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Erstes Buch

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1

Initial Eben hatte Presley die Carahersche Kneipe hinter sich gelassen, die südlich von Bonneville an der die Ranchos Ranch oder rancho ist ein großer Landbesitz mit Viehwirtschaft. Im amerikanischen Westen jedes große Landgut mit Ackerbetrieb. von Los Muertos und Broderson trennenden Grafschaftsstraße lag, als der langgezogene, durch die Entfernung abgeschwächte Ton einer Dampfpfeife an sein Ohr drang; das ihm wohlbekannte Signal kam aus den Eisenbahnwerkstätten am Bonneviller Bahnhof. Bei seinem Aufbruch am Morgen hatte er die Uhr zu Hause vergessen und wußte daher jetzt nicht, ob der Pfiff zwölf oder ein Uhr bedeutete. Er hoffte das erstere. Presley hatte sich in aller Frühe schon zu einem langen Ausflug gerüstet, den er teils zu Fuß, teils auf seinem Zweirad unternehmen wollte; bis jetzt war er aber noch nicht weit gekommen. Als er nach dem Frühstück aus dem Hause trat, hatte Frau Derrick ihn gebeten, die Postsachen aus Bonneville zu holen; er konnte nicht umhin, diesen Wunsch zu erfüllen. Seine Hände schlossen sich dichter um die Korkgriffe der Lenkstange – die Straße war jetzt nach der Ernte in allerschlechtestem Zustande –, und er beschleunigte seine Fahrt. Ob es nun zwölf oder ein Uhr war – er wollte keinesfalls seine Fahrt wegen des Gabelfrühstücks im Ranchhaus von Los Muertos unterbrechen, sondern sie – wie er ursprünglich geplant hatte –, bis Guadalajara fortsetzen und dort bei Solotari eine spanische Mahlzeit einnehmen.

Man hatte in diesem Jahre nicht viel zu ernten gehabt. Bei Broderson war auf der Hälfte der bestellten Fläche überhaupt kein Weizen gewachsen, und sogar Derrick hatte wenig mehr geerntet, als er zur Wintersaat brauchte. Aber selbst die wenigen Erntefuhren hatten die Straßen greulich zugerichtet. Während der letzten Monate der trockenen Jahreszeit war der Staub neben den ausgefahrenen Gleisen so unergründlich geworden, daß Presley mehr als einmal absteigen und sein Rad schieben mußte.

Jetzt in der zweiten Hälfte des September, am Ende der regenlosen Zeit, war ganz Tulare County, county = Grafschaft (als politischer Bezirk) – etwa dem preußischen Landkreise entsprechend. die weiten Flächen des San Joaquin-Tales, ja der gesamte Süden von Mittelkalifornien knochentrocken, verdorrt und hart wie Backstein; vier volle Monate hindurch hatte die Sonne Tag auf Tag in unveränderter weißglühender Mittagshitze am wolkenlosen Himmel gestrahlt und die ganze weite Niederung vom Küstengebirge im Westen bis zu den Sierras im Osten versengt.

Presley näherte sich jetzt der Stelle, wo die unter dem Namen »Unterer Weg« bekannte Straße die Ländereien der Los Muertos-Ranch in der Richtung nach Guadalajara hin zu durchqueren begann. Dort stand wie ein ungeschlachter, von dicken Eisenreifen umgürteter, hölzerner Turm einer der vom County unterhaltenen Wasserbehälter breitbeinig auf vier mächtigen Pfosten. Vom Tage seiner Vollendung an war er von Bonneviller Geschäftsleuten über und über mit Anpreisungen ihrer Firmen und Waren bedeckt worden. In der wie eine Tischplatte flachen Ebene ragte er als eine weithin sichtbare Landmarke empor; die großen weißen Buchstaben der auf ihm angebrachten Reklamen konnte man schon auf meilenweite die englische Meile = 1609 Meter. Entfernung erkennen. Dicht daneben stand ein Wassertrog. Presley, der seinen Durst stillen und eine Weile rasten wollte, lehnte sein Rad an die den Wasserbehälter einschließende Umzäunung. Zwei Männer in weißen Overalls wasserdichte leichte Ueberhosen zur Schonung der Beinkleider beim Arbeiten. malten, auf beweglichen Gerüsten hockend, die in Flaschenzügen vom oberen Rande herabhingen, den Behälter frisch an. Eben taten sie die letzten Pinselstriche an einer Reklame, die in meterhohen Buchstaben ankündigte: »S. Behrman, Grundbesitz, Hypotheken, Hauptstraße, Bonneville, gegenüber der Post.« Auf dem im Schatten des Wasserbehälters stehenden Troge war in gleichfalls frischgemalten Buchstaben zu lesen: »S. Behrman hat Ihnen etwas zu sagen.« Presley mußte sich bücken, um aus der durch einen Hahn verschließbaren Röhre am Ende des Troges zu trinken. Als er sich wieder aufrichtete, kam der Wasserwagen im tiefen Staub der Landstraße herangeknarrt. Zwei Pferde und zwei Maultiere, weißgrau von aufgewirbeltem Staub, zogen träge und langsam wie die Schnecken den leeren Wagen, wobei ihre schlaff herabhängenden Ohren bei jedem Schritt im Takt wackelten. Hoch oben auf seinem Sitz thronte unter einem gelbbaumwollenen Wagensonnenschirm der Lenker, in dem Presley sofort einen von Derricks Pächtern erkannte. Der kleine kratzbürstige Hooven, ein Deutscher und deshalb von aller Welt »Bismarck« genannt, war ein streitsüchtiges Männchen, das stets Anlaß zu Aerger und Beschwerde hatte und in gebrochenstem Englisch endlos zu schwatzen vermochte.

»Hallo, Bismarck,« sagte Presley, als Hooven sein Gespann vor dem Behälter anhielt.

»Se kommen mer grade recht, Miester Brähsli,« rief der kleine Mann, während er das Leitseil um den Handgriff der Hemmvorrichtung schlang. »Een Oogenblickchen nur! Ich muß mit Sie reden.«

Presley war ungeduldig; er hätte sich gern wieder auf den Weg gemacht. Wurde er noch länger aufgehalten, so war der Tag für ihn verloren. Er selbst hatte gar nichts mit der Bewirtschaftung der Ranch zu tun, und wenn Hooven ihn in einer damit zusammenhängenden Angelegenheit sprechen wollte, so war es schade um jedes Wort. Diese plumpen Farmarbeiter und kleinen Pächter, an denen der Schmutz des von ihnen bearbeiteten Bodens klebte, waren ihm über die Maßen widerlich. Für ihr Tun und Treiben, ihre Gewohnheiten, Heiraten und Todesfälle, ihre Aergernisse und Beschwerden und all das ewige Einerlei ihrer rohen Lebensweise hatte er nicht das geringste Mitgefühl.

»Sie müssen aber schnell machen, Bismarck,« antwortete er ungeduldig. »Ich bin ohnehin schon zu spät zum Mittagessen.«

»Nur 'ne Minute! Ich komm schon.« Hooven steckte das herabhängende Abflußrohr des Behälters in die Oeffnung der Wassertonne auf seinem Wagen und zog an der den Abfluß regulierenden Kette. Dann kletterte er von seinem Sitz herunter, nahm Presley beim Arm und führte ihn einige Schritte auf der Landstraße hin.

»Härnse,« begann er, »ich muß 'ne kleene Konversäschen mit Sie haben. Se kommen mer grade recht. Härnse nur, was mer der Caraher heite gesagt hat! Miester Derrick will de ganze demn Rentsch damned ranch = verdammte Ranch. nächstes Jahr alleene mänätschen von to manage = verwalten, bewirtschaften.. Keene Dennends korrumpiert aus tenant = Pächter. mehr! Härnse, Caraher meente, alle Dennends wärd'n rausgeschmissen. Miester Derrick will de ganze demn Rentsch alleene mänätschen, was? Und ich –, mich schmeißt 'r ooch raus, wie? Wissense schon was dervon? Härnse, sieben Jahr bin ich uff d'r Rentsch, sieben Jahr! Soll ich ooch –«

»Sie müssen mit Derrick selbst oder mit Harran darüber reden,« unterbrach ihn Presley, der von Hooven loszukommen suchte. »Ich hab' rein gar nichts damit zu schaffen.«

Aber der kleine Mann ließ sich nicht so leicht abschütteln. Während des ganzen Vormittags hatte er darüber gebrütet, sich die Worte ausgesucht und die Phrasen zurechtgelegt.

»Nee, nee, härnse,« redete er weiter. »Ich, ich muß bleiben! Sieben Jahr bin ich uff der Rentsch. Und was d'r Miester Derrick is, där wärd mich doch nich rausschmeißen woll'n! Wär soll denn de Ditsch tenden to tend the ditch = nach dem Bewässerungsgraben sehen.? Härnse, Se missen sagen, daß d'r Bismarck bei die Rentsch bleiben muß. Se haben den Pull pull = Einfluß. mit 'm Governor! Se wärd'n ä gutes Wort fer mich einlegen, Miester Brähsli!«

»Harran ist der Mann, der Einfluß auf seinen Vater hat,« entgegnete Presley. »Lassen Sie Harran für Sie reden –, damit wird Ihnen geholfen sein.«

»Sieben Jahr bin ich uff d'r Rentsch,« versicherte Hooven von neuem. »Wär soll denn de Ditsch tenden und ä Wasserwagen treiben phonetische Mißbildung von to drive = fahren.

»Harran ist Ihr Mann,« erwiderte Presley und schickte sich an, sein Rad zu besteigen.

»Härnse, wissense wärklich nischt dervon?«

»Ich weiß von gar nichts, Bismarck. Keine Ahnung hab' ich, was auf der Ranch vorgeht.«

»Und wär mendet to mend = ausbessern. de Peiplein pipe-line = Röhrenleitung.?« platzte Hooven heraus, dem plötzlich ein vergessenes Argument einfiel. »Ach, die Peiplein beim Mission Kriek creek = Bach. und 's Wasserloch fürs Kettel cattle = Vieh.!« Wild fuchtelte er mit den Armen. »Härnse, selbst wird er doch nicht alles tenden können!«

»Sprechen Sie nur mit Harran!«

»Härnse, Derrick kann de ganze demn Rentsch doch nich alleene mänätschen. Da muß ich doch bleiben!«

Jetzt aber war die Tonne voll, und das Wasser floß plätschernd an ihren Seiten herab. Hooven mußte zum Rechten sehen, und Presley benutzte die Gelegenheit, sein Rad zu besteigen und davonzufahren.

»Ich wär 'ne Konversäschen mit Harran haben,« rief ihm Hooven nach. »Er kann nich alles alleene tenden, der Mister Derrick, nu nee! Ich bleib uff d'r Rentsch und treib das Kettel hier.«

Er kletterte wieder auf seinen Sitz unter dem Wagensonnenschirm und setzte sein Gespann mit lautem Peitschenknall und ermunternden Zurufen von neuem in langsame Bewegung.

»Vorwärts, you mule mule = Maultier, Bastard von Eselhengst und Pferdestute. you, vorwärts, get up Zuruf beim Antreiben von Zugvieh.!« Dann wandte er sich nach den beiden Schildermalern um und rief ihnen in herausforderndem Tone zu: »Sieben Jahr, yes sir, sieben Jahr bin ich uff d'r Rentsch!«

Presley war inzwischen in den Unteren Weg eingebogen. Er fuhr jetzt durch »Abteilung Nr. I« – auch Wohnhaus-Ranch genannt – von Derricks Besitztum, dem großen Rancho Los Muertos. Der Weg war hier besser; die breiten Räder von Hoovens Wasserwagen hatten den Staub festgedrückt. In wenigen Minuten war Presley vor dem Wohnhause mit seinem weißen Lattenzaun, den spärlichen Blumenbeeten und der Gruppe von Eukalyptusbäumen. Auf dem Rasenplatz seitwärts vom Hause sah er Harran, der eben den selbsttätigen Rasensprenger in Bewegung setzte. Im Schatten der Veranda lagen drei Windhunde von der Meute, mit der Präriehasen gejagt wurden, und Godfrey, Harrans preisgekrönter Hirschhund.

Presley radelte die zum Hause führende Auffahrt hinan und traf Harran bei dem Block, den die Reiter zur Erleichterung des Aufsteigens benutzten. Harran, der jüngste Sohn Magnus Derricks, war ein etwa fünfundzwanzigjähriger junger Mann von sehr vorteilhaftem Aeußeren. Er hatte dieselbe stolze, aufrechte Körperhaltung, durch die sich sein Vater auszeichnete; am meisten aber erinnerte die scharfgebogene Derricksche Adlernase, von der Art wie man sie an den späteren Porträts Wellingtons sieht, an den Vater. Er war blond und licht; die kalifornische Sonne hatte, anstatt ihn bei seinem andauernden Aufenthalt im Freien braun zu brennen, nur das gesunde Rot seiner Wangen etwas dunkler gefärbt. Das blonde Haar zeigte die Neigung, sich an den Schläfen nach vorn zu kräuseln.

Durchaus verschieden von ihm war Presley. Man hätte ihn für das Erzeugnis einer Rassenmischung halten können; seine ganze Natur schien verwickelter angelegt, sein Temperament mannigfacher abschattiert. Ganz im Gegensatz zu Harran Derrick war er mehr Persönlichkeit als Typus. Die Sonne hatte sein Gesicht fast schwarzbraun gebrannt; seine Augen waren braun, die Stirn die des Kopfarbeiters, hoch, breit und von einer Wölbung, die auf vererbte Intelligenz und von seinen Vorfahren überlieferte Geistesbildung schließen ließ. Die Linien von Mund und Kinn verrieten Zartgefühl und hochgradiges Empfindungsvermögen; die Lippen waren fein geformt und nur leicht geschlossen, das Kinn klein und ein wenig zurückweichend. Man kam bei ihm leicht auf den Gedanken, daß die hohe Bildung seines Geistes auf Kosten des Körpers erworben war, und konnte in ihm mit Recht einen Mann von fein empfindenden Nerven vermuten, einen vortrefflichen Beobachter seiner selbst und der Welt, einen Mann, dessen Geistesleben aber keineswegs das Ergebnis von außen kommender Eindrücke war, sondern vielmehr seinen Nährboden in eignen Gedanken und Beobachtungen fand. Krankhaft empfindlich für jeden Wechsel in seiner Umgebung, brauchte er lange Zeit, in einer den veränderten Umständen entsprechenden Weise zu handeln. Man hätte geirrt, daraus auf Trägheit zu schließen; er war nur unentschieden. In moralischer Hinsicht gehörte er zu denen, die guter Geschmack, Mangel an Entschluß und günstiger Gelegenheit vor sittlichen Verfehlungen bewahren. Er hatte das Temperament des Dichters; wenn immer er sich einredete, gedacht zu haben, so war das eine Selbsttäuschung, denn er hatte dann nur gebrütet.

Als sich vor etwa anderthalb Jahren Symptome beginnender Schwindsucht bei ihm zeigten, hatte er sich den Umstand, daß er im Hause Magnus Derricks ein stets willkommener und gerngesehener Gast war, zunutze gemacht, um einen längeren Aufenthalt in dem trockenen, gleichmäßigen Klima des San Joaquin-Distriktes zu nehmen. Er war dreißig Jahre alt und hatte mit großer Auszeichnung an einer östlichen Universität graduiert; die Literatur und besonders die Dichtkunst war sein mit ebenso viel Begeisterung wie Fleiß betriebenes Lieblingsstudium gewesen. Von dem höchsten, bis zu unersättlichem Ehrgeiz gesteigerten Wunsche beseelt, eine große Dichtung in Versen zu schreiben, hatte er es bisher nur zu Ansätzen gebracht; kleine, leicht und flüchtig hingeworfene Arbeiten waren ihrer dichterischen Eigenschaften wegen hier und da beachtet, aber als poetische Eintagsfliegen bald wieder vergessen worden. Er suchte nach einem geeigneten Vorwurf für seine Gestaltungskraft, ohne recht zu wissen, was er wollte – einen großen, gewaltigen Stoff brauchte er, heldisch und tragisch zugleich, den er in einem majestätischen Zuge dröhnender Hexameter entrollen konnte. Aber was Presley auch je schaffen, welche Form er immer wählen würde – das eine stand bei ihm fest: der Westen, das Land der Romantik zwischen Felsengebirge und Stillem Ozean, jenes ungeheure Gebiet, das ein jugendstarkes, tapferes und von seinen Zielen begeistertes Volk in leidenschaftlichem Streben zu einem Weltreich aufzubauen sich bemühte –, der weite Westen mit seinem kraftstrotzenden, wie ewige Feuerlohe von Sonnenaufgang zu -niedergang, von der Abend- zur Morgendämmerung nicht ruhenden noch rastenden Leben, seinen ursprünglichen und furchtlosen Menschen – dieser Westen sollte ihn zu seiner großen Dichtung begeistern. An mancherlei – nach seiner Meinung höchst unzulänglichen – Versuchen, das, was ihm vorschwebte, zu gestalten, hatte es nicht gefehlt; der Dichter aber, der alles zusammenzufassen vermochte, war dem Westen noch nicht erstanden. Die vereinzelten Anläufe hatten, wie er sich sagte, nur den Grundton zu treffen versucht. Er aber strebte nach der Harmonie, in der ein Zeitabschnitt, ja ein ganzes Zeitalter, die Stimme des gesamten Volkes und mit ihr zugleich die Einzelstimmen seiner Angehörigen, alle die Sagen und Ueberlieferungen, Kämpfe, Liebe und Haß, Begierden und Entsagungen, der derbe, grimme Humor, die Standhaftigkeit in der Not, vielerlei Abenteuer und Irrfahrten, die in einem Tage gewonnenen und in der nächsten Nacht zerronnenen Reichtümer, die grade, ungekünstelte Redeweise, Großmut und Grausamkeit, Heldentum und Bestialität, Gottesfurcht und Ruchlosigkeit, Aufopferungsfähigkeit und Selbstsucht, Sittenstrenge und Verderbtheit in vollen, mächtigen Akkorden zusammenklang. Furchtlos und wahr, ohne Voreingenommenheit und Schönfärberei wollte er diese Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit schildern. Die zackigen Gebirgsketten der Sierra, ihre tiefeingerissenen Schluchten und lieblichen Täler, die Gold- und Erzminen, die unendlichen Ebenen mit ihren wogenden Weizenfeldern und dem meilenlangen Weideland der Prärien, die Grundform wie die Eigenart der unzähligen Gemeinwesen von Dakota bis nach Mexiko, von Winnipeg bis nach Guadalupe, die Gesamtheit der Bedingungen und Einflüsse zu ihrer Entwicklung – alles das wollte er erfassen, verbinden und unlöslich zusammenschweißen in ein einziges gewaltiges Lied, das erhabene Epos des Westens. Das schwebte ihm vor und verfolgte ihn in seinen Träumen. Gedanken und Begriffe, für die noch kein Sterblicher Worte gefunden hatte, formlose Schemen, nebelhafte Gestalten, erhaben und furchtbar zugleich, riesengroß, mißgestaltet, verzerrt, zogen in tollem Wirbel durch sein kreisendes Hirn.

Als Harran auf ihn zutrat, griff Presley in die weiten Taschen seiner von der Sonne ausgebleichten Joppe und reichte ihm ein Bündel von Briefen und Zeitungen.

»Hier ist die Post. Ich will weiter.«

»Aber das Essen ist fertig,« sagte Harran. »Wir wollen uns eben zu Tisch setzen.«

Presley schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich habe Eile. In Guadalajara werde ich schon was zu essen bekommen. Ich will den ganzen Tag wegbleiben.«

Er verweilte noch etwas und zog eine Schraube am Vorderrade fester, während Harran, der die Handschrift seines Vaters auf einem der Briefe erkannte, den Umschlag aufschlitzte und seinen Inhalt eilig überflog.

»Der Governor kommt nach Hause,« rief er, »morgen mit dem ersten Zuge; ich soll ihn in Guadalajara mit dem Wagen abholen, und« – zwischen den zusammengebissenen Zähnen zischte er es hervor – »wir haben den Prozeß verloren!«

»Welchen Prozeß? O, wegen des Frachttarifs?«

Harran nickte. Seine Augen funkelten, und plötzlich schoß ihm das Blut ins Gesicht.

»Ulsteen hat gestern seine richterliche Entscheidung abgegeben,« las er aus dem Briefe vor. »Sie lautet: ›Ein Frachtsatz für Getreide von der Niedrigkeit des neuaufgestellten ist gleichbedeutend mit Expropriation. Auf dieser Basis ist der Betrieb der Eisenbahn mit einem legitimen Profit unmöglich. Da der Richter diese Angelegenheit auf gesetzgeberischem Wege nicht zu regeln vermag, so kann er lediglich den alten Tarif an Stelle des von der Kommission aufgestellten treten lassen. Demgemäß ist verfügt worden.‹«

»Das ist wieder mal unser Freund Behrman,« knirschte Harran zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Die ganze Zeit hat er in San Francisco gesteckt, als der neue Tarif aufgestellt wurde! Er und Ulsteen und die Kommission waren die dicksten Freunde. Letzte Woche war er auch dort, um schmutzige Geschäfte für die Eisenbahn zu machen und Ulsteen zu bearbeiten. Legitimer Profit, legitimer Profit!« rief Harran außer sich. »Können wir mit einem legitimen Profit Weizen bauen bei einem Frachtsatz von vier Dollar die Tonne für die zweihundert Meilen bis zum Hafen und einem Weizenpreis von siebenundachtzig Cents? Warum halten sie uns nicht gleich die geladene Flinte vors Gesicht mit der freundlichen Aufforderung: ›Die Hände hoch!‹ Das ist doch einfacher.«

Zornig bohrte er seinen Stiefelabsatz in den Boden, wandte sich rasch um und ging, Verwünschungen murmelnd, auf das Haus zu.

»Apropos,« rief ihm Presley nach, »Hooven will mit dir reden. Mich hat er gefragt, ob der Governor wirklich dieses Jahr ohne Pächter zu wirtschaften beabsichtigt. Hooven will durchaus bleiben; er müßte doch nach dem Bewässerungsgraben und dem Vieh sehen, meint er. Ich hab' ihm gesagt, er soll mit dir sprechen.«

Harran, dem andre Sachen im Kopfe herumgingen, nickte zum Zeichen, daß er gehört hatte. Presley wartete, um nicht allzu gleichgültig gegen den Verdruß des Freundes zu erscheinen, bis dieser im Hause verschwunden war, und bestieg dann wieder sein Rad. In rascher Fahrt rollte er zum Einfahrtstor hinaus, um dann, dem Unteren Wege folgend, die Richtung nach Guadalajara einzuschlagen. Dieser fortwährende erbitterte Zank und Hader zwischen den Farmern des San Joaquin-Distriktes und der P. und S. W. Abkürzung für Pacific and Southwestern = Pazifische und Südwestliche Eisenbahn.-Eisenbahn waren ihm ebenso langweilig wie widerwärtig. Sie zählten nicht zu seiner Welt. In dem Bilde des romantischen weiten Westens, das seiner Phantasie vorschwebte, war dieser Zwist der grelle, störende Ton, der sich der Harmonie des Ganzen nicht einfügte. Alles, was gemein, niedrig und alltäglich war, sollte davon ausgeschlossen sein. Aber es war da und drängte sich ihm auf, wie sehr er auch immer Augen und Ohren dagegen verschloß. Die Romantik, die bis auf dieses Eine vollkommen gewesen wäre, versagte dort und wurde Wirklichkeit – häßliche, harte Wirklichkeit. Um wahr zu sein – und unerschütterliche Wahrheit war der erste und oberste Hauptsatz seines künstlerischen Glaubensbekenntnisses –, durfte er diese ihm so unerträgliche Wirklichkeit nicht ausschalten. Die poesievolle Schönheit der fruchtbaren Täler und Ebenen erschien ihm verunstaltet und entstellt durch gewisse unerbittliche Tatsachen. Ihm fehlte die Klarheit über seine Ziele. Strebte er einerseits aufs eifrigste danach, das Leben so zu schildern, wie er es sah – sachlich, vorurteilslos, unbeeinflußt von der eignen Persönlichkeit und dem eignen Temperament, so wünschte er anderseits doch wieder, alles durch einen feinen, rosenfarbenen Schleier zu sehen, der die harten Umrisse milderte und allzu grelle Farben abschwächte. Er redete sich ein, daß er als ein Teil des Volkes dieses Volk liebte und seine Hoffnungen und Sorgen, Freuden und Nöte mitfühlte; ein Hooven aber, schmutzig, schwitzend, ein Mann von engstem Gesichtskreise und mit fortwährenden Anliegen und Beschwerden, konnte ihm nur höchst widerwärtig sein. Presley hatte sich die Aufgabe gestellt, eine durchaus wahre, dichterische Schilderung des Lebens auf den großen Ranchos zu geben; doch immer und immer wieder prallte er gegen die Eisenbahn, diese unerschütterliche, eiserne Schranke, an der seine Romantik, zu Schaum zerstiebend, sich in nichts auflöste. Warm schlug sein Herz dem Volke entgegen; die suchende Hand aber begegnete der eines unsauberen kleinen Deutschen, der nicht ernst genommen werden konnte. Er suchte echte Romantik und fand nur Getreidepreise und erpresserische Frachtsätze.

»Aber der Stoff ist vorhanden,« murmelte er, als sein Rad über die Broderson-Brücke rollte. »Irgendwo steckt die Romantik, wahre, unverfälschte Romantik. Ich werde sie schon finden!«

Rasch blickte er um sich, wie nach einer plötzlichen Eingebung suchend. Presley hatte jetzt die Hälfte des nördlichsten und auch schmälsten, an dieser Stelle acht Meilen breiten Zipfels von Los Muertos durchquert. Er war noch auf der zur Hauptfarm gehörigen Abteilung; südlich davon lag Abteilung drei; Presley konnte gerade noch den einige Meilen entfernten, beide Abteilungen trennenden Drahtzaun erkennen. Nach Norden zu bezeichnete eine lange Reihe ferner, im grellen Licht der Mittagsonne flimmernder Telegraphenstangen die Richtung der Eisenbahn, welche die nordöstliche Grenze des Derrickschen Besitzes bildete. Vor sich, aber noch in weiter Ferne, sah Presley die riesige Lebenseiche und das rote Dach von Hoovens Barn Scheuer und gleichzeitig Viehstall.. Das Land war überall ganz flach und der Blick durch nichts eingeschränkt. Mit Ausnahme der Lebenseiche auf Hoovens Pachtfarm sah man weit und breit kein Grün. Der Weizenstoppel war schmutziggelb; das von der Sonne ausgedorrte und aufgerissene Erdreich zeigte ein häßliches, stumpfes Braun. Eine dicke Schicht grauen Staubes lag auf der Straße, zu deren beiden Seiten die endlosen Doppellinien des Stacheldrahtzaunes hinliefen und sich am Horizont verloren. Ueber dieser einförmigen Landschaft wölbte sich der Himmel wie eine riesige Glocke von blaugebranntem Stahl, und die Luft flimmerte in der Glut der Mittagssonne. Tiefe Stille herrschte ringsumher. Die weiten Felder schienen jetzt nach der Ernte in langem Schlafe auszuruhen. Es war, als ob die Erde nach den immer wiederkehrenden Perioden des Zeugens und Gebärens, nach ihren Wehen und Geburtsnöten, von der Frucht ihres Schoßes entbunden, den tiefen Schlaf der Erschöpfung schliefe. Nichts rührte sich in dieser Zeit zwischen Ernte und Neusaat; die Kräfte der Natur selbst schienen zu ruhen. Es fiel kein Regen, es wehte sein Wind; der Stoppel hatte nicht einmal die Kraft, zu vermorschen. Die Sonne allein zog ihre Bahn.

Gegen zwei Uhr erreichte Presley die Hoovensche Pachtfarm mit ihren drei Gebäuden aus verwittertem Holzfachwerk. Es wimmelte dort von in der Sonne faulenzenden Kötern. Ein paar Schweine wanderten ziellos umher; unter dem Hängedach am Barn lag eine zerbrochene Sämaschine, die langsam ihrer völligen Auflösung entgegenrostete. Ueber allem türmte sich die riesige Lebenseiche, der größte Baum in der ganzen Gegend, majestätisch aufragend und weithin ihre Aeste sendend, hoch empor. Graugrüne Mistelbüsche und lang herabhängendes Bartmoos wuchsen aus ihrer Rinde. An dem niedrigsten Aste hing Hoovens Fleischschrank, ein viereckiger Holzkasten mit Wänden aus Drahtgeflecht. Besonders bemerkenswert war die Hoovensche Pachtfarm dadurch, daß sich hier der Untere Weg und der Hauptbewässerungskanal von Los Muertos, ein breiter, noch nicht vollendeter Graben, kreuzten; Derrick und Annixter, der Besitzer der Quien Sabe-Ranch, führten diese Anlage auf gemeinsame Kosten aus. Er durchschnitt die Straße rechtwinklig und zog in einer tiefen Rinne über das Feld zwischen Hoovens Farm und dem Städtchen Guadalajara; zugleich trennte er die Abteilungen eins und vier der Los Muertos-Ranch voneinander.

Presley hatte jetzt die Wahl zwischen zwei Stiegen. Sein Ziel war die Quelle des Broderson-Baches in den Hügeln auf der Ostseite der Quien Sabe-Ranch. Der eine, ein bloßer Pfad, war der bei weitem nächste. Als er an dem Wohnhause vorbeifuhr, trat Frau Hooven in die Tür; Hilda, ihre kleine Tochter, in Knaben-Overalls und plumpen Stiefeln, hing an ihren Röcken, während Minna, die Aelteste, ein sehr hübsches Mädchen, von deren Liebesangelegenheiten ganz Los Muertos redete, am offenen Fenster wusch. Frau Hooven war eine verblühte, farblose und gewöhnlich aussehende Person in mittleren Jahren; sie hatte nichts an sich, wodurch sie sich von tausend andern Frauen in ähnlichen Lebensverhältnissen wie die ihrigen unterschieden hätte. Sie winkte Presley zu, ohne daß sich der stumpfe Ausdruck ihres Gesichts veränderte, und sah ihm, die Augen mit der vorgehaltenen Hand beschattend, eine Weile nach.

Presley trat jetzt tüchtig in die Pedale, und sein Rad flog nur so. Er wollte doch zunächst nach Guadalajara. Mit einem kurzen, hohlen Dröhnen rollte er über die hölzerne Brücke des Bewässerungsgrabens, um dann das letzte Stück des Unteren Weges zwischen Hoovens Farm und der Stadt hinabzusausen. Er war jetzt auf Abteilung vier von Los Muertos, der einzigen, auf der der Weizen geraten war, und jedenfalls nur deshalb, weil der Missionsbach durch das Feld rann. Presley hatte jetzt kein Auge mehr für die Landschaft; er wollte nur noch möglichst schnell vorwärts kommen. Seine ursprüngliche Absicht war gewesen, den ganzen Tag auf den waldigen Hügeln in der Nordecke der Quien Sabe-Ranch zuzubringen, um dort zu lesen, zu faulenzen und seine Pfeife zu rauchen. Aber jetzt war es schon alles mögliche, wenn er in der Mitte des Nachmittags dort ankam. Wenige Minuten noch, und er hatte den die Ländereien von Los Muertos einschließenden Zaun hinter sich. Jetzt ging es über die Eisenbahngleise; jenseits begannen die ersten Adobehäuschen adobe-house = aus an der Sonne getrockneten Lehmziegeln gebautes Haus. der kleinen, sich um die Plaza, den Marktplatz, zusammendrängenden Stadt. Dicht vor Presley lag der Personen- und Güterbahnhof, deren Baulichkeiten wie alle andern der P. und S. W. weiß und grau – es schienen dies die offiziellen Farben der Eisenbahngesellschaft zu sein – getüncht waren. Die Station war öde und verlassen, denn um diese Zeit fuhr kein Zug durch. Vom Schalterfenster her konnte Presley das unregelmäßige Ticken des Telegraphenapparates hören. Auf dem Bahnsteige und im Schatten eines Gepäckkarrens schlummerte behaglich mit unter den Leib gezogenen Pfoten die große gelbe Katze des Stationsvorstehers. Auf einem Seitengleise vor der Station standen drei mit buntbemalten Ackergeräten beladene Lowries. Weiter unterhalb hielt auf einer Weiche eine schwere Frachtlokomotive, der ihr » cow-catcher« Kuhfänger. Eine Reihe schräg abwärts gerichteter, fächerförmig auseinandergehender Eisenstäbe am Vorderteil amerikanischer Lokomotiven, dient als Schienenräumer und schiebt u. a. auf die Gleise geratenes Vieh zur Seite – daher der Name. fehlte; wie ein ruhendes eisernes Ungeheuer hockte sie auf ihren mächtigen Triebrädern und tat tiefe, puffende Atemzüge, die von dem in regelmäßigen Zwischenräumen leise klickenden Geräusch ihrer Dampfpumpe begleitet wurden.

Das Schicksal schien es zu wollen, daß Presley heute überall aufgehalten wurde. Als er nämlich sein Rad über die Gleise schob, hörte er plötzlich seinen Namen rufen. »Hallo, Herr Presley, was machen Sie Gutes?«

Er blickte auf und sah Dyke, den Lokomotivführer, der auf den gefalteten Armen lehnend aus dem Fenster des Führerstandes der Frachtmaschine blickte. Dieser neue Aufenthalt war ihm weniger unangenehm, denn er und Dyke waren gute Freunde. Das Romantische in dem Leben und Berufe des Lokomotivführers hatte ihn immer angezogen, und mehr als einmal war er auf Dykes Maschine zwischen Guadalajara und Bonneville gefahren. Einmal hatte er sogar die ganze Reise von Bonneville nach San Francisco im Führerstande gemacht.

Dykes Heim war in Guadalajara. Mit seiner Mutter, die ihm die Wirtschaft führte, lebte er in einem wohnlich gemachten Adobehäuschen. Vor fünf Jahren war ihm die Frau gestorben und hatte ein kleines Töchterchen, Sidney, zurückgelassen, das der Witwer, so gut es ging, erzog. Er war ein kräftig gebauter, stattlicher Mann, fast noch einmal so schwer wie Presley, mit breiten Schultern, muskulösen haarigen Armen und einer lauten, gutmütig polternden Stimme.

»Hallo, Alter,« entgegnete Presley, näher an die Maschine herantretend. »Was tun Sie hier um diese Tageszeit? Ich dachte, Sie hätten diesen Monat Nachtdienst.«

»'s ist alles anders umgedreht worden,« antwortete der Lokomotivführer. »Kommen Sie 'raus aus der Sonne und setzen Sie sich ein bißchen zu mir! Ich soll hier auf weitere Order warten,« erklärte er, als Presley, der sein Rad an den Tender gelehnt hatte, neben ihm auf dem abgenutzten grünledernen Bezug des Führersitzes saß. »Sie haben nämlich die Fahrt von so 'ner erstklassigen Schnellzugmaschine geändert – sie soll 'rauf nach Fresno. Bei Bakersfield ist 'n Zusammenstoß gewesen, und da hat sie sich tüchtig verspätet. Wenn sie jetzt kommt, wird sie wohl wie 'n heiliges Donnerwetter hier durchsausen. Die ganze Strecke bis Fresno muß frei sein. Ich soll hier warten, bis sie vorbei ist.« Er holte aus der Tasche seiner Jacke eine alte, glänzendschwarz gerauchte Tonpfeife hervor, die er stopfte und anrauchte.

»Na, ich glaube, Sie sind nicht böse darüber,« bemerkte Presley. »Sie können doch inzwischen mal nach Ihrer Mutter und der Kleinen sehen.«

»Und gerade den heutigen Tag haben sie sich ausgesucht, um nach Sacramento zu fahren,« entgegnete Dyke. »So 'n Glück hab' ich immer. Sie besuchen meinen Bruder. Uebrigens – mein Bruder wird wahrscheinlich hierherkommen, sich hier niederlassen, mein' ich, und Hopfen bauen. Er hat hier 'n Vorkaufsrecht auf fünfhundert Acker – gleich hinter der Stadt. Mein Bruder meint, an Hopfen ist 'n hübsches Stück Geld zu verdienen. Vielleicht mach' ich die Sache mit ihm zusammen.«

»Nanu! Und was wird mit der Eisenbahnerei?«

Dyke tat ein paar tiefe Züge aus seiner Pfeife und sah Presley durchdringend an.

»Was mit der Eisenbahnerei wird?« sagte er. »Ich bin 'rausgeschmissen.«

»'rausgeschmissen! Sie!« rief Presley, sich rasch nach ihm umwendend.

»So sagte ich eben,« erwiderte Dyke grimmig.

»Das ist doch nicht möglich! Ja, weshalb denn?«

»Das möchte ich selber wissen,« knurrte der andre. »Zehn Jahre lang habe ich für die P. und S. W. gearbeitet, und nie haben sie auch nur das geringste an mir auszusetzen gehabt. Sie wissen verdammt gut, daß sie keinen zuverlässigeren Mann auf der Strecke haben. Und was noch mehr sagen will – ein gut Teil mehr –, ich gehöre nicht zur › brotherhood brotherhood = Bruderschaft. – Brotherhood of locomotive engineers, abgekürzt B. L. E. = genossenschaftlicher Fachverein der Lokomotivführer zum Schutze gemeinsamer Interessen.. Und als der Streik kam, da stand ich fest zu der P. und S. W. Sie wissen das, Presley! Und dann wissen Sie, und die P. und S. W. weiß es auch, wie ich damals von Sacramento meinen Zug fuhr mit 'nem Schießeisen in jeder Hand – auf die Minute nach dem Fahrplan – und dabei konnte ich nie wissen, ob nicht der nächste Durchlaß unterminiert war. 'ne goldne Uhr sollte ich damals bekommen, hieß es. Zur Hölle mit ihren goldnen Uhren! Ich will nichts wie Recht und Billigkeit und 'ne anständige Behandlung. Und jetzt, wo die Zeiten schlecht sind und sie an den Löhnen abknapsen, was tun sie da? Machen sie in meinem Falle einen Unterschied? Denken sie daran, daß ich fest zu ihnen gehalten habe und mein Leben in ihrem Dienste riskiert habe? Fällt ihnen nicht ein! Mir nichts dir nichts setzen sie meinen Lohn 'runter wie bei irgend 'nem kleinen, dreckigen Putzer. Mir machen sie den Abzug – hören Sie nur, Presley – mir – zusammen mit den Kerls, die sie damals auf die schwarze Liste gesetzt haben – Streiker, die sie später wieder nahmen, weil sie keine Leute hatten.« Grimmig zog er an seiner Pfeife. »Ich ging 'rauf auf die Generaldirektion – jawoll, das tat ich – ganz de- und wehmütig. Ich war' 'n Familienvater, und mit dem herabgesetzten Gehalt könnte ich nicht bestehen, sagte ich, und an meine guten Dienste während des Streiks habe ich sie erinnert. Und wissen Sie, was die Schweinebande darauf zu sagen gehabt hat? Es wäre nicht recht und billig, zugunsten eines einzelnen eine Ausnahme zu machen, die Gehaltsherabsetzung träfe alle ihre Angestellten, einen wie den andern sie müßten unparteiisch sein. Unparteiisch!« Er schlug eine große Lache auf. »Sie sollten die P. und S. W. über Unparteilichkeit reden hören! Das ist ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet! Na, da lief mir die Galle über – ich mag wohl 'n Esel gewesen sein – aber ich war wütend. Ich hab' ihnen meine Meinung gesagt – erstklassige Arbeit für drittklassige Bezahlung tat' ich nicht, hab' ich gesagt – das war' ich mir selbst schuldig. Na, und da meinten sie: ›Bitte, Herr Dyke, Sie werden wissen, was Sie unter diesen Umständen zu tun haben.‹ Natürlich wußt' ich's! Ich Hab' ihnen gekündigt, und sie nahmen meine Kündigung an, nicht anders, als ob sie froh wären, mich loszuwerden. Da haben Sie's, Presley! Das ist die kalifornische P. und S. W.-Eisenbahn! Ich mache jetzt meine letzte Fahrt.«

»Schmachvoll!« erklärte Presley, dessen Mitgefühl für das dem Freunde angetane Unrecht sofort rege wurde. »Eine Schmach und Schande ist's! Aber,« fuhr er fort, »das macht Sie doch nicht arbeitlos, Dyke. Es gibt noch andre Eisenbahnen im Staate, die unabhängig von der P. und S. W. sind.«

Dyke schlug sich mit der geballten Faust aufs Knie. »Nennen Sie mir eine!«

Presley schwieg. Darauf wußte er nichts zu sagen. Das Gespräch stockte. Presley trommelte mit den Fingern auf der Armlehne des Sitzes und dachte zornerfüllt über die krasse Ungerechtigkeit der Eisenbahn nach. Dyke blickte finster über die Felder jenseits der Stadt und knirschte mit den Zähnen auf dem Pfeifenstengel. Der Stationsvorsteher trat gähnend und sich streckend aus der Tür seines Bureaus, lieber den schnurgeraden, im Horizont verlausenden Gleisen flimmerten Schichten heißer Luft. Der Telegraphenapparat klickte unermüdlich weiter.

»Ich gehe also,« begann Dyke von neuem, dessen Aerger sich etwas gelegt zu haben schien. »Mein Bruder und ich werden's mit der Hopfenfarm versuchen. Ich hab' mir was Hübsches gespart in den zehn Jahren. Und mit Hopfen ist jetzt was zu machen.«

Presley verabschiedete sich, bestieg sein Rad und fuhr gedankenvoll durch die Straßen des verfallenden, ausgestorbenen mexikanischen Städtchens. Es war die Stunde der Siesta. Niemand ließ sich auf der Straße blicken. Die Stadt war ohne allen Geschäftsverkehr; das machte die Nähe von Bonneville. Ehe die Eisenbahn kam, in der alten Zeit, als sich noch alles um die Viehzucht drehte, da hatte Guadalajara glänzende, mitunter etwas wilde Tage gehabt. Aber jetzt lag es in den letzten Zügen. Die Apotheke, die beiden Kneipen, das Hotel an der Ecke der alten Plaza und ein paar kleine Läden, in denen mexikanische Kuriositäten an vereinzelte, die Mission San Juan besuchende Touristen aus dem Osten verkauft wurden – das war das matt pulsierende Leben des altersschwachen Städtchens.

Bei Solotari, dem Restaurant quer gegenüber vom Hotel, nahm Presley sein verspätetes mexikanisches Mittagsmahl zu sich – ein nach spanisch-mexikanischer Art zubereitetes Omelett, Frijoles kleine braune Bohnen. und Tortillas flache runde, die Stelle des Brotes vertretende Kuchen aus Maismehl., Salat und ein Glas Weißwein. Ihm gegenüber in der Ecke saßen zwei junge Mexikaner, von denen der eine ein in der melodramatischen Art seiner Rasse erstaunlich hübscher Mensch war, und ein uralter, unglaublich hinfälliger Mann, der Hundertjährige des Städtchens; während der ganzen Dauer seines Mahles sangen die drei zu Ziehharmonika und Gitarre ein Liebeslied mit unzähligen Versen.

Die spanischen Mexikaner – heruntergekommen, malerisch, lasterhaft und romantisch wie sie waren – übten auf Presley eine besondere Anziehung aus. In Guadalajara waren noch einige dieser Caballeros zu finden. Ueberbleibsel einer vergangenen Zeit, faulenzende Nichtstuer, die vom Barroom nach dem Restaurant, vom Restaurant nach der Plaza bummelten, von Gott weiß was lebten und mit ihrer Zigarette, ihrer Gitarre, dem Glase Mescal mexikanischer Agavebranntwein. und ihrer Siesta zufrieden und glücklich waren. Der Hundertjährige erinnerte sich noch der Zeit, da Los Muertos ein spanisches Kronlehen und nicht die kleinste Einzäunung zwischen Visalia und Fresno zu finden war. Presley, der Spanisch ebenso gut sprach wie verstand, bot dem Alten ein Glas Mescal an und brachte ihn dazu, von seinen Erinnerungen zu plaudern.

»Auf Los Muertos saß damals De La Cuesta,« begann der Alte, »ah, ein großer Herr! Er hatte Macht über Leben und Tod, und sein Wort war Gesetz. An Weizen dachte damals niemand. Vieh hatten wir, Schafe und Pferde. Das Geld war zwar knapp – aber reichlich zu essen hatte jedermann und Kleider auch, und Wein gab's, ah, gewiß! – große Fässer voll, und Oel auch. Ja – wir hatten doch auch Weizen – eben fällt mir's ein – nur eine Kleinigkeit –, nördlich von der Mission, wo jetzt, die Blumensamen-Ranch ist. Ja, dort waren Weizenfelder und auch ein Weingarten – alles auf Missionsland. Weizen, Oliven, Weinreben – die frommen Väter bauten das, um alles für das heilige Sakrament zu haben –, Brot, Oel und Wein, Sie verstehen! Die Kirche war's, die zuerst Landbau in Kalifornien trieb. Was würde Pater Ullivari wohl jetzt zu Sennor Derricks Aussaat sagen? Zehntausend Acker Weizen! Von der Sierra bis zu den Küstenbergen nichts als Weizen. Ich weiß auch noch, wie De La Cuesta heiratete. Er hatte die junge Dame noch nie gesehen – bloß ein Miniaturbild von ihr – wer es gemalt hat« – er zuckte mit den Achseln – »weiß ich nicht –, ein ganz kleines Bildchen, man konnt's im Handteller halten. Aber er verliebte sich in dies Bildchen und mußte durchaus die Dame heiraten. Zwischen ihm und ihren Eltern wurde die Sache abgemacht. Wie's nun so weit war, daß De La Cuesta nach Monterey gehen sollte, um seiner Braut vorgestellt zu werden und sich mit ihr trauen zu lassen, da fiel doch auf einmal der Bandit Jesus Tejeda über die kleinen Rancheros dort bei Terrabella her. Da hatte De La Cuesta keine Zeit für Brautschau und Hochzeit. Er schickte also seinen Bruder Esteban nach Monterey; der sollte sich als sein Stellvertreter mit der Dame trauen lassen. Ich zog mit Esteban. Wir waren unser hundert – eine ganze Kompanie. Und De La Cuesta schickte ein Reitpferd für die Dame mit – weiß war's, milchweiß. Der Sattel war von feinstem roten Leder, und das Zaumzeug, Gebiß und Schnallen reines Silber. In der Missionskirche in Monterey wurde Esteban als Stellvertreter seines Bruders mit dem Mädchen getraut. Auf unserm Heimwege kam De La Cuesta uns entgegengeritten. In Agatha dos Palos trafen wir zusammen. Nie werde ich De La Cuestas Gesicht vergessen, als er das Mädchen zum ersten Male sah. Ein einziger Blick nur war's, so!« – er schnalzte mit den Fingern – »kurz und schnell wie das! Niemand wie ich sah es – ich stand dicht dabei. Der Blick war nicht mißzuverstehen. De La Cuesta war enttäuscht.«

»Und das Mädchen?« fragte Presley.

»Nie hat sie was davon geahnt. Ah, er war ein Caballero, ein großer Gentleman war De La Cuesta. Wie eine Königin hat er sie gehalten. Er war der aufmerksamste, respektvollste, ritterlichste Gatte. Aber Liebe?« Der Alte reckte sein zahnloses Kinn empor und zwinkerte verschmitzt mit den Augen. »Damit war's nichts. Das sah ich gleich. Sie wurden in. der Mission San Juan de Guadalajara – unsrer Mission – noch einmal getraut; ganz Guadalajara hatte Festtage – eine ganze Woche lang. Stierkämpfe wurden abgehalten – hier auf der Plaza – fünf Tage hintereinander, und De La Cuesta gab jedem seiner Lehnsleute ein Pferd, ein Faß Talg, eine Unze Silber und eine halbe Unze Goldstaub. Ah, das waren Tage! Damals führten wir ein Leben! Jetzt aber« – er machte eine vielsagende Gebärde mit seiner linken Hand – »ist's fad und langweilig.«

»Ihr habt recht,« bemerkte Presley niedergeschlagen. Das, was er eben gehört hatte, entmutigte ihn. Von neuem befielen ihn Zweifel und quälende Ungewißheit. Nie würde er den Stoff für seine große Dichtung finden. Das Leben heutzutage war farblos, tot die Romantik. Er war zu spät geboren worden. Vergangenes zu schildern begehrte er nicht. Nach der Wirklichkeit, nach dem, was er erleben, was er sehen konnte, verlangte Presley. Wie ließ sich das aber mit der Romantik vereinigen? Er stand auf, nahm seinen Hut und bot dem Alten eine Zigarette an. Der nahm sie mit der Miene eines spanischen Granden und hielt seine aus Horn gedrehte Schnupftabaksdose hin. Presley schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich zu spät aus die Welt gekommen,« sagte er, »auch noch für manches andre. Adios!«

»Sie sind heut auf Reisen, Señor?«

»Ich mache nur einen kleinen Ausflug, um mir etwas Bewegung zu machen,« entgegnete Presley. »Nach den Hügeln von Quien Sabe will ich, jenseits der Mission.«

»Ah, der Quien Sabe=Rancho! Während dieser Woche werden die Schafe dort.«

Solotari, der Besitzer des Restaurants, fügte erläuternd hinzu: »Annixter hat seinen Weizenstoppel auf dem Felde den Schafzüchtern dort oben verkauft« – er beutete nach Osten, wo die Vorberge der Sierra anstiegen. »Seit Sonntag ist die Herde dort. Ein schlauer Mann ist der junge Annixter. Seinen Stoppel bekommt er bezahlt, den er ja sonst abbrennen müßte, und sein Land wird auch überall gedüngt, wo die Schafe werden. Ein echter Yankee, der Annixter, ein richtiger Gringo Spitzname, den die Mexikaner den Engländern und Angloamerikanern geben.

Presley bestieg von neuem sein Rad und folgte, nachdem er die Hauptstraße des im Mittagsschlafe liegenden Städtchens durchfahren hatte, dem sich an diese Straße anschließenden Landwege, der scharf nach Norden abbiegend durch Hopfenfelder und die Ländereien der Quien Sabe=Ranch nach der Mission führte.

Die Hauptranch von Quien Sabe mit Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden lag in einem Dreieck, das im Süden von der Eisenbahn, im Nordwesten vom Broderson=Bach und im Osten von Hopfenfeldern und dem zur Mission gehörigen Lande eingeschlossen wurde. Dieses Dreieck wurde durchschnitten von dem von Hoovens Farm auslaufenden Pfade, von dem Bewässerungsgraben – ebendem, den Presley auf dem Wege nach Guadalajara überschritten hatte – und der Landstraße, auf der Presley jetzt dahinrollte. Mitten darin lagen Annixters Wohnhaus und die Wirtschaftsgebäude; über die Dächer ragte das Turmgerüst des artesischen Brunnens, der den Bewässerungsgraben speisen sollte, hoch empor. Weiterhin bezeichnete eine Reihe graugrüner Weiden den gekrümmten Lauf des Broderson=Baches, und noch weiter auf der Hügelkette im Norden sah man den Glockenturm und die roten Ziegeldächer der alten Mission San Juan de Guadalajara über den Kronen der uralten Birnbäume des Klostergartens.

Als Presley das Wohnhaus erreichte, fand er Annixter auf der vorderen Veranda in seiner durch Moskitonetze vor den lästigen Insekten geschützten Hängematte liegen; erlas »David Copperfield« und stopfte sich mit trockenen Backpflaumen.

Die Freunde begrüßten sich, und Annixter begann sofort über eine entsetzliche Kolik zu klagen, an der er die ganze Nacht hindurch gelitten hätte. Sein Magen hätte einen Knacks; er – Annixter – wisse ganz allein, was ihm in solchen Fällen dienlich sei. Das letztemal hätte er einen Doktor in Bonneville konsultiert, einen geschäftigen Klugsprecher, der ihm sine niederträchtige Mixtur, ein Zeug zum Schweinewaschen, eingepumpt hätte. Davon sei er nur schlimmer geworden – die Doktors verständen den Teufel was! Sein Fall sei eben ganz eigenartig. Er allein verstände sich darauf; trockene Backpflaumen brauche er – und pfundweise. – Annixter, der die Quien Sabe=Ranch – an viertausend Acker fetten Lette- und Lehmbodens – bewirtschaftete, war ein noch junger Mann, jünger sogar als Presley, und hatte wie dieser an der Universität graduiert. Glattrasiert und von schmächtiger Gestalt, sah er auch nicht ein Jahr älter aus, als er wirklich war. Im Gegensatz zu diesem jugendlichen Aussehen drückten seine Züge männlichen Ernst aus; die dicke vorgeschobene Unterlippe und das Kinn mit dem tiefen Längsspalt verschönten ihn gerade nicht. Seine Universitätsstudien hatten ihn eher gehärtet als abgeschliffen. Er war der Mann aus dem Volke geblieben, rauh bis zur Grobheit, gradaus und rücksichtslos, ein hartnäckiger Rechthaber, von ausgeprägtem Eigenwillen und nur auf sich selbst vertrauend. Dabei besaß er ein außergewöhnliches Maß von Intelligenz, praktischer Geschicklichkeit und ein geradezu geniales Organisationstalent. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, der sich keinerlei Vergnügen gönnte und an die Arbeitskraft seiner Untergebenen dieselben hohen Anforderungen wie an die eigne stellte. Er hatte viele Feinde und ebenso zahlreiche Bewunderer. Jedermann tadelte Annixters übellauniges Wesen, seine Rechthaberei und Herrschsucht –, anderseits hatte man aber auch für seine hervorragenden Fähigkeiten volle Anerkennung. Seinen Angestellten und Arbeitern ein harter Herr, schwierig zu behandeln, verdrießlich, halsstarrig, streitsüchtig – aber gescheit, unheimlich gescheit! Das war zweifellos. Den Mann hätte man sehen wollen, der ihn in einem Geschäft übervorteilen konnte. Wiederholt war auf ihn geschossen worden, einmal aus einem Hinterhalt auf Ostermans Rancho, ein andresmal hatte ein wegen grober Nachlässigkeit beim Mähmaschinenbetrieb von ihm mit Fußtritten weggejagter Arbeiter auf ihn geknallt. Auf der Universität hatte er Finanzwissenschaft, Volkswirtschaft und wissenschaftlichen Ackerbau studiert. Nach erfolgter Graduierung – er stand an der Spitze seines Jahrgangs – begann er ein neues Studium und erwarb sich das Diplom eines Zivilingenieurs. Darauf fiel es ihm auf einmal ein, daß praktische Rechtskunde für einen modernen Farmer unentbehrlich sei. Innerhalb acht Monaten bewältigte er ein auf drei Jahre berechnetes Pensum, um zur Rechtsanwaltsprüfung zugelassen zu werden. Seine Methode zu studieren war höchst eigenartig. Er vereinfachte den Inhalt seiner Lehrbücher zu Notizen, die er in kleine Hefte eintrug. Dann riß er die einzelnen, nur auf einer Seite beschriebenen Blätter heraus und klebte sie auf die Wände seines Zimmers. In Hemdsärmeln, eine billige Zigarre qualmend und die Hände in den Hosentaschen vergraben, wanderte er dann ruhelos im Zimmer umher, wobei er mit finsteren Blicken nach seinen Notizen schielte und sich deren Inhalt aufs genaueste einprägte. Zwischendurch trank er große Mengen ungesüßten schwarzen Kaffees. Nach bestandener Prüfung wurde er als erster sämtlicher Kandidaten zur Rechtsanwaltspraxis zugelassen und von dem den Vorsitz führenden Richter beglückwünscht. Dann aber brach er zusammen –, er hatte seinen Nerven zuviel zugemutet. Der Magen »kriegte einen Knacks«, und Annixter wäre in dem Kosthause in Sacramento beinahe gestorben, da er in der festen Ueberzeugung, daß alle Doktoren Scharlatane wären, ärztliche Hilfe hartnäckig abwies und sich mit Patentmedizinen, Leberpillen und Unmengen von Backpflaumen beinahe zu Tode kurierte.

Als er trotz alledem wieder besser wurde, unternahm er zu seiner Erholung eine Reise nach Europa. Ein ganzes Jahr wollte Annixter wegbleiben, aber nach sechs Wochen schon kehrte er in heller Wut über die europäische Küche zurück. Er war nicht weiter als bis nach Paris gekommen; von dort hatte er sich zwei Andenken mitgebracht – ein plattiertes Gartenmesser und ein leeres Vogelbauer –, Gegenstände, die ihm vor allen andern des Mitnehmens wert geschienen haben mußten.

Annixter war ein reicher Mann. Erst vor einem Jahre war sein Vater gestorben, ein Witwer, der dem einzigen Sohne ein großes, durch glückliche Landspekulationen erworbenes Vermögen hinterlassen hatte.

Für Presley zeigte Annixter große Hochachtung; er bewunderte in ihm den Mann, der Verse machen konnte, und hielt dessen Meinung in allem, was Literatur betraf, für unbedingt maßgebend. Gedichte schienen Annixter im Grunde genommen nutz- und zwecklos, und von Romanen ließ er nur die von Dickens gelten. Alle andern waren fade Lügengespinste Aber es gehörte doch immerhin verdammt viel dazu, ein Gedicht zu drechseln. Nicht jeder konnte »Kämpe wert« und »blankes Schwert« reimen und dabei zugleich etwas Verständliches sagen. Ganz gewiß nicht!

Mit Presley machte er eben eine Ausnahme; sonst aber kam es nicht vor, daß er eine ihm gegenüber ausgesprochene Ansicht hätte ohne weiteres gelten lassen. Man konnte im Gespräch mit ihm keine Meinung äußern, keine Tatsache berichten – mochte es sich auch um das Unbedeutendste handeln –, ohne daß er zu widersprechen oder doch wenigstens das von dem andern Gesagte einzuschränken versucht hätte. Zu disputieren, zu streiten war bei ihm zur Leidenschaft geworden. Auf alle Gebiete menschlichen Wissens – mochte es sich um Astronomie oder den Zolltarif, um die Prädestinationslehre oder die Größe eines Pferdes handeln – erstreckte sich diese Sucht. Einen Irrtum würde er nie zugegeben haben; in die Enge getrieben, verschanzte er sich hinter der Redensart: »Ja, das mag alles sehr schön sein! Manchmal ist's so, und dann ist's wieder mal nicht so.«

Seltsamerweise waren er und Presley die besten Freunde. Mehr als einmal hatte Presley verwundert über diesen sonderbaren Umstand nachgedacht und sich dabei gesagt, daß sie beide nichts miteinander gemeinsam hätten. Unter allen seinen Bekannten war Presley der einzige, mit dem er sich nie gestritten hatte. Die Temperamente der beiden Freunde waren grundverschieden. Presley war bequemlichkeitsliebend, Annixter rasch in Blick und Tat; Presley ein ausgemachter Träumer, unentschlossen, träge, zu sinnender Schwermut neigend –, der junge Ranchbesitzer dagegen ein aufgeweckter Geschäftsmann von entschiedenem Wesen und raschem Entschluß, dabei ein streitsüchtiger Kampfhahn, dessen ganzer Kummer nur in den gelegentlichen, schlimmen Streichen bestand, die ihm sein Magen spielte. Und doch fanden die beiden ein großes Gefallen aneinander; ein jeder von ihnen zeigte aufrichtige Teilnahme an den Angelegenheiten des andern und scheute keine Mühe, wenn er dem Freunde irgendwie beistehen oder gefällig sein konnte.

Eine besondere Eigentümlichkeit Annixters bestand darin, daß er sich als Weiberfeind aufspielte; der Grund dazu lag lediglich darin, daß er in weiblicher Umgebung ein wahres Bullenkalb an Unbeholfenheit war. Feminina! Blödsinn! Etwas Dümmeres kann ein Mann mit seiner Zeit und seinem Gelde doch nicht tun, als bei Weibern den Hansnarren zu spielen. Dafür bedanke er sich, so was könne ihm nicht passen. Nur einmal hatte er so etwas wie ein Verhältnis gehabt – eine schüchterne, kleine Person in einer Handschuhreinigungsanstalt in Sacramento – Gott weiß, wie er zu ihr gekommen war. Nach seiner Rückkehr auf die Ranch hatte sich ein Briefwechsel zwischen den beiden entwickelt, wobei Annixter die Vorsicht gebrauchte, seine Briefe mit der Schreibmaschine herzustellen und die Unterschrift wegzulassen. Auch behielt er Kopien zurück, die er in einem besondern Fache seines feuersicheren Geldschrankes aufbewahrte. Ah, das Femininum, das ihm Ungelegenheiten machen konnte, mußte verdammt gescheit sein! Aber mit einem Male befiel ihn doch eine Heidenangst, eine große Unvorsichtigkeit begangen und sich bloßgestellt zu haben; er brach jene zarten Beziehungen plötzlich ab und ließ die Kleine sitzen. Das war seine einzige Liebelei gewesen. Danach ließ er sich auf nichts dergleichen mehr ein. Mit Unterröcken wollte er ein für allemal nichts mehr zu tun haben.

Als Presley sein Rad an die Außenseite der Veranda lehnte, entschuldigte sich Annixter, daß er nicht aufstände, um ihn zu begrüßen; die verdammte Kolik käme nämlich sofort wieder, wenn er sich aus seiner liegenden Stellung erhebe.

»Was machst du denn hier herum?« fragte er.

»O, ich sehe mir nur ein bißchen die Gegend an,« erwiderte Presley. »Wie geht's auf der Ranch?«

»Sag mal,« begann Annixter, die Frage des Freundes nicht beachtend, »ist's denn wahr, was ich höre, daß Derrick alle seine Pächter abschiebt? Will er wirklich ganz Los Muertos, sein ganzes Land allein bewirtschaften?«

Presley machte eine ungeduldig abwehrende Bewegung mit der Rechten: »Seit heut früh hab' ich von nichts anderm reden hören. Es wird wohl so sein.«

»Hm!« brummte Annixter und spuckte einen Pflaumenkern aus. »Grüße Magnus Derrick schönstens von mir und sag ihm, daß er ein Narr ist.«

»Wieso?«

»Mir scheint, Derrick bildet sich ein, daß er noch seine Mine ausbeutet und daß er nach denselben Grundsätzen handeln muß, ob er nun Gold oder Weizen aus der Erde herausholen will. Er soll's nur versuchen und sehen, wohin er damit kommt! So ist's recht, da habt ihr euern westlichen Farmer!« rief er verächtlich aus. »Alles, was im Boden steckt, rausquetschen, ihn sich zu Tode arbeiten lassen und ihm keine Ruhe gönnen! Ja keinen Wechsel in der Bestellung, und dann, wenn der Boden erschöpft ist, sich hinsetzen und über schlechte Zeiten jammern!«

»Ich glaube, Magnus denkt, daß der Boden während der zwei letzten trockenen Jahre genug Ruhe gehabt hat,« bemerkte Presley. »Er hat beide Jahre so gut wie keine Ernte gemacht. Da konnte der Boden sich doch ausruhen!«

»Ah, das hört sich sehr gut an,« entgegnete Annixter, der sich nicht widerlegen lassen wollte. »Auf die eine Art hat das Land Ruhe gehabt und dann wieder auf die andre Art nicht.«

Presley vermied es, darauf zu entgegnen, da er eine längere Auseinandersetzung witterte; er wollte heut noch weiter.

»Ich möchte mein Rad hier lassen, Buck, wenn du nichts dagegen hast,« sagte er. »Ich will nach der Quelle, und der Weg dort hinauf ist recht schlecht.«

»Bleib zum Essen hier, wenn du zurückkommst! Es gibt Hirschsteak. Einer von den Jungen hat drüben in den Bergen einen Hirsch geschossen, 's ist keine Jagdzeit jetzt, aber das macht nichts. Ich kann kein Fleisch essen. Mein Magen ist so schwach, das er nicht mal Baumöl verträgt. Sei so um sechs rum hier!«

»Dank' schön, vielleicht komm' ich,« sagte Presley und ging zu seinem Rade. »Ich sehe übrigens,« fügte er hinzu, »daß dein Barn bald fertig ist.«

»Nun natürlich,« entgegnete Annixter. »In vierzehn Tagen ist er fix und fertig.«

»Ein kolossaler Barn,« murmelte Presley, von der Ecke des Wohnhauses nach dem Neubau blickend.

»Ich gedenke ein Tanzvergnügen zu geben, ehe wir das Milchvieh und die Pferde reinstellen,« bemerkte Annixter. »'s ist überall hier so Brauch.«

Presley machte sich wieder auf den Weg. Als er bereits am Tor war, rief ihm Annixter, den Mund voll Backpflaumen, nach: »He, sieh dir die Schafherde an, wenn du raufgehst. Sie ist ganz in der Nähe, östlich vom Wege, keine halbe Meile von hier, 's ist die größte Herde Schafe, die du je gesehen hast. Du kannst 'n Gedicht auf sie machen. Schaf – brav, Lämmchen klein – Sonnenschein! Verstehst du?«

Presley schritt tüchtig aus. Jenseits des Broderson-Baches lagen wieder weite Strecken abgeernteter Felder; ganz wie auf Derricks Ranch sah man nur kümmerlichen, schmutziggelben Stoppel auf dem stumpfen, häßlichen Braun des ausgedörrten Erdreichs. Nach Osten hin schien die Fläche unbegrenzt; flach wie der Tisch, öde, von der Hitze versengt, verlief sie in die flimmernde Linie des fernen Horizontes; hie und da unterbrach eine vereinzelte Lebenseiche die trostlose Einförmigkeit. Im Westen aber und von der Straße eingefaßt erhob sich das im Wechsel von Erhebungen und Senkungen ansteigende Gelände zu einer Hochebene, an deren Rande die jetzt immer näher rückende spanische Mission im Kranze uralter Birnbäume lag.

Dicht hinter der Mission verließ Presley die Straße, die ebendort scharf nach Osten abbog und durch die Ländereien der Blumensamenfarm führte. Er ging nunmehr querfeldein. Es war inzwischen drei Uhr geworden, und noch stand die Sonne in voller Glut hoch am Himmel; unter ihren heißen Strahlen marschierte es sich schlecht über die harten Schollen des Sturzackers. Das wellenförmige Gelände stieg stetig an; den flachen Mulden und Einschnitten folgten immer höhere Erhebungen. Mit einem Male sah Presley, der eben die Kuppe eines Hügels erklommen hatte, die Schafe in einer weiten, flachen, nach der Krümmung des Baches hin verlaufenden Mulde vor sich. Bis zu dem ihm zugekehrten Rande der weidenden Herde mochte es nicht viel weiter als zweihundert Yards ein Yard = 91 cm. sein; die Entfernung bis zu der andern Seite aber schien in der heißen, flimmernden Luft Meilen zu betragen. Die ungeheure Masse der weidenden Tiere hatte annähernd die Form einer Acht angenommen; auf dem Weizenstoppel grasend, bewegte sich die Herde langsam in südlicher Richtung vorwärts. Ihre Zahl schien unendlich. Hunderte grauer, runder Rücken, einer dem andern genau gleichend, bedeckten eng zusammengedrängt den Weizenstoppel. Es war nicht mehr eine Anhäufung von Einzelwesen. Eine einzige dicht geschlossene Masse war's, formlos und riesengroß, wie eine ungeheure, aus dem Erdboden hervorsprießende Pilzbrut, die sich nach allen Richtungen verbreitete. Ein unbestimmtes, murmelndes Geräusch, ähnlich dem leisen Brausen ferner Brandung, ging von ihr aus, und weit umher war die Luft von dem warmen Ammoniakgeruch der vielen Tausende dicht aneinander gedrängter Körper erfüllt.

Alle Farben des Gesamtbildes waren trübe – das schmutzige Braun des Erdreichs, das verblichene Gelb des abgestorbenen Stoppels und das Grau der myriadenweise aus und nieder wogenden Rücken. Auf der fernen Seite der Herde hob sich scharf ein schwarzer Punkt von den trüben, verwaschenen Farbentönen ab; es war der einsame Hirte, der an einem leeren Wassertroge lehnte. Presley hatte, in den Anblick der weidenden Tiere versunken, eine kleine Weile gerastet und setzte dann seinen Weg fort. Da geschah etwas Sonderbares, als er eben die ersten Schritte getan hatte. Zuerst glaubte er, daß jemand seinen Namen gerufen hätte. Er stand still und horchte; außer dem eigenartigen, von den weidenden Tieren herrührenden Geräusch war aber nichts zu hören. Dann, als jener erste Eindruck vorüberging, schien es Presley, als ob ihm jemand winkte; mit Ausnahme der fernen unbeweglichen Gestalt war aber niemand zu sehen. Wieder ging er weiter; als er kaum sechs Schritte gegangen war, sah er sich auf einmal, ohne zu wissen weshalb, über seine Schulter nach dem Hirten um. Von neuem machte der Wanderer Halt und blickte wieder und wieder scharf nach dem Hirten. Hatte der ihn gerufen? Er war überzeugt, keinen Laut gehört zu haben. Und plötzlich schien seine ganze Aufmerksamkeit auf die ferne Gestalt gerichtet zu sein. Er beschattete seine Augen mit der Hand und blickte wieder scharf über die Herde hin. Sicher, der Hirt hatte ihn gerufen. Im nächsten Augenblick eilte er, einen leisen Ruf der Ueberraschung ausstoßend, weiter. Die ferne regungslose Gestalt bekam Leben. Presley sah jetzt, daß sie winkte. Bis dahin hatte sie sich nicht gerührt – jetzt aber winkte sie zweifellos. Ohne einen Augenblick zu zögern, folgte Presley einer seltsamen Anziehung; er wandte sich von der bisher eingeschlagenen Richtung ab und eilte, verwundert, daß er diesem Winke so ganz ohne Zögern und ohne Ueberlegung folgte, die Herde umgehend nach ihrem Hirten hin. Der aber schritt jetzt, von einem seiner Hunde gefolgt, auf ihn zu. Presley betrachtete forschend den Herankommenden und wunderte sich, wo er ihn bereits gesehen haben könnte. Es mußte vor vielen Jahren gewesen sein, während eines seiner früheren Besuche auf Los Muertos. Gesicht und Gestalt däuchten ihm bekannt. Als die beiden Männer sich einander noch mehr näherten, und Presley die Züge des andern genauer zu sehen vermochte, wurde die Vermutung zur Gewißheit.

Der Hirte, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, war sehr schlank und mager. Seine Overalls von braunem Segeltuch steckten in bis zur halben Wade reichenden Schnürschuhen. Um die Hüften hatte er einen leeren Patronengürtel geschnallt. Ein graues, am Halse offenes Flanellhemd zeigte seine von der Sonne gebräunte Brust. Er trug keinen Hut; das lange Haar war glänzend schwarz. Ein gerade und glatt gewachsener Vollbart, der am Kinn spitz zulief, bedeckte die hohlen Wangen. Offenbar trug er niemals eine Kopfbedeckung, denn sein Gesicht war rötlichbraun wie das eines Indianers – ganz verschieden von dem olivenfarbigen Presleys. Den fein empfindenden und beobachtenden Presley fesselte dieses äußerst eigenartige und ausdrucksvolle Gesicht in hohem Grade. Seiner lebhaften Einbildungskraft schien es das Antlitz eines Asketen, eines weltentrückten Einsiedlers, fast das eines jungen Sehers zu sein. So mußten die von Gott erleuchteten Hirten der hebräischen Legenden, die jüngeren Propheten Israels ausgesehen haben, die in der Wildnis wohnten, die himmlische Gesichte hatten, ein Traumleben führten, mit Gott zu reden vermochten und mit wunderbaren Gaben begnadet waren.

Plötzlich machte Presley, der noch etwa zwanzig Schritt von dem auf ihn Zuschreitenden entfernt war, Halt und rief, die Augen fest auf ihn gerichtet: »Vanamee!«

Der Hirte lächelte und streckte, näher kommend, dem Rufer beide Hände entgegen: »Ich habe dich erkannt. Ich rief dich, als du über den Hügel kamst.«

»Aber nicht mit deiner Stimme,« entgegnete Presley. »Ich wußte, daß jemand mich herbeiwünschte. Ich fühlte es. Ich hätte dran denken sollen, daß du dergleichen vermagst.«

»Es hat mich nie im Stich gelassen. Bei den Schafen hilft's mir auch.«

»Bei den Schafen?«

»Gewiß! Wie es ist, vermag ich nicht zu sagen. Wir können so etwas noch nicht erklären. Wenn ich die Augen schließe und meine Fäuste gegen die Schläfe presse, so gelingt es mir mitunter, die ganze Herde vielleicht eine Minute lang anzuhalten. Wer weiß, vielleicht bild' ich mir's nur ein! Ich freue mich aber von Herzen, dich wiederzusehen! Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Vor zwei, drei – ich glaube fast vor fünf Jahren!«

Es war länger her – volle sechs Jahre. Der Hirte war wieder einmal in jene Gegend gekommen und hatte sich nur kurze Zeit dort aufgehalten. Eine Woche lang hatten er und Presley viel miteinander verkehrt und waren treue Freunde geworden. Dann verschwand Vanamee ebenso plötzlich und geheimnisvoll, wie er gekommen war. So hatte er's seit fünfzehn Jahren getrieben; unvermutet tauchte er auf, und ebenso verschwand er wieder. In unbekannten Weiten lebte er dann – niemand wußte wo –, ein einsamer Wanderer in den Wüsten und Prärien, in den Gebirgen und Tälern des fernen, unendlichen Westens. Drei, vier, fünf Jahre vergingen; der Hirte war beinahe vergessen. Nie kam von ihm auch nur die geringste Kunde nach Los Muertos. In die flimmernde Luft über der Wüste, in ihre Fata Morgana schien er zerflossen, hinter dem Horizont niedergetaucht, von dem Sand und Salbei der Einöde begraben zu sein. Dann kam er wieder unvermutet aus der Wildnis, aus geheimnisvoller Ferne auftauchend. In der ganzen Umgegend hatte er nur drei Freunde, Presley, Magnus Derrick und Vater Sarria, den Pfarrer der Mission San Juan de Guadalajara. Sonst kannte ihn niemand näher. Er blieb stets ein Geheimnis; sein Leben war halb wirklich, halb sagenhaft. In all den Jahren schien er nicht um einen einzigen Tag älter geworden zu sein. Daß er gegenwärtig sechsunddreißig Jahre zählte, wußte Presley; dabei schienen ihm aber Züge und Haltung des Freundes unverändert seit dem ersten Tage ihrer Bekanntschaft. In all den Jahren, so dünkte ihm, war Vanamees Aussehen ganz das gleiche geblieben. Seine Züge trugen den Stempel unsagbaren Schmerzes, endlosen Kummers; sie sprachen von qualvollen Seelenleiden, denen die alles mildernde Zeit nichts von ihrer Furchtbarkeit hatte nehmen können. Presley hatte den Eindruck, niemand könne in das Antlitz des Freundes blicken, ohne zu fühlen, daß jener einst von einem Schlage getroffen sein mußte, der die Grundfesten seiner Seele aufs tiefste erschüttert und sein Leben in einer gewissen Entwicklungsstufe hatte stillstehen lassen.

Die beiden Freunde ließen sich auf den Rand des Wassertroges nieder; ihre Augen wanderten über die auf dem Weizenstoppel grasende, sich langsam in südlicher Richtung bewegende Herde.

»Woher bist du diesmal gekommen?« hatte Presley gefragt. »Wo bist du überall gewesen?«

Vanamee deutete, mit der ausgestreckten Rechten der Linie des Horizonts folgend, nach Süden und Osten.

»Dort unten im Süden, weit, weit von hier. Ich weiß nicht mehr, wo ich überall war. Lange bin ich diesmal gewandert. Arizona, die beiden Mexikos, dann Nevada und Utah hab' ich durchstreift, kreuz und quer, wie's mir gerade einfiel. Ueber den Monument-Paß ging ich zuerst nach Arizona, dann weiter südlich durch das Land der Navajos bis unten zur Aga Thia-Nadel – wie eine blutige Messerklinge ragt der rote, spitze Felsen aus dem Sand der Wüste. Durch die beiden Mexikos führte mich mein Weg, den ganzen Südwesten durchstreifte ich – in weitem Zirkel ging's wieder zurück über Chihuahua und Aldama nach Laredo, Torreon und Albuquerque. Dann das Uncompahgre-Plateau hinauf nach dem Uintah-Gebirge und endlich gen Westen durch Nevada nach Kalifornien ins Flußtal des San Joaquin.«

Seine Stimme wurde eintönig, während er sprach, starr sein Blick; es war, als ob er, in nur halbwachem Zustande redend und mit seinen Gedanken in weiter Ferne weilend, wieder die sandige Einöde sähe, die roten Hügel, das purpurn schimmernde Gebirge, die wie mit Aussatz bedeckten, grauweißen Flächen der Alkaliwüste – all die wilde, furchtbar-prächtige Einsamkeit des fernen, weiten Westens.

Presley schien für ihn nicht da zu sein, aber auch der hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Vanamees Rückkehr hatte in dem Dichter die Erinnerung an jenes furchtbare Drama wachgerufen, das die Seele des Freundes zerrissen, das ihn hinausgetrieben hatte in die Ferne – ein ruheloser Wanderer, ein menschenscheuer Unglücklicher, der sein Leid in der Einöde verbarg. Vanamee war – sonderbar genug – ein akademisch gebildeter Mann von weitem Wissen und hohem Verstand, der sich das Leben eines weltentrückten Einsiedlers gewählt hatte.

Sein Temperament war dem Presleys sehr ähnlich, und er besaß Fähigkeiten, die ihn weit über die große Masse erhoben. In inniger Gemeinschaft mit der Natur lebend und ein geborener Dichter, während Presley nur ein geschulter war, zeigte er hochentwickeltes Schönheitsgefühl und ein geradezu außergewöhnliches Empfindungsvermögen für höchstes Glück und tiefsten Kummer. Das, was er empfunden und gelitten hatte, vermochte Vanamee nie zu vergessen. Mit achtzehn oder neunzehn Jahren, in dem für tiefe und bleibende Eindrücke empfänglichsten Alter, hatte er Angèle Varian kennen gelernt. Presley erinnerte sich ihrer als eines sechzehnjährigen Mädchens von nahezu unbeschreiblicher Schönheit; sie lebte bei ihrer alten Tante auf der Blumensamenfarm hinter der Mission. In diesem Augenblicke suchte er sich ihr Bild ins Gedächtnis zurückzurufen; er vergegenwärtigte sich die zarten, feingeschnittenen Züge, ihr goldig schimmerndes Haar, dessen schwere, straffe Flechten an den Schläfen herabhingen und zusammen mit der Linie der schöngeschwungenen Brauen ein die runde, weiße Stirn einschließendes Dreieck bildeten, – in ihre Augen glaubte er wieder zu blicken, Märchenaugen, Veilchenblau und schwergelidert, deren außergewöhnlicher, schräg nach den Schläfen verlaufender Schnitt dem Antlitz einen fremdartig-rätselhaften, den Frauen des Orients eignen zauberischen Liebreiz gab. Der Lippen, voll und rot wie die der Aegypterin, gedachte er und der Angèle Varian eignen, dem Hin- und Herwiegen eines ausgerichteten Schlangenhauptes ähnlichen Bewegung des von schlankem Halse getragenen Kopfes. Nie war er solch strahlendem Liebreiz begegnet, nie hatte er eine Schönheit gesehen von so eigner Art, so berückend, so ganz außerhalb aller Norm und Regel. Kein Wunder war's, daß Vanamee sie liebte – kein Wunder, daß seine Liebe die innigste, leidenschaftlichste, ein Teil seiner selbst war. Angèle hatte ihm eine Liebe, nicht geringer als die seine, geweiht. Der beiden Liebe war von einer Innigkeit, wie sie selten nur Sterblichen zuteil wird, idyllisch, weltfremd, aus sich selbst geboren, so natürlich wie der wachsende Baum, der Morgen= und der Abendtau, stark wie der Felsgrund der Berge.

Während seines Besuchs auf Los Muertos hatte Vanamee Angèle kennen gelernt. Er brachte dort seine Universitätsferien zu. Der fleißige Student liebte es, seine Körperkräfte durch Arbeiten im Freien zu üben. Er machte Heu, hütete die Herde, arbeitete mit Spitzhaue und Dynamitbohrer an den Bewässerungsgräben auf Abteilung vier, ritt die langen Stacheldrahtzäune entlang, um etwaige Schäden auszubessern, und machte sich, wo er nur konnte, nützlich. Der an Kopfarbeit Gewöhnte fühlte sich in dieser mannigfachen Tätigkeit glücklich. Er wünschte sich nichts Besseres, als in inniger Gemeinschaft mit der Natur zu leben, ein Arbeiter unter Arbeitern zu sein und, gesund an Körper und Geist, seine Erholung in einfachen, harmlosen Vergnügungen zu finden. Dieses Leben, das den Fleißigen mit Lust essen und trinken ließ und ihm tiefen, traumlosen Schlaf brachte, erschien ihm am menschenwürdigsten.

Allabendlich nach dem Nachtmahl sattelte er sein Pferd und ritt hinüber nach dem Garten der alten Mission. Die jenen Garten und die Blumensamenfarm einst trennende Adobemauer war längst zerfallen; die Grenze bezeichnete nur noch eine Reihe uralter Birnbäume. Unter den Bäumen harrte Angèle seiner. Dort in der stillen heißen Nacht saßen die beiden dicht aneinander geschmiegt; sie sahen den Mond über die Hügel steigen und lauschten dem leisen Plätschern des moosüberwachsenen Springbrunnens im Klostergarten. Den ganzen Sommer hindurch erfüllte der Zauber ihrer jungen und wunderbaren, keuschen Liebe der beiden Leben mit unsäglicher Süße. Der Sommer verging, der Herbstmond kam und schwand. Dunkel wurden die Nächte. In dem tiefen Schatten der Birnbäume konnten die Liebenden einander nicht sehen. Wann immer Vanamee zum Stelldichein kam, mußte er mit tastender Hand die Geliebte suchen. Sie sprachen nicht; Worte schienen ihnen überflüssig. Schweigend zog er sie in seine Arme und suchte mit seinen Lippen die ihren. In einer dieser Nächte geschah das Furchtbare; mit der Schnelligkeit des Blitzes brach es hervor aus undurchdringlichem Dunkel.

Vergeblich suchte man später nach einer Erklärung, wie das Gräßliche sich hatte ereignen können. In Angèles gestörtem, von schauderndem Grauen erfüllten! Geist war nur die verworrene Erinnerung an etwas unsagbar Gräßliches zurückgeblieben. Zweifellos waren die beiden Liebenden genau beobachtet worden; denn nur zu gut war der scheußliche Anschlag geglückt. Als Angèle in einer mondlosen Nacht etwas früher als gewöhnlich in den undurchdringlichen Schatten der Birnbäume trat, fand sie eine dunkle Gestalt, die sie für den Geliebten hielt, ihrer wartend. Ahnungslos überließ sie sich der Umarmung eines Unbekannten. Vanamee, der wenige Minuten später eintraf, strauchelte über einen leblosen Körper; von tiefer, todesähnlicher Ohnmacht befangen, lag Angèle im finsteren Schatten der Bäume. Wer war der andre? Die dem Wahnsinn nahe Unglückliche fand in ihrem Heim die sorgsamste Pflege, Vanamee aber durchstreifte, Messer und Revolver im Gürtel, das Land wie ein toller Wolf. Er war nicht allein. Das ganze Land erhob sich, aufgestachelt von Wut und Entsetzen. Streifwachen durchzogen, emsig spähend und suchend, in weitem Kreise die Umgegend und kehrten, ohne auch nur die geringste Spur gefunden zu haben, wieder zurück. Niemand fand sich, auf den auch nur der Schatten eines Verdachts fallen konnte. Den andern umgab tiefes, undurchdringliches Geheimnis. Nie wurde der Missetäter entdeckt. Eine Sage bildete sich um den von der Nacht ausgespienen Unhold, die furchtbare Gestalt mit vom Dunkel verhüllten Zügen, die, im Augenblick erschienen und verschwunden, Schrecken, Tod, Verzweiflung und Gram ohne Ende hinter sich zurückließ. Innerhalb eines Jahres starb Angèle, als sie einem Kinde das Leben gab.

Ihre Eltern nahmen das Kleine zu sich, und Angèle wurde im Missionsgarten neben der altersgrauen Sonnenuhr zur ewigen Ruhe gebettet. In einem Zustande halber Bewußtlosigkeit nahm Vanamee an dem Begräbnis teil. Noch einmal sah er lange in das teure Antlitz im Rahmen der goldig schimmernden Flechten, die im Verein mit der Linie der schöngeschwungenen Brauen ein die runde weiße Stirn einschließendes Dreieck bildeten, noch einmal ruhten seine Blicke auf ihren geschlossenen Augen, deren außergewöhnlicher, schräg aufwärts nach den Schläfen verlaufender Schnitt dem Antlitz einen fremdartig =rätselhaften, den Frauen des Orients eignen zauberischen Liebreiz gaben, noch einmal hingen seine Blicke an dem schlanken, edelgeformten Halse, den schmalen weißen Händen – dann wandte er sich rasch ab und ging. Noch ehe die letzten Schollen das Grab füllten, war er schon weit gezogen, den Kopf seines Pferdes der Wüste zugekehrt.

Zwei Jahre lang kam keine Kunde von ihm. Schon glaubte man, daß er sich getötet hätte. Daran dachte Vanamee aber nicht. Zwei Jahre lang war er durch Arizona gestreift, hatte in der Wüste, in der Wildnis gelebt – ein ruheloser Wanderer, ein Einsiedler, ein Asket. Sein Herz aber war in dem kleinen Sarge im Missionsgarten geblieben. Er mußte wieder zurückkehren. Eines Tages traf ihn Vater Sarria, der von einem Krankenbesuch heimkehrende Missionspfarrer, auf dem über die Hügel führenden Wege.

Achtzehn Jahre waren seit Angèles Tod vergangen. Vanamees Lebensfaden war wie durchschnitten, verwirrt die durch den Schnitt entstandenen Enden. Er konnte nicht vergessen. Der so lange stumm getragene Schmerz, der nagende Gram war ein Teil seiner selbst geworden. Sein Freund wußte das.

Während Presley alles das durch den Sinn ging, hatte Vanamee weitergesprochen. Dabei war der Dichter aber nicht völlig unachtsam gewesen. Während er sich die Einzelheiten des Dramas im Leben des Hirten ins Gedächtnis zurückrief, war ein andrer Teil seines Gehirns damit beschäftigt, die von dem Wanderbericht Vanamees in seiner Phantasie hervorgerufenen Bilder, eins nach dem andern, wie auf einer sich stetig bewegenden Rolle, aufzuzeichnen. Die wohllautenden Namen der ihm unbekannten Orte und Länder regten seine dichterische Gestaltungskraft an. Presley hatte die Vorliebe des Dichters für ausdrucksvolle, klangreiche Namen. Wie harmonische Akkorde tönten sie aus der einförmigen Redeweise Vanamees, und Presley lauschte ihnen, entzückt von ihrem musikalischen Nachhall. Navajo, Quijotoa, Uintah, Sonora, Laredo, Uncompahgre waren ihm ebensoviele Sinnbilder. Sein Westen war's, der sich hier vor seinem geistigen Auge aufrollte: die unbegrenzte, von der Sonne durchglühte, schattenlose Wüste, die Mesa, Tafelland, flaches Hochland an Flüssen. wie ein ungeheurer Altar purpurn schimmernd in der königlichen Pracht des Sonnenunterganges, die ernsten, aus den Tiefen der Cañons enge Berg- oder Felsenschlucht, Klamm. in die Wolken ragenden Riesenberge, das rastlose, wilde Leben in den einsamen Siedlungen, die verloren und vergessen in Weiler, weiter Ferne unter der Kimmung des Horizontes lagen. Und wie mit einem Schlage wurde sein großes Gedicht, der Sang des Westens, in seiner Phantasie lebendig. Wonach er rang, schien ihm mit einem Male so nahe gerückt, daß er im nächsten Augenblick danach zu greifen und es erfassen zu können meinte.

»Ja, ich sehe alles!« rief Presley aus. »Die Wüste, die Berge – wild, ursprünglich, unberührt von Menschenhand. Wäre ich doch mit dir gewesen! Dann hält' ich vielleicht erfaßt, was mir vorschwebt.«

»Das ist?«

»Das große Gedicht vom weiten Westen. Das möcht' ich dichten. O, alles das in Verse, in Hexameter zu zwängen, in ehernem Klang tönen zu lassen, den gewaltigen Gesang anzustimmen – den Gesang des Volkes, das der Weltherrschaft die Bahn bereitet!«

Vanamee verstand ihn. Ernst nickte er mit dem Kopfe.

»Alles dazu ist da,« sagte er. »Das Leben ist's in seiner Urkraft, einfach, ungekünstelt, voll gesunder Leidenschaft. Gewiß, das Epos ist da!«

Hastig griff Presley das Wort auf. Daran hatte er noch nicht gedacht.

»Das Epos, ja, das ist's! Das Epos suche ich, und wie suche ich danach! Du kannst dir's nicht vorstellen. Eine wahre Marter ist's! Wie oft hab' ich's nicht schon förmlich mit den Fingerspitzen gefühlt, aber ergreifen konnt' ich's nimmer. Es weicht mir aus und narrt mich. Ich bin zu spät geboren worden. O, wer wieder den klaren Blick der Alten hätte, wer zu sehen vermöchte, wie Homer sah, wie Beowulf, wie die Dichter der Nibelungen! Das Leben ist hier vor unsern Augen ganz wie ehedem – hier ist das Gedicht, hier mein Westen. Mit den Händen könnten wir's greifen, dieses Leben, heldisch, urkräftig, in Wüste und Gebirge, Prärie und Ackerland, überall, von Winnipeg bis Guadalupe. Aber der Mensch, der Dichter fehlt. Wir sind von alledem weg erzogen, wir sind verbildet worden. Wir haben die Fühlung mit dem Ursprünglichen verloren – die Saiten unsrer Seele sind verstimmt!«

Mit dem Ausdruck nachdenklicher Aufmerksamkeit in dem ernsten, schwermütigen Gesicht hörte ihn Vanamee bis zu Ende. »Ich will nach der Mission gehen,« sagte er, sich erhebend, »und Vater Sarria aufsuchen. Bis jetzt habe ich ihn noch nicht gesehen.«

»Und was wird mit den Schafen?«

»Die Hunde sind ja da, und ich werde nicht lange wegbleiben. Ich habe auch einen Jungen, der achtgibt. Wir können ihn von hier aus nicht sehen, er ist auf der andern Seite der Herde.«

Presley wunderte sich über die Unvorsichtigkeit, die Schafe unter so mangelhafter Bewachung zu lassen, vermied aber eine darauf bezügliche Bemerkung. Während die beiden Freunde über das Feld der Mission zuschritten, sagte Vanamee: »Gewiß, es ist da, dein Epos. Aber wozu es schreiben? Warum nicht lieber darin leben? Eintauchen, sich versenken in die Glut der Wüste, die Pracht des Sonnenuntergangs, den blauen Schimmer der Mesa, die düsteren Schatten des Cañon?«

»Ganz so wie du?«

Vanamee nickte.

»Das vermöchte ich nicht,« erklärte Presley. »Ich will ja dem Ursprünglichen, der Natur nachgehen, aber nicht so weit wie du. Ich fühle, daß ich den Mittelweg einschlagen, daß ich Ausdruck finden muß für das, was mich bewegt. Gleich dir in der Wildnis aufgehen könnte ich nicht. Wenn immer ihre Größe mich überwältigte, ihre Schönheit mich entzückte oder gar ihre furchtbare Einsamkeit drückend auf mir lastete, so müßte ich diese meine Eindrücke wiederzugeben versuchen. Ich würde sonst ersticken.«

»Ein jeder nach seiner Art,« bemerkte Vanamee.

Die Mission San Juan war erbaut aus braunen, an der Luft getrockneten Ziegeln, deren gelber Mörtelbewurf an vielen Stellen abgebröckelt war; mit der Front nach Süden gerichtet, stand sie auf einer der Erhebungen des hügeligen Geländes. Dem Hauptgebäude schloß sich links eine mit ausgetretenen roten Fliesen gepflasterte Kolonnade an, auf die sich die Türen der früher von den Mönchen bewohnten Zellen öffneten. Die Bedachung bildeten der Länge nach gespaltene, halbzylindrige Dachziegel, die in abwechselnden Reihen, bald nach außen, bald nach innen gerundet, gelegt waren. Die Klosterkirche stand mit ihrer Längsseite rechtwinklig zur Kolonnade; dort, wo beide zusammenstießen, erhob sich der alte Turm mit den drei zersprungenen Glocken, dem Geschenk eines spanischen Königs. Auf der andern Seite der Kirche waren der Missionsgarten und der Friedhof; von dort blickte man auf die in einer Bodensenkung gelegene Blumensamenfarm. – Presley und Vanamee gingen die Kolonnade hinab bis zu der letzten Tür dicht neben dem Glockenturm. Vanamee zog an einem schmalen Lederriemen, der aus einem Loche in der Tür herabhing, und setzte so eine kleine Glocke in Bewegung, die irgendwo im Innern schrill läutete. Sonst herrschte überall tiefe, sonntägliche Stille; hin und wieder nur hörte man das leise Plätschern des alten Springbrunnens und das Gurren der Tauben im Garten.

Vater Sarria öffnete die Tür. Er war ein kleiner wohlbeleibter Mann mit glattem, glänzendem Gesicht. Er trug einen etwas schmierigen zweireihigen Gehrock, Pantoffeln, eine alte Marinemütze mit zerbrochenem Schild und rauchte eine billige, schwarz und fettig glänzende Zigarre.

Der hochwürdige Herr erkannte Vanamee sofort; sein Gesicht leuchtete förmlich vor freudiger Ueberraschung. Es schien, als ob er gar nicht aufhören wollte, die Hände seines jungen Freundes zu schütteln; als er endlich eine Hand freiließ, klopfte er ihm zärtlich auf die Schulter. Dabei sprach er fortwährend bald spanisch, bald englisch auf ihn ein. Der lange Bursche sei also wieder einmal zurückgekommen, braun wie ein Indianer, schlank wie ein Indianer und mit dem langen schwarzen Indianerhaar. Und er hätte sich gar nicht verändert. Sein Bart sei auch nicht um einen Zoll länger geworden. Solch ein Schlingel! Nie lasse er von sich hören, und auf einmal sei er wieder da, wie aus den Wolken gefallen. Ein Eremit! So in der Wüste zu leben! Ein wahrer St. Hieronymus! Ist er dort in Arizona vielleicht von einem Löwen gespeist worden, oder war es ein Rabe wie bei Elias? Jedenfalls habe ihn der liebe Gott nicht fett werden lassen, und apropos, es sei Essenszeit, und er wolle eben speisen. Einen selbstgebauten Salat habe er angerichtet. Ob die beiden nicht mit ihm speisen möchten?

Presley lehnte dankend ab und verabschiedete sich, da er instinktiv fühlte, daß Sarria und Vanamee über Dinge zu reden hatten, von denen kein andrer zu wissen brauchte. Es war nicht ausgeschlossen, daß Vanamee die halbe Nacht in der Kirche vor dem Hochaltar zubringen würde.

Als Presley, seinen Gedanken über die außergewöhnliche Persönlichkeit und Lebensweise des Freundes nachhängend, den Hügel hinabstieg, schreckte ihn ein langgezogener Schrei, der rauh und mißtönend in gleichmäßigen Zwischenpausen dreimal wiederholt wurde. Aufblickend, sah er auf dem obersten Draht des Zaunes einen von Vater Sarrias Pfauen sitzen, der mit lang herabhängendem Schwanz und den Hals weit vorstreckend, in dem Bestreben, möglichst viel Lärm zu machen, sein widerwärtiges Geschrei ausstieß. Etwa eine Stunde später, um vier Uhr nachmittags, stand Presley an der Quelle des in der Nordwestecke der Quien Sabe-Ranch entspringenden Broderson-Baches und hatte jetzt endlich das Ziel erreicht, dem er seit dem frühen Morgen zustrebte. Das grüne Fleckchen Erde, eines der wenigen, das die diesjährige Dürre verschont hatte, war nicht ohne besonderen Reiz. Zahllose Lebenseichen breiteten ihre Kronen über die kleine Schlucht, durch die der Bach, hier nur eine schmale Wasserader, zu Tal rann. Es war kühl und luftig hier oben am rieselnden, von Den Lebenseichen beschatteten Bächlein. Fast alle andern Quellen waren vollständig versiegt; der die Derricksche Ranch durchfließende Missionsbach war nur noch ein breiter, staubiger Graben voller bröckliger, nach innen gebogener, sonnengedörrter Schlammschollen.

Presley hatte den höchsten der aus der Schlucht aufsteigenden Hügel erklommen, von dessen Gipfel man wohl an die fünfzig Meilen weit ins Land blicken konnte. Er brannte seine Pfeife an und streckte sich lang auf den Rasen aus; von den durch das Blätterdach fallenden Sonnenstrahlen angenehm durchwärmt, mit Behagen seinen aromatischen Tabak rauchend und eingelullt von dem Murmeln des nahen Bächleins überließ er sich einem wohltuenden Dahindämmern. Immer träger und langsamer arbeitete der künstliche Mechanismus seines Hirns, und je mehr das Gefühl der eignen Persönlichkeit in ihm schwand, desto größer wurde das rein animalische Wohlbehagen. Körper und Geist ruhten in süßer Untätigkeit aus. Es war weder Wachen noch Schlaf, ein unbewußtes Hinübergleiten vielmehr in den Zustand des ruhenden Fauns, des im Halbschlummer blinzelnden Satyrs.

Eine Stunde wohl mochte Presley so zugebracht haben, als er, sich ermunternd, seine Lage änderte, um aus der Innentasche seiner Joppe eine Oktavausgabe der Odyssee hervorzuziehen, in der er sogleich zu lesen begann. Bis weit hinein in den einundzwanzigsten Gesang las er, bis zu der Stelle, wo dem Odysseus von den ihn verspottenden Freiern der Bogen übergeben wird, den diese selbst nicht zu spannen vermochten. Die dramatische Kraft der Schilderung rüttelte ihn aus seiner wohligen Trägheit auf. Seine ausgeruhten Nerven spannten sich von neuem, und er war im Augenblick der für jeden Eindruck empfängliche, jedes Gefühl sein empfindende Dichter. Mächtig schwoll in ihm das Verlangen, zu schaffen, zu gestalten. Seine eignen Hexameter drängten sich stürmisch im kreisenden Hirn. Seit langer Zeit hatte er nicht in diesem Grade »sein Gedicht gefühlt« – so nannte er jenes Arbeiten seiner angeregten Phantasie. Während eines Augenblickes war er überzeugt, das, wonach er schon so lange rang, endlich ersaßt und gemeistert zu haben.

Diese dichterische Ekstase war zweifellos durch Vanamees Schilderung seiner Wanderungen veranlaßt worden. Das, was jener aus Wüste und Gebirgen, aus den Riffhäusern Riffhäuser, engl, cliff-dwellings, sind aus vorgeschichtlicher Zeit stammende, an steilen, schwer zugänglichen Felsen angelegte Höhlenwohnungen. Arizonas, aus den aztekischen Ruinen Mexikos zu erzählen wußte, hatte Presleys Seele mit farbenprächtigen Bildern erfüllt, die in bunter Folge an seinem geistigen Auge vorüberzogen. Rasch ließ er den Blick in die Runde schweifen und schon glaubte er, die Eingebung, die er suchte, gefunden zu haben. Er sprang auf und sah unter sich zu seinen Füßen und in die Ferne; wie von einer alles überragenden Zinne aus konnte er das Land in weitem Umkreise überblicken. Die Sonne näherte sich ihrem Niedergange und verklärte Flachland und Hügel mit ihrem goldigen Schein.

Dicht unter Presley in einer kleinen Talmulde lag die Blumensamenfarm mit ihren in mannigfachem, vom dunkelsten bis zum hellsten, fast gelblichem Grün abschattierten Beeten. Es folgte die Mission, überragt von dem altersgrauen Kampanile; die sinkende Sonne ließ die in den offenen Rundbogen hängenden Glocken des spanischen Königs wie rotes Gold glänzen. Weiterhin in derselben Richtung konnte er Annixters Wohnhaus an dem sich daneben erhebenden Turmgerüst des artesischen Brunnens leicht erkennen – noch weiter, aber etwas mehr nach Osten, schimmerten die dicht zusammengedrängten Ziegeldächer von Guadalajara. Besonders deutlich war das weit nach Nordwesten hin liegende Bonneville zu sehen; die Kuppel seines Gerichtsgebäudes hob sich in scharfen Umrissen von der Glut des Abendhimmels ab. Die riesige Lebenseiche bei Hoovens Farm, die Eukalyptusbäume vor dem Wohnhause von Los Muertos, der turmhohe Wasserbehälter an der Wegkreuzung, die dichte Reihe der als Windbrecher dienenden Pyramidenpappeln und die weißgetünchte Carahersche Kneipe an der Countystraße schwammen wie in einem feinen, goldigen Nebel und warfen lange bläuliche Schatten.

Alles das erschien aber als ein bloßer Vordergrund, als Beiwerk, als eine Anzahl belangloser Einzelheiten. Jenseits von Annixters Land, von Guadalajara, der unteren Landstraße und dem Broderson-Bach streckten sich, von der sinkenden Sonne bestrahlt, nach Westen und Süden hin wie eine riesige Landkarte in unabsehbarer, von Horizont zu Horizont reichender und durch nichts unterbrochener Fläche die abgeernteten, kahlen Felder von Los Muertos. Weiter nach Westen schloß sich die Broderson-, nach Nordwesten die Osterman-Ranch an. In endloser Folge reihte sich Ranch an Ranch. Die durch den riesigen Umfang der unübersehbaren Flächen gesteigerte Einbildungskraft ließ alle diese Latifundien wiederum zu einem bloßen Vordergrund, zu Beiwerk, zu einer Anzahl belangloser Einzelheiten zusammenschrumpfen. Unter der feinen Linie des Horizonts, dort wo die Schulter der Erde sich mählich nach abwärts wölbte, lagen andre, ebensogroße Ranchos, und ihnen reihten sich andre und wieder andre an; immer weiter und weiter breiteten sich die riesigen Flächen. In ungemessene Weiten dehnte sich von der Hitze gegeißelt, unter dem roten Glutauge der Sonne schimmernd und zitternd, die Talebene des San Joaquin. Von Süden her strich in langen Zwischenpausen ein leiser Windhauch wie ein tiefer Seufzer der todmüden Erde über die von der Glutsonne steinhart gebrannten, alles Lebens baren Felder und machte die lautlose Stille rings umher noch eindrucksvoller. Es war die Zeit nach der Ernte, und die Allmutter Erde, nach den Wehen der Geburt von der Frucht ihres Leibes entbunden, schlief jetzt den Schlaf der Erschöpfung; in tiefer Ruhe lag der Koloß, die Amme der Völker, die ewige, kraftvolle und gütige Ernährerin der Welt.

Ha! Hier war sein Epos, seine Eingebung, sein Westen, sein majestätischer Zug dröhnender Hexameter. Und plötzlich war es Presley, als ob seine Füße nicht mehr den Boden berührten, als ob er, befreit von aller irdischen Schwere, sich emporschwänge im Vollgefühle himmlischer Heiterkeit und dichterischer Begeisterung. Von alles überragender Höhe aus schien er die Welt, die gesamte Ordnung der Dinge zu beherrschen. Er war in halber Betäubung, ein Schwindel erfaßte ihn, seine für die feinsten Eindrücke fast krankhaft empfängliche Seele war trunken von der Vorstellung des Unermeßlichen. Eine Flut verwirrter Gedanken und Vorstellungen, die auszudrücken er nicht vermocht hätte, strömte auf ihn ein. Bilder und Gestalten, riesenhaft und verzerrt, nebelhaft und verschwommen, zogen in tollem Wirbel durch sein Hirn. Er wandte sich zur Heimkehr und stieg den Hügel hinab, durchschritt die Schlucht und eilte, noch immer träumend, auf dem kürzesten Wege über den Weizenstoppel der Quien Sabe-Ranch, seinem Ziele zu, wobei er Guadalajara weit links ließ. Noch nie, wie eben auf dem Hügel, war er so nahe daran gewesen, seine Eingebung zu fassen und festzuhalten. Auch jetzt noch, während der Sonnenuntergang verglühte und der Ausblick enger wurde, war Presley von seiner Inspiration beseelt. Und jetzt wurden die dem Westen sein eigentümliches Gepräge gebenden Einzelheiten, aus denen sich sein Gedicht zusammensetzen sollte, in ihm lebendig. Während des ganzen Tages hatte er die mannigfachsten, eigenartigsten Eindrücke empfangen. Da waren die Erinnerungen des Hundertjährigen, voller Farbe und Leben – de la Cuesta, der sein Lehen von der spanischen Krone erhielt, der Herr über Leben und Tod, seine romantische Heirat, der milchweiße Zelter mit dem Frauensattel von rotem Leder und silberbeschlagenem Zaumzeug, die Stierkämpfe auf der Plaza, die Geschenke an Pferden, Talg und Goldstaub. Dann Vanamees Geschichte, die Tragödie seiner Liebe; Angèle Varian strahlend in zauberischer Schönheit, mit Lippen rot und voll wie die der Aegypterin und der runden weißen Stirn im dreieckigen Rahmen der an den Schläfen herabhängenden, goldig schimmernden Flechten und der Linie ihrer schöngeschwungenen Brauen; das den andern umgebende undurchdringliche Geheimnis; der Tod Angèles in dem Augenblicke, als sie einem Kinde das Leben gab. Dem Trauerspiele folgte Vanamees Flucht in die Wildnis und die Schilderung seiner Wanderungen; die Sonnenuntergänge hinter den Riesenaltären gleichen Mesas, die Einsamkeit der sonnendurchglühten Wüste, das rastlose, wilde Leben der verlorenen und vergessenen Siedelungen in weiter, weiter Ferne unter der Kimmung des südwestlichen Horizonts; der volltönende Wohlklang ungewohnter Namen – Quijotoa, Unitah, Sonora, Laredo, Uncompahgre. Und endlich die Mission mit ihren geborstenen Glocken und zerbröckelnden Mauern, der ehrwürdigen Sonnenuhr, dem Springbrunnen im alten Garten und den längst dahingegangenen, frommen Vätern, die den ersten Weizen säten, den erstem Oelbaum, die erste Weinrebe pflanzten, um die Bestandteile des Sakraments, Brot, Oel und Wein, im Eigenbau hervorzubringen. Der Kirche war diese Dreiheit von Bodenerzeugnissen zu verdanken, deren später in gewaltiger Ausdehnung betriebener Anbau für das Land so wichtig werden sollte.

Daran hatte Presley eben gedacht, als die Abendglocke der Mission läutete. Ihm war dieser Klang ein De profundis, ein aus der alten Welt, aus vergangenen Zeiten herüberschwingender Ton, ein von den Hügeln des mittelalterlichen Europas widerhallendes Echo, das an der Wende des Jahrhunderts fremdartig und seltsam in dieses neue Land hinübertönte.

Es war dunkel geworden. Presley eilte weiter. Er kam jetzt zu dem Grenzzaune der Quien Sabe-Ranch. Tiefe Stille herrschte ringsumher. Am Nachthimmel standen die Sterne. Kein andrer Laut als der leise, ferne Klang der Missionsglocke war vernehmbar. Ruhe und Frieden, wunschlose Zufriedenheit und stilles Glücksgefühl schienen wie himmlischer Segen von den Sternen herniederzuströmen. Das war die stille Schönheit, das zarte, wie eine Liebkosung von Presley empfundene Idyll in seinem Epos. Das allein hatte bis jetzt noch gefehlt; ohne dieses Element wäre sein Gedicht, das er jetzt endlich in seiner Gesamtheit erfaßt zu haben glaubte, unvollständig gewesen.

Doch jäh wurde der den Dichter beseligende Zauber gestört. Presley war über den Grenzzaun von Quien Sabe gestiegen; jenseits lag Los Muertos und zwischen beiden Ranchos der Bahnkörper. Im Begriff, diesen zu überschreiten, hatte Presley gerade noch Zeit, auf die Böschung zurückzuspringen; die Erde zitterte unter den Rädern einer Lokomotive, die donnernd an ihm vorüberraste und, Rauch und Funken speiend, den faden Dunst heißen Oels aushauchte. Das rotglühende Zyklopenauge der Schornsteinlaterne warf seinen Schein weit vor sich über die Schienen, auf denen der Leviathan dahinschoß und die Nacht mit dem furchtbaren Getöse seiner eisernen Hufe erfüllte.

Presley erinnerte sich sofort, daß es die von Dyke erwähnte, durch einen Unfall bei Bakersfield aufgehaltene Schnellzugsmaschine war, der die ganze Strecke bis Fresno freigegeben war. Noch ehe er sich von seinem Schrecken erholt hatte, während die Erde noch zitterte, die Schienen noch dröhnten, war die Lokomotive schon in weiter Ferne; noch immer aber tönte das Echo ihres donnernden Galopps über das stille Tal. Während eines Augenblicks war ihr hohles Rasseln über die lange Trestlebrücke trestle, brückenartiges, als Eisenbahnviadukt dienendes Holzgestell. zu hören, mit dumpfem Brausen tauchte sie in einen Einschnitt weiter hin, der flackernde Schein ihrer Feuer verlor sich im Dunkel der Nacht, immer mehr nahm das Geräusch ihres Laufes ab, um schließlich in ein fernes Summen überzugehen, bis auch das verstummte.

In dem Augenblicke, als das lauschende Ohr nichts mehr von dem Tosen des eisernen Ungetüms vernahm, und Presley weitereilen wollte, erschallten plötzlich entsetzliche Klagelaute von der Fahrtrichtung der Lokomotive her. Ein Gewirr langgezogener, herzzerreißender Schmerzensschreie gellte durch die Nacht. Presley rannte das Gleis entlang, über den Durchlaß des Bewässerungsgrabens und machte dort, wo die Strecke zwischen Durchlaß und Trestlebrücke schnurgerade zu verlaufen beginnt, wie gebannt Halt, schreckensstarr von dem Anblick, den Bahngeleise und Böschung boten.

Durch eine schadhafte Stelle des die Quien Sabe-Ranch nach der Bahn abgrenzenden Drahtzaunes war ein Teil der Schafherde Vanamees eingedrungen und auf der Strecke weitergewandert. Eine Anzahl der Tiere hatte das Gleis gekreuzt, gerade als die Lokomotive heranraste. Unerbittlich, mitleidlos in den dichtesten Haufen hineinrennend, hatte das eiserne Ungetüm entsetzlich unter den armen Geschöpfen gehaust. Mit furchtbarer Wucht waren die kleinen Körper zur Seite geschleudert, ihre Rücken an den Zaunpfosten zerbrochen, die Köpfe zerschmettert worden. Eingeklemmt in den Stacheldrähten hingen die zerfleischten Leiber. Grausig sah es auf der Strecke selbst aus. Ströme schwärzlichen Blutes glänzten im Sternenlicht und sickerten mit leisem Gurgeln in die Kiesschüttung zwischen den Schwellen. Schaudernd wandte sich Presley ab; das Herz krampfte sich ihm zusammen beim Anblick jener Qualen, die er nicht zu lindern vermochte, und tiefes Mitgefühl für das Leid der Kreatur wallte in ihm auf. Der holde Zauber der Nacht, die friedvolle Ruhe der schlummernden Gefilde war dahin, das blutige Bild der Vernichtung, das den Pfad des dahinstürmenden Ungetüms bezeichnete, hatte jeden Gedanken an das eben noch so voll empfundene Gedicht aus Presleys Seele gebannt. Wie ein Nebel zerfloß seine Eingebung. Verhallt war das De profundis der Missionsglocke.

Die Hände auf die Ohren gepreßt, um sie gegen die herzzerreißenden Jammerlaute zu verschließen, eilte Presley, so schnell ihn seine Füße trugen, über die Felder von Los Muertos. Erst als er außer Hörweite war, machte er Halt und blickte lauschend rückwärts. Wieder hatte sich die Stille der Nacht auf die Fluren herabgesenkt; nichts rührte sich, kein Laut war zu vernehmen.

Im Weitereilen hörte Presley den langgezogenen, durch die Entfernung gedämpften Pfiff der Lokomotive, das Signal, das sie beim Durchfahren des Bonneviller Bahnhofs gab. Wieder und wieder ließ sie auf ihrer rasenden Fahrt vor Straßenübergängen, scharfen Kurven, Brücken und Viadukten ihren heiseren Pfiff warnend und drohend ertönen. Presley glaubte wieder das über die Schienen fliegende Ungetüm mit seinem rotglühenden Zyklopenauge zu sehen, das Schreckgespenst auf rollenden Rädern, wie es dahinschoß von Horizont zu Horizont – das Sinnbild einer ungeheuren Macht –, ja ihre Verkörperung, die riesengroß und furchtbar mit donnerndem Widerhall dahinstürmte und Blut und Zerstörung hinter sich zurückließ. Der Leviathan war's, der seine stählernen Fühler in die Erde schlug, die gefühllose Kraft, die alles überwindende Gewalt mit dem Herzen von Eisen, das Ungetüm, der Koloß, der Octopus.


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