kein Laut kam über ihre Lippen; ihre weitgeöffneten Augen schwammen in Tränen, die langsam über die Wangen rollten.
Magnus hörte, daß seine Frau draußen stand, und eilte zu ihr. Sie warf sich in seine Arme.
»Sprich – sag mir,« rief sie. »Ist Harran – ist – –«
»Wir wissen es noch nicht,« antwortete er. »O, Annie – –«
Sofort beherrschte sich der Governor wieder. Er, der Unbezwingliche, durfte jetzt nicht zusammenbrechen.
»Der Doktor ist bei ihm,« sagte er. »Wir tun alles, was wir können. Sei tapfer, Annie! Noch ist Hoffnung vorhanden. Schreckliches hat dieser Tag gebracht. Gott verzeihe uns allen!«
Sie drängte nach der Tür; er aber hielt sie zurück.
»Nein, sieh ihn jetzt nicht. Geh ins andre Zimmer. Garnett, nehmen Sie sich ihrer an.«
Aber die Mutter ließ sich nicht zurückhalten. Magnus zur Seite schiebend, durchbrach sie die den Körper Harrans umstehende Gruppe; in Todesangst und die Qualen ihres Kindes mitleidend, sank sie auf die Knie.
Starr und steif lag Harran auf dem Fußboden; man hatte ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben und den ausgezogenen Rock über die Brust gebreitet. Das eine Hosenbein war mit Blut durchtränkt. Unter den halbgeschlossenen Lidern rollten die Augäpfel mit maschinenartiger Regelmäßigkeit hin und her. Sein Gesicht war so weiß, daß das blonde Haar daneben braun erschien; aus dem weitgeöffneten Munde kam mit jedem keuchenden, rasselnden Atemzuge das entsetzliche, der wunden Brust sich entringende Röcheln.
»O, Harrie, Harrie,« schrie die Mutter auf und griff nach seiner Hand.
Der Doktor schüttelte den Kopf.
»Er ist bewußtlos, Frau Derrick.«
»Wo hat er – wo ist – die – die –«
»Durch die Lungen.«
»Wird er davonkommen? Sagen Sie mir die Wahrheit!«
»Ich weiß es nicht, Frau Derrick.«
Sie war einer Ohnmacht nahe, und Garnett, der alte Ranchbesitzer, mußte die Aermste in den anstoßenden Raum – Minna Hoovens Schlafzimmer – halb tragen, halb führen. Fast von Sinnen vor Angst, saß sie auf dem Bettrande und murmelte, den Oberkörper hin und her wiegend:
»Harrie, Harrie, o, mein Sohn, mein kleiner Junge.«
In dem Vorderzimmer ging Presley, krank vor Entsetzen und am ganzen Körper zitternd, ab und zu und machte sich nach Kräften nützlich.
Die Ueberlebenden, Ligaleute wie Deputys, die eben noch sich bitter befehdenden Parteigänger des Volkes und der Bahn, verkehrten jetzt ohne ein Zeichen von Feindseligkeit miteinander. Presley half dem Doktor die Leiche Christians zudecken; S. Behrman und Ruggles hielten Schüsseln mit Wasser, während Osterman verbunden wurde. Das Elend, das über Freund und Feind hereingebrochen war, hatte alles andre zurückgedrängt. Noch vor einer Stunde hatten sich alle diese Männer als erbitterte Gegner gegenübergestanden; jetzt dachten sie nur noch daran, die Leiden derer zu mildern, die sie in ihrer Wut niedergeschossen hatten. Der Marshal hatte den weiteren Vollzug des Enteignungsverfahrens für heute aufgegeben und war nach San Francisco zurückgekehrt.
Man hatte die Toten ins Haus getragen. Annixters Leiche war auf das Bett gelegt, die Dabneys und Hoovens mit einem Tischtuch bedeckt worden. Auf dem Fußboden wurde Platz für andre gemacht. Cutter und Ruggles waren nach Guadalajara geritten, um den Doktor zu holen und noch andre Aerzte telephonisch aus Bonneville herbeizurufen.
Osterman hatte das Bewußtsein keinen Augenblick verloren. Bis zum Gürtel entblößt lag er auf dem Fußboden; festhaftende Mullbinden waren um Leib und Schultern gewickelt. Die Augen hatte er halb geschlossen. Während ein aus Bonneville bestellter Landauer erwartet wurde, der Osterman nach Hause bringen sollte, sah Presley nach dem tödlich Verwundeten, der, wie er wußte, schwere Qualen litt.
Dieser Komödiant aber, dieser Hansnarr, dieser Spaßmacher, den niemand je ernst genommen hatte, zeigte sich jetzt als ein ganzer Mann. Als der Arzt endlich gekommen war, öffnete der Todwunde zum ersten Male die Augen. »Ich kann warten,« sagte er. »Gehen Sie zuerst zu Harran.«
Endlich kam er an die Reihe. Kalter Schweiß rann von seiner Stirn, und fester und fester umklammerte er mit der freien Hand Presleys Rechte, während der Arzt mit der Sonde die Kugel suchte. Kurz und schwer ging sein Atem durch die Nüstern. Das Komikergesicht mit den breiten Backenknochen, der kahlen Stirn und den abstehenden Ohren wurde bleicher und bleicher; der große Schlitz von Mund war krampfhaft zusammengepreßt, aber kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen.
Als das Schlimmste vorüber war und er wieder Atem schöpfen konnte, waren seine ersten Worte:
»Ist jemand von den andern schwer verletzt?« Presley, der dem Arzt eben einen Eimer Wasser geholt hatte, bemerkte eine Anzahl Männer, die von der Straße auf der andern Seite des Bewässerungsgrabens vorsichtig in den hohen Weizen hineingingen. Er wunderte sich, was das zu bedeuten hatte, und fragte Cutter, der gerade auf ihn zukam.
»'s ist Delaney,« sagte Cutter. »Es scheint, daß er in den Weizen gekrochen ist, nachdem er den Schuß bekommen hat. Sie suchen ihn.«
Presley hatte den Kuhzwicker ganz vergessen; er erinnerte sich nur noch dunkel, gesehen zu haben, wie Delaney gleich bei Beginn des Gefechtes vom Pferde glitt. Presley wollte wissen, was aus ihm geworden war, und so eilte er über den Graben und beteiligte sich bei der Suche.
»Nehmen wir uns nur in acht,« sagte einer von den jungen Leuten. »Lebt er noch, so denkt er womöglich, wir sind hinter ihm her, und schießt auf uns.«
»Danach wird ihm nicht mehr zumute sein, dächt' ich,« entgegnete ein andrer. »Seht euch nur den Weizen hier an.«
»Herr des Himmels! Er hat geblutet wie ein abgestochenes Schwein.«
»Hier ist sein Hut,« rief plötzlich der am weitesten Vorgedrungene. »Er kann nicht weit von hier sein. Wir wollen ihm rufen.«
Sie riefen mehrere Male, ohne eine Antwort zu erhalten. Vorsichtig drangen sie weiter vor. Mit einem Male machten die vordersten so kurz Halt, daß die ihnen Folgenden gegen sie anprallten. Wie aus einem Munde riefen alle:
»Hier ist er!«
»Herrgott, ja! Das ist er!«
»Armer Kerl, armer Kerl!«
Der Kuhzwicker lag auf dem Rücken und mit krampfhaft gegen den Körper gekrümmten Knien in dem hohen Weizen; seine Augen waren weit offen und die Lippen braun. Die Rechte umklammerte den abgeschossenen Revolver.
Die Sucher, Feldarbeiter von den umliegenden Ranchos und junge Leute aus Guadalajara, wichen schaudernd zurück. Einer von ihnen wagte sich schließlich näher heran und blickte in das verzerrte Antlitz.
»Ist er tot?« fragten die andern.
»Ich weiß es nicht.«
»Legen Sie doch die Hand auf sein Herz.«
»Nein! das tu' ich nicht.«
»Wovor fürchten Sie sich denn?«
»Ich mag ihn nun einmal nicht anrühren. Das bringt Unglück. Fühlen Sie doch nach seinem Herzen.«
»Daran kann man's nicht immer erkennen.«
»Woran soll man's denn sonst erkennen? Pah, übel kann einem davon werden, wie ihr Kerls euch anstellt. Laßt mich mal durch! Ich tu's.«
Voller Spannung warteten die andern, während der Dreiste sich niederbeugte und seine Hand auf Delaneys Herz legte.
»Nun?«
»Ich kann's nicht sagen. Manchmal ist's mir, als ob sein Herz schlägt, und dann mal wieder nicht. Ich hab' noch keinen Toten gesehen.«
»Ja, am Herzen kann man's nicht erkennen.«
»Das viele Reden hat keinen Zweck. Tot oder nicht tot, tragen wir ihn nach dem Hause.«
Schnell holte man einige Bretter von der abgebrochenen Brücke herbei, legte den leblosen Körper, über den einige Röcke gebreitet waren, darauf und trug ihn zurück nach der Straße. Der herbeigeholte Arzt erklärte, daß der Kuhzwicker schon seit mindestens einer halben Stunde tot wäre.
»Was hab' ich Ihnen denn gesagt?« rief einer der Träger.
»Ja, ich habe nicht behauptet, daß er nicht tot wäre,« verwahrte sich ein andrer. »Ich sagte nur, man könnte es nicht immer daran erkennen, ob das Herz schlägt oder nicht.«
Mit einemmal kam neue Bewegung in die Menge. Der Farmwagen mit Hoovens Frau, Minna und der kleinen Hilda fuhr heran.
»Was is denn bassiert, ihr Leite?« schrie Frau Hooven und ließ ihre wilden, fragenden Blicke von einem Gesicht zum andern wandern. »Ham die Gerle meim Männe was gemacht, häh?« Sie sprang vom Wagen herab; Minna mit der kleinen Hilda im Arm folgte ihr. Die sie stumm anstarrende Menge machte den Frauen Platz.
»Was is bassiert, was is bassiert?« jammerte Frau Hooven und eilte mit weit vor sich ausgestreckten Händen und gespreizten Fingern auf das Haus zu. »Hooven, mei Männe, biste all right?«
Sie stürzte in das Haus. Hoovens Leiche war in ein Nebenzimmer, das Schlafgemach des Ehepaares, gebracht worden. Einem dunkeln Antriebe folgend, eilte Frau Hooven – Minna dicht hinter ihr – nach diesem Zimmer. Die Männer im Hauptraume machten ihnen – ohne ein Wort zu sagen – Platz. Die Frauen traten ein und schlossen die Tür hinter sich; während des Restes jenes schrecklichen Tages bekamen alle, die in diesem Hause des Todes aus und ein gingen, nichts mehr von ihnen zu sehen oder zu hören. Unter den Hauptfiguren des heutigen Trauerspiels wurden sie am wenigsten bemerkt und waren für den Augenblick vergessen.
Inzwischen war Hoovens Haus der Mittelpunkt geworden, um den sich eine ungeheure Menschenmenge drängte. Von Bonneville, von Guadalajara, von den umliegenden Ranchos waren die Leute herbeigeströmt; ihre Zahl wurde verstärkt durch die Tausende von Männern und Frauen, jungen Burschen und Mädchen, Stadt- und Landbewohnern, Ranchbesitzern, Feldarbeitern, Angestellten der Bahn, Mexikanern, Spaniern, Portugiesen, die alle an dem Hasentreiben teilgenommen hatten. Der von der Suche nach Delaney zurückkehrende Presley mußte sich mit Gewalt den Weg nach dem Hause bahnen.
Aus der stetig anwachsenden Menge erhob sich ein unbestimmbares Murmeln; noch hatte es nichts Erbittertes, nichts Drohendes an sich. Zunächst war es nur der Ausdruck der Bestürzung und Verwirrung, das erste langgezogene »O!« des staunenden Entsetzens über die Kunde von dem erschütternden Trauerspiel. Zum Denken hatte das Volk noch keine Zeit gehabt. Der alles andre zurückdrängende Trieb war die Neugier. Jedermann wollte sehen, was vorgegangen war; gab es nichts mehr zu sehen, so wollte man hören, und war auch das nicht möglich, so bemühte man sich wenigstens, dem Schauplatz des Trauerspiels möglichst nahe zu sein. Das Menschengedränge reichte auf der an dem Hause vorüberführenden Landstraße wohl eine Viertelmeile weit nach beiden Richtungen. Die Leute traten auf den untersten Draht des Stachelzaunes und bemühten sich über die Schultern der vor ihnen Stehenden hinwegzusehen; sie stellten sich auf die Sitze der Buggys, Breaks und Farmwagen, einige sogar auf die Sättel ihrer Reitpferde. Sie drängten und stießen sich, wogten vor- und rückwärts, ohne zu wissen warum, und strömten immer wieder nach dem Mittelpunkt, dem Hause Hoovens, zusammen.
Als Presley endlich an die Hofpforte gelangt war, sah er einen Wagen mit Sonnendach und Seitenvorhängen dort halten. Zwischen Pforte und Haustür war eine Gasse gebildet worden; eine Anzahl Ligaleute, unter ihnen Garnett und Gethings, kamen, den alten Broderson auf den Armen tragend, langsam aus der Tür. Der Doktor in Hemdsärmeln und barhäuptig leitete die Ueberführung des Verwundeten; im grellen Sonnenlicht blinzelnd, wiederholte er bei jedem Schritt: »Langsam, langsam, nehmen Sie sich Zeit, meine Herren.«
Der alte Broderson war bewußtlos. Sein Gesicht war keineswegs blaß, und man sah nirgends einen Verband. Mit unendlicher Vorsicht hoben ihn die Männer in den Wagen und auf den Rücksitz; die Vorhänge der einen Seite wurden herabgelassen, um die Blicke der neugierigen Menge abzuhalten.
In diesem Augenblick trat etwas Unerwartetes ein. Presley konnte nicht sehen, was vorging, da ein halbes Dutzend Menschen zwischen ihm und dem Wagen standen. Man rief und gestikulierte. Der Doktor gab jemand einen kurzen Auftrag; der Betreffende lief zurück nach dem Hause und war im Augenblick mit der Instrumententasche des Doktors wieder da. Inzwischen war Presley bis dicht an die Räder herangekommen und konnte sehen, wie der im Innern des Wagens stehende Arzt sich über den alten Broderson beugte.
»Hier ist's, hier ist's,« rief der Mann, der nach dem Hause gelaufen war.
»Ich brauch's nicht mehr,« entgegnete der Arzt. »Eben stirbt er.«
Im nächsten Umkreis des Wagens trat tiefe Stille ein. Einige Männer nahmen die Hüte ab.
»Tretet zurück, ihr guten Leute, tretet, bitte, zurück,« sagte der Arzt in ruhigem Tone. Die Menge wich ein wenig zurück. In der Stille hörte man eine Frau schluchzen. Die Sekunden gingen dahin, dann Minuten. Die vor den Wagen gespannten Pferde wechselten die Füße und schlugen mit den Schweifen nach den Fliegen. Schließlich stieg der Doktor aus dem Wagen und ließ auch auf dieser Seite die Vorhänge herab.
»Will nicht jemand die Leiche nach Hause bringen?« fragte er. Gethings trat vor und setzte sich neben den Lenker des Fuhrwerks. Der Wagen fuhr ab.
Presley ging wieder in das Haus. Es hatte sich während seiner Abwesenheit geleert. Von den am Kampfe beteiligten Ligamännern waren nur noch zwei da. Hilma saß, den Kopf Annixters im Schoß haltend, noch immer auf dem Bett. S. Behrman, Ruggles und die andern Bahnleute hatten sich entfernt. Osterman war in einem Landauer fortgebracht worden; die über Dabneys Leiche gebreitete Tischdecke hatte man durch ein Leintuch ersetzt. Noch immer war das heisere, raspelnde Todesröcheln Harrans zu hören. Man hatte bereits alles Erdenkliche für ihn getan. Ihn fortzuschaffen, war für den Augenblick unmöglich. Vater und Mutter waren an seiner Seite. Magnus, dessen Züge versteinert schienen, starrte auf jene zuckenden, rollenden Augäpfel. Annie Derrick kauerte auf dem Fußboden; die eine Hand umklammerte die ihres Kindes, die andre fächelte mit einer zerknitterten Zeitung unablässig sein Gesicht.
Auf den Zehenspitzen näherte sich Presley den Bejammernswerten. Einer der aus Bonneville herbeigerufenen Aerzte stand mit gefalteten Armen neben dem Lager und beobachtete aufmerksam Harrans Gesicht.
»Wie steht's?« flüsterte Presley.
»Er überlebt's nicht,« antwortete der Arzt.
Die röchelnden, raspelnden Atemzüge wurden allmählich unregelmäßiger, und die Lider schlossen sich über den zuckenden Augäpfeln. Plötzlich hörte der Atem auf. Mit einem raschen, angstvoll fragenden Blick sah Magnus nach dem Arzt hinüber.
»Er ist tot, Herr Derrick,« entgegnete der.
Mit einem durch das ganze Haus schallenden Aufschrei warf sich Annie Derrick über die Leiche ihres Sohnes, und die breiten Schultern des Governors beugten sich, um nie wieder sich aufzurichten. »Gott helfe und vergebe mir,« stöhnte er. Außer sich vor Jammer, Entsetzen und Mitleid und erfüllt von toller, sinnloser Wut, stürzte Presley zum Hause hinaus. Auf der Veranda hielt ihn Caraher an.
»Ist er – ist er –« begann der Kneipwirt.
»Ja, er ist tot,« schrie Presley. »Alle sind sie tot, ermordet, niedergeschossen, tot, alle, alle! Wer kommt jetzt dran?«
»So haben sie auch meine Frau umgebracht, Presley.«
»Caraher,« rief Presley außer sich, »geben Sie mir die Hand! Ich hab' die ganze Zeit unrecht gehabt. Die Liga hat unrecht. Die ganze Welt hat unrecht. Sie sind der einzige von uns allen, der recht hat. Von jetzt ab steh' ich zu Ihnen. Bei Gott, ich bin auch ein Roter!«
Nach einiger Zeit fuhr ein von Bonneville kommender Farmwagen vor. Die Leichen Annixters und Harrans wurden aufgeladen, und das Fuhrwerk schlug auf dem Unteren Wege die Richtung nach der Heimfarm von Los Muertos ein. Hilma folgte mit Magnus und Annie Derrick in deren Break. Kein Wort wurde während der Fahrt gesprochen. Da die Bahn sich Quien Sabes bemächtigt hatte, so war man übereingekommen, daß Hilma in Los Muertos bleiben sollte; ihr toter Gatte wurde ebendorthin gebracht.
Als der Tag sich bereits seinem Ende zuneigte, kam der schwarze Wagen des Leichenbestatters auf seinem Wege von der Hoovenschen Farm am Wohnhause von Los Muertos vorbei, um dann in die nach Bonneville führende Countystraße einzubiegen. Die anfängliche Erregung über die furchtbaren Vorgänge an dem Bewässerungsgraben hatte sich bereits gelegt, und die Menge war längst auseinander gegangen. Als der Wagen des Leichenbestatters an der Caraherschen Kneipe vorbeifuhr, war die Sonne bereits untergegangen. Die Nacht brach an. Durch die Dunkelheit rollte ohne Geleit, unbeachtet und einsam der schwarze Wagen mit der Leiche Dabneys, des schweigsamen Alten, von dem man nichts wußte außer seinen Namen, der mit niemand befreundet war, den niemand kannte, zu dem niemand sprach, von dem niemand wußte, woher er kam, noch wohin er ging.
Gegen Mitternacht wurde Frau Dyke durch Klagelaute geweckt, die aus dem Nebenzimmer kamen. Magnus Derrick war nicht so ausschließlich von dem Gram über den Tod Harrans beherrscht, daß er nicht an das Unglück andrer hätte denken können. Als er daher erfuhr, daß Frau Dyke und Sidney ebenso wie Hilma von Quien Sabe verjagt worden waren, hatte er ihnen Los Muertos als Zufluchtsort angeboten, nicht ohne dabei hinzuzufügen, daß die gern gewährte Gastfreundschaft unter den obwaltenden Umständen recht fragwürdig wäre.
Frau Dyke war lange mit Hilma aufgeblieben. Sie hatte die Bedauernswerte nach bestem Vermögen zu trösten und zu beruhigen gesucht, hatte sie in ihren Armen gewiegt und mit ihr geweint. Der ganze unsägliche Jammer war bei Hilma zum Durchbruch gekommen.
Am ganzen Körper bebend, hatte sie vom bittersten Schmerz erpreßte Tränenfluten vergossen, um schließlich erschöpft sich in den Armen der alten Frau wie ein kleines Kind in den Schlaf zu schluchzen. Und dann hatte Frau Dyke sie wie ein kleines Kind zu Bett gebracht und war selbst zur Ruhe gegangen.
Einige Stunden darauf wurde die alte Frau von Schmerzenslauten geweckt, die körperliche sowohl wie seelische Pein der Leidenden erpreßten. Sie nahm die Lampe und eilte in Hilmas Zimmer.
Frau Dyke brauchte keine Aufklärung. Sie rief Presley und bat ihn, sofort nach Bonneville um einen Arzt zu telefonieren. Hilma erlitt in dieser Nacht unter großen Schmerzen eine Fehlgeburt. Presley tat während der ganzen Nacht kein Auge zu; er entkleidete sich nicht einmal. Lange noch, nachdem der Arzt gegangen und das Haus der Trauer wieder still geworden war, saß er an dem offenen Fenster seines kleinen Zimmers und blickte, das Nahen des Tages heranwachend, hinaus über die meilenweiten Flächen reifen Weizens. Unsägliches Grauen lastete auf ihm. Furchtbare Gesichte, Wahngebilde, die ihm nur zu vertraut waren, zogen in tollem Wirbel an ihm vorüber oder standen als grausige Schemen vor den Augen seines Geistes. Harran tot, Annixter tot, Broderson tot! Osterman lag in diesem Augenblick vielleicht im Sterben. Diese Männer waren seine Welt, Annixter war sein bester Freund, Harran sein guter Kamerad, Broderson und Osterman waren ihm vertraut wie Brüder gewesen. Seine Gefährten, seine lieben Freunde waren sie alle; sie bildeten seine Umgebung, sie gehörten zu seinem täglichen Leben. Und er hatte im Straßenstaub am Bewässerungsgraben gestanden und hatte gesehen, wie sie niedergeschossen wurden. Und jetzt fand er sich plötzlich an seinem Tisch sitzend, das brennende Licht und sein Tagebuch vor sich. Das Verlangen, der Drang, den auf ihn einstürmenden Gedanken Ausdruck zu geben, war noch nie so gebieterisch, noch nie so unwiderstehlich gewesen. In fliegender Eile schrieb er:
»Dabney tot, Hooven tot, Harran tot, Annixter tot, Broderson tot, Osterman im Sterben, S. Behrman, der Sieger, lebt; die Bahn ist im Besitz von Quien Sabe. Ich sah, wie sie niedergeschossen wurden. Vor noch nicht zwölf Stunden stand ich dort am Bewässerungsgraben. O, welch unsäglich furchtbare Augenblicke! Pulverrauch – feuerspeiende Revolver – Blutlachen – sich bäumende Pferde – taumelnde, zum Tod getroffene Männer – Christian in einer fürchterlichen Stellung, das eine Bein quer über den Sattel hoch emporgestreckt – Broderson seitwärts in den Graben fallend – Osterman, sich niederlegend, den Kopf auf den Armen, müde, todmüde. Das habe ich alles gesehen. Das fürchterliche Bild hat sich meiner Seele unauslöschlich eingeprägt, es ist ein Teil von mir geworden. Sie haben es getan, S. Behrman und die Eigentümer der Bahn haben es getan, während alle Welt, während das Volk dieser unsrer Vereinigten Staaten zuschaute. O, kommt uns nur jetzt mit euren Theorien, uns, den Männern der Ranch, uns, die wir gelitten haben, uns, die wir Wissende sind. O, redet uns nur jetzt von den ›Rechten des Kapitals‹, von der ›Treuhandgesellschaft‹, redet uns von dem ›Gleichgewicht zwischen den Klassen‹. Probiert nur eure fein ausgesonnenen Pläne an uns. Ich vermag nicht zu sagen, ob eure Theorien ausgezeichnet sind oder nicht. Ich weiß es nicht, ob euren Ideen etwas Vernünftiges zugrunde liegt. Ich weiß nicht, in welcher Weise eure Auffassung der sozialen Frage den Tatsachen entspricht. Ich weiß nicht, ob die Eisenbahn ein Recht hat an unsern Ländereien, aber das weiß ich, daß Harran tot ist, daß Annixter, daß Broderson, daß Hooven tot ist, daß Osterman im Sterben liegt; ich weiß, daß S. Behrman lebt und über seinen Sieg triumphiert; ich weiß, daß er über die Leichen der fünf von seinen Mietlingen niedergeknallten Männer hinweggeschritten ist, um seine Hand auf einen fürstlichen Besitz zu legen.
»Ich kann den Ausgang sehen. Die Bahn wird den vollen Sieg davontragen. Der Trust wird uns überwältigen. Hier in dieser Ecke eines mächtigen Gemeinwesens, an der Kante des Kontinents, hier in diesem weitab von den großen Mittelpunkten gelegenen weltfernen, abgesonderten Tale des Westens preßt uns die eiserne Riesenhand das Leben aus, vernichtet unsre Freiheit, sperrt uns den Weg zum Glück, und unser ohnmächtiger Widerstand, unsre nicht eine Sekunde überdauernden Todeszuckungen verursachen nicht die geringste Erschütterung in dem ungeheuern rasselnden Triebwerk des Lebens der Nation; ein Flecken auf den Schwungrädern vielleicht, ein Sandkorn in den Kammzähnen – das nur sekundenlange Knarren der Achse war die Wehklage der Mutter, der Jammerlaut der Gattin – und das Riesenrad schwingt wieder reibungslos in gleichmäßigen Umdrehungen, und das winzige, kaum bemerkte Hemmnis eines Augenblicks ist vergessen. Willst du das Volk glauben machen, daß die unmerkliche Erschütterung in dem ungeheuern Triebwerk die Arbeitsleistung der Maschine bedroht? Welche Torheit, auch nur daran zu denken! Rede den Leuten von Gefahr, und sie werden dich auslachen. Erzähle ihnen nach fünf Jahren die Geschichte des Kampfes zwischen der Liga des San Joaquin und der Eisenbahn, und sie wird nicht geglaubt werden. Wie? eine regelrechte Schlacht zwischen Farmern und Bahn, eine Schlacht, die sieben Männern das Leben kostete? Unmöglich, das kann nicht gewesen sein. Deine Geschichte ist erfunden – ist übertrieben.
»Und doch ist es Lexington Städtchen Bei Boston. Hier fand im amerikanischen Freiheitskriege am 19. April 1775 der erste blutige Zusammenstoß zwischen Amerikanern und Engländern statt. – Gott helfe uns, Gott erleuchte uns, Gott rüttle uns auf aus unserm Stumpfsinn – es ist Lexington; Farmer nehmen das Gewehr zur Hand und kämpfen für die Freiheit. Ist unser Staat Kalifornien der einzige, der seinen alten Erbfeind hat? Gibt es keinen andern Trust zwischen den Ozeanen als den von der Pacific- und Southwest-Eisenbahn aufgerichteten? Fragt euch, ihr Männer des Westens, fragt euch, die ihr in Ost, Süd und Nord wohnt – jeder Bürger eines jeden Staates von Maine bis Mexiko, von den Dakotas bis zu den beiden Karolinas frage sich: haust nicht das Ungetüm innerhalb unsrer Grenzen? Ist's kein Trust des Verkehrswesens, so ist's doch ein andrer Kopf ebenderselben Hydra. Ist nicht unser Todeskampf vorbildlich? Ist er nicht einer von vielen, spiegelt sich in ihm nicht der furchtbare Kampf auf Leben und Tod wider, der überall, in jedem Staate der Union ausgefochten wird? O du blindes, gefesseltes, überlistetes, betrogenes Volk, kannst du das nicht sehen? Kannst du nicht sehen, daß die Ungetüme deine dir geraubten Schätze in ihren eisernen Klauen halten und dir davon kärgliche Almosen geben um den Preis deines Blutes, um den Preis des Lebens deines Weibes und deiner unmündigen Kinder. Eure Säuglinge gebt ihr dem Moloch für den Laib Brotes hin, das ihr selbst geknetet habt. Eure verhungernden Weiber opfert ihr Juggernaut für den eisernen Nagel, den ihr selbst geschmiedet habt.«
Er brachte die Nacht damit zu, diese und ähnliche Gedanken in sein Tagebuch niederzuschreiben; von Zeit zu Zeit sprang er auf und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab oder warf sich, von unsäglichem Entsetzen und blinder Wut erfaßt, auf sein Bett und schwur, das Gesicht in die Kissen vergrabend und unzusammenhängende Laute ausstoßend, daß weder S. Behrman noch Shelgrim je ihren vollen Triumph erleben sollten.
Der Morgen kam und mit ihm die täglichen Zeitungen. Presley warf nicht einen einzigen Blick in den »Merkur«. Noch zwei andre Tagesblätter erschienen in Bonneville, die sich rühmten, dem Volke als Sprachrohr zu dienen und seine Stimmung widerzuspiegeln; die von ihnen gebrachten Berichte las Presley eifrig.
Osterman lebte noch; die Möglichkeit seiner Genesung war nicht ausgeschlossen. Die Liga hatte sich in einer Stärke von dreihundert Mann über Nacht in Bonneville versammelt; sie schickte Streifwachen durch die Straßen und bewachte, noch immer fest entschlossen, Frieden zu halten, sogar die Werkstätten und Gebäude der Bahn. Ferner hatte die Liga Kundmachungen erlassen, in denen sie die Bürger dringend ermahnte, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten; gleichzeitig aber war von ihr für diesen Nachmittag eine im Opernhause abzuhaltende Mißfallensversammlung einberufen worden.
Die Zeitungen sprachen es aus, daß diejenigen, die den Marshal an der Erfüllung seiner Pflicht gehindert hätten, nach erstatteter Anzeige von dem Bezirksanwalt gerichtlich belangt oder vor die Grand Jury Aus nicht weniger als 12 und nicht mehr als 23 Mitgliedern bestehendes Geschworenengericht, das über die Zulässigkeit der Anklage entscheidet. gebracht werden könnten. Diese tagte jedoch zurzeit nicht, und außerdem wußte man, daß in der Amtskasse des Marshals gegenwärtig das Geld fehlte, um die Kosten der Einberufung der Geschworenen und der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens zu bestreiten. S. Behrman und Ruggles erklärten auf an sie gerichtete Anfragen, daß die Bahn sich völlig aus dem ihr aufgedrängten Kampfe zurückziehe. Nach ihrer Auffassung müßte die Sache jetzt zwischen der Liga und der Bundesregierung zum Austrag gebracht werden; sie selbst hätten damit ganz und gar nichts zu tun und wüschen ihre Hände in Unschuld. Die Ranchbesitzer sollten sich nur mit Washington abfinden. Nun schien aber der Kongreß soeben die Verwendung von Truppen in Sachen des bürgerlichen Rechts verboten zu haben, und so mußte offenbar die ganze den Streit zwischen Liga und Eisenbahn betreffende Angelegenheit vorläufig in dem derzeitigen Zustande bleiben.
Nach Presleys Ansicht jedoch war die wichtigste Neuigkeit dieses Vorgehens der Bericht über die Schritte, welche die Bahn auf die Nachricht von dem gestrigen Kampfe hin unternommen hatte.
Bonneville war sofort völlig abgesperrt worden. Kein einziger Lokalzug verkehrte, und die Fernzüge hielten nicht an. Selbst die Post wurde nicht befördert. Ferner waren – wie das Abkommen zustande kommen konnte, wäre schwer zu sagen gewesen – die Telegraphenbeamten von ihrer Gesellschaft angewiesen worden, die Annahme aller Telegramme, außer den von Beamten der Bahn aufgegebenen, zu verweigern. San Francisco und der Außenwelt sollte die erste Schilderung des blutigen Kampfes, die den ersten entscheidenden Eindruck machen mußte, von S. Behrman und Ruggles, den ortsangesessenen Vertretern der P. und S. W., übermittelt werden.
Eine Stunde vor dem Frühstück erschienen die Leichenbestatter und nahmen die Leichen Harrans und Annixters unter ihre Obhut. Presley bekam weder Hilma, noch Magnus, noch Frau Derrick zu Gesicht. Der Arzt kam, um nach Hilma zu sehen. Er frühstückte mit Frau Dyke und Presley und ließ dabei verlauten, daß Hilma sich sowohl von der durch den Tod ihres Gatten verursachten Erschütterung wie von der Fehlgeburt erholen würde.
»Sie sollte ihre Mutter bei sich haben,« sagte der Arzt. »Fortwährend ruft sie nach ihr oder bittet, zu ihr gebracht zu werden. Ich habe versucht, ein Telegramm an Frau Tree zu senden, aber die Gesellschaft nimmt es nicht an. Und selbst wenn ich sie auch irgendwie benachrichtigen könnte, wie sollte sie hierherkommen? Es verkehren keine Züge.«
Presley war es unmöglich, heute in Los Muertos zu bleiben. Schwer lastete die Trauer auf dem Hause des Todes. Tiefe, bedrückende Stille herrschte, die nur unterbrochen wurde durch das leise Kommen und Gehen des Leichenbestatters und seiner Leute. Als Presley, der beschlossen hatte, nach Bonneville zu reiten, aus der Haustür trat, fand er den Leichenbestatter gerade damit beschäftigt, einen langen Trauerflor an den Klingelgriff zu binden.
Presley sattelte seinen Pony und ritt nach der Stadt. Durch das anhaltende, ununterbrochene Grübeln über den ihn ausschließlich beschäftigenden Gegenstand hatte sich inzwischen eine düstere, drohende Feindseligkeit, eine tiefwurzelnde Rachsucht seines ganzen Wesens bemächtigt. Die erste Betäubung war vorüber; eine gewisse Gewöhnung an das, was geschehen war, hatte das Entsetzen abgestumpft und dafür den Trieb nach Vergeltung wachgerufen. Glimmte der dumpfe Zorn über die Niederlage, die Entrüstung über den ungeheuern Frevel bisher nur unter der Asche, so schlugen seine Flammen jetzt desto höher empor. Plötzliche Wutanfälle schnürten Presley die Kehle zu, unvermittelte Zornausbrüche ließen seine Augen mit Blut unterlaufen. Er knirschte mit den Zähnen, sprudelte Flüche hervor und ballte die Hände, bis sie weiß und blutleer wurden. Sollte die Bahn also doch triumphieren? Nach allen diesen Monaten der Vorbereitung für den Kampf, nach all den großsprecherischen Beschlüssen, nach all der dünkelhaften Anmaßung der Liga? Die Liga, welch ein Possenspiel! Was hatte sie in dem entscheidenden Augenblick geleistet? Sollte der Trust sie alle so mühelos zermalmen? Sollte S. Behrman Los Muertos verschlingen? S. Behrman! Presley sah ihn deutlich vor sich – dick, aufgedunsen, fahl. Er sah seinen wabbligen Kehlbraten, die hinten über den Kragen quellende Fettwulst mit den vereinzelten Haaren, den von der braunleinenen Weste umspannten Wanst und die große Uhrkette, deren hohle Glieder leise gegen die Knöpfe von falschem Perlmutter klirrten. Und dieser Mann sollte Magnus Derrick zugrunde richten? Ja, so würde es sein! Hatte er doch schon das Leben von Männern wie Harran und Annixter zertreten! Dieser Mann sollte im Namen des Trusts Los Muertos an sich reißen, wie er bereits Quien Sabe an sich gerissen hatte, und nach Los Muertos die Ranch Brodersons, die Ostermans, andre noch und wieder andre, das ganze Tal des San Joaquin, den ganzen Staat.
Mit der geballten Faust schlug Presley sich im Weiterreiten vor die Stirn.
»Nein,« schrie er, »nein, ich töte ihn, töte ihn, ich töte ihn mit meinen Händen!«
Bei diesem Gedanken geriet er außer sich. O, seine Finger tief in den fetten, fahlen Hals dieses Mannes zu krallen, den aufgeblähten Kehlbraten wie in einer eisernen Klammer zusammenzupressen, das Leben aus dem Verhaßten herauszuwürgen, es mit seinen Fäusten herauszuhämmern, S. Behrman heimzuzahlen für die langen Jahre der Erpressung und Unterdrückung, abzurechnen für bestochene Geschworene, feile Richter und erkaufte Gesetzgeber, sich zu rächen für den Kunstgriff der »Eisenbahnkommission der Ranchbesitzer«, den Schwindel der »Herabsetzung um zehn Prozent«, den Ruin Dykes, die Beschlagnahme von Quien Sabe, für die Ermordung Harrans und für den an Annixter begangenen Totschlag!
In dieser Gemütsverfassung kam er zu Caraher. Der Kneipwirt hatte eben seine Schenke geöffnet und stand, eine Pfeife rauchend, in der Tür. Presley stieg ab und trat ein; die beiden hatten ein langes Gespräch miteinander.
Als Presley drei Stunden später die Kneipe verließ und nach Bonneville weiterritt, prägte sich in seinem bleichen Gesicht mit den festgeschlossenen Lippen ein unbeugsamer Wille, ein durch nichts zu erschütternder Vorsatz aus. Sein Entschluß war gefaßt.
Die Massenversammlung im Opernhaus war auf ein Uhr anberaumt worden, aber schon lange vor der Mittagsstunde war die Straße vor dem Gerichtsgebäude und jede andre in dessen Umgebung von einer dichtgedrängten, sich schiebenden und stoßenden, aufgeregten Menschenmenge erfüllt. Nur wenige Frauen hatten sich in das Gewühl gewagt, aber von den männlichen Bewohnern Bonnevilles und Guadalajaras fehlte kaum einer. Bis von Visalia und Pixley her waren die Leute herbeigeströmt. Aber es waren nicht mehr die Scharen Neugieriger, die sich um das Hoovensche Gehöft gedrängt hatten; das Volk war nicht länger bestürzt und verwirrt. Alle waren sich der Ereignisse des vorigen Tages in ihrer ganzen Tragweite voll bewußt. Niemand ging seinem Geschäft nach, und fast alle Läden waren geschlossen. Schon in aller Frühe hatten sich die Mitglieder der Liga eingefunden; das Gewehr über den Sattelknopf gelegt, ritten sie in der Stadt umher. Gegen zehn Uhr begannen sich die Straßen zu füllen. Die Gruppen an den Ecken wuchsen an und gingen eine in der andern auf; Fußgänger, die auf dem Bürgersteig keinen Platz mehr fanden, setzten ihren Weg auf dem Fahrdamm fort. Stündlich wuchs das Gedränge, bis sich Schultern und Ellbogen berührten, bis jeder Verkehr stockte und schließlich unmöglich wurde. Die Menge, jetzt eine geschlossene Masse, war von einer Straßenseite bis zur andern fest zusammengekeilt. Und von diesem zu einem Einzelwesen gewordenen Gewimmel, von diesem lebenden und atmenden gegliederten Ganzen ging ein summendes, drohendes Geräusch aus. Es war noch nicht das wilde Getöse, der schrille, gellende Schrei des Aufruhrs und der Empörung, aber es war der Anfang, es war das Fauchen der erwachenden Bestie, die, das Eisen in ihrer Flanke fühlend, den Kopf mit den gefletschten Zähnen hob, und aus deren wutbebender Kehle ein langgezogenes grollendes Knurren kam.
So verging der Vormittag, während die stündlich anwachsende, sich in den Straßen hin und her schiebende Volksmenge die Hauptverkehrsadern der Stadt durchflutete; ununterbrochen stieg das eintönige, dumpfe Murren in die stille, heiße Luft empor.
Endlich gegen zwölf Uhr kam eine einheitliche Bewegung in die Volksmassen; sie schoben und drängten sich nach dem Opernhause. Presley, der seinen Pony im City Livery-Stable Der livery-stable = Leihstall vermietet Pferde und nimmt solche auch in Futter und Pflege. eingestellt hatte, war mitten im Gedränge und wurde von dem Strome mit fortgerissen. Er war so festgekeilt in der Menschenmenge, daß er seine an die Seiten gepreßten Arme nicht rühren konnte; der ungeheure Druck brach ihm fast die Rippen, und er konnte kaum atmen. Rings um ihn her hoben und senkten sich Wogen auf Wogen von Tausenden geröteter, finsterer und feindseliger Gesichter. Aus unerklärlichen Ursachen wallten mächtige, ungestüme Wellen wie die vom Grunde des Meeres aufsteigende Flut über und durch die Menschenmassen. Von Zeit zu Zeit wurde Presley emporgehoben und mit der Menge weit, weit zurückgespült, bis der Eingang des Opernhauses ein halbes Straßenviertel von ihm entfernt war, dann warf eine neue Flutwoge den Atemlosen, Taumelnden wieder nach vorn bis dicht in die Vorhalle mitten in den tollen Wirbel hinein. Hier waren die Wellen kürzer und sie folgten schneller aufeinander; der von allen Seiten auf seinen Körper ausgeübte furchtbare Druck nahm Presley die Kraft, den sich ihm auf die Lippen drängenden Schrei auszustoßen. Mit einem Male schien die ganze Masse der sich im Gedränge schiebenden, stoßenden und balgenden Menschen mächtig anzuschwellen, sich zu heben und höher und immer höher bis ins Riesenhafte zu steigen. Wie von dem unwiderstehlichen Anprall einer Sturzwelle wurde Presley weit vorwärts geschleudert. Es folgte ein Augenblick, in dem Tausende vor Anstrengung dunkelroter Gesichter mit weitausgerissenem Mund und blutunterlaufenen Augen, unzählige gekrallte Hände sich in tollem Wirbel um ihn drehten – ein Augenblick des Ausbruchs wütenden Geschreis, tosender Hurrarufe und gebrüllter Flüche – ein Augenblick furchtbar pressenden Druckes, in dem Presley glaubte, daß seine Rippen brechen mußten wie tönerne Pfeifenrohre, und schon wurde er, halb betäubt, atem- und hilflos – ein Atom auf dem Kamme einer sturmgepeitschten Woge – über die zum Opernhause führenden Stufen in die Vorhalle gehoben und schließlich durch Wandelgänge und Türen in den Zuschauerraum selbst gedrängt.
In toller Hast suchte man sich Sitze zu sichern. Den Mittelgang verschmähend, stiegen die Männer über die Rücklehnen von einer Reihe Parkettsessel zur andern und ließen dabei den Abdruck ihrer staubigen Sohlen auf dem roten Plüsch der Sitze zurück. Im Augenblick war das ganze Hans von der Bühne bis zur obersten Galerie dicht besetzt. Mitten- und Seitengänge waren vollgepackt; sogar auf dem Rande der Bühne saßen Menschen, die einen schwarzen Saum zu beiden Seiten der Rampenlichter bildeten.
Der Vorhang war aufgezogen, und die Bühne zeigte eine erst halb gestellte Dekoration, eine Art Terrasse, deren Fußboden mit schachbrettartig geordneten weißen und schwarzen Fliesen belegt war; rote, weiße und gelbe Blumen schienen aus Urnen und Vasen emporzuwachsen. Eine lange Doppelreihe von Stühlen zog sich von der einen Seite der Bühne bis zur andern. Der Tisch in der Mitte war mit einem roten Tuch bedeckt; ein Krug mit Wasser stand darauf; neben diesem lag der hölzerne Hammer des Vorsitzenden.
Sehr bald wurden die Stühle von Mitgliedern der Liga eingenommen. Die Versammlung brach in laute Beifallsrufe aus, wenn immer bekannte Persönlichkeiten erschienen – Garnett von der Ruby-Ranch, Gethings von San Pablo, Keast von der seinen Namen tragenden Ranch, Chattern von Bonanza, ältliche Männer, bärtig, besonnen, wortkarg.
Garnett eröffnete die Versammlung mit einer Ansprache, in der er kurz und bündig sagte, was geschehen war. Dann teilte er seinen Zuhörern mit, daß eine Anzahl von Beschlüssen gefaßt werden sollte, und stellte der Versammlung den nächsten Redner vor.
Der bat um Mäßigung. Er wäre konservativ. Von Anfang an hätte er den Gedanken an einen bewaffneten Widerstand verworfen; nur im äußersten Notfalle dürfe man zu diesem verzweifelten Mittel greifen. Er »beklagte« die schrecklichen Ereignisse des gestrigen Tages. Er beschwor das Volk, geduldig zu warten und sich zu keinen weiteren Gewalttaten hinreißen zu lassen. Daran schloß er die Mitteilung, daß bewaffnete Streifwachen der Liga Los Muertos, Brodersons und Ostermans Ranch abpatrouillierten. Es sei bekannt, daß der Vereinigte Staaten-Marshal erklärt habe, er sei nicht imstande, dem Gerichtsbeschluß Geltung zu verschaffen. Ein weiteres Blutvergießen würde nicht stattfinden.
»Es ist genug Blut vergossen worden,« fuhr er fort, »und ich möchte gleich jetzt meine unmaßgebliche Meinung aussprechen, daß sich die schrecklichen Ereignisse von gestern wohl hätten vermeiden lassen können. Ein Gentleman, den wir alle hochschätzen, der von Anfang an unser anerkannter Führer gewesen ist, betrauert in diesem Augenblick den Verlust eines hoffnungsvollen, vor seinen Augen zu Tode getroffenen Sohnes. Gott weiß, daß ich, wie wir alle, den Schmerz unsers Vorsitzenden aufs tiefste mitempfinde. Ich bedaure den schwergeprüften Vater von ganzer Seele. Mein Herz fühlt mit ihm in dieser Stunde des Jammers. Bei alledem aber muß die Stellung der Liga scharf umgrenzt werden. Das sind wir uns, das sind wir den Bewohnern dieses Countys schuldig. Die Liga bewaffnete sich zu dem ausgesprochenen Zweck, den Frieden zu erhalten, nicht ihn zu brechen. Wir glaubten, mit sechshundert in den Waffen geübten und jeden Augenblick kampfbereiten Männern den Gegner derartig einschüchtern zu können, daß er jeden Versuch, uns von unserm Lande zu vertreiben, wenigstens so lange unterließ, bis die vor das Oberbundesgericht gebrachten Fälle entschieden waren. Hätten wir gestern dem in unsrer Mitte erscheinenden Feinde sechshundert Gewehre entgegenstellen können, so wäre die Anwendung von Gewalt von selten unsers Gegners kaum denkbar gewesen. Ein Kampf wäre vermieden worden, und wir brauchten heut nicht den Tod von vier unsrer Mitbürger zu beklagen. Man hat einen Fehler begangen, und wir, die Mitglieder der Liga, dürfen dafür nicht verantwortlich gemacht werben.«
Der Redner setzte sich unter lauten Beifallsbezeugungen der Ligaleute; bei dem übrigen Teile der Versammlung schien er weniger Anklang gefunden zu haben. Ein andres Ligamitglied, ein großer, ungeschlachter Mensch, halb Ranchmann, halb Berufspolitiker, trat an seine Stelle.
»Ich schließe mich den Ausführungen meines Kollegen an,« begann er. »Die Art des Widerstandes gegen einen Versuch des Marshals, die Strohmänner der Bahn als Besitzer einzusetzen, ist in den Ausschußsitzungen schon vor langer Zeit eingehend besprochen worden. Es war nie unsre Absicht, auch nur einen Schuß abzufeuern. Eine solche uneingeschränkte Vollmacht wie die, von der gestern Gebrauch gemacht wurde, war niemand gegeben worden. Unser hochgeschätzter Vorsitzender ist ein ganzer Mann, aber wir wissen alle, daß er es liebt, seine Autorität geltend zu machen, und daß er seinen eignen Weg geht, ohne jemand darüber Rechenschaft abzulegen. Wir – die große Masse der Ligamitglieder – waren nie darüber unterrichtet, was vorging. Wir glaubten natürlich, daß man scharf auf die Bahn achthatte, so daß wir nicht so überrascht werden konnten wie gestern. Es scheint aber, daß man gar nicht oder doch in durchaus ungenügender Weise achtgegeben hat. Unsre Idee war die, irgendeiner Bewegung der Bahn zuvorzukommen. Sobald wir erfahren hätten, daß der Marshal im Anzuge wäre, würden wir den geschäftsführenden Ausschuß einberufen haben, um zu entscheiden, was zu tun sei. Wir hätten hinreichend Zeit haben müssen, die ganze Liga zu alarmieren. Was geschieht nun aber? Während wir alle auf der Hasenjagd sind, wird es der Bahn ermöglicht, uns zu überrumpeln, und dann, trotzdem es doch schon zu spät ist, wird eine Handvoll Ligaleute zusammengerafft, und es kommt zu einem übereilten Kampfe, in dem die Unsern getötet werden. Ich bedaure unsern Herrn Vorsitzenden von ganzem Herzen. Niemand kann ihn mehr bedauern, aber gleichzeitig muß ich meiner Ueberzeugung Ausdruck geben, daß er hastig und unüberlegt gehandelt hat. Hätte er es richtig angefangen, so hätte er der Bahn sechshundert Mann entgegenstellen können; es wäre zu keiner Schießerei gekommen, und wir hätten keine Toten gehabt. Er hat es aber nicht richtig angefangen, und wir haben Tote gehabt, und ich kann es nicht einsehen, inwiefern die Liga dafür verantwortlich gemacht werden kann. Der leitende Gedanke der Liga, der alleinige Grund, weshalb sie organisiert wurde, war der, alle Ranchos im San Joaquin-Tale vor der Bahn zu schützen; mir scheint es aber, daß unsre Mitbürger ihr Leben opferten, nicht indem sie alle unsre Ranchos, sondern einzig und allein nur Los Muertos – das Eigentum des Herrn Derrick – verteidigten.«
Der Redner war kaum zu seinem Platz zurückgekehrt, als ein Mann sich vom Hintergrund der Bühne zu Garnett durchdrängte. Er übergab diesem einen Brief und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Garnett las den Brief, trat dann bis zum Rande der Bühne vor und hielt seine Hand in die Höhe. Nachdem Ruhe eingetreten war, sagte er:
»Soeben habe ich eine Trauernachricht erhalten. Unser Freund und Mitbürger, Herr Osterman, ist heut vormittag zwischen elf und zwölf Uhr gestorben.«
Sofort erhob sich ein Wutgebrüll. Nicht einer war in dem überfüllten Hause, der nicht, wild schreiend und mit den Armen fuchtelnd, aufgesprungen wäre. Das Gebrüll wurde stärker und machte das Theater erzittern und die Gasflammen der Kronleuchter flackern. Es war der heisere Schrei der Verwünschung, das ohrenbetäubende Geheul der Raserei.
Ein Wirbelsturm der Empörung brauste von Wand zu Wand; unwiderstehlich wurde Presley von der Raserei des Augenblicks erfaßt. Er war nicht länger Herr seiner selbst. Ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war, stand er plötzlich, sein vor Aufregung flammendes Gesicht der Versammlung zugewandt, auf der Bühne; eine wilde Begeisterung durchglühte ihn, und einander überstürzend strömten ihm die Gedanken zu. Seine Worte mit jähen Gebärden der emporgehobenen Arme begleitend, redete er zu der Menge.
»Ein Toter mehr,« donnerte Presley, »ein Toter mehr. Harran tot, Annixter tot, Broderson tot, Dabney tot, Osterman tot, Hooven tot – niedergeschossen, gemordet – gemordet in der Verteidigung von Haus und Herd, gemordet in der Verteidigung ihrer Rechte, gemordet im Kampfe für die Freiheit. Wie lange soll das so weitergehen? Wie lange sollen wir leiden? Wo ist das Ende, was ist das Ende? Wie lange soll das Ungetüm mit dem Herzen von Eisen sich mit unserm Lebensblut noch mästen? Wie lange soll das Schreckensbild von Stahl und Dampf auf unsern Nacken reiten? Werdet ihr nie genug haben, werdet ihr nie nachlassen, ihr, unsre Meister, ihr, unsre Herren, ihr, unsre Könige, ihr, unsre Fronvögte, ihr, unsre Pharaos? Werdet ihr nie hören auf das Gebot: Lasset ab von meinem Volke? O, durch die Jahrhunderte braust dieser Donnerruf. Hört darauf, hört darauf! Es ist die Stimme Gottes, des Herrn, der durch seine Propheten spricht. Hört darauf, hört darauf: Lasset ab von meinem Volke! Ramses hörte den Ruf in seinen Pylonen zu Theben, Cäsar hörte ihn auf dem Palatin, der Bourbone Louis in Versailles, Charles Stuart in Whitehall, der weiße Zar hörte ihn im Kreml –: Lasset ab von meinem Volke! Er ist die Stimme der Völker – durch die Jahrhunderte braust jener Ruf; überall und zu allen Zeiten erschallt er. Die Stimme Gottes ist die Stimme des Volkes. Das Volk schreit auf in seiner Not: Lasset ab von uns, dem Volke Gottes! Ihr, unsre Herren, unsre Könige, unsre Tyrannen, hört ihr uns nicht? Hört ihr nicht Gott, der durch uns spricht? Werdet ihr nie ablassen von uns? Wie lange noch werdet ihr unsre Geduld mißbrauchen? Wie lange noch sollen wir euch fronen? Wie lange wollt ihr uns quälen? Schreckt euch denn nichts? Kann nichts euer Treiben hemmen? Wißt ihr denn nicht, daß ihr den roten Schrecken weckt, wenn ihr euch zu lange gegen unsern Schrei taub stellt? Ramses wollte ihn nicht hören und ging elend zugrunde. Cäsar wollte ihn nicht hören und wurde im Senat erstochen. Der Bourbone Louis wollte ihn nicht hören und starb auf der Guillotine. Charles Stuart wollte ihn nicht hören und mußte sein Haupt auf den Henkerblock legen. Der weiße Zar wollte ihn nicht hören und wurde in seiner eignen Hauptstadt in die Luft gesprengt. Wollt ihr es dazu kommen lassen? Wollt ihr uns dazu treiben? Uns, die wir stolz sind auf unsern Rechtsstaat, uns, die wir im Lande der Freiheit leben?
»Fahret fort, wie ihr begonnen habt, und es muß dazu kommen. Stellt euch zu lange taub gegen den Ruf: ›Lasset ab von meinem Volke!‹ und ein andrer Ruf wird erschallen, ein Ruf, den ihr hören müßt, ein Ruf, gegen den ihr eure Ohren nicht verschließen könnt. Es wird der Ruf der Straße sein, das › à la bastille‹, das den roten Schrecken weckt und die Revolution entfesselt. Das gequälte und geplünderte, das erbitterte und verzweifelte Volk wird endlich sich gegen euch wenden, wie es so oft schon sich gegen seine Peiniger gewendet hat. Gegen euch, die ihr unsre Fronvögte, unsre Herren, unsre Könige seid. Ihr habt Simson gefangen, ihr habt seine Stärke euch dienstbar gemacht. Ihr habt sein Haupt geschoren, ihr habt ihn geblendet, ihr habt ihn eure Mühlsteine drehen lassen, um das Mehl für eure Mühlen zu mahlen. Spott und Schande habt ihr über sein Haupt gebracht. Seht euch vor, so lieb euch euer Leben ist, seht euch vor, daß er nicht eines Tages Gott seinen Herrn anruft und mit seinen Armen die Säulen eurer Tempel umreißt!«
Die von dieser unerwarteten Brandrede zuerst verblüffte und bestürzte Versammlung fing bei den letzten Worten Feuer und brach in donnernden Beifall aus. Dann aber – und das war für die Wirkung seiner Worte noch bezeichnender als bloßes Beifallsgeschrei – trat sofort tiefe Stille ein, als Presley weitersprach.
»Wir sind die Hörigen unsrer Herren und Meister. Unsre Heimstätten gehören ihnen, unsre Gesetzgeber sind ihnen Untertan. Wir können ihnen nicht entrinnen. Für uns gibt es keine Hilfe. Uns wird gesagt, wir könnten sie mittels der Wahlurne besiegen. Die Wahlurne gehört ihnen. Uns wird gesagt, wir sollten Hilfe bei den Gerichten suchen. Die Gerichte gehören ihnen. Wir wissen, was unsre Peiniger sind – Räuber im Staats- und Gemeinwesen, Räuber in Handel und Wandel, Räuber vor dem Gesetz, Bestecher, Schwindler und Gauner. Vor keinem noch so großen Frevel schrecken sie zurück, keiner noch so erbärmlichen Spitzbüberei schämen sie sich; sie rauben eine Million Dollar aus dem Schatzamt und stehlen einem Farmarbeiter den Preis eines Brotes aus der Tasche. Sie beschwindeln die Nation um Hunderte von Millionen und nennen das Finanzgebaren; sie erpressen dem Volke seine Sparpfennige und nennen das Handelsverkehr; sie bestechen eine Volksvertretung und nennen das Politik; sie kaufen einen Richter und nennen das Gesetz; sie bezahlen Gauner für die Ausführung ihrer Pläne und nennen das Organisation; sie geben die Ehre eines Staates preis und nennen das Wettbewerb.
»Und das ist Amerika! Wir kämpften bei Lexington für unsre Freiheit, wir kämpften bei Gettysburg, Stadt in Pennsylvanien, bekannt durch den Sieg des nordamerikanischen Generals Meade über die Konföderierten unter Lee 1.-3. Juli 1863. um andre zu befreien. Aber das Joch drückt uns weiter; wir haben es nur auf die andre Schulter geschoben. Wir reden von Freiheit – o, welch Possenspiel, o, welche Torheit! Wir reden es uns ein und sagen es unsern Kindern, daß wir die Freiheit errungen haben, daß wir nicht länger um sie zu kämpfen brauchen. Aber ach! der Kampf beginnt eben erst, und er wird andauern, solange die Vorstellung, die wir uns von der Freiheit machen, dieselbe bleibt wie heute.
»Denn unsre Vorstellung der Freiheit kommt in den Bildsäulen zum Ausdruck, die wir ihr errichten. Wir denken sie uns als eine herrliche, gekrönte, siegreiche Frau in schimmernder Rüstung und weißen Gewändern, eine Leuchte in der hocherhobenen Hand – als die erhabene, majestätische Siegesgöttin schwebt sie uns vor. O, welch ein Blendwerk, o, welche Torheit! Die Freiheit ist nicht die erhabene, sieggekrönte Göttin in fleckenlosen Gewändern. Die Freiheit ist der in Pulverdampf gehüllte Barrikadenkämpfer, die vom Schmutz der Gosse besudelte, blutbefleckte unmenschliche Schreckensgestalt, die, wilde Flüche ausstoßend, dahinstürmt und in der einen Hand die rauchende Büchse, in der andern die Brandfackel schwingt.
»Das Recht wird freiwillig keinem gewährt, der danach verlangt. Die Freiheit stammt nicht von den Göttern. Sie ist ein Kind des Volkes; da, wo der Kampf am heißesten wogt, wird sie blutbefleckt und pulvergeschwärzt aus Tod und Vernichtung geboren. Und nicht zu einer Göttin, zu einer Furie wächst sie heran, zu dem furchtbaren Wesen, das in seiner blinden Wut Freund und Feind unersättlich und unerbittlich dahinmordet. Und das ist der rote Schrecken.«
Presley hatte zu sprechen aufgehört. Schwach, am ganzen Leibe bebend und in halber Bewußtlosigkeit stieg er von der Bühne herab. Ein nicht enden wollender stürmischer Beifall brach los, der das Haus bis zum Dach durchbrauste. Die Leute jubelten dem Redner zu, stampften mit den Füßen und schwenkten ihre Hüte. Aber es war nicht der Beifall des Verständnisses. Während Presley triebmäßig den Ausgang zu gewinnen suchte, wurde er sich vollkommen klar darüber, daß er nicht ein einziges Mal die Herzen der Zuhörer in seinem Bann gehalten hatte. Er hatte so gesprochen, wie er geschrieben haben würde; trotz all seiner Verachtung für die Literatur war er literarisch gewesen. Die Männer, die seinen Worten gelauscht hatten, Ranchbesitzer, Landleute, Handel- und Gewerbetreibende, waren ihm aufmerksam genug gefolgt, ohne jedoch auch nur einmal mit ihm empfinden zu können. Sie gaben ihrem Beifall einen lauten, aber nicht aus der Tiefe ihrer bewegten Gemüter kommenden Ausdruck; es lag ihnen offenbar nur daran, den Anschein zu erwecken, als ob sie ihn verstanden hätten.
Trotz aller seiner Liebe für das Volk erkannte Presley im Augenblick, daß seine Art diesen Leuten fremd war. Er hatte ihnen und ihrer Sache nicht im mindesten genützt und würde ihnen auch nie nützen können.
Enttäuscht, verwirrt, bestürzt drängte er sich hinaus ins Freie; nachdenklich und mit gebeugtem Haupt blieb er eine Weile auf den zur Vorhalle führenden Stufen stehen.
Er sagte sich, daß sein Vorhaben ihm mißlungen war. In dem entscheidenden Wendepunkt war er unwiderstehlich hingerissen worden, aber das, was ihm als eine Eingebung erschienen war, hatte sich als ein Irrtum erwiesen. Das Volk vermochte nicht, ihn zu verstehen; es glaubte nicht, daß er ihm nützen könnte. Mit einem Male schien Presley sich darauf zu besinnen, daß es für ihn noch etwas zu tun gäbe. Der entschlossene Zug um seine Lippen kehrte wieder. Durch die von Menschen wimmelnden Straßen suchte er den Weg nach dem Stalle, in dem er sein Pferd eingestellt hatte.
Mittlerweile hatte es im Opernhause ein großes Aufsehen gegeben. Magnus Derrick war erschienen.
Nur das Bewußtsein ungeheurer Verantwortlichfeit und strengstes Pflichtgefühl hatten Magnus dazu bewegen können, an diesem Tage sein Haus und den Leichnam des Sohnes zu verlassen. Er war der Vorsitzende der Liga, und noch nie seit ihrer Errichtung war eine Versammlung, die der heutigen an Bedeutung gleichkam, abgehalten worden. Er hatte tags zuvor den Befehl am Bewässerungsgraben geführt. Er war's, der die Handvoll Ligaleute zusammengerafft hatte. Er war derjenige, der die Verantwortung für den Kampf tragen mußte.
Als er das Theater betreten hatte und den zur Bühne führenden Mittelgang hinabschritt, war eine allgemeine Unruhe entstanden, die sich teils in Beifallskundgebungen, teils in bloßem Lärm äußerte. Viele drängten sich vor, um ihm die Hand zu schütteln, andre aber, die ehedem seine standhaften Anhänger gewesen waren, jetzt aber den sich gegen ihn regenden Widerstand witterten, blieben vorsichtig im Hintergründe; sie hatten Furcht, sich dadurch bloßzustellen, daß sie es mit einem Manne hielten, dessen Handlungsweise von ebender Körperschaft, deren Haupt er war, nicht gutgeheißen werden könnte.
Der Governor nahm den ihm von Garnett angebotenen Vorsitz nicht an, sondern zog sich in eine Ecke der Bühne zurück. Der ihm unerschütterlich ergebene Keast folgte ihm dorthin und unterrichtete ihn kurz von dem Inhalt der eben gehaltenen Reden.
»Ich schäme mich dieser Menschen, Governor,« beteuerte er zornig, »die jetzt die Courage verlieren. Sie jetzt im Stich zu lassen! Das Blut kocht mir, wenn ich dran denke. Wenn Sie gestern Glück gehabt hätten, wenn alles gut abgelaufen wäre – ja, meinen Sie denn, daß wir dann von einer ›Anmaßung unbeschränkter Vollmacht‹, von einem ›Handeln ohne vorhergegangene Beratung und Einwilligung‹ hätten reden hören? Als ob überhaupt Zeit gewesen wäre, eine Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses einzuberufen. Hätten Sie nicht so gehandelt, wie Sie taten, so würde die Bahn das ganze County an sich gerissen haben. Und jetzt vorwärts, Governor, bringen Sie die Kerls zur Raison. Zerpflücken Sie sie in kleine Stücke und zeigen Sie ihnen, daß Sie der Herr und Meister sind. Das ist's, was die Bande braucht. Die Schießerei von gestern ist ihr auf die Nerven gefallen.«
Der Governor war einen Augenblick bestürzt. Wie, seine Anhänger fielen von ihm ab? Wie, er sollte befragt, sollte in ein Kreuzverhör genommen werden über den »ununterdrückbaren Zusammenstoß« vom gestrigen Tage? Hatte sich jetzt, in dem entscheidungsschweren Augenblick, Unzufriedenheit in den Reihen der Liga gezeigt? Er unterdrückte seinen furchtbaren Kummer. Die gute Sache war gefährdete Im Augenblick war er nur noch der Vorsitzende der Liga, der Herr und Meister. Der Zorn eines in seiner Würde beleidigten Königs wallte in ihm auf; verächtlich blickte er von seiner Höhe auf die frechen Widersacher herab. Er wollte die Unzufriedenheit im Keime ersticken, er wollte sich rechtfertigen und zugleich die gute Sache stärken. Er trat vor, nahm den Platz des Redners ein und wandte sich halb nachdem Zuschauerraum, halb nach den auf der Bühne versammelten Ligamitgliedern.
»Meine Herren von der Liga,« begann er, »Bürger von Bonneville – –« aber schon wurde die tiefe Stille, die bei seinen ersten Worten eingetreten war, durch laute Zwischenrufe unterbrochen. Es war, als ob der Beginn seiner Rede das Signal dazu gegeben hätte. In dem der Bühne gegenüber gelegenen Teile der Galerie hatte sich ein Mann erhoben, der halb spöttisch, halb herausfordernd in das Haus hineinrief: »Wie ist das mit der Bestechung dieser zwei Delegaten in Sacramento? Sagen Sie uns das. Darüber woll'n wir was hören.«
Ein allgemeiner Aufruhr brach aus. Die Zwischenrufe wurden nicht nur von dem ersten Sprecher, sondern von einer ganzen Gruppe, zu der er gehörte, wiederholt. Viele der Versammelten wiederum, die in der Störung nur den Versuch einiger Parteigänger der Bahn, die Gegner niederzubrüllen, sahen, zischten aus Leibeskräften und riefen:
»Werft sie 'raus, werft sie 'raus!«
»Ruhe, Ruhe,« rief Garnett und klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch. Das ganze Haus war in hellem Aufruhr.
Die Unterbrechung der Rede des Governors war offenbar nicht unvorherbedacht. Die Sache begann wie ein sorgfältig geplanter Angriff auszusehen. Die Gruppe auf der Galerie hörte nicht auf zu schreien:
»Sagen Sie uns, wie Sie die Delegaten in Sacramento bestochen haben. Ehe Sie die Bahn mit Schmutz bewerfen, müssen Sie erst zeigen, daß Sie selbst rein sind.«
»Bestecher, Bestecher – Magnus Derrick, noch nicht verurteilter Bestecher! Schmeißt ihn 'raus!«
Außer sich vor Wut bahnte sich Keast einen Weg durch den Mittelgang bis zu einer gerade unter den Störenfrieden gelegenen Stelle. Mit drohend erhobener Faust rief er zu ihnen hinauf:
»Ihr seid bezahlt worden, um die Versammlung zu sprengen. Habt ihr was zu sagen, so wird euch die Gelegenheit dazu gegeben werden. Wenn ihr aber den Gentleman am Weitersprechen hindert, so werden wir die Polizei herbeirufen, damit sie euch 'rausbefördert.«
Auf diese Drohung hin lehnte sich der Geselle, von dem die ersten Zwischenrufe ausgegangen waren, weit über die Brüstung vor und schrie mit zorngerötetem Gesicht:
»Pah! Sprecht nur von eurer Polizei. Seht euch vor, daß wir sie nicht herbeirufen, damit sie euren Vorsitzenden wegen Bestechung festnimmt. Ihr und euer Geheul über Gesetz und Recht und Korruption! Hier« – er wandte sich an die Versammlung – »lest das über ihn, lest, wie die Konvention in Sacramento gekauft wurde von Magnus Derrick, dem Präsidenten der San Joaquin-Liga. Hier sind die beglaubigten Tatsachen schwarz auf weiß.«
Er bückte sich und zog unter seinem Sitze ein großes Bündel von Extrablättern des »Bonneviller Merkur« hervor, die vor kaum einer Stunde die Presse verlassen hatten. Seine Genossen brachten ebensolche Bündel zum Vorschein. Die sie zusammenhaltenden Bindfaden wurden durchschnitten und die Blätter in Unmengen über die Köpfe der Versammlung hinweggeschleudert. Die Luft war erfüllt von den noch feuchten Druckseiten. Wie Schwärme ungeheurer geflügelter Insekten flogen sie über die Brüstung, um sich auf den Köpfen der Versammelten niederzulassen oder von hastig zugreifenden Händen erfaßt und rasch von Mann zu Mann weitergegeben zu werden. Noch waren keine fünf Minuten seit der ersten Störung verflossen, und schon hatte jedermann im Opernhause die bis ins einzelne genaue und klar bewiesene Darstellung Genslingers von Magnus Derricks »Abkommen« mit den Machern der Wahlversammlung in Sacramento gelesen. Genslinger hatte das dem Governor erpreßte Schweigegeld eingesteckt und ihn trotzdem verraten.
Der zornbebende Keast eilte zurück auf die Bühne. Eine grenzenlose Verwirrung hatte sich der Ligaleute bemächtigt. Die meisten von ihnen waren, Rufe der Bestürzung und des Unwillens ausstoßend, von ihren Sitzen aufgesprungen. Tosender Lärm durchbrauste das ganze Haus vom Proszenium bis zum Foyer. Die Tausende der weißen Extrablätter des »Merkur« glichen den Schaumkronen einer bewegten See.
Keast trat vor die Versammlung hin.
»Lügner,« schrie er, so laut er nur konnte, um sich in dem Lärm hörbar zu machen, »Lügner und Verleumder! Euer Blatt ist das bezahlte Sprachrohr der Bahn. Ihr habt nicht den Schatten eines Beweises für eure Behauptungen. Mußtet ihr gerade diesen Augenblick wählen, um die gemeinsten Verleumdungen auf das Haupt eines Ehrenmannes und unglücklichen Vaters zu häufen, dessen Sohn ihr gemordet habt? Beweise – wir verlangen Beweise!«
»Wir haben die beiden bestochenen Delegaten gefaßt,« brüllte der erbitterte Gegner. »Laßt Derrick sprechen. Wo steckt er denn? Wenn das 'ne Lüge ist, so soll er sie widerlegen. Laßt ihn doch den Beweis seiner Unschuld führen!«
»Derrick, Derrick!« donnerte das Haus.
Blitzschnell wandte Keast sich um. Wo blieb nur Magnus? Auf der Bühne war er nirgends zu sehen. Er war verschwunden. Keast zwängte sich zwischen den Ligaleuten nach den Kulissen durch. Das Gedränge war dort ebenso groß. Fast jeder hielt ein Extrablatt des »Merkur« in den Händen. Hier und dort wurde es laut vorgelesen, und Keast hörte, wie jemand sagte: »Ich möchte wohl wissen, ob das doch am Ende wahr ist?«
»Nun, und wenn's schon wäre,« rief Keast sich nach dem Sprecher umwendend. »Wir brauchen uns am allerwenigsten dagegen zu verwahren. Jedenfalls geschah es zu unserm Vorteil. Die Kommission der Ranchbesitzer wurde dadurch gewählt.«
»Verdammt viel Vorteil haben wir von der Kommission der Ranchbesitzer gehabt,« wurde ihm erwidert.
»Und dann,« wandte ein andrer ein. »das Richtige ist das nicht – wenn er's wirklich getan hat – eine gesetzgebende Versammlung zu bestechen. Wir haben ja doch die Korruption bekämpft – da dürfen wir selbst nicht solche Sachen machen.«
Mit einer Gebärde des Unwillens wandte Keast sich ab und setzte seine Suche nach Magnus fort. Als er auf einem hinter der Bühne gelegenen Gange eine kleine Tür öffnete, fand er ihn endlich.
Keast trat in ein winziges, als Ankleideraum dienendes Gemach. Vorgestern abend noch war es von dem weiblichen Star einer Operettengesellschaft, die drei Abende hintereinander in Bonneville gespielt hatte, benutzt worden. Ein zerschlissenes Sofa und ein wackliger Ankleidetisch nahmen ein Drittel des Raumes ein. Die Luft war stickig und es roch nach alter Fettschminke, stark duftenden Salben und Sachet-Pulver. Verblichene Photographien von jungen Frauenzimmern in Trikots und Tüllröckchen schmückten Spiegel und Wände. Unter dem Sofa lag ein abgetragenes Korsett. Ein mit Goldflittern besetzter roter Kleiderrock hing, die Innenseite nach außen gekehrt, an der Wand.
Und in dieser Umgebung stand Magnus, bleich, beunruhigt und erschüttert, die schmalen Lippen fest zusammengepreßt, inmitten einer Gruppe aufgeregter Männer, die mit heftigen Gebärden laut auf ihn einredeten.
»Heda,« rief Keast, als er eintrat und die Tür hinter sich schloß, »wo ist der Governor? Magnus, ich suche Sie überall. Die Menschen draußen sind ganz toll. Sie müssen sie wieder zur Vernunft bringen. Kommen Sie 'raus und strafen Sie die Halunken Lügen. Die Kerls sagen, Sie hätten sich versteckt.«
Aber noch ehe Magnus antworten konnte, sagte Garnett zu Keast: »Das ist's ja, was wir von ihm wollen, aber er mag nicht.«
»Ja, ja,« riefen die ihn umdrängenden Männer – es mochten ihrer ein halbes Dutzend sein – »das wollen wir von ihm.«
»Ja, was ist denn das, Governor?« rief jetzt Keast aus. »Sie müssen darauf antworten. Nun? warum strafen Sie die Bande nicht Lügen?«
»Ich – ich,« Magnus lockerte seinen Halskragen, »es ist eine Lüge. Ich mag mich nicht dazu erniedrigen – ich könnte nicht – es würde – es würde unter – unter meiner Würde sein.«
Bestürzt starrte ihn Keast an. War das der große Mann, der unbezwingliche Führer, der Römer an Lauterkeit und Heldenmut, vor dessen Stimme ganze Wahlversammlungen gezittert hatten? War es denn möglich, daß er sich fürchtete, diesen gemieteten Verleumdern entgegenzutreten?
»Nun, wie ist's also?« fragte Garnett plötzlich, »'s ist doch eine Lüge, wie? Die Kommission wurde in gesetzlicher Weise gewählt, nicht wahr?«
»Wie können Sie es wagen. Herr!« brach Magnus los. »Wie können Sie es wagen, eine solche Frage zu stellen – mich zur Rechenschaft zu ziehen! Lassen Sie es sich gesagt sein, Herr, daß ich nicht dulde –«
»O, machen Sie doch keine Geschichten!« rief jemand aus der Gruppe. »Sie können uns nicht einschüchtern, Derrick. Solch Gerede war mal ganz gut und schön, aber jetzt verfängt's nicht mehr. Wir wollen, daß Sie uns mit ja oder nein antworten.«
Die Gabe, zu herrschen, die er so lange besessen hatte, die Kraft, die Menschen unter seinen Willen zu zwingen, war von ihm gewichen. Der Boden unter seinen Füßen stürzte ein. Schon längst hatte er ihn mit seinen eignen Händen untergraben. Sein Ansehen war dahin. Wozu noch länger diese jämmerliche Komödie spielen? Konnten die Leute nicht die Lüge in seinem Gesicht lesen, sie hören in dem Klang seiner Stimme? Welche Torheit, den Schein aufrechterhalten zu wollen! Alles war ihm fehlgeschlagen. Er war ruiniert. Er hatte Harran verloren. Bald würde er seine Ranch verlieren; sein Barvermögen war dahin. Lyman war schlimmer als tot. Seine persönliche Ehre war preisgegeben. Alles, alles, was er wert gehalten hatte, war dahin, unwiederbringlich verloren, ihm entrissen in dem erbitterten Kampfe. Und jetzt brachen auf einmal die letzten Stützen des Lügengebäudes, seines Machwerks, das lange genug vorgehalten hatte, krachend zusammen.
»Wurde die Kommission in gesetzmäßiger Weise gewählt?« fragte Garnett wieder. »Wurden die Delegaten – haben Sie die Delegaten bestochen?«
»Wir mußten hinsichtlich der Mittel ein Auge zudrücken,« stammelte Magnus. »Es gab keine andre Möglichkeit, um –« Mit dem letzten Rest seiner Entschlossenheit stieß er plötzlich hervor: »Ja, ich habe jedem zweitausend Dollar gegeben.«
»Hölle und Teufel! O, mein Gott!« stieß Keast hervor und ließ sich auf das zerschlissene Sofa fallen.
Tiefe Stille trat ein. Ein Gefühl peinlichster Verlegenheit bemächtigte sich der Anwesenden. Man wußte nicht, was man sagen, wohin man blicken sollte. Mit erzwungener Gleichgültigkeit murmelte Garnett:
»Ich seh' schon. Ja, das wollte ich 'rauskriegen. Jawohl, ich seh' schon.«
»So,« sagte Gethings, der sich endlich aufraffte, »ich glaube, ich gehe nach Hause.«
Seine Worte brachten Bewegung in die Gruppe. Man brach auf. Einer nach dem andern verließ den Raum durch die kleine Tür. Keast war der letzte. Er trat an Magnus heran und schüttelte dessen schlaff herabhängende Rechte.
»Leben Sie wohl, Governor,« sagte er. »Ich suche Sie bald auf. Lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen. Die werden schon alle wieder zur Vernunft kommen. Auf Wiedersehen!«
Er ging und schloß die Tür hinter sich.
Noch lange saß Magnus Derrick auf dem einzigen Stuhle und starrte sein Gesicht in dem zersprungenen Spiegel an, der so lange Jahre in diesem von dem Gerüche muffigen Parfüms und moderigen Reispuders erfüllten Räume geschminkte Soubrettengesichter zurückgeworfen hatte.
Der Fall, der Ruin des Governors war eine vollendete Tatsache. Nach all den Jahren lautersten Lebenswandels und ehrlichen Kampfes mußte sein Leben hier enden – in dem Ankleidezimmer einer Theaterprinzessin; seine Freunde hatten ihn verlassen, sein Sohn war hingemordet und er selbst ein alter, gebrochener, zur Seite geschobener und entehrter Mann geworden.
Noch vor Einbruch der Nacht wurde Bonneville durch ein außerordentliches Ereignis in neue Aufregung versetzt. S. Behrman wohnte eine Strecke Weges außerhalb der Stadt in einem abgelegenen, von einem Haine von Lebenseichen und Eukalyptusbäumen umgebenen Hause. Als er sich etwas nach halb sieben Uhr zum Abendessen niedersetzte, wurde durch das Fenster seines Speisezimmers eine Bombe geworfen, die nahe der in den Hausflur führenden Türe platzte. Das Zimmer wurde zertrümmert, und im ganzen Hause gab es kaum eine ganze Fensterscheibe mehr. S. Behrman selbst blieb durch ein wahres Wunder unverletzt.