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Präriehasen waren in diesem Jahre eine wahre Landplage, und Presley fand gelegentlich Vergnügen daran, sie zu Pferde mit Harrans Windhunden zu jagen. Als er eines Tages – seit Lymans Anwesenheit in Los Muertos mochten ungefähr zwei und ein halber Monat vergangen sein – von einem entlegenen und unangebauten Teile der Ranch zurückkehrte, wurde er unverhofft Zeuge eines außergewöhnlichen Vorganges.
Etwa zwanzig Männer, Annixters und Ostermans Pächter sowie einige kleinere, östlich von Guadalajara ansässige Rancheigentümer – sämtlich Mitglieder der Liga –, übten sich unter Harrans Anleitung im Gebrauche der Feuerwaffen. Alle waren mit neuen Winchester-Repetiergewehren ausgerüstet. Auch Harran hatte ein Gewehr und zeigte an ihm die Ausführung der von ihm gegebenen Kommandos. War einer der anstelligeren Leute mit dem Gebrauch der Waffe vertraut, so wurde ihm eine Anzahl minder Geschickter zur Ausbildung überwiesen. Nach Beendigung der Lade- und Zielübungen ließ Harran seine Rekruten sechs Fuß voneinander Abstand nehmen und als Schützenlinie vorgehen, wobei sie, jede Deckung benutzend, sich niederwarfen und ihre ungeladenen Gewehre gegen einen angenommenen Feind abdrückten.
Die Liga hatte ihre Agenten in San Francisco, die alle von der Bahn unternommenen Schritte so scharf wie möglich beobachteten. Schon vor einiger Zeit hatte Annixter die Nachricht erhalten, daß der Marshal und seine Gehilfen nach Bonneville kommen würden, um die vorgeschobenen Käufer seiner Ranch in den Besitz zu setzen. Diese Nachricht erwies sich wie viele spätere als blinder Lärm, regte aber die Liga zu außergewöhnlicher Tätigkeit an; gegen vierhundert Männer wurden mit Gewehren ausgerüstet und von Zeit zu Zeit heimlich in deren Gebrauch geübt.
Die Ranchbesitzer sprachen es untereinander aus, welch verhängnisvollem Irrtum die Eisenbahndirektoren sich hingeben würden, wenn sie daran zweifelten, daß die Liga bei der Verteidigung des von ihr eingenommenen Standpunktes bitteren Ernst zu machen entschlossen wäre. Darüber redete auch Harran mit Presley auf dem Heimweg. Harran hatte den Freund eingeholt, als dieser gerade auf den Unteren Weg gekommen war, und so trotteten die beiden durch die Meilen hoch aufgeschossenen Weizens heimwärts.
Als sie eine Stunde später das Ranchhaus erreichten, rief der auf dem Fahrwege vorausreitende Harran aus: »Hallo, da ist etwas los! Das ist Genslingers Buckboard.«
Das Gespann des Zeitungsbesitzers stand in der Tat im Schatten eines mächtigen Eukalyptusbaumes und war an einen der unteren Zweige angebunden. Harran, den der unerwartete Besuch des Freundes der Feinde beunruhigte, stieg ab und ging, ohne sein Pferd nach dem Stalle zu bringen, in das Speisezimmer; Besucher wurden stets dort empfangen. Das Speisezimmer war aber leer. Von der Mutter erfuhr Harran, daß Magnus und der Zeitungsmann in der »Office« wären. Magnus hatte angeordnet, daß er und sein Besucher nicht gestört werden sollten.
Der Besitzer des »Merkur« war im Laufe des Nachmittags vorgefahren und hatte Frau Derrick, die er auf der Veranda ein Buch Gedichte lesend antraf, gefragt, ob er nicht Magnus sprechen könne. Der Governor war einige Zeit vorher mit Phelps nach Hoovens Pachtfarm aufgebrochen, um dort nach dem Stande des Weizens zu sehen. Als er nach einer halben Stunde zurückkehrte, hatte Genslinger ihn um eine »kurze Unterredung unter vier Augen« gebeten.
Die zwei begaben sich nach der »Office«, deren Tür Magnus hinter sich verschloß.
»Sehr komplett sind Sie hier, Governor,« begann Genslinger in seiner sprungweisen, hastigen Art und blinzelte hinter den Brillengläsern mit den wie schwarze Glasperlen glänzenden Augen im Raume umher. »Telephon, feuerfester Geldschrank, Ticker, Telegraphenapparat. Kontobücher – ja, das ist Fortschritt, wie? Nur so kann man heutzutage eine große Ranch bewirtschaften. Aber die Tage der großen Ranch sind vorüber. Wenn das Land so im Werte steigt, wird die Versuchung zu groß, es in kleine Pachtfarmen aufzuteilen. Und die kleinen Pachtfarmen können auch vorteilhafter bewirtschaftet werden. Ich will nächstens mal einen Leitartikel darüber bringen.«
»Die Kosten der Bewirtschaftung einer Anzahl kleiner Farmen,« sagte Magnus gleichgültig, »sind natürlich höher, wie die des in einer Hand vereinigten großen Besitzes.«
»Das mag sein, das mag sein,« erwiderte Genslinger.
Dann kam eine lange Pause. Genslinger lehnte sich in seinen Stuhl zurück und rieb sein Knie. Magnus stand aufrecht vor dem Kassenschrank und wartete darauf, was sein Besucher zu sagen hatte.
»Das ist eine unglückliche Geschichte, Governor,« begann der endlich, »dieses Mißverständnis zwischen den Ranchbesitzern und der Bahn. Ich wünschte, es könnte ausgeglichen werden. Das sind zwei Betriebe, die durchaus gut miteinander stehen müssen, oder wir gehen alle zugrunde.«
»Ich würde es vorziehen, in dieser Angelegenheit nicht interviewt zu werden, Herr Genslinger,« sagte Magnus.
»O nein, o nein. Gott liebe Sie, Governor, ich will Sie nicht interviewen. Wir wissen alle, wie Sie dastehen.«
Wieder trat eine lange Pause ein. Magnus wunderte sich, was dieser kleine, sonst so geschwätzige Mann, eigentlich von ihm wollte. Endlich begann Genslinger von neuem, wobei er Magnus nur hin und wieder kurz anblickte.
»Um von der gegenwärtigen Eisenbahnkommission zu reden: das war eine interessante Kampagne, die Sie in Sacramento und San Francisco geführt haben.«
Magnus ließ sich nichts merken; krampfhaft schlossen sich seine Hände. Wußte Genslinger von Lymans Schande? War er deshalb gekommen? Würde er sich darüber in dem Leitartikel der morgigen Ausgabe des »Merkur« auslassen?
»Eine interessante Kampagne,« wiederholte Genslinger bedächtig, »eine höchst interessante Wahlkampagne. Ich habe sie mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt. Jedes ihrer Stadien habe ich genau beobachtet.«
»Die Kampagne war nicht ohne Interesse,« gab Magnus zu.
»Jawohl,« fuhr Genslinger noch bedächtiger fort, »und einige Stadien waren – interessanter als andre, sagen wir zum Beispiel die Art und Weise, in der Sie – in eigner Person – sich die Stimmen gewisser Vorsitzender von Abordnungen sicherten – brauche ich noch näher darauf einzugehen? Ja, diese Männer – die Art und Weise, wie Sie ihre Stimmen einfingen! Und das war, möcht' ich sagen, Herr Derrick, das Interessanteste an der ganzen Kampagne. Hm, sonderbar,« murmelte er nachdenklich. »Lassen Sie sehen. Sie hinterlegten zwei Tausenddollarscheine und vier Fünfhundertdollarscheine in einem Fach der Safety Deposit Bank in San Francisco – dreihundertacht war die Fachnummer –, und dann, lassen Sie sehen, gaben Sie jedem der betreffenden Herren einen Schlüssel zu dem Fach, und nach der Wahl war das Fach leer. Nun, ich nenne das interessant und merkwürdig, weil es eine neue, sichere und äußerst fein ersonnene Bestechungsmethode ist. Wie sind Sie nur darauf gekommen, Governor?«
»Wissen Sie, was Sie tun, Herr?« brach Magnus los. »Wissen Sie, was Sie hier in meinem eignen Hause insinuieren?«
»Aber, Governor,« entgegnete der Zeitungseigentümer in aller Freundlichkeit, »ich insinuiere ja gar nichts. Ich sage nur, was ich bestimmt weiß.«
»Das ist eine Lüge!«
Genslinger rieb nachdenklich sein Kinn.
»Schön,« antwortete er, »wenn Sie es wünschen, können Sie Gelegenheit haben, das vor der Grand Jury aus nicht weniger als 12 und nicht mehr als 23 Geschworenen zusammengesetztes Gericht, das über die Zulässigkeit einer Anklage zu entscheiden hat. zu beweisen.«
»Im ganzen Staat kennt man meinen Charakter,« polterte Magnus. »Die Lauterkeit meiner politischen Grundsätze, meine – –«
»Niemand braucht die allgemeine Anerkennung der Lauterkeit seiner politischen Grundsätze mehr als derjenige, der sich aufs Bestechen verlegt,« unterbrach ihn Genslinger. »Und dann möcht' ich Ihnen auch gleich sagen, Governor, daß Sie mich nicht niederschreien können. Ich kann meine Hand auf die beiden Delegaten legen, noch ehe es dunkel wird. Seit sechs Wochen habe ich ihre Aussagen in meinem Kassenschrank. Wenn wir wollten, könnten wir die Verhaftungen morgen vornehmen lassen. Governor, Sie haben viel riskiert, als Sie sich auf den Wahlkampf in Sacramento einließen, verdammt viel haben Sie riskiert. Manche Leute können sich's leisten, wegen Bestechung angeklagt zu werden, und es tut ihnen gar nichts, aber Sie – mein Gott – Sie würde das ruinieren, totmachen würde Sie's. Ich kenne den ganzen Rummel von A bis Z, und wenn Sie's nicht glauben wollen – hier,« er zog einen langen Papierstreifen aus der Tasche, »hier ist der Fahnenabzug von der ganzen Geschichte.«
Magnus nahm den Streifen. Hier, vor seinen Augen, hielt er den mit auffälliger Ueberschrift versehenen, in Absätze eingeteilten und das Wichtigste durch fette Schrift hervorhebenden Bericht über das »Abkommen«, das er mit den beiden Delegaten getroffen hatte. Es war ein Bericht, der keine Rücksicht, kein Erbarmen kannte und nur die nackten Tatsachen brachte. Der Sachverhalt war mit der Genslinger eignen peinlichen Genauigkeit festgestellt und jede Angabe unwiderleglich bewiesen. Man fühlte, daß die volle Wahrheit gesagt wurde. Der davon Betroffene wurde an den Pranger gestellt, ruiniert und völlig vernichtet.
»Das stimmt doch wohl, wie?« fragte Genslinger, als Derrick den Artikel gelesen hatte. Magnus antwortete nicht. »Ich glaube, es stimmt so ziemlich,« fuhr der Eigentümer des »Merkur« fort. »Ich hielt es nur für recht und billig, Ihnen den Bericht vorzulegen, ehe er veröffentlicht wird.«
Der alles andre in den Hintergrund drängende Gedanke Derricks, sein einziger ihn im Augenblicke beherrschender Trieb war der, seine Würde zu bewahren. Dieser Mensch durfte sich nicht weiden an der kleinsten Spur von Schwäche, an dem leisesten Zeichen, das ein Eingeständnis der schweren Niederlage, der tiefen Demütigung auch nur andeutete. Mit einer seine ganze eiserne Unbeugsamkeit auf die Probe stellenden Anstrengung zwang er sich, Genslinger voll in die Augen zu sehen.
»Ich gratuliere Ihnen,« sagte er, den Fahnenabzug zurückgebend, »zu Ihrem journalistischen Unternehmungsgeist. Ihre Zeitung wird morgen viel gekauft werden.«
»O, ich weiß noch nicht, ob ich die Geschichte veröffentlichen werde,« entgegnete gelassen der Zeitungseigentümer und steckte den Abzug wieder ein. »Bei mir ist's nämlich so: es macht mir Spaß, was Gutes zur Strecke zu bringen; sobald mir das aber gelungen ist, verliere ich alles Interesse daran. Und dann möchte ich auch nicht, daß Sie – der Sie doch Präsident der Liga und ein maßgebender Mann im County sind – von der Geschichte über den Haufen geworfen werden. Ihnen muß doch mehr daranliegen, den Druck des Berichtes zu verhindern, als mir, ihn zu drucken. Ich gewinne nicht viel dabei außer den paar Extraausgaben, aber Sie – Herrgott, Sie würden alles verlieren. Ihr Ausschuß hat nun mal die Sache abgekartet – aber die Liga selbst, das ganze San Joaquin-Tal, jedermann im Staat ist im guten Glauben, daß die Kommissare regelrecht gewählt worden sind.«
»Ihre Darstellung der Sache,« rief Magnus, dem plötzlich ein rettender Gedanke gekommen war, »wird vollständig widerlegt werden, sobald der neue Getreidetarif veröffentlicht wird. Ich bin in der Lage, zu wissen, daß der San Joaquin-Frachtsatz, dessen Regelung für die Wahl der Kommission in erster Linie bestimmend war, nicht angetastet werden durfte. Ist es denn anzunehmen, daß die Ranchbesitzer die Wahl einer Kommission durchsetzen würden, die ein falsches Spiel mit ihnen treibt?«
»O, wir wissen alles,« antwortete lächelnd Genslinger. »Sie dachten, daß Sie Lyman ohne besondere Anstrengung gewählt hätten. Sie dachten, daß die Bahn Ihnen in die Falle gegangen wäre. Sie wußten sich's nicht zu erklären, daß Sie Ihre Trümpfe so bequem ausspielen konnten. Ja, Governor, Lyman war ja schon seit zwei Jahren für die Bahn tätig. Er war doch der Mann, den die Bahn gerade zum Kommissar gewählt haben wollte. Und Ihre Leute wählten ihn und ersparten so der Bahn die Mühe, seine Wahl zu betreiben. Und Sie können keine Gegenklage wegen Bestechung erheben. Nein, bester Herr, die Bahngesellschaft arbeitet nicht mit so dilettantischen Methoden. Ganz im Vertrauen zwischen uns beiden – alles, was die Bahn getan hat, um ihn für sich zu gewinnen, war das Versprechen, ihn mit ihrem politischen Einfluß zu unterstützen, wenn er sich bei den nächsten Wahlen um das Amt des Gouverneurs bewerben würde. Es ist zu traurig,« fuhr er leiser redend und sich in seinem Sitz zurechtrückend fort, »es ist wirklich traurig, wenn man sieht, wie tüchtige Leute eine steinerne Mauer mit ihren Köpfen einrennen wollen. Sie konnten die Partie zu keiner Zeit gewinnen. Ich wünschte, ich hätte mit Ihnen und Ihren Freunden reden können, ehe Sie den Wahlfeldzug in Sacramento eröffneten. Ich würde Ihnen gesagt haben, wie geringe Aussichten Sie hatten. Wann werdet ihr Leute endlich mal einsehen, daß ihr gegen die Eisenbahn nicht ankönnt? Wahrhaftig, Magnus, 's ist ganz so, wie wenn ich in 'nem Papierboot in See stechen und 'n Schlachtschiff mit Erbsen bombardieren wollte.«
»Ist das alles, weshalb Sie mich zu sprechen wünschten, Herr Genslinger?« fragte ungeduldig Magnus. »Ich bin heute sehr beschäftigt.«
»Nun,« entgegnete Genslinger, »Sie wissen, was die Veröffentlichung des Artikels für Sie bedeuten würde.« Er machte wieder eine Pause, nahm seine Brille ab, hauchte auf die Gläser, putzte sie mit dem Taschentuch und setzte sie wieder auf. »Ich habe daran gedacht, Governor,« begann er wieder in seiner hastigen Weise und als ob er nur ganz beiläufig davon spräche, »den ›Merkur‹ zu vergrößern. Sehen Sie, ich bin mitten zwischen den beiden großen Zentren des Staates, San Francisco und Los Angeles, und ich möchte die Einflußsphäre des ›Merkur‹ nach beiden Punkten hin so weit wie möglich ausdehnen. Ich möchte das Blatt illustrieren. Sehen Sie, wenn ich einen eignen Betrieb für photographischen Druck hätte, so könnte ich außerdem noch auf Bestellung arbeiten, und die Anlage würde sich mit zehn Prozent verzinsen. Aber man braucht Geld, um Geld zu verdienen. Mit 'ner kleinen, notdürftigen Geschichte ist mir nicht gedient. Ich brauche eine richtige Einrichtung, wie sie sich gehört. Ausgerechnet hab' ich mir die Sache schon. Außer der Betriebsanlage selbst brauche ich ein gutes Papier. Autotypien lassen sich nur auf glattes Papier drucken, und das kostet Geld! Nun, mit diesem und jenem und laufenden Ausgaben, bis die Sache sich zu bezahlen anfängt, dürfte mich's doch zehntausend Dollar kosten, und da dachte ich, ob Sie mir nicht unter die Arme greifen könnten.«
»Zehntausend?«
»Jawohl. Sagen wir fünftausend sofort und den Rest in sechzig Tagen.«
Magnus, der im Augenblick nicht merkte, was Genslinger im Sinne hatte, sah ihn groß an.
»Ja, Mann, welche Sicherheit können Sie mir denn für einen derartigen Betrag geben?«
»Nun, um die Wahrheit zu sagen,« antwortete der Zeitungseigentümer, »an Sicherheiten habe ich eigentlich nicht gedacht. Ich glaubte vielmehr, Sie würden einsehen, wie sehr es in Ihrem Interesse liegt, mit mir ein Abkommen zu treffen. Sehen Sie, ich will diesen Artikel über Sie nicht drucken, Governor, und will auch nichts davon verlauten lassen, so daß jemand anders ihn drucken könnte, – und da scheint es mir doch, daß eine Liebe der andern wert ist. Verstehen Sie?«
Magnus verstand. In ihm wallte plötzlich das übermächtige Verlangen auf, den Erpresser an der Kehle zu packen und ihn auf der Stelle zu erwürgen oder doch wenigstens mit dem furchtbaren Zorn, den man von alters her an ihm kannte und vor dem ganze Versammlungen sich geduckt hatten, über den Unverschämten herzufallen. Aber daran konnte er nicht mehr denken. Nur die unantastbare Rechtlichkeit des Governors hatte seiner Empörung die zerschmetternde Wucht verliehen, nur seinen gerechten Zorn hatte man gefürchtet. Jetzt aber hatte er den Grund unter seinen Füßen verloren; er selbst hatte ihn zum Wanken gebracht. Dreimal schwach mußte der sein, dessen Sache ungerecht war. Vor diesem Provinzzeitungsschreiber, vor diesem bezahlten Mundstück der Eisenbahn stand er da als ein Ueberführter. Er war diesem Manne auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Der entdeckte Bestecher konnte eine Beleidigung nicht ahnden. Genslinger stand auf und strich seinen Hut mit dem Aermel.
»Nun,« sagte er, »Sie brauchen natürlich Zeit, sich's zu überlegen, und gleich im Augenblick können Sie eine solche Summe nicht aufbringen. Ich will bis Freitag mittag warten. Wir beginnen die Sonnabendausgabe am Freitag nachmittag um ungefähr vier Uhr zu setzen, und wir schließen die Formen um zwei Uhr morgens. Ich hoffe,« fügte er, sich noch einmal an der Tür umwendend, hinzu, »daß Sie am Sonnabend morgen nichts Unangenehmes in Ihrem Merkur' finden werden, Herr Derrick.«
Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich; wenige Augenblicke darauf hörte Magnus die Räder seines Buckboards auf dem Kies der Vorfahrt knirschen.
Der nächste Morgen brachte Magnus einen Brief von Gethings von der San Pablo-Ranch, die ganz in der Nähe von Visalia lag. Der Brief meldete, daß man sich in der ganzen Umgebung von Visalia auf den von der Neubemessung der Landpreise betroffenen Ranchos in den Waffen übte und daß die Stärke der Liga unbestritten war. »Leider muß ich,« hieß es in dem Briefe weiter, »auf ein höchst peinliches Ereignis zurückkommen. Sie werden sich zweifellos erinnern, daß am Ende unsrer letzten Ausschußsitzung ganz bestimmte Beschuldigungen hinsichtlich der Aufstellung und Wahl eines unsrer Kommissare ausgesprochen wurden, und zwar bedauerlicherweise von dem Kommissar selbst. Diese Beschuldigungen, mein werter Herr Derrick, waren direkt gegen Sie gerichtet. Wie das von dem Ausschuß Geheimzuhaltende durchsickern konnte, ist mir unverständlich. Meines unbedingten Vertrauens und meiner treuen Ergebenheit können Sie sich selbstverständlich versichert halten. Zu meinem größten Bedauern muß ich jedoch feststellen, daß das Gerücht von den obenerwähnten Anschuldigungen in hiesiger Gegend Verbreitung findet und daß die Feinde der Liga es sich zunutze machen. Beklagenswert ist der Umstand, daß auch einige Mitglieder der Liga – wie Sie wissen, zählen wir in unsern Reihen viele kleine Farmer, unwissende Portugiesen und andre Ausländer – auf diese Gerüchte hören und sich dadurch beunruhigen lassen könnten. Selbst wenn zugegeben würde, daß betrügerische Mittel bei den Wahlen angewendet wurden, was ich für meine Person natürlich nicht zugebe, so bin ich doch der Meinung, daß dieser Umstand an dem Vertrauen, das die überwiegende Mehrheit der Ligamitglieder in ihre Führer setzt, nicht viel ändern würde. Da wir aber stets die Unantastbarkeit unsers Standpunktes im Gegensatz zu den Schikanen der Bahn betont haben, so würde ich es für angezeigt halten, den sich regenden Verdacht im Keime zu ersticken. Ein Dementi dieser Gerüchte zu veröffentlichen, hieße ihnen zu viel Gewicht beilegen. Möchten Sie mir aber vielleicht nicht einen Brief schreiben, in dem Sie genau auseinandersetzen, in welcher Weise die Wahlkampagne geführt und wie die Kommission aufgestellt und gewählt wurde? Ich könnte diese Erklärung einigen Mißvergnügten zeigen; dadurch würde jeder Verdacht sofort beseitigt werden. Ich glaube, es würde gut sein, wenn Sie so schrieben, als ob der Anstoß dazu nicht von mir, sondern von Ihnen selbst ausgegangen wäre, und daß Sie von meinem heutigen Briefe keine Notiz nehmen. Ich unterbreite Ihnen damit nur einen Vorschlag und werde vertrauensvoll jede von Ihnen getroffene Entscheidung gutheißen.«
Gethings schloß mit erneuerten Versicherungen des vollsten Vertrauens.
Magnus war allein, als er dieses Schreiben las. Er verwahrte es sorgfältig in dem Briefordnerschrank der Office und trocknete sich den Schweiß von Stirn und Gesicht. Mit schlaff herabhängenden Armen und geballten Fäusten stand er eine Weile wie gebannt und starrte fassungslos nach der gegenüberliegenden Wand.
»Das häuft sich,« murmelte er. »Mein Gott, das häuft sich. Was soll ich tun?«
O, die Bitterkeit vergeblicher Reue, die Pein des nicht beschwichtigten und jetzt grausam aufgerüttelten Gewissens, die Zerknirschung über eine verdammenswerte, in einem Augenblick der Aufregung begangene Handlung! O, die Erniedrigung, entdeckt, das herabwürdigende Gefühl, ertappt worden zu sein wie ein Schulknabe, der etwas aus dem Pult seines Mitschülers stibitzt, – und noch schlimmer, viel schlimmer als alles andre, den Verlust der Selbstachtung zu fühlen und zu wissen, daß ein bisher unbestrittenes Uebergewicht zu schwinden, eine stolz behauptete Würde an Geltung zu verlieren beginnt, – zu wissen, daß die Hand, die immer noch die Menge bändigte, zittert, daß die Herrschaft ins Wanken geraten, die Macht geschwächt ist. Und dann die kleinen Kniffe, um die Menge zu täuschen, die kleinen Winkelzüge, die Vorspiegelungen, um den Schein aufrechtzuerhalten, die Lügen, das Poltern, die Pose, das Sichbrüsten, die Aufschneiderei – dort, wo früher eiserne Kraft gewesen war; das Sichabwenden, um das nicht zu sehen, was nicht verhindert werden konnte; der Argwohn des Verdachts, die Furcht vor jedem Herumlungerer, die Ueberwindung, die es kostete, jemand ins Auge zu sehen – das ängstliche Forschen nach den Beweggründen, weshalb das gesagt, was mit diesem Wort, dieser Gebärde, diesem Blick gemeint war?
Mittwoch und Donnerstag gingen dahin. Magnus hielt sich für sich, war für keinen Besucher sichtbar und mied selbst seine Familie. Wie sollte er nur die Maschen des Netzes zerreißen, wie seine alte Haltung wiedergewinnen, eine Entdeckung vermeiden? Wenn er nur auf irgendwelche Weise, durch eine ungeheure, übermenschliche Anstrengung sich noch einmal zu seiner alten Kraft aufraffen könnte, um Lyman mit der einen, Genslinger mit der andern Hand zu zermalmen und dann, nachdem er noch einen Augenblick als der unbezwingbare Führer auf stolzer Höhe gestanden hatte, siegesfreudig in den Tod zu gehen und ein unbeflecktes Gedächtnis, ungetrübten Ruhm zu hinterlassen! Aber er selbst trug den nie zu verwischenden Schandfleck an sich. Wenn auch Genslinger zum Schweigen gebracht, wenn Lyman zerschmettert, selbst wenn die Liga die Bahn überwinden, und er, der Führer im Kampf, den glänzendsten Sieg erringen sollte, so würde der Schandfleck doch an ihm haften bleiben. Für ihn gab es keine Ruhmestat mehr. Mochte der äußere Erfolg noch so glänzend sein, er selbst, Magnus Derrick, war schmachvoll unterlegen.
Geldsorgen erschienen daneben kleinlich und erbärmlich; sie waren aber nicht minder quälend. Wenn nun Genslinger bezahlt werden mußte, wo sollte das Geld dazu herkommen? Seine sich seit Jahren hinziehenden Rechtsstreitigkeiten mit der Bahn hatten ihn viel Geld gekostet; die Ausführung seines Plans, ganz Los Muertos mit Weizen zu besäen und ohne Pächter zu wirtschaften, war kostspielig gewesen, und das Stimmenwerben für Lymans Wahl hatte sein Konto stark belastet. Die Bonanza-Ernte, auf die er rechnete, sollte ihm alles wieder einbringen. Es war kaum anzunehmen, daß die Bahn Los Muertos mit Gewalt in Besitz nehmen würde; geschah es aber doch, so waren ihm alle Hilfsmittel abgeschnitten. Zehntausend Dollar! Konnte er den Betrag aufbringen? Vielleicht. Aber diese Summe einem Erpresser zu zahlen! Sich wie von einem Straßenräuber ausplündern zu lassen und dabei stillhalten zu müssen! Nein, Genslinger sollte nur sein Schlimmstes tun. Er, Magnus, wollte ihm Trotz bieten. War er nicht über allen Verdacht erhaben?
War er es wirklich? Und Gethings Brief! Schon konnte man das Murren der Beunruhigung hören. War das nicht die dünne Kante des Keils? Mit welcher Gewalt würde ihn die Veröffentlichung von Genslingers Bericht tief hineintreiben! Wie würde der Funke des Verdachtes zur Lohe der offenen Anklage aufflammen! Untersuchungen würden angestellt werden. Untersuchung! Das Wort hatte einen furchtbaren Klang für ihn. Einer Untersuchung konnte er sich nicht aussetzen. Magnus stöhnte laut und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Bestechung, Unredlichkeit gegen das Gemeinwesen, Wahlfälschung hatte er sich zuschulden kommen lassen; auf eine Stufe mit Hintertreppenpolitikern und in der Kneipe geworbenen Parteigängern war er herabgesunken, er, Magnus Derrick, der Staatsmann der alten Schule, ein Römer an unbeugsamem, eisernem Rechtssinn, er, der einst eine vielversprechende Laufbahn aufgab, weil er die Grundsätze der »neuen Politik« nicht mit den seinen vereinigen konnte – er hatte, Großes wagend, um Großes zu erreichen, in einem Augenblicke der Verblendung alles, selbst seine Ehre auf eine Karte gesetzt und die Arbeit eines ganzen Lebens vernichtet. Spieler, der er war, hatte er zuletzt noch den höchsten Einsatz, seine persönliche Ehre, in dem höchsten Spiele seines Lebens gewagt und hatte verloren.
Presleys scharfe Beobachtungsgabe hatte zuerst die Anzeichen eines neuen Kummers in den Zügen und dem Benehmen des Governors entdeckt. Presley war überzeugt, daß Lymans Abfall allein ihn nicht derartig aus der Fassung gebracht haben konnte. Am Morgen nach der Ausschußsitzung waren Harran und seine Mutter in die Office gerufen worden; dort hatte Magnus seiner Frau den Treubruch Lymans mitgeteilt und ihr sowie Harran verboten, je wieder den Namen des Verräters zu nennen. Seine Haltung gegenüber dem verlorenen Sohn war die finsteren, unversöhnlichen Grolles. Presley aber entging es nicht, daß noch etwas andres schwer auf dem Governor lastete. Etwas lag in der Luft. Es waren unruhige Zeiten. Was würde nächstens geschehen? Welch neues Unglück stand bevor?
An dem Morgen eines Freitags erwachte Presley zeitig in seinem schmalen weißlackierten eisernen Bett. Er stand auf und kleidete sich rasch an. Für den heutigen Tag hatte er sich viel vorgenommen, trotzdem er erst spät zu Bett gegangen war. Die Zusammenstellung seiner zuerst in Zeitschriften erschienenen Gedichte hatte ihn bis spät in die Nacht hinein beschäftigt; für die Veröffentlichung in Buchform war ihm ein recht annehmbares Gebot gemacht worden. »Die Mühseligen« sollten in die Sammlung eingeschlossen werden und ihr den Namen geben: »Die Mühseligen und andre Gedichte«. An diesem Morgen noch wollte er das Buch dem Verleger einsenden.
Presley beabsichtigte auch, einer Einladung nach Quien Sabe für diesen Tag Folge zu leisten. In einem mit der Maschine geschriebenen Briefe hatte ihm Annixter mitgeteilt, daß er zur Feier von Hilmas Geburtstag ein Picknick in den Hügeln an der Quelle des Broderson-Baches geplant hätte. Hilma, Presley, Frau Dyke, Sidney und er selbst würden alle in seinem dreisitzigen Wagen dorthin fahren und den ganzen Tag im Freien verbringen. Um zehn Uhr wollte man von Quien Sabe aufbrechen. Presley hatte sich sofort entschlossen, mit von der Partie zu sein. Für Annixter empfand er eine außerordentliche Zuneigung, die sich seit dessen Heirat mit Hilma und der erstaunlichen Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, womöglich noch gesteigert hatte. Hilma war eine prächtige Frau Annixter, und mit Frau Dyke und dem Kleinchen stand er schon seit langer Zeit auf freundschaftlichem Fuße. Und so versprach sich Presley einen vergnügten Tag. Da heute nicht nach Bonneville geschickt wurde, so mußte er sein Buch selbst zur Post nehmen. Er wollte daher zeitig aufbrechen und über Bonneville nach Quien Sabe reiten.
Es war noch nicht sechs Uhr, als Presley im Speisezimmer bei seinem aus Kaffee und Eiern bestehenden Frühstück saß. Der Tag versprach heiß zu werden; Presley hatte daher zum ersten Male einen neuen Khakianzug angelegt, der trotz der bis fast ans Knie reichenden Schnürschuhe, die Presley anstatt der vorschriftsmäßigen hohen Stiefel trug, sehr englisch aussah. An den linken Absatz hatte er einen großen Sporn geschnallt. Harran in seinen Arbeitskleidern von blauem Segeltuch frühstückte mit ihm. Er wollte hinaus nach dem Bewässerungsgraben, um nach dem Fortschritt der Arbeit zu sehen.
»Wie steht der Weizen?« fragte Presley.
»Famos!« antwortete Harran, seinen Kaffee umrührend. »Der Governor hat wieder mal Glück gehabt. Jeder Acker der Ranch ist mit Weizen bestellt, und er steht überall gut. Ich war vorgestern auf Abteilung zwei; wenn nicht noch irgendwas passiert, so glaub' ich, daß der Acker dort dreißig Sack bringt. Cutter meldet, es wären Stellen auf vier, wo wir zwei- bis dreiundvierzig haben werden. Hooven hat mir Proben von prachtvollen Aehren gebracht. Die Körner bilden sich schon. Einige Aehren hatten zwanzig Körner. Das bedeutet fast vierzig Bushel Bushel = 36,34 Liter. Weizen per Acker. 1 Acker = 40,46 Ar. Ich nenne das ein Bonanzajahr.«
»Hast du Postsachen mitzuschicken?« fragte Presley aufstehend. »Ich reite nach der Stadt.«
Harran schüttelte verneinend den Kopf und machte sich auf den Weg nach dem Bewässerungsgraben; Presley ging nach der Koppel neben dem Stall, um sein Pferd zu holen. Als er vom Stalle her den Fahrweg zum Wohnhaus heranritt, sah er zu seiner Ueberraschung Magnus auf der untersten Stufe der Verandatreppe stehen.
»Guten Morgen, Governor,« rief Presley. »Sind Sie heut nicht sehr zeitig auf?«
»Guten Morgen, Pres, mein Junge!« Der Governor trat auf ihn zu und ging, seine Hand auf den Widerrist des Ponys legend, einige Schritte nebenher.
»Reiten Sie nach der Stadt, Pres?« fragte er.
»Ja. Kann ich etwas für Sie besorgen, Governor?«
Magnus zog einen versiegelten Brief aus der Tasche.
»Ich möchte gern, daß Sie in der Merkurredaktion vorsprechen und dies hier Herrn Genslinger persönlich übergeben. Es sind Papiere, die eine beträchtliche Summe Geldes repräsentieren; ich bitte daher, gut acht darauf zu haben. Vor einigen Jahren, als unsre Feindschaft noch nicht so ausgesprochen war, hatte ich mit Herrn Genslinger geschäftliche Beziehungen. Mit Rücksicht darauf, wie wir jetzt einander gegenüberstehen, hielt ich es für angezeigt, diese Beziehungen abzubrechen. Vor einigen Tagen haben wir uns dahin verständigt. Die Angelegenheit wird durch die Aushändigung dieser Papiere endgültig geregelt. Sie müssen ihm persönlich übergeben werden, Presley. Sie verstehen mich.«
Presley galoppierte davon und folgte der in nördlicher Richtung an dem mächtigen Wasserbehälter und an Brodersons als Windschutz gepflanzten Pappeln vorbeiführenden Countystraße. Als er bei Carahers Kneipe vorüberritt, sah er deren Wirt in der Tür stehen; Presley winkte ihm einen Gruß zu, den jener erwiderte.
Ueber Caraher hatte Presley sich mit der Zeit ein günstigeres Urteil gebildet. Zu seiner größten Ueberraschung hatte er entdeckt, daß Caraher etwas von Mill und Bakunin wußte – allerdings nicht unmittelbar aus deren Werken, sondern aus diesen entnommenen Stellen und Auszügen, die sich in den von Caraher gehaltenen anarchistischen Blättern fanden. Die beiden führten öfters längere Gespräche miteinander; aus Carahers eignem Munde hatte Presley die erschütternde Schilderung des Todes seiner Frau, die bei einer von Streikern veranstalteten und von Pinkertons Pinkerton's Preventive Watch ist eine nach ihrem Chef benannte Privatdetektivtruppe, die sich sowohl mit der Entdeckung von Verbrechen wie auch mit dem Schutz von Eigentum und Personen bei Streiks und Unruhen befaßt. Schutztruppe bekämpften »Demonstration« durch einen unglücklichen Zufall ums Leben gekommen war. Presleys Einbildungskraft verklärte den beklagenswerten Gatten zum Helden eines Trauerspiels. Er verdachte es Caraher nicht, daß er ein »Roter« war, und wunderte sich sogar, daß der Kneipwirt seine Ueberzeugungen noch nicht in die Tat umgesetzt und das ihm widerfahrene Leid nicht mit »sechs Zoll gut plombierten Gasrohrs« gerächt hatte. Er begann in ihm einen »Charakter« zu sehen.
»Warten Sie's ab,« hatte der Kneipwirt einst gesagt, als Presley gegen seine umstürzlerischen Ansichten Einspruch erhoben hatte. »Sie kennen die P. und S. W. noch nicht. Beobachten Sie die Bahn und ihre Maßregeln lange genug, und Sie werden so denken wie ich.«
Es war um halb acht herum, als Presley Bonneville erreichte. Im Geschäftsviertel der Stadt war es noch ziemlich still. Presley gab sein Manuskript zur Post und eilte dann nach der Redaktion des »Merkur«. Genslinger war, wie er befürchtet hatte, noch nicht da; aber der Pförtner gab ihm die Adresse von Genslingers Wohnung. Presley traf den kleinen Mann, als dieser sich gerade zum Frühstück setzen wollte, und war nicht besonders höflich gegen ihn; einen ihm angebotenen Trunk lehnte er kurz ab. Er übergab ihm Magnus' Brief und machte sich wieder auf den Weg.
Es war ihm mittlerweile eingefallen, daß er heut, an Hilmas Geburtstag, nicht mit leeren Händen in Quien Sabe erscheinen könnte. Er ritt daher von Genslingers Haus nach dem Geschäftsteile der Stadt und stieg vor einem Juweliergeschäft ab, gerade als der Verkäufer die Vorsatzläden herunternahm.
Er kaufte eine kleine Brosche für Hilma und dann im Tabaksladen des Yosemite-Hotels ein Kistchen hochfeiner Zigarren, die, wie ihm hinterher einfiel, Annixter niemals rauchen würde; denn der hielt in einer sonderbaren Geschmacksverwirrung eigensinnig an seinen elenden schwarzen und bitteren, mit einer bösen Brühe durchtränkten Glimmstengeln fest, die er, drei für einen Nickel, 5 Cents = 20 Pfennig. in Guadalajara kaufte.
Presley kam um eine halbe Stunde später, als verabredet war, in Quien Sabe an; er fand aber, wie er auch erwartet hatte, die Gesellschaft noch nicht zum Aufbruch bereit. Der Wagen, dessen Pferde mit weißen Fliegennetzen eingedeckt waren, hielt nahe am Hause im Schatten eines Baumes; der junge Vacca war auf seinem Kutschersitz eingenickt. Die kleine Sidney, deren überquellende Fröhlichkeit fast die Tränen in Presleys Augen treten ließ, half Hilma auf der rückwärtigen Veranda belegte Brötchen zurechtmachen. Frau Dyke war nirgends zu sehen, und Annixter rasierte sich im Schlafzimmer. Er schaute mit seinem halbeingeseiften Gesicht zum Fenster heraus, als Presley durchs Tor ritt, und winkte ihm mit dem Rasiermesser zu.
»Komm 'rein, Pres,« rief er. »'s ist noch niemand fertig. Du bist 'n paar Stunden zu früh.« Presley trat in das Schlafzimmer; sein großer Sporn klirrte auf der Strohmatte des Fußbodens. Annixter war ohne Rock, Weste und Halskragen; seine blauseidenen Hosenträger hingen in Schlingen über den Hüften, sein Haar war verwirrt, und die Skalplocke stand steifer wie je empor.
»Willkommen, alter Junge,« rief er, als Presley hereinkam. »Nein, gib mir nicht die Hand, ich bin ganz voller Seifenschaum. Nimm dir 'nen Stuhl. Ich bin gleich fertig.«
»Ich dachte, du hättest gesagt zehn Uhr,« bemerkte Presley und setzte sich auf die Bettkante.
»Ja, das mag ich gesagt haben, aber – –«
»Aber auf die andre Art hast du's wieder nicht gesagt, wie?« unterbrach ihn der Freund.
Annixter brummte gutgelaunt und begann sein Rasiermesser auf dem Streichriemen zu wetzen. Presley betrachtete mißfällig seine Hosenträger.
»Wie kommt es,« fragte er, »daß jeder Mann, der heiratet, sich hellblaue seidene Hosenträger kauft? Denke nur! Du, Buck Annixter, mit himmelblauen seidenen Hosenträgern! Ein Riemen und 'n Nagel tät's doch auch.«
»Alter Narr,« erwiderte Annixter, der das Werfen von Ziegelstücken für eine schlagfertige Entgegnung hielt. »Schau dich mal um,« fuhr er fort; er setzte das Messer ab und schielte, den Kopf herumwerfend, nach Presleys Spiegelbild in seinem Rasierspiegel, »schau dich nur mal um. Ist das nicht ein ganz patentes Zimmerchen? Wir haben uns ganz neu eingerichtet, weißt du. Hast du bemerkt, daß das ganze Haus frisch gestrichen ist?«
»Das hab' ich schon getan,« entgegnete Presley und blickte, Annixters Aufforderung folgend, im Zimmer umher. Er vermied es, seine Meinung auszusprechen. Annixter war so kindlich stolz auf seine schönen Sachen, daß es grausam gewesen wäre, ihn zu enttäuschen. Presley sah sich das wunderbare messingene Warenhausbett mit seinem prächtigen Himmel an, den Waschtisch von lackiertem Blech mit dem grellrot und grünen Porzellankruge und Becken, die in Strohrahmen an der neuen bunten Tapete hängenden, symbolische Frauengestalten darstellenden Steindrucke, den unter der Hängelampe befestigten Ball von Seidenpapier und die Büschel von Pampas-Gras, die über den beiden erstaunlichen goldgerahmten Oelgemälden in künstlerischen Neigungswinkeln an der Wand befestigt waren.
»Was sagst du zu diesen Gemälden, Pres?« fragte Annixter etwas unsicher. »Ich weiß nicht, ob sie was taugen. Sie sind von 'nem dreifingrigen Chinesen in Monterey gemalt worden, und ich hab' sie mitsamt den Rahmen für dreißig Dollar bekommen. Nun, ich sollte denken, die Rahmen sind allein dreißig Dollar wert.«
»Ja, das denk' ich auch,« erklärte Presley und beeilte sich, von etwas anderm zu sprechen.
»Buck,« sagte er, »ich habe gehört, du hast Frau Dyke und Sidney hierhergenommen. Weißt du, ich finde das sehr nett von dir.«
»Ach, Blech, Pres,« murmelte Annixter und rasierte sich eifrig weiter.
»Und du kannst mir nichts weismachen, Alter,« fuhr Presley fort. »Du veranstaltest das Picknick ebenso für Frau Dyke und das Kleinchen wie für dich und deine Frau – du willst die beiden ein bißchen aufheitern!«
»Ach, dummes Zeug!«
»Ja, das ist das Richtige, was du tust, Buck, und mich freut's deinethalben ebensosehr wie wegen der beiden. Es gab eine Zeit, in der du sie alle hättest zugrunde gehen lassen; nicht im geringsten wäre es dir eingefallen, an sie zu denken. Ich möchte mir nicht zuviel herausnehmen, aber das kann ich wohl sagen, du hast dich zu deinem Vorteil verändert, alter Junge, und ich glaube den Anlaß dazu zu kennen. Sie ist,« fuhr er dem Blicke des Freundes begegnend in ernstem Tone fort, »sie ist eine gute Frau, Buck.«
Mit einem Ruck fuhr Annixter herum, und sein Gesicht rötete sich unter dem Seifenschaum.
»Pres,« rief er, »sie hat einen Mann aus mir gemacht. Vorher war ich nur eine Maschine, und wer mir in den Weg kam, Mann, Weib oder Kind, den hab' ich niedergeworfen, und mir ist's auch nicht im Traume eingefallen, an jemand anders als an mich selbst zu denken. Aber sobald mir's klar wurde, daß ich sie wirklich liebte, da war's im Augenblick Ruhm, Ehr' und Preis und Halleluja in mir, und gleich fing ich so auf 'ne Art jedermann zu lieben an und ich wollte jedermanns Freund sein. Und ich begann einzusehen, daß ein Mensch ebensowenig für sich selbst wie von sich selbst leben kann. Er muß an andre denken. Wenn er Verstand hat, so muß er für die armen Kerls denken, die keinen haben, und ihnen nicht einen Fußtritt versetzen, bloß weil sie dumm sind; wenn er Geld hat, so soll er an die denken, die niedergebrochen sind; und hat er ein Haus, so muß er an die denken, die nicht wissen, wo sie ihr Haupt niederlegen sollen. Mir sind 'ne ganze Masse Gedanken gekommen, seitdem ich Hilma zu lieben angefangen habe, und sobald ich's nur irgend kann, werd' ich mich dranmachen und den Leuten helfen, und an der Idee will ich festhalten, solange ich lebe. Das mag keine sonderliche Religion sein, 's ist aber die beste, die ich habe, und Henry Ward Beecher berühmter amerikanischer Prediger in New York; starb 1887. könnte auch nicht mehr tun. Und das ist alles nur wegen Hilma so gekommen, und weil wir einander liebhaben.«
Presley sprang auf und schlang den einen Arm um Annixters Schultern, während er mit der andern Hand herzhaft dessen Rechte drückte. Ueber diese lächerlich wirkende Gestalt mit den herabhängenden seidenen Hosenträgern, dem eingeseiften Gesicht und den in Tränen schwimmenden Augen schien plötzlich wahrer Seelenadel ausgegossen zu sein. Neben diesem unbeholfenen Mühen, Gutes zu tun und seinen Mitmenschen zu helfen, zerfielen Presleys unklare Pläne, seine glänzenden Systeme für eine Neuordnung der Dinge in nichts, und er selbst mit all seiner Verfeinerung, seinem dichterischen Empfinden, seiner Erziehung und Bildung stand als ein Stümper am Werktisch der Welt.
»Du bist auf dem rechten Wege, alter Junge!« rief er, unfähig, etwas seinen Gefühlen Entsprechendes zu sagen. »Du bist auf dem rechten Wege. So muß man reden, und hier, ich hab' dir auch ein Kistchen Zigarren mitgebracht.«
Annixter machte ein erstauntes Gesicht, als Presley das Kistchen auf den Rand des Waschtisches stellte.
»Alter Narr,« sagte er. »Zum Teufel auch, warum hast du denn das getan?«
»O, nur zum Spaß.«
»Es werden wohl verdammte Stinkadores sein, sonst würdest du sie nicht weggeben.«
»Diese kriecherischen Dankesbezeugungen –,« begann Presley.
»Halt 's Maul,« rief Annixter, und damit war der Zwischenfall erledigt.
Er rasierte sich weiter, und Presley zündete eine Zigarette an.
»Was Neues aus Washington?« fragte er.
»Nichts Gutes,« brummte Annixter. »Hallo,« fuhr er den Kopf hebend fort, »da scheint's jemand verdammt eilig zu haben.«
Das Geräusch eines Galoppes von derartiger Schnelligkeit, daß die Hufschläge in einem ununterbrochenen Klappern einander folgten, kam plötzlich von der Straße her, die von der Mission nach Quien Sabe führte. Sie näherten sich mit unglaublicher Schnelligkeit; in ihrem Getrappel lag etwas, das Presley blitzschnell aufspringen ließ.
Annixter riß das Fenster auf.
»Durchgehende Pferde!« rief Presley aus.
Annixter, der an die Eisenbahn und eine gewaltsame Besitzergreifung der Ranch dachte, fuhr mit der Hand nach der Hüftentasche. Der Revolver wird unauffällig in der rechten Hüftentasche des Beinkleides getragen.
»Was ist denn los, Vacca?« rief er.
Der junge Vacca drehte sich auf seinem Kutschersitz um und blickte nach der Straße hin. Mit einemmal sprang er vom Wagen und rannte zum Fenster hin.
»Dyke,« schrie er, »Dyke, 's ist Dyke!«
Noch hatte er nicht ausgesprochen, als das Getrappel sich zu einem Donnern steigerte und die hastig ausgestoßenen Laute einer mächtigen, dröhnenden Stimme erschallten:
»Annixter, Annixter, Annixter!«
Es war Dykes Stimme; im nächsten Augenblick sprengte er in rasendem Lauf auf den freien Platz vor dem Hause.
»O mein Gott!« schrie Presley.
Mit einem Ruck warf Dyke sein Pferd auf die Hanken und sprang aus dem Sattel; im selben Augenblick stürzte das Tier nieder und streckte zuckend alle viere von sich. Mit einem Satz war Annixter zum Fenster hinaus und rannte, von Presley gefolgt, auf Dyke zu.
Ohne Hut, den Revolver in der Hand, eine bis zum Skelett abgemagerte Schreckensgestalt mit langem wirren Bart, eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen, stand er vor den beiden Freunden. Seine in wochenlanger Flucht und vom Verbergen im Dorngesträuch zerrissenen Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leibe, bloße Lederfetzen waren die von wütendem Spornen bis an die Knöchel blutigen Stiefel.
»Annixter!« brüllte er von neuem und rollte seine eingesunkenen Augen, »Annixter, Annixter!«
»Hier, hier!« rief der.
Dyke wandte sich um und schlug den Revolver auf ihn an.
»Ein Pferd, ein Pferd, schnell, hört ihr nicht? Gebt mir ein Pferd oder ich schieße.«
»Ruhig, ruhig. Das gibt's hier nicht. Sie kennen mich, Dyke. Wir hier sind Freunde.«
Der Flüchtling senkte den Revolver.
»Ich weiß, ich weiß,« keuchte er. »Ich hatte vergessen. Ich bin kaput, Herr Annixter. Ich reite für mein Leben. Nicht zehn Minuten sind sie hinter mir.«
»Hierher, hierher,« schrie Annixter und rannte mit fliegenden Hosenträgern nach dem Stalle.
»Hier ist 'n Pferd!«
»Meins?« rief Presley. »Nicht 'ne Meile trägt Sie's!«
Annixter war weit voraus und sprudelte mit gellender Stimme Befehle hervor.
»Den Buckskin!« schrie er. »'raus mit dem Gaul, Billy! Wo ist der Stallmann? 'raus mit dem Buckskin! Den Sattel her!«
Jetzt folgten Minuten rasender Eile; Presley, Annixter, Billy, der Stallmann, und Dyke selbst hasteten bleich vor Aufregung und mit zitternden Fingern schnallend, schnürend und gürtend um den Falben herum.
»Woll'n Se was zu essen?« Annixter zerrte, den Kopf unter dem Sattelblatt, am Gurt. »Woll'n Se was zu essen? Woll'n Se Geld? Woll'n Se'nen Revolver?«
»Wasser!« stieß Dyke hervor. »Jedes Wasserloch haben sie bewacht. Ich bin halbtot vor Durst.«
»Da ist der Hydrant. Schnell!«
»Bis zum Kern River bin ich gekommen, aber sie haben mich zurückgejagt,« stieß er in Absätzen während des Trinkens hervor.
»Halten Sie sich nicht mit Reden auf!«
»Meine Mutter und das Kleinchen – –«
»Ich sorge für sie. Sie wohnen bei mir.«
»Hier?«
»Sie können sie nicht sehen, bei Gott, es geht nicht. Sie müssen fort. Wo ist der Hintergurt, Billy? Zum Teufel, woll'n Se 'n totschießen lassen, eh' er weg kann? Nu 'rauf, Dyke! Er rennt sich tot, eh' die Sie kriegen.«
»Gott lohn's Ihnen, Annixter. Wo ist das Kleinchen? Ist sie wohl, Annixter, und die Mutter? Sagen Sie ihnen – –«
»Ja, ja, ja. Alles in Ordnung, Pres? Lassen Se 'n laufen, wie er will, Dyke. Sie sind auf 'm besten Gaul vom County. Lassen Se 'n Kopf los, Billy. Nu, Dyke – meine Hand woll'n Se? Hier! 's ist schon gut! Los! los!«
Angestachelt vom Sporn und von der Aufregung der Männer um ihn angesteckt, ließ der Buckskin in zwei Sätzen den Stallzaun hinter sich. Den Kopf tief geneigt und seinen Hals weit vorstreckend jagte er von der Vorfahrt auf die Straße und verschwand in einer Staubwolke. Der junge Vacca kletterte mit affenartiger Gelenkigkeit in dem Turmgerüst des artesischen Brunnens bis zu dessen Spitze empor; rasch blickte er sich im Kreise um.
»Nun?« fragte Annixter von unten; gespannt horchend blickten die andern hinauf.
»Ich seh' ihn, ich seh' ihn,« rief Vacca. »Er reitet wie der Teufel auf Guadalajara zu.«
»Sehen Sie nach der andern Seite, nach dem Missionswege. Ist dort was?«
Der junge Mensch antwortete nach einem Ausruf der Bestürzung: »Drei – vier Reiter. Hunde haben sie mit sich. Sie kommen hierher. O, ich kann die Hunde bellen hören. Ach, und da sind noch andre Reiter auf dem Unteren Weg, sie jagen auf Guadalajara zu. Gewehre haben sie. Ich kann die Läufe blitzen sehen. Und ach, du mein Gott, da kommen noch drei Reiter von der Los Muertos-Viehtrift 'runter. Sie reiten auch, was sie können, nach Guadalajara zu. Und ich kann die Courthouse-Glocke courthouse = Gerichtsgebäude. in Bonneville läuten hören. Das ganze County kommt in Aufruhr.« Der junge Vacca glitt an dem Gerüst herab, und schon kamen zwei kleine schwarze Hunde mit lohfarbigen Abzeichen und langen Schlappohren auf der Straße vor dem Hause herangelaufen. Die Zunge hing ihnen weit heraus; sie waren ganz grau vom Straßenstaub und hatten die Nasen tief auf den Boden gesenkt. An dem offenen Tore, durch das der Flüchtling in das Gehöft gesprengt war, machten sie unentschlossen einen Augenblick Halt. Der eine folgte der nach dem Stall führenden Spur des Räubers, der andre aber revierte im Zickzack blitzschnell nach der Straße zurück und nahm sofort die frische Fährte nach Guadalajara auf. Er warf den Kopf empor, und im selben Augenblick hielt sich Presley die Ohren zu.
O, der furchtbare Laut, tieftönend und widerhallend wie der Klang einer großen Glocke. Frohlockend über die wiederaufgefundene Fährte des Verfolgten stießen die ihm in heißer Gier nachjagenden Spürer das langgezogene, rauhe Geheul aus, das, unheilkündend wie der zitternde Ton der Sturmglocke, bang und dumpf wie Totengeläut weithin hallte. Dicht hinter dem Gebell der Hunde kam der donnernde Galopp von Pferdehufen. Fünf Reiter, die Augen auf die Hunde gerichtet, die Gewehre über den Sattelknopf gelegt, rasten auf dampfenden, schweißglänzenden Pferden in einer Wolke von Staub, blinkenden Hufeisen und wehenden Mähnen vorüber.
»Da war Delaney dabei,« rief Annixter. »Ich hab' ihn gesehen.«
»Der andre war Christian,« sagte Vacca, »S. Behrmans Vetter. Er hatte zwei Deputys Hilfsbeamte des Sheriffs. mit sich, und der Kunde mit dem weißen Schlapphut war der Sheriff von Visalia.«
»Bei Gott, sie sind nicht weit hinter ihm,« erklärte Annixter.
Als die Männer wieder nach dem Hause gingen, sahen sie Hilma und Frau Dyke in der Tür des Häuschens stehen, das die alte Frau jetzt bewohnte. Die beiden sahen sich bestürzt um, ohne zu wissen, was vorgegangen war. Sidney aber, das Kleinchen, an die bei der allgemeinen Aufregung niemand gedacht hatte, stand ganz allein mit bleichem Gesicht und starren, weitgeöffneten Augen auf der Veranda des Ranchhauses. Die Kleine hatte alles gesehen; nichts war ihr entgangen. Den Kopf nach der Straße gewendet, lauschte sie auf das ferne, immer schwächer werdende Gebell der Hunde.
Dyke donnerte über die Gleise am Bahnhof von Guadalajara keine fünf Minuten vor seinen Verfolgern. Das Glück schien ihn verlassen zu haben. Auf der sonst so menschenleeren Station stand gerade die Mannschaft eines Frachtzuges umher, der auf dem landeinwärts führenden Gleis wartete; auf dem andern Gleis in der Richtung nach San Francisco hielt eine einzelne Lokomotive. Dyke war überzeugt, daß deren Führer und Heizer ihn erkannt hatten, als der Buckskin über die Schienen jagte.
Seit heut morgen hatte er keine Zeit gehabt, einen Plan für seine Rettung zu ersinnen. Von furchtbarem Durst gepeinigt, hatte er sich an die Quelle des Broderson-Bachs auf Quien Sabe herangewagt und wäre dabei um ein Haar der Posse in die Hände gefallen, die dort auf ihn lauerte. Zu spät bereute er, daß er nicht versucht hatte, auf der alten Fährte in die Berge östlich von Bonneville zurückzuflüchten und so seine Spur zu verwischen. Delaney war ihm jetzt dicht auf den Fersen. Dessen Posse möglichst weit hinter sich zu lassen, war das einzige, was er tun konnte. Für ihn kam es nicht mehr in Betracht, sich verborgen zu halten, bis man seine Verfolgung aufgeben würde; er war aus seinem Versteck in den Bergen in diese dicht bevölkerte Gegend getrieben worden, in der er an jeder Wegbiegung auf einen Feind stoßen konnte. Jetzt ging es auf Leben und Tod. Entweder entrann er seinen Verfolgern oder er wurde getötet. Lebendig sollten sie ihn nicht bekommen, das stand bei ihm fest. Aber den Gegnern die Stirn bieten auf die Gewißheit hin, getötet zu werden, das wollte er erst dann, wenn ihm jeder Ausweg abgeschnitten war. Jetzt beherrschte ihn der einzige Gedanke, die Verfolger hinter sich zu lassen.
Das Leben des gehetzten Flüchtlings, das er seit Wochen führte, hatte Dykes Sinne aufs äußerste geschärft. Als er jenseits von Guadalajara in den Oberen Weg einbog, sah er die drei von Derricks Viehtrift herabsprengenden Reiter der Straße zujagen; sie wollten ihm offenbar den Weg verlegen. Dyke warf den Buckskin herum. Er mußte wieder die Richtung nach Guadalajara einschlagen und versuchen, den Unteren, über die Felder von Los Muertos führenden Weg vor Delaneys Hunden und seiner Posse zu erreichen. In rasendem Galopp sauste er dahin; mit jedem Satze schnellte der Buckskin um seine eigne Länge vor. Von neuem kam der Bahnhof in Sicht. Sich in den Steigbügeln hebend blickte Dyke in der Richtung des Unteren Weges über die Felder. Dort war eine Staubwolke. Rührte sie von einem Wagen her? Nein, schnell näherkommende Reiter wirbelten sie auf! Sie waren bewaffnet; Dyke sah die Gewehrläufe glänzen. Von allen Seiten schlossen ihn die Verfolger ein, auf allen Wegen jagten sie auf Guadalajara zu. Der Obere Weg westlich von der Stadt führte geradeaus nach Bonneville. Der war unmöglich. Saß Dyke in der Falle? War die Zeit für den Verzweiflungskampf schon gekommen?
Doch als Dyke sich dem Bahnhof von Guadalajara näherte, fiel sein Auge auf die einzelne Lokomotive, die ruhig rauchend noch immer auf dem landeinwärts führenden Gleise stand. Mit wildem Triumphgefühl ward er sich bewußt, daß er ein gelernter, alter Lokomotivführer war. Schon konnte er Delaneys Hunde hören, und das Hufgetrappel auf dem Unteren Wege dröhnte in sein Ohr, als er vor dem Bahnhofe aus dem Sattel sprang. Die Mannschaft des Frachtzuges lief wie gescheuchte Schafe vor ihm auseinander; er kümmerte sich nicht um sie. Den Revolver in der Rechten, rannte er nach der einzelnen Maschine.
»'raus aus dem Cab!« Führerstand. donnerte er. »Beide! Schnell, oder ich schieß' euch tot!«
Die beiden Männer purzelten aus der Tür des Tenders heraus, während Dyke sich in den Führerstand schwang und, seinen Revolver auf den Fußboden fallen lassend, instinktmäßig nach den vertrauten Hebeln griff.
Die mächtige Verbundlokomotive fauchte und zitterte, als der Dampf eingelassen wurde; die großen Triebräder kamen in Bewegung und drehten sich langsam auf den Schienen. Laute Schreie drangen jetzt an Dykes Ohr. Delaneys Posse, Hunde und Männer sausten um die Wegbiegung; weitüber lehnten sich die Reiter, als sie die Kurve im vollen Laufe nahmen. Dyke riß an allen Hebeln und raffte seinen Revolver auf. Von rückwärts kam der Knall eines Winchesters. Die Verfolger auf dem Unteren Wege waren noch näher herangekommen als Delaney. Sie hatten Dykes Bewegungen gesehen, und der erste von ihnen abgegebene Schuß ging dicht über Dykes Kopf durch die Fenster des Führerstandes.
Die zuerst wirkungslos sich drehenden Triebräder faßten endlich die Schienen. Die Maschine bewegte sich vorwärts, ließ Bahnhof und Frachtzug hinter sich und rollte mit rasch zunehmender Schnelligkeit hinaus auf die Strecke. Schwarzer heißer Rauch schoß aus dem Schornstein himmelwärts. Es war keine Niete an der Maschine, die nicht unter dem mächtigen Dampfdruck zitterte. Das eiserne Ungetüm aber – eine der neuesten und besten Lokomotiven Baldwins – gehorchte, sobald sein pochendes Riesenherz die Hand des Meisters an den Hebeln fühlte, willig und gelehrig seinem Lenker. Es beschleunigte seine Schnelligkeit, spannte seine stählernen Muskeln, seine Sehnen von Eisen an und erfüllte, auf die offene Strecke hinausbrausend, die Luft mit dem Sturmgetöse seines Atems und verfinsterte die Sonne mit dem von ihm ausgespienen schwarzen dicken Rauch. Schon schien die Lokomotive in der Entfernung zusammenzuschrumpfen, als Delaney, Christian und der Sheriff von Visalia vor das Bahnhofsgebäude sprengten.
Die Posse hatte alles gesehen.
»Fest sitzen wir. Hol's der Teufel!« wetterte der Kuhzwicker.
Aber der Sheriff war schon aus dem Sattel und im Telegraphenamt.
»Zwischen hier und Pixley ist 'ne Entgleisungsweiche?« rief er.
»Ja.«
»Telegraphieren Sie, daß sie geöffnet wird. Wir wollen ihn entgleisen lassen. Vorwärts!« rief er Delaney und den andern zu und sprang mit ihnen in den Führerstand der Frachtzuglokomotive.
»Im Namen des Staates Kalifornien,« schrie der Sheriff den bestürzten Lokomotivführer an, »kuppeln Sie vom Zuge los!«
Der Sheriff war ein Mann, dem ohne Zögern gehorcht werden mußte. Der Bemannung des Frachtzuges wurde keine Zeit gelassen, darüber zu verhandeln, ob die Lokomotive mit Recht oder Unrecht beschlagnahmt worden war, und ehe noch jemand über die Sicherheit oder die Gefahr des Unternehmens nachdenken konnte, flog die Frachtlokomotive schon auf dem zur Küste führenden Gleise in scharfer Verfolgung hinter Dyke her, der auf dem andern Gleise weit voraus war.
»Ich weiß genau, daß 'ne Entgleisungsweiche zwischen hier und Pixley ist,« schrie der Sheriff, das Getöse der Maschine übertönend. »Sie bringen damit ausgerissene Lokomotiven zum Entgleisen. Wir werden ihn dort schon kriegen. Haltet eure Gewehre bereit, Jungens.«
»Wenn uns ein andrer Zug auf dem Gleis hier entgegenkommt –« warf der geängstete Lokomotivführer ein.
»Dann springen wir 'runter oder krachen aufeinander. Hei, seht nur! Dort ist er.« Als die Lokomotive um eine Kurve raste, bekam man Dykes Maschine zu Gesicht, die ungefähr eine Viertelmeile voraus, in eine Wolke wirbelnden Rauchs gehüllt, dahinsauste.
»'s ist nicht mehr weit von hier bis zur Weiche,« rief der Lokomotivführer. »Man kann Pixley schon sehen.«
Die Hand auf dem Griff des die Dampfspannung regelnden Ventils und den Kopf zum Seitenfenster hinausstreckend raste Dyke in donnerndem Laufe weiter. Wieder stand er auf seinem alten Platze, wieder war er der Lokomotivführer, und wieder fühlte er die Maschine unter sich zittern. Die vertrauten Geräusche schlugen an sein Ohr, der vertraute, durch die rasende Schnelligkeit zu tosender Windsbraut gesteigerte Luftzug peitschte sein Gesicht, die vertrauten Gerüche von heißem Dampf und Rauch drangen in seine Nüstern, und rechts und links flogen, in braunen und grünen verschwommenen Flecken, gleiche Abstände voneinander haltende Panoramen, die Hälften der von den rasselnden Rädern der Maschine gleichsam durchschnittenen Landschaft, an ihm vorüber. Er fand sich wieder in der gewohnten Haltung auf dem Führersitz, den Ellbogen auf die Fensterleiste gelehnt, die andre Hand an dem die Dampfspannung regelnden Ventil. Plötzlich aber regte sich der Instinkt des Verfolgten, der sich während seines Flüchtlingslebens so stark in ihm entwickelt hatte, von neuem und trieb ihn dazu, einen Blick nach rückwärts zu werfen. Er sah die Frachtmaschine auf dem andern Gleise ihm nachsetzen und in ihrem rasenden Lauf von einer Seite auf die andre schaukeln. Noch hatte er die Verfolger nicht abgeschüttelt, noch war er nicht aus dem Bereich der Gefahr. Die Zähne zusammenbeißend, riß Dyke die Feuerungstür auf und schürte mit aller Macht das Feuer. Der Zeiger des Geschwindigkeitsmessers stieg, und immer schneller wurde die Fahrt; ein Blick auf die vorüberfliegenden Telegraphenpfosten zeigte ihm, daß er seine fünfzig Meilen die Stunde machte. Die Frachtlokomotive hinter ihm war für eine derartige Schnelligkeit nicht gebaut. Abgesehen von der furchtbaren Gefahr eines Unfalls bei der tollkühnen Fahrt waren seine Aussichten gut.
Plötzlich aber bekam der Lokomotivführer das Uebergewicht über den flüchtigen Räuber; blitzschnell stellte er den Dampf ab und riß die Bremse bis zum äußersten Einstellzahn zurück. Dicht vor ihm ragte ein optischer Telegraph empor, der offenbar die Stelle bezeichnete, an der ein totes Gleis sich von der Hauptlinie abzweigte. Der Arm des Telegraphen zeigte quer über das Gleis und gab damit das Warnungszeichen, daß die Weiche offen war.
Im Augenblick durchschaute Dyke die Kriegslist. Sie wollten ihn dort entgleisen und sich den Hals brechen lassen; sie waren schlau und rasch entschlossen genug gewesen, um die Weiche zu öffnen, hatten aber vergessen, daß der selbsttätige Flügeltelegraph zugleich mit dem Umstellen der Schienen in Bewegung gesetzt wurde. Weiterfahren bedeutete den sicheren Untergang. Dyke gab Gegendampf. Es blieb ihm nichts andres übrig, als zurückzufahren. Mit krampfhaften, durch alle ihre metallenen Fibern laufenden Rucken und noch eine Strecke auf unbeweglichen Rädern dahingleitend gehorchte die mächtige Verbundlokomotive der Bremse und rollte, als der Gegendampf wirkte, von der größeren Gefahr zu der geringeren zurück. Die beiden Maschinen, die jetzt in entgegengesetzten Fahrrichtungen auf den nebeneinanderliegenden Gleispaaren dahinrasten, mußten sich nun treffen und aneinander vorbeisausen. Dyke nahm seine Hand von den Hebeln und griff nach dem Revolver. Aus dem Lokomotivführer wurde wieder der flüchtige Räuber, der sein Leben gefährdet sah. Zweifellos war für ihn jetzt die Zeit gekommen, darum zu kämpfen.
Die Männer, die in der schwerfälligen, rumpelnden Frachtlokomotive scharf nach der den Weg des Flüchtlings bezeichnenden Rauchwolke ausblickten, schrien plötzlich einander zu:
»Er kann nicht weiter. Er muß sich den Hals brechen. Paßt auf, ob er noch abspringt!«
»Nichts bricht er. Er kommt zurück. Achtung! Er muß an uns vorbei.«
Der Lokomotivführer zog die Bremse an, aber es dauerte lange, ehe diese auf die schwerfällige Frachtlokomotive wirkte, die weit weniger lenksam war als Dykes Flieger. Die Rauchwolke vorn nahm schnell an Größe zu.
»Er kommt. Er kommt – Achtung, er schießt! Er schießt schon.«
Ein weißer, von dem rußigen Fensterbrett des Führerstandes abgerissener Holzsplitter flog hoch in die Luft.
Noch waren die Maschinen wohl zweihundert Yards Die Yard zu rund 80 Zentimeter gerechnet. voneinander entfernt, und schon begann das Duell. Schuß folgte auf Schuß; der kurze Knall der Revolver und Gewehre hob sich scharf ab von dem Donner der Räder und dem Brausen des Dampfes. Der Boden wankte und zitterte; ein Krachen wie das schwerer Geschütze erfüllte mit der Plötzlichkeit einer Explosion die Luft. Die Maschinen rasten aneinander vorüber; unablässig feuerten die Männer. Ein Hagel von Kugeln zersplitterte Holzrahmen, zerschmetterte Glasscheiben und prasselte auf das Metall von Kesseln, Rädern und Gestängen. Außer sich vor Aufregung und Flüche brüllend, beugten sich die Männer aus den Führerständen weit gegeneinander vor. Zischend drang heißer Dampf aus den hin und her schwankenden Maschinen. Wie in dem tollen Wirrwarr eines Hexentätiges wirbelten die weißen Dampfwolken, die schwarzen Rauchmassen des Schornsteins, die blauen, ringförmigen, von den Mündungen der Revolver ausgespienen Wölkchen durcheinander und hüllten die Kämpfenden in undurchsichtigen, die Sinne benehmenden Nebel. Die Körper schwankten und zuckten von den Erschütterungen und Stößen des in toller Hast arbeitenden Triebwerks, und sein furchtbares Getöse drohte die Ohren zu sprengen.
Fauchend und dröhnend, die Luft mit dem Dunst von Pulverrauch und heißem Oel erfüllend, Tod und Verderben speiend, jeden Widerstand zermalmend, riesig und rasend, ein jäh vorüberwirbelndes Chaos, aus dessen Dunkel haßerfüllte Gesichter und zum wütenden Griff gekrallte Hände auftauchten, furchtbar wie krachender Donner und schnell wie zuckende Blitze trafen sich die beiden Maschinen und flogen aneinander vorüber.
»Er hat was abgekriegt,« schrie Delaney. »Ich weiß, ich hab' ihn getroffen. Jetzt kann er nicht mehr weiter. Wieder hinter ihm her! Durch Bonneville wagt er sich nicht.«
Dyke war getroffen. Während des ganzen Kampfes hatte er, tollkühn jede Deckung verschmähend und nur auf den Angriff, nicht auf seine Verteidigung bedacht, zwischen Führerstand und Tender gestanden und war von einer Kugel an der Hüfte gestreift worden. Er wußte nicht, ob er schwer verwundet war; aber den Kampf aufzugeben, kam ihm nicht in den Sinn. Sich an das zerschossene Fensterbrett klammernd, stürmte er in einem Hagel von Kugeln durch den Bahnhof von Guadalajara und noch weiter zurück nach Bonneville zu, über die lange Trestlebrücke und die offene flache Strecke zwischen den Feldern von Los Muertos und Guadalajara.
Die Fahrt bis nach Bonneville selbst fortzusetzen, bedeutete den sicheren Tod. Vor und hinter ihm war jeder Ausweg versperrt. Noch einmal dachte er an die Berge. Er beschloß, die Maschine zu verlassen und das Letzte zu wagen, indem er den Schutz der Hügel in dem nördlichsten Zipfel von Quien Sabe aufsuchte. Dyke biß die Zähne zusammen. Er wollte sich nicht für besiegt erklären. Noch fühlte er die Kraft in sich, bis zum Aeußersten zu kämpfen. Noch hielt er fest an dem letzten Hoffnungsanker.
Er verlangsamte den Lauf der Lokomotive, lud seinen Revolver von neuem und sprang von der Plattform auf das Bahnbett herab. Mit angespannter Aufmerksamkeit lauschend, spähte er nach allen Seiten aus. Rings um ihn breitete sich ein Ozean von Weizen. Niemand war zu sehen.
Die sich selbst überlassene Lokomotive rollte, schwerfällig über die Schienenstöße rumpelnd, in langsamer Fahrt von Dyke weg. Als er ihr nachblickte, überkam ihn das niederdrückende Gefühl gänzlicher Verlassenheit. Sein letzter Freund, der auch sein erster gewesen war, ging von ihm. Er gedachte des lange Jahre zurückliegenden Tages, an dem er die Drosselklappe seiner ersten Lokomotive geöffnet hatte. Heute verließ sie ihn; sein letzter Freund wandte sich von ihm ab. Langsam rollte die Lokomotive zurück nach Bonneville in die Maschinenschuppen der P. und S. W., in das Lager des Feindes, der ihn zugrunde gerichtet hatte. Zum letztenmal in seinem Leben war er der Lokomotivführer gewesen. Noch einmal wurde er der Räuber, der Geächtete, gegen den alle Hände erhoben waren, der im Versteck der Berge Schutz suchende, auf das Gebell der Hunde lauschende Flüchtling. Sich zu ergeben, kam ihm nicht in den Sinn. Noch hatten die Feinde seine Kraft nicht gebrochen. Solange er zu kämpfen vermochte, sollte S. Behrman nicht über seine Gefangennahme frohlocken.
Er fand, daß seine Wunde nicht schwer war. In den Weizen von Quien Sabe tauchend, strebte er in nördlicher Richtung dem Hause eines Abteilungsverwalters zu, das mit den es umgebenden Bäumen wie eine Insel aus dem Weizen emporragte. Das Blut quatschte in Dykes Schuh, als er sein Ziel erreichte. Der Anblick von zwei portugiesischen Feldarbeitern, die ihn von der Ecke eines Barns aus anstarrten, rüttelte Dyke zu blitzschnellem Handeln auf. Er stürzte auf sie zu und forderte drohend ein Pferd.
In Guadalajara stieg Delaneys Posse von der Frachtzugmaschine.
»An die Pferde!« rief der Sheriff. »Nach Bonneville fährt er nicht, das ist sicher. Er wird die Maschine zwischen hier und Bonneville verlassen und seitwärts durchzukommen suchen. Wir müssen jetzt wieder im Sattel hinter ihm her. Sobald er die Maschine verläßt, ist er zu Fuß. 's ist so gut, als ob wir ihn schon hätten.«
Die Pferde, einschließlich des Buckskins, den Dyke geritten hatte, standen noch vor dem Bahnhof. Die Männer saßen auf. »Hier ist mein Gaul!« rief Delaney, als er sich auf den Buckskin schwang.
In Guadalajara fanden sich auch die beiden Bluthunde wieder zu den Reitern. Die ermüdeten Pferde anspornend, galoppierten die Verfolger den Oberen Weg entlang und hielten dabei scharfe Umschau nach den Spuren, die Dyke, wenn er von der Lokomotive abgesprungen war, hinterlassen haben mußte.
Drei Meilen jenseits der langen Trestlebrücke stieß die Posse auf S. Behrman, der sein Reitpferd am Zügel hielt und aufmerksam eine in den Weizen von Quien Sabe getretene Spur betrachtete. Die Reiter hielten an.
»Weiter zurück habe ich die leere Maschine vorbeifahren sehen,« sagte S. Behrman. »Jungens, mir scheint, er ist hier 'runtergesprungen.«
Noch ehe jemand antworten konnte, schlugen die Bluthunde, die neue Spur aufnehmend, schon an.
»Das ist er!« rief S. Behrman. »Vorwärts, Jungens!« Sie sprengten den Hunden nach.
S. Behrman kletterte mühsam in den Sattel. Keuchend, schwitzend und die Fettwulst über seinem Rockkragen mit dem Taschentuch trocknend trottete er der weit vor ihm dahinjagenden Posse nach; sein dicker Hängebauch und das wabblige Doppelkinn wackelten bei jedem Tritt des Pferdes.
»Ist das ein Tag,« murmelte er, »ist das ein Tag!«
Dykes Spur war frisch; man folgte ihr so leicht, als ob sie eben gefallenem Schnee eingedrückt wäre. Es dauerte nicht lange, und die Posse sprengte auf den freien Platz vor dem Verwalterhause. Die beiden Portugiesen wurden noch angetroffen; sie rissen die Augen weit auf und waren in größter Aufregung.
Ja, ja, Dyke wäre hier gewesen – noch vor keiner halben Stunde. Er hätte sie gestellt, hätte ein Pferd genommen und wäre in nordöstlicher Richtung davongejagt, nach den Hügeln und der Quelle des Broderson-Baches hin.
Im vollen Galopp ging die Jagd durch den von den Pferdehufen zertrampelten Weizen weiter. Die Hunde hatten die Nasen dicht auf die Fährte gesenkt und bellten unaufhörlich; die Männer auf frischen, der Koppel des Verwalters entnommenen Pferden beugten sich weit im Sattel vor und spornten unbarmherzig ihre Tiere. Weit hinten trottete S. Behrman.
Es war erstaunlich, wie lange die Verfolger sogar in dem offenen, kein Versteck bietenden Gelände hinter dem gehetzten Räuber herjagen mußten. Sie ließen Zäune hinter sich, deren Stacheldraht der Flüchtling mit seinem Messer durchhackt hatte. Das Gelände stieg an; man kam in die Hügel. Die Verfolgung ließ nicht nach. Die Sonne hatte schon lange ihre Mittagshöhe überschritten und senkte sich der Erde zu. Würde es Nacht werden, ehe die Jäger an das gehetzte Wild herankamen?
»Seht! Seht! Dort ist er! Schnell, jetzt geht's los!«
Delaney zeigte auf einen Reiter, der, aus einer mit Chaparral Stecheichendickicht, Dorngestrüpp. bewachsenen Rinne hervorbrechend, sein Pferd zu einem mühsamen Galopp den steilen kahlen Hügelhang hinanzwang. Und schon brachen die Verfolger in ein Triumphgeschrei aus. Das Pferd war gestürzt und sein Reiter aus dem Sattel geflogen. Er raffte sich auf, griff nach dem Zügel, verfehlte ihn, und das Pferd rannte mit seinem leeren Sattel weiter. Der Mann blieb, sich umschauend, einen Augenblick stehen, sah die Jagd näherkommen und verschwand wieder in dem Chaparral.
Delaney stieß einen wilden Jubelruf aus.
»Jetzt haben wir dich!«
Ueber Berg und Tal sprengend, folgte die kleine Reiterschar der frischen, deutlich erkennbaren Spur. Immer weiter führte sie; in wütender Hast spornten die Verfolger ihre Pferde steile Abhänge hinan. Durch das ausgetrocknete Bett eines Wasserlaufs ging die wilde Jagd, durch einen Zaun, dann durch ein Manzanitadickicht brach sie sich Bahn und raste, das weidende Vieh aufscheuchend, in vollem Rosseslauf über eine Wiese von wildem Hafer, um endlich ein mit Dorngestrüpp und Zwergeichen dicht bewachsenes Rinnsal zu durchqueren. Und jetzt begann plötzlich das Feuern. Wie die rollende Salve eines Maschinengewehrs krachten in blitzschneller Folge die Schüsse der Reiter. Einer der Deputys wankte im Sattel und bedeckte das Gesicht mit den Händen; das Blut rieselte zwischen den Fingern hervor.
Dyke war endlich gestellt. Den Rücken durch einen Felsblock gedeckt, während der Wurzelballen eines umgestürzten Baumes ihm als Brustwehr diente, erwartete er, den rauchenden Revolver in der Hand, seine Gegner.
»Sie sind arretiert, Dyke!« rief der Sheriff. »Ein weiterer Widerstand ist völlig zwecklos. Das ganze County ist hinter Ihnen her.«
Dyke feuerte von neuem; seine Kugel zerschmetterte ein Vorderbein des von dem Sheriff gerittenen Pferdes.
Die jetzt nur noch vier Mann zählende Posse – der von dem ersten Schuß Dykes verwundete Deputy war auf allen vieren zur Seite gekrochen – zog sich zurück, um abzusitzen und hinter Felsblöcken und Bäumen Deckung zu suchen. In diesem unebenen Gelände war ein Kampf vom Sattel aus unmöglich. Dyke hütete sich wohlweislich, jetzt zu schießen; war sein Revolver abgefeuert, so würde ihm – das wußte er genau – keine Zeit mehr gelassen werden, ihn wieder zu laden.
»Dyke,« rief der Sheriff von neuem, »zum letzten Male fordere ich Sie auf, sich zu ergeben!«
Dyke antwortete nicht. Der Sheriff, Delaney und Christian besprachen sich leise miteinander. Dann trennten sich Delaney und Christian von den andern und zogen sich nach links; sie wollten versuchen, auf einem weiten Umwege von rückwärts an Dyke heranzukommen.
In diesem Augenblick erschien S. Behrman. Es muß dahingestellt bleiben, ob Unerschrockenheit oder Mangel an Vorsicht den Vertreter der Eisenbahn in das Bereich von Dykes Revolver brachte. Vielleicht war er ein tapferer Mann, vielleicht auch hatte er bei dem Bestreben, seinen Sitz auf dem sich unter der schweren Last abmühenden Pferde zu behaupten, nicht bemerkt, wie nahe er dem Kampfplatz gekommen war. Die im Schutze von Felsblöcken und Bäumen am Boden liegenden Männer mußte S. Behrman jedenfalls nicht gesehen haben; er war, ehe ihn jemand warnen konnte, bis auf dreißig Schritt an Dykes Brustwehr herangeritten.
Dyke sah ihn. Dort war er, der Erzfeind, der Mann, den er vor allen andern haßte, der Mann, der ihn zugrunde gerichtet und den Verzweifelnden zum Verbrechen getrieben, der Mann, der ihn alle diese schrecklichen Wochen hindurch mit nimmermüder Beharrlichkeit verfolgt hatte. Den Tod herausfordernd, stürzte sich der Flüchtling auf den verhaßten Gegner; sein Anblick ließ ihn jede Vorsicht vergessen. Mit Freuden wollte er sterben, wenn nur S. Behrman ihm im Tode voranginge.
»Dich wenigstens krieg' ich!« schrie er, auf ihn los rennend. Die Mündung des Revolvers war nicht zehn Fuß von S. Behrmans dickem Bauch entfernt, als Dyke abdrückte. Wäre der Schuß losgegangen, so hätte er den schnellen, sicheren Tod S. Behrmans herbeigeführt; aber gerade jetzt mußte die Waffe versagen. Mit einer Behendigkeit, die niemand dem Dickwanst zugetraut hätte, glitt S. Behrman aus dem Sattel und rannte, wobei er sein Pferd zwischen sich und den Angreifer brachte, Deckung suchend und sich duckend von Baum zu Baum. Unbekümmert um die Folgen feuerte Dyke wieder und wieder auf den Feind, bis sein Revolver abgeschossen war. Jeder Schuß ging fehl, und noch ehe Dyke sein Messer ziehen konnte, fiel schon die ganze Posse über ihn her. Ohne einen gemeinsamen Plan oder ein verabredetes Zeichen und nur dem augenblicklichen Antriebe folgend, der sie im richtigen Zeitpunkt mit unfehlbarer Sicherheit handeln ließ, stürzten sich Delaney und Christian von der einen, der Sheriff und sein Deputy von der andern Seite auf Dyke. Sie feuerten nicht. Des lebenden Dyke wollten sie sich bemächtigen. Einer der Männer hatte eine Riata Riata oder lasso heißt die zum Einfangen von Pferden und Rindern dienende Wurfschlinge. vom Sattelknopf gerissen; der sich wütend Wehrende sollte mit dem Fangstrick gefesselt werden.
Vier gegen einen kämpften sie – vier Männer, die das Gesetz auf ihrer Seite hatten, gegen einen verwundeten Räuber, der halb verhungert, von tagelanger Flucht erschöpft und von Durst, Entbehrungen, Mangel an Schlaf und dem qualvollen, nervenzerrüttenden Gefühl der stets drohenden Gefahr entkräftet war.
Von allen Seiten hängten sie sich an ihn. Schlagend, stoßend und Fußtritte austeilend suchten sie seine Arme und Beine, seinen Kopf und Hals zu packen und sich festzuklammern. Der Menschenknäuel fiel zu Boden, wälzte sich, einer über den andern rollend, umher, kam wieder auf die Füße und taumelte vorwärts, um wieder hintenüberzustürzen.
Dyke kämpfte weiter. In dieser ringenden, taumelnden Gruppe, in diesem Gewirr verschlungener Körper, einander umwindender Arme und sich anstemmender Beine konnte S. Behrman hin und wieder Dykes flammendes Gesicht, seine blutunterlaufenen Augen, sein vom Schweiß zusammengeklebtes Haar sehen. Bald lag er, festgehalten von zwei Männern, die sich über seine Beine geworfen hatten, am Boden, bald rang er sich, die Gegner abschüttelnd, wieder auf ein Knie empor. Es gelang ihm, sich aufzurichten, trotzdem ihm die Feinde wie Kletten am Rücken hingen. Seine Riesenkraft schien verdoppelt; konnte er die Arme nicht frei bekommen, so stieß er wie ein wütender Stier mit dem Kopf gegen seine Bedränger. Dutzende von Malen schien er gänzlich überwunden und rettungslos in der Gewalt der Häscher zu sein, aber immer wieder gelang es ihm, einen Arm, ein Bein, eine Schulter frei zu bekommen und den Menschenknäuel, der seine Beute für den Bruchteil einer Sekunde in unbeweglicher, starrer Umklammerung hielt, wieder zu zerreißen. Blutend und taumelnd flog dann einer der Angreifer zur Seite; er selbst aber wand und krümmte sich, während seine gewaltigen Fäuste wie auf und nieder gehende Dampfkolben auf die Gegner hämmerten, wich den packenden Griffen durch blitzschnelle Wendungen aus und zerrte bei seinen verzweifelten Versuchen, loszukommen, die an ihm Hängenden mit sich.
Mehr als einmal hatte er sich schon fast jedem Griff entwunden; es fehlte nicht viel daran, und die blutende und keuchende, von Schweiß triefende und wild die Augen rollende Schreckensgestalt, an der die Kleider nur noch in Fetzen herunterhingen, schüttelte alle Gegner ab. Einen Augenblick schien es wirklich, als ob es ihm gelungen wäre, sich loszureißen und freizukommen.
»Bei Gott, er geht uns noch durch!« stieß der Sheriff keuchend hervor.
In aller Seelenruhe sah S. Behrman dem Kampfe zu; weit entfernt, daran teilzunehmen, beschränkte er sich nur auf die Bemerkung: »Alles das mag von Hartnäckigkeit zeugen, von gesundem Menschenverstand zeugt es aber nicht.«
Mochte Dyke aber auch hin und wieder die ihn packenden Griffe abstreifen und sich den Umschlingungen der Feinde entwinden, mochte er das Knäuel der Häscher auseinander sprengen, mochte er sogar einen Augenblick verhältnismäßiger Freiheit sich erringen, immer hing doch einer seiner Angreifer hartnäckig und wie verbissen an einem Arm, einem Bein, einem Fuß. Die andern schöpften dann einen Moment Atem und warfen sich wie die den Wolf anfallende Meute mit wildem, unbezwingbarem Grimm von neuem auf ihn.
Endlich gelang es zwei Männern, Dykes Handgelenke so weit einander zu nähern, daß der Sheriff die Handschellen mit ihrem Schnappverschluß anbringen konnte. Selbst dann bekam es Dyke noch fertig, Delaney niederzuschlagen, indem er, die Hände zusammenfaltend und die Schellen als Waffe gebrauchend, dem Kuhzwicker die stählernen Armbänder auf die Stirn schmetterte. Aber er vermochte nicht länger von rückwärts kommende Angriffe abzuwehren, und so konnte man endlich seinen Körper mit der Riata umschlingen und die Arme festschnüren. Ein weiterer Widerstand war jetzt unmöglich.
Der verwundete Deputy hatte sich niedergesetzt; den Rücken gegen einen Felsblock gelehnt, hielt er seinen zerschossenen Unterkiefer mit beiden Händen. Das Pferd des Sheriffs mit dem zerschmetterten Vorderbein mußte erschossen werden. Delaney hatte einen Riß von der Schläfe bis über den Backenknochen. Das rechte Handgelenk des Sheriffs war fast verrenkt. Sein andrer Deputy war derartig erschöpft, daß ihm aufs Pferd geholfen werden mußte. Aber die Posse hatte Dyke gefangen.
Der Räuber selbst war in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit verfallen und außerstande zu gehen. Man setzte den Gefangenen auf den Buckskin; S. Behrman stützte ihn, während der Sheriff zu Fuß das Pferd am Zügel führte. Die Posse zog mit ihrer Beute die Hügel hinab und schlug die Richtung nach Bonneville ein. Dort sollte ein nur aus Lokomotive und einem Personenwagen bestehender Sonderzug bereitgestellt werden, und der Räuber würde noch diese Nacht im Gefängnis von Visalia schlafen.
Delaney und S. Behrman bildeten den Schluß der zu Tal ziehenden Schar. »So, Käpt'n,« sagte der noch keuchende Kuhzwicker, während er sich das Gesicht verband, zu seinem Herrn und Meister, »so – wir haben ihn.«