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Herbert Spencer sagt in seiner Biologie (ich zitiere nach dem englischen Originale, 2. Band S. 153): »Dies scheint mir ein ganz geeigneter Platz, um die Thatsache zu verzeichnen, daß der größte Teil von dem, was wir in der organischen Welt Schönheit nennen, in irgend einer Weise von den geschlechtlichen Beziehungen abhängt. Dies ist nicht nur mit den Farben und Düften der Blumen der Fall, sondern auch mit dem prächtigen Gefieder der Vögel und mit ihrem Gesange, welche beide nach Herrn Darwins Anschauung geschlechtlicher Auswahl zuzuschreiben sind; und es ist wahrscheinlich, daß auch die Farben der auffälligeren Kerbtiere teilweise ähnlich veranlaßt sind. Der bemerkenswerte Umstand daran ist, daß diese Eigentümlichkeiten, die durch Begünstigung der Hervorbringung der besten Nachkommen entstanden und die naturgemäß solche sind, welche die durch sie ausgezeichneten Organismen direkt oder indirekt einander gegenseitig anziehend machen, zugleich diejenigen sind, die auch uns so allgemein anziehend erscheinen und ohne welche Feld und Wald ihren halben Zauber für uns verlieren würden. Es ist auch interessant zu beobachten, in einem wie ansehnlichen Grade der Begriff menschlicher Schönheit auf diese Weise entstanden ist; und die alltägliche Bemerkung, daß das aus der geschlechtlichen Beziehung hervorgehende Element der Schönheit in ästhetischen Hervorbringungen, in Musik, Drama, Erzählung, Poesie so vorherrscht, erlangt eine neue Bedeutung, wenn wir sehen, wie tief in die organische Welt hinunter sich dieser Zusammenhang erstreckt.«
In diesen wenigen Zeilen, denen ich ihre etwas unbeholfene Fassung gelassen habe, sind alle drei oder sogar alle neun sibyllinischen Bücher einer natürlichen Schönheitswissenschaft enthalten.
Der menschliche Geist, auch derjenige der Massen, wird sich allmählich daran gewöhnen, evolutionistisch zu denken, das heißt in jeder Erscheinung eine Entwickelungs-Episode zu erkennen, die an sich unbegreiflich ist, jedoch durch Vorausgegangenes verständlich wird und im Zusammenhange mit der Vergangenheit gesehen weit weniger geheimnisvoll wirkt, als wenn man sie für sich allein betrachtet. Ist das menschliche Denken erst auf diesem Standpunkt angelangt, so werden wenige Dinge so komisch auf dasselbe wirken wie die Anschauungen und Erklärungsversuche, welche heute noch den Inhalt der amtlich gelehrten Ästhetik ausmachen.
Bis jetzt hat nämlich die Verstandeswissenschaft großenteils nicht evolutionistisch gedacht. Sie betrachtete die Erscheinungen des Seelenlebens so, wie sie sich uns heute darstellen, und suchte sie zu begreifen, ohne zu fragen, wie sie entstanden seien, aus welchen einfachen Anfängen sie sich bis zu ihrer gegenwärtigen Zusammengesetztheit herausgebildet haben, welche Teile von ihnen verkümmerte Überlebsel oder abgestorbene Reste, welche andere lebenskräftige Triebe seien.
Selbst Kant wird, wenn er von den Kategorien spricht, seiner Gewohnheit scharfen und klaren Denkens untreu und knüpft an sie die mystische Bemerkung, sie seien Formen des menschlichen Gedankens, die auf Außer- und Übermenschliches hinausweisen. In minder geheimnisvolle Sprache übersetzt will dies einfach sagen, daß die Formen des menschlichen Gedankens, wie Zeit, Raum und Ursächlichkeit, nicht auf Erfahrungen, das heißt sinnlichen Wahrnehmungen, des Einzelwesens beruhen, also auf anderem als dem sinnlichen Wege in sein Bewußtsein gelangt, mit ihm geboren sein müssen. Und dies sagte er, nachdem Hume schon so lange vor ihm wenigstens für eine dieser Kategorien, für die Ursächlichkeit, die Erklärung gefunden hatte, sie sei einfach dadurch entstanden, daß der menschliche Geist die Erscheinungen immer auf einander folgen sah und allmählich die Gewohnheit annahm, diese Folge ununterbrechbar zu glauben und zwischen den Erscheinungen dynamische Beziehungen zu vermuten. Die Vorstellung des Raumes ist seitdem – besonders von Bain, Spencer und Mill – als ein Ergebnis der durch den Muskelsinn dem Bewußtsein zugeführten Wahrnehmungen der eigenen Bewegungen des Individuums nachgewiesen worden und in neuester Zeit ist die Sprachforschung auf gutem Wege, aus dem Wurzelsinne der Wörter, welche heute Zeitvorstellungen ausdrücken, den Beweis abzuleiten, daß der Mensch unter Zeit ursprünglich bloß den Tag, die Dauer des Sonnenscheins verstand, nicht aber irgend etwas Absolutes, Aprioristisches, das außerhalb des Sonnensystems, außerhalb eines Wechsels der Tages- und Jahreszeiten, außerhalb einer eine Aufeinanderfolge von Veränderungen aufweisenden Natur besteht.
Mit der Moral hat man es gerade so gemacht. Man fand sie eines Tages bestehen, man erkannte, daß die Menschen den Begriff von Gut und Schlecht, von Tugend und Laster haben, und man fragte nicht, wie sich dieser Begriff wohl habe natürlich entwickeln mögen, sondern sprang sofort zur Annahme, daß er so, wie er ging und stand, den Menschen von einem göttlichen Wesen geoffenbart worden sein müsse. Heute wissen wir freilich, daß es an sich weder ein Gut noch ein Schlecht giebt, sondern daß die Notwendigkeit des Zusammenlebens die Menschen allmählich dazu geführt hat, Handlungen, die dem Interesse der Gemeinschaft abträglich wären, schlecht und lasterhaft, solche, die diesem Interesse vorteilhaft und fördersam wären, gut und tugendhaft zu nennen.
Die Ästhetik ist diesem allgemeinen Gesetze der menschlichen Schnellfertigkeit, die sich seltsamerweise für Tiefsinn ausgiebt, nicht entgangen. Da das Gefühl des Schönen, wie der Mensch es heute besitzt, nicht unmittelbar durch irgend eine Nutzwirkung oder einen sinnlich wahrnehmbaren Vorgang erklärt werden kann, so waren von Plato bis Fichte, Hegel, Vischer und Carrière hundert Philosophen flugs mit der dogmatischen Behauptung bei der Hand, dieses Gefühl sei auch wieder eine jener geheimnisvollen Erscheinungen, welche auf ein Übermenschliches im Menschen hindeuten, eine Form, in welcher der endliche Menschengeist annähernd eine Vorstellung der Unendlichkeit erfassen könne, eine erhabene Ahnung des unsinnlichen Wesens, das aller sinnlichen Erscheinung zu Grunde liegt, und was dergleichen völlig inhaltlose Wortverknüpfungen mehr sind.
Der Volksmund sagt, man solle einem Narren kein ungebautes Haus zeigen. Da spricht der Volksmund eine wahre Ketzerei aus. Gerade umgekehrt: dem Narren soll man kein gebautes Haus zeigen; denn steht es erst fertig da, so staunt er es augen- und maulaufsperrend an und kann nicht begreifen, wie es so hoch und breit und prächtig geworden ist; wenn man es ihm dagegen ungebaut zeigt, wenn man ihn zusehen läßt, wie Stein an Stein und Balken an Balken sich fügt, so wird es ihm nicht schwer, das Werden und Sein des blauen Wunders, seine Einrichtung und seinen Zweck, das Warum seiner Teile und das Wie seiner Gestalt zu verstehen. Eine bekannte Anekdote erzählt, König Georg III. von England sei einmal vor Pflaumenklößen, die ihm gelegentlich einer Fuchsjagd in einer Farm vorgesetzt wurden, tiefsinnig geworden und nach schwerem Nachdenken in den Ruf ausgebrochen: »Wie zum Henker sind die Pflaumen in die Klöße hineingelangt.« Die Metaphysik steht vor den Erscheinungen des Seelenlebens wie Georg III. vor den Pflaumenklößen. Da es ihr nicht denkbar scheint, daß auf natürlichem Wege eine Pflaume in einen ringsherum geschlossenen Kloß hineingelangen könne, so nimmt sie unverzagt einen außer- und übernatürlichen Weg an. So müssen die Vorstellungen von Zeit und Raum und Ursächlichkeit als Postulate menschlichen Denkens angeborene, »aprioristische Intuitionen«, so muß die Moral eine göttliche Offenbarung, so muß das Schönheitsgefühl eine Wahrnehmung des Übersinnlichen und Unendlichen sein. Da kommt nun die evolutionistische Philosophie und zeigt mit der schlichten Weisheit einer Köchin, daß der Pflaumenkloß, so wie er rauchend auf den Tisch kommt, freilich nicht zu begreifen und nicht zu erklären sei; er sei aber nicht immer in seiner Rundung ohne Ende und in seiner Gänze ohne Öffnung das Sinnbild der Ewigkeit gewesen, sondern habe sich als schmeidiger Teig ganz natürlich und ganz faßlich um die Pflaume herumgelegt, womit das Mysterium aufhört, ein Mysterium zu sein.
Wie die Moral, wie die Vorstellung von Zeit, Raum und Ursächlichkeit, so darf man auch den Schönheitsbegriff nicht in seiner heutigen Vollendung betrachten, wenn man ihn verstehen will, sondern muß untersuchen, wie er zu dem geworden, was er jetzt ist. Gegenwärtig ist er etwas sehr Zusammengesetztes, ursprünglich war er etwas sehr Einfaches. Wir nennen heute eine ganze Reihe von Erscheinungen schön, die den verschiedensten Charakter haben und sich an die verschiedensten Sinne wenden: Musik und Gemälde; eine Landschaft und einen Wasserfall; einen Dom und einen Seesturm; eine Dichtung und einen Juwelenschmuck. Ebenso bezeichnen wir eine ganze Reihe von Empfindungen als ästhetische, die einander durchaus unähnlich sind: das wonnige Grauen beim Anblick einer donnernden Springflut-Brandung ebenso wie das heitere Wohlgefallen bei der Betrachtung der Oberländerschen Bilder in den Fliegenden Blättern; die Bewunderung der Venus von Milo ebenso wie die Billigung eines stattlichen Gebäudes. Die metaphysische Ästhetik hat sich abgerackert, diese Mannigfaltigkeit auf eine Einheit zurückzuführen. Das war eine Marter, bei der nichts herauskommen konnte. Um die verschiedenen Erscheinungen einander ähnlich zu machen, mußte man sie ihrer wesentlichen Eigenheiten entkleiden, der einen etwas anfügen, was die andere hatte, der andern etwas wegnehmen, was der einen fehlte. Und wenn selbst dieser Fälscher- oder Gleichmacher-Kniff nicht ausreichte, so lieh man allen Erscheinungen eine willkürliche Zugabe und stellte auf diese Weise eine sophistische Ähnlichkeit her, die nicht in natürlichen Zügen, sondern in künstlichen Ankleidungen der Erscheinungen begründet ist. Wir wollen es mit einer ehrlichern Methode versuchen; anstatt die Bestandteile des zusammengesetzten Phänomens noch eifriger durcheinander zu quirlen und sie durch einen Aufguß von metaphysischer Unendlichkeits-Brühe noch unkenntlicher und scheinbar gleichförmiger zu machen, wollen wir sie im Gegenteil aufmerksam auseinander lesen und jedem seine ursprüngliche Physiognomie wiedergeben.
Eine Eigenschaft ist allen ästhetischen Empfindungen allerdings gemein: die, daß sie das Gegenteil von Unlust-Empfindungen sind. Aber die angenehmen Sensationen, welche die verschiedenen Arten des Schönen in uns erregen, fließen aus verschiedenen organischen Quellen. Ehe wir diesen nachgraben, nur ein Wort über die Lust- und Unlust-Empfindungen selbst. Lust-Empfindungen sind solche, die durch Eindrücke oder Vorstellungen von Eindrücken erregt werden, welche in irgend einer Weise der Erhaltung des Einzelwesens oder der Gattung förderlich sind, Unlust-Empfindungen das Gegenteil. Daß dies so ist, hat einen natürlichen und selbstthätigen Grund. Ein Wesen, in welchem Eindrücke, die sein Dasein bedrohten oder schädigten, keine unangenehmen Empfindungen erweckte, hatte keine Ursache, diese Eindrücke zu vermeiden, und mußte ihnen alsbald unterliegen, so daß es keine Nachkommen hinterlassen konnte, also in der heutigen organischen Welt nicht mehr vertreten sein kann. Umgekehrt hatte ein Wesen, welches schädliche und bedrohliche Eindrücke als unangenehme empfand, einen genügenden Antrieb, sie zu vermeiden oder abzuwehren, sich also vor Schaden zu hüten und sich eine regelrechte Entwicklung zu sichern, welche auch die Hervorbringung von Nachkommen in sich schließt. Bis jetzt handelte es sich um Vermeidung von Schädlichkeiten. Damit ist es aber nicht genug. Um besonders reich zu gedeihen, mußte der Organismus Bedingungen aufsuchen, die ihm nicht nur nicht schädlich, nicht nur gleichgültig, sondern geradezu förderlich waren. Er mußte günstige und zuträgliche Eindrücke als angenehme empfinden und dadurch veranlaßt werden, sie zu wünschen und anzustreben. Je stärker seine Lust-Empfindungen bei nützlichen Eindrücken waren, um so lebhafter bemühte er sich, sie zu erlangen, und um so günstiger konnten sie auf sein Gedeihen und seine Entwickelung wirken. Die heutigen Organismen stellen deshalb die Auslese solcher Vorfahren dar, in welchen ihr Dasein gefährdende Eindrücke die stärksten Unlust-, es fördernde Eindrücke die stärksten Lust-Empfindungen erregten. Nur ein einziges Beispiel zur Veranschaulichung, dieser Thatsache. An sich sind alle Düfte gleichwertig und es giebt unter ihnen weder angenehme noch unangenehme. Verwesungsduft und Rosenduft sind an sich nicht verschiedener als etwa blaues und grünes Licht, Trompeten- und Flöten-Ton. Wenn es außer dem Geruchssinn noch irgend etwas anderes, etwa einen Stoff gäbe, auf den der Duft einen Eindruck machte wie das Licht auf Chlor- oder Bromsilber, so daß man eine Vorrichtung herstellen könnte, welche für Düfte das wäre, was der photographische Apparat für Lichterscheinungen ist, so würde man auch dem unphilosophischsten Geiste mit größter Leichtigkeit begreiflich machen können, daß der Fäulnisduft an sich ein Duft ist wie jeder andere und nur auf die menschliche Nase in ihrer heutigen Beschaffenheit einen unangenehmen Eindruck macht. Nun fügt es sich aber, daß der Fäulnisduft flüssigen und gasförmigen Stoffen anhaftet, welche durch die organische Thätigkeit von winzigen Lebewesen entstehen, die den höheren Tieren sehr gefährlich sind, wahrend der Rosenduft einer Blume eigen ist, die an trockenen, sonnigen Stellen vorkommt und in der schönen Jahreszeit blüht. Ein Wesen, dem beide Düfte gleichgiltig waren oder das gar den Fäulnisduft vorzog, scheute die Orte nicht, wo Verwesungsvorgänge stattfanden; es atmete giftige Gase, aß vielleicht faulige Stoffe, welche Leichengift (die sogenannten »Ptomaine«) enthielten, kam mit Mikroorganismen in Berührung, die in ihm gefährliche, vielleicht sogar tödliche Krankheiten hervorriefen, und mußte früher oder später der Verkümmerung und dem Untergange anheimfallen. Ein Wesen dagegen, in welchem Fäulnisduft unangenehme und Rosenduft angenehme Empfindungen hervorrief, vermied alle Schädlichkeiten, die in Begleitung des ersteren auftreten, und suchte mit Vorliebe im Frühling und Sommer warme und sonnige Stellen im Freien auf, was seiner Gesundheit offenbar sehr zuträglich war. Es gedieh und brachte kräftige Nachkommen hervor, die durch größere Starke und Fruchtbarkeit bald die Nachkommen des Wesens verdrängen mußten, welches Fäulnisduft nicht als unangenehm oder gar als angenehm empfand, so daß es heute nur noch Menschen giebt, denen im gesunden Zustande des Nervensystems Fäulnisduft Unlust-, Rosenduft dagegen Lust-Empfindungen giebt. In krankhaft entarteten Individuen allein wird das Gegenteil beobachtet und ihre Vorliebe für Gerüche, welche von der gefunden Mehrheit als Gestank empfunden und gescheut werden, trägt häufig zu einer Verschlechterung ihres Zustandes bei. Verstärkt wird diese Wirkung beider Düfte dann noch durch die Gedanken-Verbindungen, welche sie anregen. Mit dem Fäulnisduft verbinden wir nämlich die Vorstellung von Erscheinungen, welche mit Tod und Vernichtung des Organismus zusammenhängen, mit dem Rosenduft die Vorstellung der Jahreszeit, in welcher die Nahrung dem Naturmenschen reichlich zu werden begann, die Wärme wiederkehrte und sein Leben überhaupt leichter und angenehmer wurde.
Diese Regel, daß alle Lust- und Unlust-Empfindungen ursprünglich auf der Nützlichkeit oder Schädlichkeit der sie hervorrufenden Erscheinungen für das Einzelwesen oder die Gattung beruhen, duldet keine Ausnahme. Die Thatsachen, die man gegen sie anführt, sind schlecht beobachtet oder oberflächlich gedeutet. Auch dafür nur ein Beispiel. Weingeisthaltige, berauschende Flüssigkeiten rufen im Trinker entschieden Lust-Empfindungen hervor und sind seiner Gesundheit und seinem Leben dennoch im höchsten Grade schädlich. Das ist richtig. Aber weshalb wirken alkoholische Getränke so? Weil sie zuerst, ehe sie den Organismus lähmen und betäuben, das Nervensystem zu höherer Thätigkeit anregen, intensives Kraftgefühl, Fröhlichkeit, Willensimpulse und reichliche Vorstellungen des Urteils hervorrufen, also einen Zustand, den auf natürliche Weise bloß solche Umstände herbeiführen, die der Gesundheit und dem Leben des Individuums im höchsten Grade vorteilhaft sind, nämlich ausgezeichnete Ernährung, hinreichende Ausgeruhtheit, vollkommenes Wohlbefinden, Aufenthalt in sauerstoffreicher Luft, Gesellschaft gerngesehener Genossen, Jugend, Mangel jeder Ursache zu Angst und Besorgnis u.s.w. Der ursprüngliche Mensch lernte die gehobene Stimmung, die dem eigentlichen Rausche vorangeht, nur in Begleitung dieser günstigsten Umstände kennen und mußte sie nach obigem Gesetze als Lust-Empfindung wahrnehmen. Erst sehr viel später, als die Freude an jener Stimmung bei ihm schon zum organischen Triebe geworden war, erfand er den Wein und Schnaps und gewann die Möglichkeit, dieselbe überaus angenehme Steigerung der Hirn- und Nerventhätigkeit durch ein anderes, schädliches Mittel hervorzurufen. Das ist aber erst wenige tausend Jahre her und in dieser vergleichsweise kurzen Zeit konnte ein Trieb nicht umgestaltet werden, zu dessen Organisierung die Menschheit Hunderttausende von Jahren gehabt hatte. Gäbe es in der Natur fertigen und leicht zugänglichen Alkohol wie Wasser oder Baumfrüchte, so daß der Mensch und seine Vorgänger bei ihren Lebensanfängen den Schnaps kennen gelernt und von vornherein die gehobene Stimmung mit ihm in Verbindung gebracht hätten, so wären alle Wesen, welche diese Stimmung als angenehm empfunden und deshalb gestrebt hätten, sich sie durch reichlichen Schnapsgenuß zu verschaffen, Säufer geworden, hätten auch alle Übel des Alkoholismus an sich erfahren und wären sehr bald ausgestorben; es gäbe dann heute nur noch Menschen, denen weingeistige Flüssigkeiten so widerwärtig röchen und schmeckten wie etwa Petroleum oder Fäulnisjauche und welche die gehobene Stimmung, die der Alkohol hervorbringt, als Unlust-Empfindung wahrnähmen.
Die Lust-Empfindungen nun, die das Schöne im weitesten Sinne in uns anregt, haben keinen andern Ursprung als alle übrigen Lust-Empfindungen. Sie sind eine Folge davon, daß das, was wir heute als schön empfinden, entweder ursprünglich auch dem Einzelwesen oder der Gattung zuträglich oder förderlich war oder daß die Lebewesen es zuerst in Begleitung zuträglicher oder förderlicher Erscheinungen kennen lernten und mit der Erinnerung an diese organisch gesellten.
Die Erscheinungen, die als schön empfunden werden, zerfallen naturgemäß in zwei große Klassen. Sie beziehen sich entweder auf das Dasein des Einzelwesens oder auf das der Gattung. In die erste Klasse gehören das Erhabene, Reizende und das Zweckmäßige, in die zweite Klasse das eigentlich Schöne im engern Sinne und das Niedliche. Diese fünf Formen des Ästhetischen werden häufig verwechselt, während sie doch um ihrer Verschiedenheit willen sorgsam auseinandergehalten werden müssen. Wir werden sie der Reihe nach untersuchen und zu verstehen trachten, wie sie mit dem Selbsterhaltungstriebe des Einzelwesens und der Gattung zusammenhängen.
Das Erhabene ist die Empfindung eines ungeheuren Mißverhältnisses zwischen dem wahrnehmenden Individuum und der wahrgenommenen Erscheinung und der zermalmenden Überlegenheit der letztern über das erstere. Alles überaus Große und Mächtige wirkt erhaben. Die der Empfindung des Erhabenen zu Grunde liegende Vorstellung ist die: »An dieser Erscheinung gemessen bin ich nichts. Gegen diese Erscheinung sind meine Kräfte verschwindend. Gegen sie anzukämpfen, sie zu überwinden, ist vollkommen unmöglich. Müßte ich mit ihr kämpfen, so würde ich vernichtet werden.« Diese Empfindung ist eine ganz nahe Verwandte der Angst und sie unterscheidet sich von ihr eigentlich bloß dadurch, daß sie neben der Vorstellung der eigenen gänzlichen Ohnmacht noch die zweite Vorstellung enthält, daß glücklicherweise eine Bekämpfung der gewaltigen Erscheinung nicht notwendig ist und diese ihre zermalmende Übermacht nicht thatsächlich zur Überwindung und Vernichtung des wahrnehmenden Wesens gebrauchen wird. Der Anblick des brennenden Roms von der Terrasse des Kaiserpalastes kann die Empfindung des Erhabenen erwecken, weil die gewaltige Erscheinung da den Betrachter nicht gefährdet. Stände dieser dagegen mitten in der Feuersbrunst, so würde dieselbe Erscheinung in ihm nicht die Empfindung des Erhabenen, sondern die der Todesangst erwecken. Die Meeresbrandung ist, vom Badestrande gesehen, erhaben; dem Schiffbrüchigen, der durch sie hindurch an die Küste gelangen soll, erweckt sie Todesangst. Die körperlichen Erscheinungen, welche die Empfindung des Erhabenen begleiten, sind dieselben wie die, welche mit der Angstempfindung gesellt sind. Es ist dieselbe Beklommenheit, dasselbe Stillstehen des Herzens, dieselbe Unterbrechung des Atmens, alles Anzeichen der Erregung des sogenannten Vagus; es ist derselbe über den Rücken hinabrieselnde Schauer, dieselbe Unbeweglichkeit, die man eine momentane Lähmung nennen kann. Das Starrwerden, das Versteinertsein tritt in empfindlichen Naturen angesichts des Erhabenen ebenso ein wie angesichts eines Schrecklichen, das sie wirklich bedroht. Das Erhabene hängt also am direktesten mit dem Selbsterhaltungstriebe des Individuums zusammen, nämlich mit seiner Gewohnheit, sich als Gegensatz zur Außenwelt zu empfinden, diese als möglichen Feind aufzufassen und die Aussichten des Sieges oder der Niederlage im Falle des Zusammenstoßes abzuschätzen.
Das Reizende ist die Empfindung, welche von Erscheinungen erregt wird, die in einer gegebenen Zeiteinheit eine große Zahl von Sinneseindrücken hervorbringen und eine lebhafte Thätigkeit der Wahrnehmungs-, Verstandes- und Urteilszentren veranlassen. Eine nackte Wand wirkt langweilig, weil sie bloß einen einzigen Gesichtseindruck hervorbringt und keine regere Deutungs-Thätigkeit des Gehirns notwendig macht. Eine reich geschmückte Wand wirkt dagegen reizend, weil sie auf einen einzigen Blick zahlreiche Gesichtseindrücke und eine große Deutungs-Thätigkeit des Gehirns anregt. Das Einförmige kann, wenn es in ungeheurer Ausdehnung auftritt, erhaben, aber niemals reizend wirken, dies kann nur das Mannigfaltige. Dasselbe hört nur dann auf, als reizend empfunden zu werden, wenn es nicht mehr übersichtlich und faßlich, wenn es nicht mit einem einzigen Blick aufgenommen und vom Verstande mühelos gedeutet werden kann, sondern den Hirnzentren eine anstrengende Arbeit des Suchens, Einteilens und Zergliederns auferlegt. Darum ist das Verworrene und Überladene nicht mehr reizend. Selbstverständlich wird das Mannigfaltige auch in dem Falle nicht reizend sein, wenn seine einzelnen Bestandteile an sich nicht als angenehm empfunden werden. So wird eine mit sehr vielen Schmutzflecken von verschiedenster Größe und Form besudelte Wand trotz der Mannigfaltigkeit ihres Anblicks nicht reizend wirken. Das Reizende hängt also damit zusammen, daß das Individuum das Bewußtsein seines eigenen Lebens als angenehm empfindet. Dieses Bewußtsein besteht aber, im Wahrnehmen von Eindrücken und was viele gleichzeitige, noch ohne Mühe wahrnehmbare Eindrücke giebt, das giebt dem Bewußtsein eine größere Intensität und dem Individuum eine reichere Empfindung seines Lebens.
Das Zweckmäßige wird eigentlich nicht als schön, sondern als befriedigend empfunden, da aber auch dieses eine Lust-Empfindung ist, so verwechselt man letztere leicht mit dem Schönen. Das Zweckmäßige ist das Verständliche, dasjenige, was den menschlichen Vorstellungen von den Gesetzen der Erscheinung entspricht. Eine auf der Spitze stehende Steinpyramide würde als durchaus unschön empfunden werden, weil sie unzweckmäßig scheint, weil ihre Anordnung unserer Vorstellung vom Gesetze der Schwere und dem daraus abgeleiteten Gesetze des Gleichgewichts zuwiderläuft. Wir würden die Empfindung haben, daß sie in dieser Lage nicht dauernd verharren könne, daß sie fallen müsse. Ähnlich wirkt beispielsweise auch der schiefe Turm von Pisa. Er macht auf natürliche Menschen einen unschönen Eindruck, er erweckt Mißtrauen und Besorgnis, also Unlust-Empfindungen. Ein Haus, dessen steinerne massive Stockwerke auf einem Erdgeschoß von ganz dünnen Eisenpfeilern ruhen, wirkt unschön, weil seine Anordnung unzweckmäßig scheint. Wenn die Menschen sich Jahrhunderte hindurch an den Anblick von Bauten gewöhnt haben werden, bei welchen Eisen und Stein auf diese Weise verwendet sind, so wird die Empfindung allgemein sein, daß eine geringe Menge von Eisen eine große Tragkraft besitzt, welche viel größere Mengen von Stein oder Holz nicht überwinden können, der Anblick breiter Steinmassen, die auf schmalen Eisenträgern aufruhen, wird nicht mehr die Vorstellung des Absurden und Unzweckmäßigen erwecken und man wird Häuser mit eisernen Erdgeschossen und steinernen Stockwerken nicht mehr als unschön empfinden, wie man heute den Anblick eines Baumes mit breit ausladenden Ästen, trotzdem er von unserem Grundbilde des fest und sicher stehenden Gegenstandes, nämlich einer auf breiter Basis aufruhenden und nach oben sich verjüngenden Figur, abweicht, nicht als unschön empfindet, weil man weiß, daß der Stamm trotz seiner Schmalheit im Verhältnis zur Gesamterscheinung fest, die Krone trotz ihres großen Umfanges leicht ist. Die ästhetische Wirkung des Zweckmäßigen hängt mit dem Triebe des Menschen zusammen, die Erscheinungen zu begreifen und ihre sinnlich nicht wahrnehmbaren Gesetze zu erraten. Er empfindet das Unbekannte und Unverständliche als etwas Feindliches und Unheimliches, als etwas Drohendes, dem er nicht gewachsen ist, während das Einleuchtende und Vernünftige ihn vertraut und befreundet anmutet. Deshalb wird das Zweckmäßige, welches nur eine andere Bezeichnung für das Bekannte und Verständliche ist, angenehme, das Unzweckmäßige Unlust-Empfindungen anregen.
Wir haben gesehen, daß das Erhabene, das Reizende und Zweckmäßige an die Grundvorstellungen des Menschen von seinem gegensätzlichen, also feindseligen Verhältnisse zur Außenwelt, das heißt zum Nicht-Ich, anknüpfen und Regungen seines Selbsterhaltungstriebes veranlassen. Wir werden jetzt sehen, daß das Schöne im engern Sinne und das Niedliche mit dem Gattungs-Erhaltungstriebe des Menschen zusammenhängen.
Als Schönheit wird jeder Eindruck empfunden, der in irgend einer Weise, sei es direkt, sei es durch Gedankenverbindungen, das höchste Geschlechtszentrum im Gehirn anregt. Der Urtypus alles Schönen ist für den Mann das im geschlechtsreifen Alter stehende und fortpflanzungstüchtige, also junge und gesunde Weib. Von diesem empfängt sein Geschlechtszentrum die mächtigsten Anregungen, die Erscheinung und die Vorstellung desselben giebt ihm also die stärksten Lust- Empfindungen, die ein bloßer Anblick oder Gedanke überhaupt geben kann. Die organisch gewordene Gewohnheit, die Erscheinung des Weibes mit dem Begriffe der Schönheit und mit den von dieser angeregten Lust-Empfindungen zu gesellen, legt es dem menschlichen Geiste nahe, auch jeder als angenehm oder schön empfundenen abgezogenen Vorstellung die Form des Weibes zu geben. Darum versinnlicht man sich den Begriff des Vaterlandes, des Ruhmes, der Freundschaft, des Mitleids, der Weisheit u.s.w. als Weib. Für die Vorstellungswelt des Weibes sollte all das eigentlich nicht gelten. Der Anblick oder die Vorstellung einer Person seines eigenen Geschlechts kann das Geschlechtszentrum des Weibes in keiner Weise anregen, sein Schönheitsideal müßte also der Mann sein. Daß dennoch das Weib ungefähr dieselben Schönheitsbegriffe hat wie der Mann, das rührt daher, daß der Mann als der kräftigere Organismus seine eigenen Anschauungen durch Suggestion auf das Weib übertragen und dessen abweichende Anschauungen überwinden kann. Übrigens ist der Schönheitsbegriff beider Geschlechter tatsächlich nur »ungefähr« und nicht vollkommen derselbe und wenn das Weib die Fähigkeit und Übung der genauen Selbstbeobachtung, Zergliederung und Darstellung seiner Bewußtseins-Zustände besäße, so hätte es längst festgestellt, daß seine Ästhetik in vielen Punkten von der des Mannes wesentlich verschieden ist.
Das Niedliche ist diejenige Erscheinung, die direkt oder durch Gedankenverbindung an die Vorstellung des Kindes anknüpft und den unmittelbar mit der Gattungserhaltung zusammenhängenden Trieb der Kinderliebe anregt. Als niedlich wird also alles Kleine, Zierliche, jugendlich Unbeholfene empfunden, besonders aber die verkleinerte Nachbildung von bekannten Gegenständen, die in Wirklichkeit bedeutend größer vorzukommen pflegen. Derartige Verkleinerungen erwecken die Vorstellung, daß sie sich zu den wirklichen Vorbildern so verhalten wie Kinder zu Erwachsenen. Von dieser Anschauungsweise sind bei Naturvölkern und in weniger entwickelten Sprachen deutliche Spuren anzutreffen. Die Indianer glauben tatsächlich, daß ein Schiebkarren der Sohn eines Lastwagens sei, und die Pistole heißt auf Magyarisch »Flinten-Junges« ( kölyök-puska). Die körperlichen Erscheinungen und Gegenwirkungen, welche das Niedliche hervorruft, haben die größte Ähnlichkeit mit den vom Anblick des Kindes veranlaßten. Frauen finden das Niedliche »zum Küssen« und haben thatsächlich den manchmal unwiderstehlichen Drang, es in charakteristisch mütterlicher Weise zu liebkosen, nämlich es abzutasten, in die Arme zu nehmen und an die Lippen zu führen.
Manche Erscheinungen wenden sich infolge der ausgebreiteten und mannigfaltigen Gedankenverbindungen, die sie wachrufen, zugleich an den Selbst- und den Gattungs-Erhaltungstrieb und an Verschiedene Unter-Formen dieser Triebe und werden auf verschiedene Weise als schön empfunden. Der Frühling in der freien Natur ist zum Beispiel zugleich schön, reizend und zweckmäßig. Er regt das Geschlechtszentrum an, weil er für den Urmenschen und seine organisch niedriger stehenden Vorfahren die Jahreszeit der Fortpflanzung war, welche er dadurch begünstigte, daß er den Lebewesen reichlichere Nahrung brachte und ihnen eine kräftigere Lebensthätigkeit gestattete. Er ist ferner reizend, weil er eine große, aber dennoch nicht verwirrende Fülle von an sich angenehmen Einzelerscheinungen in sich schließt und darum in einer gegebenen Zeiteinheit die größte Menge von Sinneseindrücken gewährt, er ist endlich zweckmäßig, weil er die Vorstellung von günstigen Bedingungen für das individuelle Leben erweckt.
Ich habe oben von der Verschiedenheit der Ästhetik beider Geschlechter gesprochen. Sie ist durch die Beschaffenheit und Arbeitsteilung der Geschlechter in der heutigen Menschheit organisch bedingt. Der Mann vertritt in der Gattung den Individualismus, die eigenartige Bildung, darum auch in einem gewissen Sinne die Selbstsucht, die bloß für sich sorgt oder für andere nur, wenn die eigenen Bedürfnisse es unvermeidlich machen; er ist ein Streiter wider die Natur und die Artgenossen und hat in seinen Kämpfen um Nahrung und Liebe fortwährend Gefahren abzuwehren, Widerstände zu besiegen und Angriffsmethoden auszusinnen. Bei ihm ist also der Selbsterhaltungstrieb besonders entwickelt, weil dieser allein Gefahren vermeiden und Feinde überwinden lehrt. Auf ihn wirken darum auch die Erscheinungen, die an den Selbsterhaltungstrieb anknüpfen, stärker als auf das Weib; für das Erhabene, das Reizende, das Zweckmäßige hat er mehr Sinn und Empfindung als dieses. Das Weib dagegen ist die Trägerin der Erbeigenschaften in der Gattung; ihm liegt hauptsächlich deren Erhaltung ob. Es kämpft nicht, ist deshalb weniger Gefahren ausgesetzt und bedarf keiner besonderen Entwickelung des Selbsterhaltungstriebes; dagegen ist in ihm der Gattungserhaltungstrieb stärker ausgebildet und es empfindet die Eindrücke, welche auf die Geschlechts- und Mutterschafts-Vorstellungen wirken, mächtiger als der Mann. Es hat also mehr Sinn für das, Schöne im engern Verstande und namentlich für das Niedliche, das sich noch weit mehr als das Schöne an einen spezifisch weiblichen Trieb, den der Kinderliebe, wendet.
Ursprünglich wird die Empfindung des Schönen bloß durch natürliche Erscheinungen hervorgerufen; die Kunst kann diese Empfindung nur insofern erregen, als es ihr gelingt, mit ihren Mitteln die Vorstellung solcher natürlichen Erscheinungen wachzurufen, welche als schön empfunden werden. Ihre Mittel sind die direkte Nachahmung, die Symbolisierung und die Aufwindung des Mechanismus der Gedanken-Verknüpfung durch Vorstellungen oder Sinneseindrücke. So kann das Wort die Empfindung des Erhabenen hervorrufen, wenn es die Vorstellung von etwas Gewaltigem, dem Menschen unermeßlich Überlegenem anregt, z.B. wenn es ein allmächtiges Gott-Wesen schildert, das Walten ungeheurer Kräfte in Naturerscheinungen, Schlachten, Menschengeschicken zeigt u.s.w. Die Baukunst wird die Empfindung des Erhabenen geben, wenn sie so großartige Räume und Konstruktionsmassen herstellt, daß der Beschauer sich ihnen gegenüber so klein und schwach vorkommt wie dem Walde oder dem Urgebirge gegenüber. Die Vorstellung des Zweckmäßigen giebt ein Kunsterzeugnis, wenn es durch seine Form seinen Zweck und sein Entstehungsgesetz erkennen läßt, was es nur dann thut, wenn es an uns bekannte natürliche Erscheinungen erinnert, deren Zweck uns durch Erfahrung vertraut geworden ist und deren Entstehungsgesetz wir – immer mit Ausschluß der letzten Gründe – erraten haben. Organische Tier- und Pflanzenformen, Kristallumrisse und die Gruppierung größerer Stoffmassen unter dem Einflüsse der mechanischen Gesetze sind die uns vertrauten und verständlichen natürlichen Erscheinungen, welchen die Kunsterzeugnisse ähnlich sein müssen, damit sie von uns als zweckmäßig begriffen und als schön empfunden werden. Jede einzelne Kunst kann nicht alle ästhetischen Eindrücke geben, sondern bloß solche, welche mit den Erscheinungen verbunden sind, die sie nachzuahmen oder an die sie zu erinnern vermag. Die Architektur kann z. B. nicht den Eindruck des Schönen im engern Sinne geben, das heißt das Geschlechtszentrum anregen, es sei denn durch Verwendung bildhauerischen Schmucks, was aber nicht mehr Baukunst ist. Die Musik kann nicht den Eindruck des Niedlichen geben, weil sie die wesentlichen Züge der Kindeserscheinung weder nachahmen noch durch Gedanken-Verbindung auf sie bringen kann u.s.w.
Das sind die Grundzüge der natürlichen, evolutionistischen Ästhetik, die, wie man sieht, kein übersinnliches Element anzurufen braucht, um die Empfindung des Schönen zu erklären. Und wenn jetzt ein geduldiger Methodiker diese Leitgedanken zu einem dreibändigen Kompendium auswalzen will, so wünsche ich ihm dazu gute Verrichtung.