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Wenn man nicht wüßte, wie vollkommen die Subjektivität unser Denken beherrscht, wie unfähig eine irrige Vorstellung, welche wir uns von einer Erscheinung ausgearbeitet haben, unser Bewußtsein macht, diese Erscheinung richtig wahrzunehmen und die Verschiedenheiten zwischen ihr und unserem innern Bilde zu bemerken, wenn man mit einem Worte nicht wüßte, um wie viel das Vorurteil zählebiger ist als das Urteil und das Märchen mächtiger als die Wahrheit, man würde nicht verstehen, daß es heute Menschen geben kann, welche die Nationalitätenfrage für einen Zeitirrtum und eine Modesache halten und sie allen Ernstes als einen Schwindel bezeichnen, der allerdings viele Köpfe ergriffen habe, jedoch binnen Kurzem vergessen sein werde. Es besteht tatsächlich eine Schule von Leuten, die den Mut haben, sich Staatsmänner zu nennen, und sich anmaßen, Völkergeschicke zu lenken, und diese Schule lehrt, die Nationalitätenfrage sei einfach von Napoleon III. erfunden worden, um fremden Staaten innere Verlegenheiten zu bereiten und im Auslande Förderer und Unterstützer seiner unruhigen Abenteuer-Politik großzuziehen. Nur ein einziger Umstand kann vernünftige Menschen abhalten, die angeblichen Staatsmänner, die so sprechen, für unheilbare Trottel zu erklären, und das ist der, daß sie ohne Ausnahme Ländern und Volksstämmen angehören, denen das Erwachen des nationalen Bewußtseins gefährlich wird, und daß sie deshalb durch ihre Wünsche und Leidenschaften, durch Angst vor der Zukunft, Haß auf die aufstrebenden Stämme und Grimm über den drohenden Verlust angemaßter Vorrechte in der Beobachtung und Deutung der Thatsachen gehindert sind. Man trifft sie in Frankreich, dem die Einigung Deutschlands und Italiens die herrschende Stellung in Europa nahm, in Österreich-Ungarn, wo unterdrückte Völker ihre Menschenrechte fordern, in Belgien, wo die Vlaemen von den Wallonen ihre Mündigsprechung ertrotzen. Wem nicht die Sorge um persönliche Interessen den Verstand verdunkelt, der erkennt, daß das Erwachen des nationalen Bewußtseins eine Erscheinung ist, die an einem bestimmten Punkte der menschlichen Entwickelung im Einzelwesen wie in der Volksmasse notwendig und natürlich eintritt und die man so wenig hintanhalten oder gar verhindern kann wie die Gezeiten des Meeres oder die Sonnenwärme im Hochsommer. Die Leute, die den Völkern versichern, daß sie bald wieder von der Betonung ihrer Nationalität abkommen werden, stehen auf derselben geistigen Höhe wie das Kind, das seiner Mutter sagt: »Warte, wenn du einmal ein kleines Kind wirst, werde ich dich auch tragen.«
Worin ist die Nationalität begründet? Was ist ihr Kennzeichen? Es ist darüber viel gestritten worden und man hat die Frage verschiedentlich beantwortet. Die einen betonen das anthropologische Element, also die Abstammung. Das ist ein so handgreiflicher Irrtum, daß man ein inneres Widerstreben empfindet, ihn zu widerlegen. Ich glaube allerdings nicht an die Einheit des Menschengeschlechts; ich glaube, daß die verschiedenen Hauptrassen Unterarten unserer Gattung darstellen und daß ihre Verschiedenheiten der anatomischen Bildung und Hautfarbe nicht bloße Anpassungs-Erscheinungen und Folgen der Umbildung eines ursprünglich einheitlichen Typus durch örtliche Einwirkungen sind, sondern sich durch Verschiedenheit des Ursprungs erklären; es scheint mir, daß zwischen einem Weißen und einem Neger, einem Papua und einem Indianer die Verwandtschaft nicht größer ist als zwischen einem afrikanischen und indischen Elefanten, einem Hausrinde und Buckelochsen. Allein innerhalb einer und derselben Rasse, und namentlich innerhalb der weißen, sind die Unterschiede sicherlich nicht bedeutend genug, um eine schroffe Trennung und scharfe Begrenzung einzelner National-Typen zu rechtfertigen. In jedem weißen Volke giebt es große und kleine, licht- und dunkelhaarige, blau- und schwarzäugige, lang- und kurzschädelige Individuen, solche von ruhigem und andere von lebhaftem Temperament und wenn auch die einen in diesem und die anderen in jenem Volke vorwiegen, so haben alle ihre leiblichen und geistigen Merkzeichen doch nicht die Bedeutung, daß sie ein Individuum so zweifellos als Angehörigen eines bestimmten Volkes und keines andern charakterisieren wie etwa die schwarze Haut, die Gesichtsbildung und der Haarwuchs den Neger als Angehörigen einer bestimmten Rasse. Die oft gemachten Versuche, einen Durchschnittstypus für die einzelnen Völker zu finden, sind ohne wissenschaftlichen Wert; seine Schilderungen mögen sich angenehm lesen und die Eigenliebe mag sich bei seinem Bilde geschmeichelt fühlen, aber er ist nichts als eine Dichtung. So weit die Züge eines solchen Typus nicht willkürlich erfunden sind, bestehen sie aus Äußerlichkeiten, die dem Menschen nicht angeboren, sondern anerzogen sind und die er noch in reifem Alter ablegen kann, die er übrigens auch gar nicht erwirbt, wenn er als Kind in eine ausländische Umgebung gebracht und den Einflüssen eines fremden Volkstums ausgesetzt wird. Chamisso, der bereits ein halbwüchsiger Knabe war, als er noch kein Wort Deutsch konnte, ist ein so deutscher Mann und Dichter geworden wie nur irgend einer, in dessen Adern angeblich das Blut der alten germanischen Gastfreunde des Tacitus rollt; Michelet, nicht der französische Schwärmer, sondern der deutsche Philosoph, zeigt die geistigen Züge: den Tiefsinn, den sittlichen Ernst, ja selbst die Dunkelheit, die man als spezifisch germanisch anspricht; der liebenswürdige Denker Julius Duboc zeichnet sich durch einen undeutschen Idealismus aus; Du Bois-Reymond ist das Musterbild eines gründlichen deutschen Gelehrten; Fontane ist in seiner Naturbetrachtung und Seelenzergliederung nicht bloß deutsch im allgemeinen, sondern sogar norddeutsch u. f. w. Ähnliche Erscheinungen treffen wir in jedem andern europäischen Volke an. Wer wird behaupten, daß Ulbach und Müller (der Verfasser der Dorfgeschichte »La Mionette«) nicht Musterfranzosen sind? Wer findet in Hartzenbusch und Becker nicht alle Züge wieder, die für spanische Dichter bezeichnend sind? Was ist an Dante Gabriel Rossetti unenglisch, wenn man von seinem Namen absieht? Man braucht durch keinen Blutstropfen mit einem Volke zusammenzuhängen und nimmt dennoch dessen Charakter mit allen Vorzügen und Fehlern an, wenn man nur inmitten desselben erzogen wird und lebt. Wenn einzelne Schriftsteller oder Künstler einen Widerspruch zu dieser Behauptung darzustellen scheinen würden, so hätten wir erst noch zu untersuchen, ob sie und wir nicht unter dem Einfluß von zwei schwer zu vermeidenden Fehlerquellen ständen. Denn es ist klar, daß wir leicht in die Neigung verfallen, etwa in Chamisso Züge zu suchen, die wir willkürlich den Franzosen zuschreiben, und daß wir sie dann auch finden, da wir ja wissen, wie flink wir die Erscheinungen im Sinne unserer vorgefaßten Meinungen umgestalten; andererseits liegt es ja auch sehr nahe, daß etwa ein in England lebender Dichter oder Künstler fremder Abstammung fortwährend die Vorstellung des Vaterlandes seiner Vorfahren im Kopfe hat und sich einbildet, er müsse Eigenheiten haben, die an dieses Land erinnern; er wird unter der Suggestion, die dieser Gedanke auf ihn übt, unbewußt sein Wesen verändern, allerlei künstliche Manieren annehmen und dem Bilde ähnlich zu werden suchen, das er sich von einem Angehörigen seines Ursprungslandes macht; das Hübscheste an der Sache ist dann, daß er nicht etwa die Eigenschaften zeigen wird, die dem betreffenden Volke wirklich anhaften, sondern die, welche das englische Vorurteil demselben herkömmlich und irrtümlich zuschreibt.
Die Abstammung ist es also nicht, die dem Menschen seine bestimmte Nationalität giebt. Die Nachkommen der nach der Mark Brandenburg ausgewanderten Hugenotten sind ausgezeichnete Deutsche und die, der holländischen Besiedler von Neu-Amsterdam tadellose Nordamerikaner geworden. Kriege, Massenwanderungen und der Verkehr der Einzelnen haben die ursprünglich vielleicht deutlich genug verschiedenen Volkselemente unkennbar durcheinander gewirrt und die Gesetzgebung aller gesitteten Staaten zeigt, wie wenig Wert sie auf die Blutsangehörigkeit legt, indem sie es Ausländern möglich macht, sich »naturalisieren« zu lassen, das heißt Vollbürger eines ihnen ursprünglich fremden Staates mit den Rechten und Pflichten aller übrigen Volksangehörigen zu werden.
Da die anthropologische Grundlage der Nationalität nicht zu verteidigen ist, so hat man versucht, ihr eine geschichtliche und gesetzliche zu geben. Man hat gesagt: das, was Menschen zu Angehörigen einer und derselben Nation macht, das ist eine gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Geschicke, das Zusammenleben unter derselben Regierung und denselben Gesetzen, die Erinnerung an gleiches Leid und gleiche Freuden. Die These gestattet hübsche rednerische Entwicklungen, aber sie ist dennoch rein sophistisch und wird von allen Thatsachen verächtlich mit dem Fuße bei Seite gestoßen. Man frage einmal einen Ruthenen Galiziens, ob er sich als einen Polen fühlt, trotzdem doch die Ruthenen seit mehr als einem Jahrtausend, ja so weit man in die Geschichte zurückblicken kann, Geschicke, Gesetze und Staatseinrichtungen mit den Polen teilen. Oder man erkundige sich bei einen Finnen oder Suomi, wie er sich selbst nennen wird, ob er glaubt, daß er derselben Nationalität angehört wie der finnische Schwede, mit dem er ebenfalls seit über einem Jahrtausend ein einziges politisches Volk bildet. Gewiß, Gemeinsamkeit der Gesetze und Einrichtungen, namentlich aber der Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuche, bedingt Annäherungen, die ein gewisses Zusammengehörigkeits-Gefühl erwecken können, wie denn auch umgekehrt kaum zu bezweifeln ist, daß z. B. die Juden von den Völkern, unter denen sie leben, hauptsächlich darum als Fremde angesehen werden, weil sie mit unbegreiflicher Verblendung und Hartnäckigkeit an äußerlichen Gepflogenheiten, wie Zeitrechnung, Feier der Ruhetage und Feste, Speisengesetze, Wahl der Vornamen u. s. w. festhalten, welche von denen ihrer christlichen Volksgenossen völlig verschieden sind und in diesen das Gefühl eines Gegensatzes und einer Absonderung fortwährend lebendig erhalten müssen; aber jene Gemeinsamkeit ist keinesfalls hinreichend, um aus Völkern ein Volk zu bilden und Angehörigen eines Staats eine Nationalität zu geben.
Nein, all das sind pfiffige Künsteleien, welche die Wahrheit wie Seifenschaum zerbläst. Seine körperliche Abstammung trägt der einzelne Mensch nur äußerst selten auf die Stirne geschrieben, sie ist an ihm in der Regel nicht zu erkennen und nicht nachzuweisen, er fühlt sie nicht von selbst und auf eine elementare Art und was man von der Stimme des Blutes faselt, das ist ein Hirngespinst von Verfassern schlechter Vorstadt-Melodramen; auch Gesetze und Einrichtungen, obwohl ihr Einfluß auf die Charakterbildung des Menschen nicht zu leugnen ist, bestimmen nicht die Nationalität. Das thut einzig und allein die Sprache. Durch sie allein wird der Mensch zum Angehörigen eines Volks; sie allein giebt ihm seine Nationalität. Man vergegenwärtige sich doch nur die Bedeutung der Sprache für das Individuum, ihren Anteil an der Formung seines Wesens, seines Denkens, seines Fühlens, seiner ganzen menschlichen Eigenart! Durch die Sprache nimmt das Individuum die Anschauungsweise des Volkes an, das diese Sprache gebildet und entwickelt und ihr die geheimsten Regungen seines Geistes, die feinsten Besonderheiten seiner Vorstellungswelt anvertraut und organisch eingefügt hat. Durch die Sprache wird es Adoptivkind und Erbe aller Denker und Dichter, Lehrer und Führer des Volks; durch die Sprache gelangt es unter die Wirkung der allgemeinen Suggestion, die von dem Schrifttum und der Geschichte eines Volks auf dessen sämtliche Glieder ausgeübt wird und sie einander im Empfinden und Handeln ähnlich macht. Die Sprache ist ganz eigentlich der Mensch selbst. Sie vermittelt ihm die Aufnahme der meisten und wichtigsten Züge der Welterscheinung und sie ist das Hauptwerkzeug, mittels dessen er auf die Außenwelt zurückwirkt. Unter Millionen denkt Einer selbständig und verarbeitet die Sinneseindrücke zu eigenartigen Vorstellungen; die Millionen aber denken nach, was ihnen vorgedacht worden ist und was ihnen bloß durch die Sprache zugänglich wird; unter Millionen handelt Einer und versinnlicht seine Vorstellungen durch Zwangseinwirkungen auf die Menschen und die Natur; die Millionen aber reden und bringen die Vorgänge in ihrem Innern durch das Wort zur Wahrnehmung. Die Sprache ist darum bei weitem das stärkste Band, das Menschen überhaupt miteinander verknüpfen kann. Geschwister, die nicht derselben Sprache mächtig wären, würden einander weit fremder gegenüberstehen als zwei wildfremde Leute, die einander zum ersten Male begegnen und einen Gruß in der gleichen Muttersprache austauschen. Wir haben es ja gesehen und sehen es noch fortwährend vor uns: Engländer und Nordamerikaner haben miteinander Kriege geführt und oft genug widerstreitende Interessen gehabt; aber dem Nicht-Engländer gegenüber fühlen sie sich eins, fühlen sie sich als Söhne Größer-Britanniens; Vlaemen und Holländer schlugen sich 1831 mit Erbitterung und sind jetzt im Begriffe, von neuem einen Bruderbund zu schließen; als die Boeren gegen die Engländer fochten, da pochte den Niederländern das Herz in angstvoller Erregung, trotzdem seit fast einem Jahrhundert jede politische Verbindung zwischen Holland und dem Kap aufgehört hat; die große Verschiedenheit der Gesetze, Sitten, Staatsangehörigkeit und geschichtlichen Erinnerungen zwischen Frankreich, der Schweiz und Belgien hat die französischen Schweizer und Belgier nicht verhindert, 1870 wild leidenschaftlich und ungerecht für die Franzosen Partei zu nehmen, und obwohl man in Norwegen Jahrhunderte lang die Dänenherrschaft gehaßt, sich schließlich von ihr befreit hatte und von den Dänen noch heute nicht besonders günstig denkt, sah man zur Zeit des Schleswig-Holsteinschen Krieges dennoch begeisterte Norweger den Dänen zu Hilfe eilen, mit welchen sie nichts gemein hatten als die Sprache. Dieses Nichts ist eben alles.
Auf einer weit hinter uns liegenden Stufe der Völker-Entwickelung konnte die Sprache für den Einzelnen wie für den Staat eine geringere Bedeutung haben. Das war zu einer Zeit, als die Masse der Nation rechtlos und hörig und nur eine ganz kleine Minderheit im Besitze der Gewalt war. Der Niedriggeborene brauchte damals sozusagen keine Sprache. Wozu hätte sie ihm denn auch dienen sollen? Höchstens dazu, in seiner Hütte zu ächzen oder zu fluchen oder in der Schänke grobschlächtige Spaße zu machen. Mit anderen Menschen als seinen Dorfgenossen, die ohnehin dieselbe Sprache redeten, kam er nie zusammen; in die Fremde zu ziehen oder Fremde bei sich zu sehen war nicht üblich. Regiert wurde mit der Peitsche, deren Lakonismen ohne Grammatik und Wörterbuch verstanden wurden; Schulen gab es nicht; in der Rechtspflege gelangte der sein kleines Recht suchende gemeine Mann nie dazu, vor dem Richter sein Herz in lebendiger Rede auszuschütten, sondern mußte einen Anwalt zum Dolmetscher seiner Beschwerde machen; die Verwaltung ließ sich auf keinen Austausch von Ansprache und Erwiderung mit den Unterthanen ein; selbst in der Kirche durfte das Volk nicht reden, wie ihm der Schnabel gewachsen war, denn der Katholizismus zeigte seinen Gott als einen ausländischen vornehmen Herrn, zu dem man nur durch Vermittelung sprachenkundiger Priester in fremder, lateinischer Zunge sprechen konnte. Für den Einzelnen gab es weder die Notwendigkeit noch selbst die Möglichkeit, aus der Enge angeborener Verhältnisse herauszutreten und mit Hilfe des Wortes auf größere Kreise zu wirken. Wo aber wie in den städtischen Gemeinwesen dennoch Selbstverwaltung bestand und die Bürger Gelegenheit hatten, über ihre Angelegenheiten zu beraten und zu beschließen, da gewann die Frage der Sprache sofort eine große Wichtigkeit und die Bürgerschaft schied sich, wenn sie verschiedenen Sprachstämmen angehörte, nach ihrer Zunge in Nationalitäten, die mit größter Erbitterung um die Übermacht rangen. Für den Vornehmen hatte die Sprache aus anderen Gründen keine Wichtigkeit. Sein Anteil an der Gewalt war ihm durch die Geburt gesichert und er war Herr und Gebieter, ohne den Mund aufzuthun oder eine Feder einzutunken. (Kann sich doch in England, dessen Einrichtungen mit so vielen mittelalterlichen Überlebseln durchsetzt sind, noch in unseren Tagen der Fall ereignen, daß ein Holländer, der Abkömmling eines vor mehreren Menschenaltern ausgewanderten Schotten, durch das Aussterben des im Lande gebliebenen Mannesstammes seiner Familie plötzlich englischer Peer und Mitglied des Hauses der Lords wird, also einen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt des britischen Reichs erlangt, ohne daß er englischer Staatsangehöriger zu sein und ein Wort Englisch zu können braucht!) Und in den wenigen Fällen, in welchen Kundgebungen nötig wurden, bediente der Vornehme sich der lateinischen Sprache, deren er entweder selbst mächtig war oder die doch sein geistlicher Geheimschreiber zu handhaben verstand.
Bei solchen Verhältnissen war die Nationalität etwas Untergeordnetes, weil auch ihr Hauptmerkmal, die Sprache, es war. Darüber ist man aber heute überall hinaus, sogar in Rußland und der Türkei. Das Individuum ist mündig geworden und darf, selbst wenn es der niedrigsten Klasse angehört, über den Rang hinausstreben, auf den es der Zufall der Geburt gestellt hat. Die Rechtspflege ist mündlich, die Verwaltung menschlich nahbar geworden und steht dem Bürger Rede; in der Schule, im Heere wird zu jedem Angehörigen des Volks gesprochen und muß jeder antworten; der Protestantismus hat das Volk gelehrt, zu seinem Gott in der eigenen Sprache zu reden und von der Kanzel Belehrung und Ermahnung in der eigenen Sprache zu fordern. Für jede Laufbahn ist Handhabung des Worts nötig geworden; selbst der Vornehmste, selbst der Monarch kann bei zahlreichen Handlungen von Bedeutung die Sprachgewandtheit nicht entbehren und alle Einrichtungen der Gemeinde und des Staats erfordern den beständigen Gebrauch der freien Rede. Da gewinnt die Sprache eine ungeheure Bedeutung und das Individuum empfindet jede Beschränkung seines Rechts, sich der eigenen zu bedienen, jeden Zwang, sich in einer fremden auszudrücken, als eine unleidliche Schmach und Gewalt.
Was die Nationalitätenfrage eigentlich bedeutet, davon hat derjenige gar keine Vorstellung, der ruhig inmitten seiner Stammgenossen als Bürger einer Gemeinde und eines Staates sitzt, die national einheitlich sind, und der nie in die Lage kommen kann, sich seiner Sprache schämen oder sie verleugnen zu müssen. Schilderung und Erzählung können von der Wut und Beschämung, die ein Mann in einer solchen Lage empfindet, ebensowenig einen wirklichen Begriff geben wie von einem leiblichen Schmerze, den man nie empfunden hat. Über diesen Gegenstand darf nur der mitsprechen, der in einem Lande geboren wurde, wo seine Nationalität in der Minderheit und unterdrückt, wo seine Sprache nicht die Staatssprache ist und wo er sich gezwungen sieht, eine fremde Zunge, deren er sich doch nur wie ein Fremder bedienen wird, zu erlernen, wenn er nicht für immer auf jede höhere Bethätigung seiner Persönlichkeit, auf jede bessere Laufbahn, auf jede Ausübung seiner Bürgerrechte in Gemeinde und Staat so verzichten will wie ein mittelalterlicher Sklave oder wie ein abgestrafter Verbrecher der Gegenwart. Man muß es selbst erlebt haben, um zu wissen, wie es thut, wenn man im eigenen Staate seiner ursprünglichen Menschenrechte beraubt und genötigt wird, vor einer fremden Nationalität die Stirne in den Staub zu beugen. Was ist die Aberkennung der Ehrenrechte gegen die Aberkennung der eigenen Sprache? Was ist die Fesselung von Händen und Füßen gegen die Fesselung der Zunge? Man möchte aus sich heraustreten und wird in sich zurückgesperrt. Man weiß, daß man beredt sein könnte, und muß in fremder Sprache kläglich lallen. Man sieht sich des mächtigsten Mittels der Wirkung auf andere beraubt und fühlt sich gelähmt und verstümmelt.
Gutwillig wird sich ein Mann, der diesen Namen verdient, in solche Verhältnisse niemals finden. Wer vermöchte ohne Widerstand auf die eigene Persönlichkeit zu verzichten? Wer könnte einwilligen, ein Leben anzunehmen, dem das wichtigste Attribut des Lebens geraubt ist, nämlich die Möglichkeit, die inneren Lebensvorgänge, das Fühlen und Denken, zu versinnlichen? Ich verstehe den gläubigen Indier, der sich unter den Wagen von Dschaggernaut wirft und sich zermalmen läßt; er glaubt nicht, seine Individualität zu opfern, sondern strebt im Gegenteil in einem künftigen Leben eine reichere Entfaltung derselben an; ich verstehe auch den Fakir, der freiwillig auf den Gebrauch eines Gliedes verzichtet und jahrelang bis zu seinem Tode als Halb- oder Pflanzenmensch hindämmert; er findet Anregung und Lohn in den Vorstellungen, die er sich von den Folgen seiner gottgefälligen Entsagung für sein Seelenheil macht. Aber ich verstehe die Überläufer nicht, die ihre Nationalität aufgeben, die sich herbeilassen, eine fremde Sprache anzunehmen und sie ihr Lebelang zu radebrechen, anderen zum Spott und sich zur fortwährenden Beschämung. Die ein solches Opfer aus Feigheit, Schwäche oder Dummheit bringen, erregen allenfalls noch Mitleid. Unsagbar widerwärtig sind jedoch diejenigen, die ihre Sprache, das heißt ihr Selbst, die Versinnlichung ihres denkenden Ichs, von sich werfen und in eine fremde Haut kriechen, um Vorteile zu erlangen. Sie stehen tiefer als die greulichen Skopzi, die russischen Selbstverstümmler; denn diese entmannen sich doch einer religiösen Überzeugung zu Liebe, während jene Renegaten sich um Geld und Geldeswert zu geistigen Eunuchen verschneiden lassen. Es giebt kein Wort, das eine solche bodenlose Verworfenheit der Gesinnung richtig zu kennzeichnen vermöchte.
Zur Ehre der Menschheit sei es gesagt: diese schmachvollen Überläufer bilden überall nur eine Minderheit. Die Mehrheit hält an ihrer Sprache fest und bewahrt ihre Nationalität wie ihr Leben. Der herrschende Volksstamm kann Gesetze geben, die seine Sprache zur Staatssprache machen und diejenige der unterjochten Nationalität zu einem niedrigen Kauderwälsch der Kärrner und Knechte herabdrücken, welches aus der Schule und Kirche, dem Gerichts- und Ratssaal ausgeschlossen ist; wenn diese Sprache eine entwickelte, wenn sie gar in einem andern Lande die herrschende ist, ein Schrifttum besitzt und irgendwo in der Welt zu den höchsten Kundgebungen des Menschentums in Staat und Wissenschaft dient, so ergiebt sie sich niemals in ihre Entehrung. Die vergewaltigte Nationalität wird dann zur Todfeindin ihrer Verfolgerin, sie beißt wütend die Faust, die sie zu knebeln sucht, sie stößt Notschreie um Hilfe aus, da man sie nicht reden lassen will, und sucht mit verzweifelter Anstrengung einen Staatshalt zu sprengen, der ihr kein Obdach, sondern ein unmenschlicher Kerker ist.
Durch Überredung bringt man keinen Menschen mit gesundem Verstande dazu, sich guillotinieren zu lassen; das hat schon der französische Humorist festgestellt; und durch Gesetze kann man keine Nationalität, die sich zum Bewußtsein ihrer selbst entwickelt hat, zum Verzicht auf ihre Sprache und Eigenart bewegen. Ein Staat, der mehrere Nationalitäten in sich schließt, ist darum zu erbarmungslosen inneren Kämpfen verurteilt, für die es keine andere als radikale Lösung giebt.
Eine radikale Lösung wäre die weitestgehende Dezentralisation, die von manchen Politikern vorgeschlagen wurde. In absehbarer Zeit ist aber eine solche nur theoretisch denkbar, nicht tatsächlich ausführbar. Denn man halte sich gegenwärtig, wie weit eine Dezentralisation gehen müßte, um alle Nationalitäten eines nicht auf der Grundlage der Volkseinheit aufgebauten Staates zufriedenzustellen. Das setzt voraus, daß jeder einzelne Bürger, welchem Stamme er auch angehöre, sich nach allen Richtungen und auf allen Gebieten voll ausleben, alle seine Menschen- und Bürgerrechte üben könne, ohne gezwungen zu sein, sich einer andern als seiner Muttersprache zu bedienen. Es müßte also nicht bloß die Verwaltung vom Dorf-Postamt bis zum Ministerium, nicht bloß die Rechtspflege vom Friedensrichter bis zum höchsten Reichsgerichte in allen Landessprachen amten, man müßte sich auch in den Gemeinde-, Landes- und Staatsvertretungen aller Landessprachen bedienen können, es müßten Volks-, Mittel- und Hochschulen für jeden Stamm errichtet sein, man mühte mit der schriftstellerischen Pflege der eigenen Muttersprache zu allen staatlichen und akademischen Ehren und Vorteilen gelangen können, die überhaupt den Lohn einer derartigen Thätigkeit bilden, kurz es dürfte für keinen Bürger eine Nötigung bestehen, eine fremde Sprache zu erlernen, wenn er etwas erlangen will, was anderen Landsassen ohne einen solchen Zwang erreichbar ist. Das sind praktisch unerfüllbare Forderungen. Das hieße den Staat in Atome auflösen, die miteinander in keiner wahrnehmbaren Weise mehr zusammenhingen. Eine so weit getriebene Gleichberechtigtes verschiedener Stämme innerhalb desselben Staates ist vielleicht dort möglich, wo bloß zwei ungefähr gleichstarke Nationalitäten nebeneinander leben wie etwa in Belgien, aber nicht in einem Staate mit zehn oder zwölf Nationalitäten wie etwa in Österreich-Ungarn, nicht dort, wo die Stämme an Zahl und Bildung ungleich sind und nicht in gesammelten Massen bei einander sitzen, sondern sich in seltsamer Zersplitterung mannigfach durcheinander schieben, wo oft ein Dorf drei oder vier, ein Kreis noch mehr Nationalitäten und Sprachen in sich schließt. Ein solcher Staat kann einer Staatssprache nicht entbehren, dadurch wird der Stamm, dessen Zunge die amtliche und vorwiegende ist, zum herrschenden, die Gleichberechtigung ist gebrochen, die übrigen Stämme sind benachteiligt und zu einem untergeordneten Dasein hinabgedrückt, es entstehen Voll- und Halbbürger, es entstehen Landesbewohner, denen das Gesetz die Zunge löst, und andere, die dasselbe Gesetz zur Stummheit verurteilt, das Märchen von den sieben Raben, wo ein Mädchen sieben Jahre lang kein Wort sprechen darf, wird zu einer staatlichen Einrichtung und die ihrer einfachsten und zugleich höchsten Menschenrechte beraubten Einwohner befinden sich in den unerträglichen Verhältnissen, die oben geschildert sind.
Es giebt schwärmerische Politiker, die ernstlich glauben, daß die gesittete Menschheit sich eines Tages in einer Verfassung befinden wird, welche größere Staatsbildungen nicht länger erforderlich macht. In diesem Zustand giebt es keine Kriege und keine auswärtigen Angelegenheiten mehr; die Menschen formen größere Gruppen, gleichsam erweiterte Familien oder mäßig umfangreiche Gemeinden, innerhalb deren der Einzelne sich aller Entwickelungsfreiheit erfreut und deren sämtliche Mitglieder einander alle die geistige und leibliche Unterstützung gewähren, deren der Mensch in seinem Dasein nicht entbehren kann; jede Gruppe ist von der andern unabhängig und nur wenn es sich um Unternehmungen handelt, die mehreren zugleich nötig und nützlich sind und von einer allein nicht ausgeführt werden können, setzen sich alle die, welche ein Interesse an der betreffenden Unternehmung haben, in ein vorübergehendes, bloß im Hinblick auf einen bestimmten Zweck getroffenes Einvernehmen. Bei einer solchen Verfassung der Menschheit gäbe es allerdings keine Nationalitätenfrage mehr, denn die selbständigen Gruppen könnten so klein sein, daß sie bloß aus Mitgliedern einer einzigen Sprachgemeinschaft bestanden; aber ehe ich an die einstige Verwirklichung dieses Zukunfts-Gesichts glaube, bin ich noch eher bereit, anzunehmen, daß die Menschen im Laufe ihrer organischen Entwickelung eines Tages dahin gelangen werden, zur Versinnlichung ihrer Bewußtseins-Zustände nicht mehr der Sprache oder überhaupt einer symbolischen Bewegung zu bedürfen, sondern daß sich die Molekularbewegungen eines Gehirns direkt durch eine Art Ausstrahlung oder kontinuierliche Übertragung den anderen Gehirnen mitteilen werden. Ich schreibe dieser mystischen Vorwärts-Entwickelung denselben Grad der Wahrscheinlichkeit zu wie der geträumten Rück-Entwickelung vom Nationalstaats zur unabhängigen Gemeinde. Um niemand zu kränken, will ich diesen Grad der Wahrscheinlichkeit einen sehr hohen nennen, aber ich erwarte dafür das billige Gegen-Zugeständnis, daß es bis zur Erreichung des einen oder andern der angegebenen Ziele noch sehr lange dauern wird, jedenfalls viel länger, als die heute unterdrückten Nationalitäten warten können und wollen. Auch zur Annahme einer Weltsprache werden sie sich schwerlich bestimmen lassen. Es mag sein, daß die höchstgebildeten Individuen der ganzen Menschheit in einer fernen Zukunft sich einer gemeinsamen Zunge bedienen werden, um miteinander in Gedankenverkehr zu treten. Es ist aber hart zu glauben, daß jemals weite Volkskreise dieser klassischen Bildungssprache genügend mächtig sein werden, um mit ihrer Hilfe regiert und Verwaltet werden zu können. Bei ihren wichtigsten Geistesverrichtungen, wenn sie die Jugend in die Geheimnisse der Wissenschaft einweihen, wenn sie ihre Mitbürger zu bedeutungsvollen Beschlüssen überreden, wenn sie den Wahrspruch ihres Gewissens über Recht und Unrecht abgeben, werden die hervorragenden Männer eines Volkes ihre Gedanken niemals in eine fremde Sprache verkleiden wollen, die ihnen notwendig ihre Eigenart verkümmert und die Freiheit der Bewegung beschränkt.
Nach der Beseitigung aller anderen radikalen Lösungen bleibt nur noch eine, die radikalste von allen: die Gewalt. Mit faulen Vermittelungen und hinkenden Ausgleichsversuchen ist nichts auszurichten. Wo es sich um ein Ureigentum wie die Sprache handelt, um einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit selbst, da kann man keine Zugeständnisse machen, da muß man jedem Ansinnen eines Verzichts die schroffe Antwort entgegensetzen: Nichts oder Alles! Der Kampf um die Sprache ist eine andere Form des Kampfes ums Leben und muß wie dieser geführt werden; man tötet den Feind oder man wird von ihm getötet oder man flieht. Der Kampf der Nationalitäten ist die Abwickelung eines Prozesses, der vor Jahrhunderten, zum Teil vor Jahrtausenden begonnen hat und nur all die Zeit her gleichsam eingefroren war, jetzt aber endlich auftaut und seinem Abschlüsse entgegeneilt. Wie ist es denn geschehen, daß sich verschiedene Nationalitäten ineinander schoben? Ein Volk drang erobernd in die Sitze eines andern ein und verdrängte dieses nur teilweise; es blieben Inseln des besiegten Volkes inmitten der Sieger übrig; oder das Eroberervolk war wenig zahlreich und verbreitete sich nur als dünne Deckschicht über die Besiegten. Der Kampf hat in diesem Falle heute dort aufgenommen zu werden, wo er zur Zeit der Eroberung einschlief. Das Eroberervolk muß die letzte Anstrengung machen und das überfallene Volk vollends verdrängen oder geistig töten, indem es dasselbe mit rauher Gewalt seiner Sprache beraubt, es sei denn, das verfallene Volk raffte sich auf und erwehrte sich der Eindringlinge, würfe sie wieder zum Lande hinaus oder zwänge sie zum Verzicht auf ihr Volkstum. Auch andere Verhältnisse werden beobachtet. Ein Volksteil, der im eigenen Lande nicht genug Nahrung und Glück fand, verließ die Stammsitze und ließ sich in einem andern Lande nieder. War dieses Land unbesiedelt, ist aber heute von anderen, später eingewanderten Volksstämmen bewohnt, so haben die ersten Besitzergreifer heute den Kampf um ihre Sprache als eine Episode des Kampfes gegen die natürlichen Hindernisse zu betrachten, den ein ausschwärmender Volksüberschuß bestehen muß, wenn er in neuen Erdgegenden Pflanzstätten gründen will; wie der Sümpfe und Strome, wie der Gletscher und Klüfte, wie der Fieber und reißenden Tiere, wie der Hungersnot und Kälte, so müssen sie sich der menschlichen Gegner erwehren und sie dürfen das Glück, das sie in der Heimat nicht fanden und fern von ihr suchten, nur als Preis eines mit Einsetzung des Lebens zu erzwingenden Sieges über alle diese toten und lebenden Widerstände betrachten. War dagegen das Land, daß die Auswanderer zur neuen Heimat machten, bewohnt, so mußten sie ja wissen, unter welchen Bedingungen sie Gastfreundschaft verlangten und erhielten. War Aufgabe ihres Volkstums eine dieser Bedingungen und ließen sie sich sie gefallen, so verdient ihre Schwäche und Feigheit kein Mitleid und ihre Wirte haben Recht, von ihnen für das gereichte Brot den Verzicht auf die Sprache und Individualität zu fordern. Hatten sie aber die Kraft, sich einen Teil des fremden Landes ohne Zugeständnisse entehrender Art zu ertrotzen, so müssen sie jetzt auch die Kraft und den Willen haben, das zu thun, was sie gleich damals hätten thun müssen, wenn ihnen im fremden Lande feindselig begegnet worden wäre: nämlich von dannen zu ziehen oder mit dem Schwerte einen freien Anteil am Lande zu erzwingen oder im Abenteuer, dem sie nicht gewachsen sind, unterzugehen. So stellt sich mir die Nationalitätenfrage dar. Sie ist der fünfte Akt geschichtlicher Tragödien, die zur Zeit der Völkerwanderung und später, zum Teil sehr viel später, zu spielen begonnen haben. Die Zwischenakte haben lang gedauert, aber sie konnten nicht ewig dauern. Der Vorhang ist aufgegangen und die Katastrophe bereitet sich vor. Sie wird grausam und hart sein, aber hart und grausam sind die Geschicke alles Lebenden und das Dasein ist ein Kampf ohne Erbarmen. Es handelt sich da um keine Rechtsfrage, sondern im höchsten und menschlichsten Sinns um eine Machtfrage. Es giebt kein Recht, das ein Lebewesen dazu verhalten könnte, notwendigen Daseinsbedingungen zu entsagen. Das ist nur durch Zwang zu erreichen und Zwang fordert Widerstand heraus. Kein Fanatiker des Rechts hat noch vom Löwen verlangt, daß er ein Enteignungsverfahren einleite, wenn er ein Schaf fressen will. Der Löwe nimmt das Schaf, weil er muß; es ist sein Recht, das Schaf zu fressen. Freilich wäre es auch das Recht des Schafes, den Löwen zu töten, wenn es könnte. Wo es ums Leben oder um Gleichwichtiges geht, da fallen die Begriffe von Recht und Macht zusammen; das ist so klar, daß selbst das geschriebene Gesetz in allen Ländern dem Individuum die Notwehr als ein Recht vorbehält, also einräumt, daß es Lagen giebt, in denen der Mensch sein Recht in seiner Kraft zu suchen hat. Und was ist denn der Krieg anderes als ein solcher Fall der Notwehr, nicht eines Individuums, sondern eines Volks? Ein Volk erkennt, oder glaubt zu erkennen, daß ihm zum Leben oder zur Bequemlichkeit des Lebens etwas nötig ist, und es streckt die Hand danach aus. Es hat ein Recht darauf, dasselbe Recht, das der Löwe auf das Schaf hat. Will ein anderes Volk es hindern, sich dieses Notwendige zu verschaffen, so hat es für sein Recht mit seiner Macht einzutreten. Der Besiegte darf sich nicht beklagen, er darf höchstens versuchen, den Kampf zu erneuern. Ist er endgültig geschlagen und bleibt ihm keine Aussicht, jemals der Stärkere zu werden, so muß er sein Schicksal als letzten Urteilsspruch der Natur hinnehmen und sich sagen: »Ich bin nun einmal als Schaf geboren und muß mich den Lebensbedingungen eines Schafes anbequemen; es wäre gewiß besser, ich wäre ein Löwe, ich bin aber eben kein Löwe und es ist zwecklos bis zur Lächerlichkeit, darüber mit der Natur zu hadern, daß sie mich nicht als Löwe geboren werden ließ.«
Ein Volksstamm, dem man seine Sprache nehmen will, ist im Falle der Notwehr. Er hat das Recht, für sein kostbarstes Gut zu kämpfen. Wenn er aber nicht stark genug ist, es zu verteidigen, so hat er sich nicht zu beklagen. Ebenso hat ein herrschendes Volk das Recht, sich die Freiheit seiner Rede durch die Anwesenheit eines andern Volksstammes in demselben Lande nicht verkümmern zu lassen und diesem keinerlei Zugeständnisse zu machen, die ihm seine Bequemlichkeit einschränken. Wenn es aber sein Recht nicht mit Zwang durchsetzen kann, so muß es sich eben herbeilassen, den andern Volksstamm als gleichberechtigt anzuerkennen, es muß von seinem höhern Standpunkte eines herrschenden Volks gedemütigt hinabsteigen, ja es muß zu Grunde gehen, wenn seine Herrschaft die Bedingung seines Lebens war. Dieses Schema wende ich unparteiisch auf alle kämpfenden Nationalitäten an, auf die Deutschen in Ungarn und Böhmen ebenso wie auf die Dänen in Nordschleswig und die Polen in Posen, auf die Rumänen in Siebenbürgen ebenso wie auf die Italiener im Trientinischen. Die fünf Millionen Magyaren haben Recht, wenn sie die elf Millionen Nicht-Magyaren Ungarns in Magyaren zu verwandeln suchen; sie setzen damit nur die Eroberungsthat fort, die sie unter Arpad im Jahre 884 begannen; aber die Deutschen, Slaven und Rumänen Ungarns haben ebenfalls Recht, wenn sie sich wehren, und sollten sie die Stärkeren sein, sollten sie die in Europa vereinzelten Magyaren besiegen und ihnen ihre haltlose Nationalität vom Leibe reißen, so dürfen die Magyaren sich nicht beklagen, sondern müssen ihr Schicksal hinnehmen, dem sie sich vor tausend Jahren wohlbedacht aussetzten, als sie in ein fremdes Land einfielen und ihr Leben daran wagten, sich da üppige Sitze zu erobern. Die Czechen haben Recht, wenn sie einen unabhängigen Staat bilden und in demselben kein deutsches Volkstum dulden wollen; sie nehmen damit den Kampf auf dem Marchfelde und an den weißen Bergen wieder auf; aber die Deutschen haben ebenfalls Recht, der Gewalt die größere Gewalt entgegenzusetzen, nach den beiden geschichtlichen Entscheidungsschlachten eine dritte zu schlagen und den Czechen endgültig zu beweisen, daß sie nicht die Kraft besitzen, als Eroberer in dem Lande aufzutreten, in das sie sich vor zwölf Jahrhunderten einschleichen konnten, weil sich ihnen niemand widersetzte.
Europa wird der großen und gewaltthätigen Auseinandersetzung der Nationalitäten nicht mehr lange entgehen. Die versprengten Volksteile werden sich entweder ihrem Hauptstamme wieder anschließen oder dessen Hilfe anrufen und mit seiner Unterstützung die kleineren Völker überwinden, in deren Mitte sie sich befinden und deren Zwang sie jetzt erleiden. Die kleinen Völker, die ein Land mit anderen teilen und sich auf keine mächtigen Verwandten stützen können, sind zum Untergang bestimmt. Sie können sich im Kampfe ums Dasein gegen die stärkeren Landgenossen nicht behaupten. Sie müssen als Völker zu Grunde gehen. Dauern werden nur die großen Nationen und von den kleineren bloß diejenigen, die imstande sein werden, ein unabhängiges, nationales Staatswesen zu gründen, nötigenfalls durch Verjagung oder Unterdrückung fremder Volkselemente, die unter ihnen siedelten. Das zwanzigste Jahrhundert wird schwerlich zur Neige gehen, ohne das Ende dieses weltgeschichtlichen Dramas zu erleben. Bis dahin wird ein großer Teil Europas viel Not und Blutvergießen, viel Gewaltthaten und Verbrechen sehen, man wird gegen Völker wüten und Stämme unbarmherzig zermalmen, neben Tragödien menschlicher Niedertracht werden sich solche hohen Heldentums abspielen, Horden von Feiglingen werden sich widerstandslos entmannen lassen, tapfere Scharen kämpfend und glorreich untergehen. Die Überlebenden aber werden sich dann des Vollbesitzes ihrer nationalen Rechte erfreuen und sprechend und handelnd immer und überall sie selbst sein können.
Es sind unheimliche Aussichten, die sich uns da eröffnen, aber sie können den nicht erschrecken, der sich mit der Härte des allgemeinen Lebensgesetzes abgefunden hat. Leben heißt kämpfen und die Kraft zum Leben giebt das Recht zum Leben. Dieses Gesetz beherrscht die Sonnen im Weltraum wie die Aufgußtierchen im Teichwasser. Es beherrscht auch die Völker und giebt ihren Erdengeschicken die Richtung, die keine heuchlerische Gesetzgebung und keine knifflige Politik, kein Interesse einer Dynastie und keine Verschlagenheit feiler Renegaten ablenken kann. Sentimentalität mag sich beim Anblick des Unterganges eines Volkes die Augen wischen. Der Verständige erkennt, daß es verschwand, weil es nicht die Kraft zur Dauer hatte, und reiht es zu den überwundenen Daseinsformen, über welche die Weltentwickelung hinweggegangen ist.