Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Symmetrie

Beginnen wir zunächst damit, festzustellen, daß es in der Natur kein einziges Beispiel von vollkommener Symmetrie giebt, nämlich von einer Form, welche dadurch entsteht, daß sich dieselbe Bildung zu beiden Seiten einer gedachten Mittellinie gleichmäßig wiederholt. Selbst diejenigen natürlichen Erscheinungen, in welche der Mensch mit dem geringsten Zwange ein Gesetz des Gleichmaßes hineintragen kann: die Kristalle, die Blumen, die zweireihig angeordneten Blätter, die rechts und links von einer Längenachse sich entwickelnden Tiere, sind nicht wirklich symmetrisch und können nicht thatsächlich in zwei oder mehrere Teile zerlegt werden, welche einander vollkommen decken würden. Alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, ist unregelmäßig. Es weicht in nie vorherzusehender Weise mehr oder weniger von dem Plane ab, den der menschliche Geist ihm unterlegen möchte, es lehnt sich stets mit größerer oder geringerer Heftigkeit gegen das Gesetz auf, von welchem wir es gern gebunden glauben. Kein Himmelskörper ist mathematisch rund, keine Sternbahn fügt sich genau der ihr von uns gegebenen wissenschaftlichen Formel. Kein menschliches Gesicht sieht rechts genau so aus wie links, kein Vogel hat zwei ganz gleiche Flügel. Und diese allgemeine Asymmetrie herrscht nicht bloß in den Erscheinungen, welche wir mit dem freien Auge wahrnehmen können, sondern auch in der geheimsten und innersten Anordnung des Stoffes, namentlich in seinen organischen Verbindungen. Die Thatsache, daß der Lichtstrahl auf seinem Wege durch Lösungen organischer Stoffe in den verschiedensten Winkelgraden abgelenkt wird, und zwar von einem Körper, der scheinbar seiner chemischen Zusammensetzung nach derselbe ist, einmal nach rechts und ein andermal nach links, ist von Pasteur als Beweis angesprochen worden, daß die Atome in den Molekülen nach einem unsymmetrischen Plane gelagert sind, und derselbe Gelehrte findet den Grund dieses Verhaltens darin, daß auch die natürlichen Kräfte, welche die Gruppierung der Atome und Moleküle veranlassen, also Wärme, Licht, Elektrizität, Anziehung u. s. w., asymmetrische sind. Er entwickelt diese Vorstellung weiter und wagt sich bis zur Behauptung vor, Leben sei in letzter Linie Asymmetrie und es werde uns möglich sein, in Retorten aus den einfachen Urstoffen Leben zu brauen, wenn mir gelernt haben werden, uns asymmetrischer Kräfte zu bedienen.

Ich gestehe, daß mir diese Gedanken mehr an die Mystik als an die Chemie, Mechanik und Biologie zu rühren scheinen. Ich weiß nicht recht, was ich mir unter einer asymmetrischen Kraft oder Kraftwirkung vorstellen soll. Doch ihre Ursache sei welche immer, die Thatsache steht fest, daß die Natur keine Symmetrie kennt. Diese ist eine Erfindung des Menschengeistes, auf die ihn kein Vorbild hat bringen können. Er hat sie ganz aus sich heraus geschöpft. Die Kunst hat ein triebhaftes Bewußtsein dieses Verhältnisses und sucht in ihren höchsten Anstrengungen der launenhaft scheinenden Asymmetrie der Natur zu folgen. So oft sie symmetrisch wird, hört sie auf, reizvoll zu wirken. Die Natur bringt den Strom hervor, dessen geschlängelter Lauf auf jeder Strecke wechselnde Linien zeigt, die Kunst schafft den Kanal, der die Verwirklichung einer geometrischen Formel ist und von einem Ende bis zum andern keine unvorhergesehene Abweichung von seinem nach wenigen Schritten erkennbaren Bildungsgesetze darbietet. Im freien Forste bringt jeder Schritt eine Überraschung und man braucht immer nur eine Viertelswendung auszuführen, um eine neue Anregung zu empfangen. Der französische Garten ist wie ein Teppich, welcher auf jeder Gevierteile dasselbe Muster vorführt und bei genügender Aufrollung arm scheinen muß, auch wenn die erste Elle reich erfunden ist. Der menschliche Geschmack erbaut sich am Asymmetrischen und erhält von der Symmetrie eine Unlust-Empfindung. Er zieht, wenn er nicht verkümmert oder verbildet ist, auch im Menschenwerk die asymmetrischen Annäherungen an die Natur den symmetrischen Schöpfungen weit vor. Wir finden die Straße, die sich in grillenhaften Krümmungen über Berge und durch Thäler windet, ungleich schöner als die mit der Schnur gezogene strenge Eisenbahn, den englischen Park mit seiner künstlichen Verwilderung weit anmutiger als die Lenôtreschen Anlagen, eine Morrissche Tapete mit verwahrlost rankendem Blumen- und Blattwerk anregender als die Wandpapiere im französischen Rococo-Stil, den gotischen Dom, in dessen Fensterrosen und Wimpergen die schöpferische Phantasie des Baukünstlers frei waltet, an welchem nicht eine Fiale der andern, nicht ein Stück Maßwerk dem andern ganz gleich ist, unendlich reizvoller als den griechischen Tempel, dessen eine Säule genau so aussieht wie die andere, der vorn so ist wie hinten und rechts so wie links und den man wenden könnte wie ein gutes Tuch, ohne daß sich sein Anblick verändern würde. Wir bewundern ein Porträt, das alle Unregelmäßigkeiten einer individuellen Gesichtsbildung getreu wiedergiebt, und belächeln mitleidig selbst das bestgezeichnete Modenbild mit seinem ausdruckslosen, weil peinlich symmetrischen Idealkopfe. Das, was der japanischen Kunst so große Erfolge in Europa verschafft hat, ist ihr asymmetrischer Charakter. Eine sklavische Nachahmerin der Natur, folgt sie dieser in ihren scheinbaren Willkürlichkeiten. Sie verachtet den goldenen Schnitt, den Menschen erfunden haben, welche mehr Spekulation als Schönheitssinn hatten, und tyrannisiert keine Menschengestalt mit einem Kanon, der nicht deren ureigener ist.

Da nun aber die Symmetrie weder eine natürliche Bildung ist noch als schön empfunden wird, so muß man fragen, wie der Menschengeist auf sie hat verfallen können und welchem Bedürfnisse desselben sie entspricht.

Die Antwort ist durch die Grundeigentümlichkeiten der menschlichen Denkthätigkeit gegeben.

Wir haben zunächst die Gewohnheit des ursächlichen Denkens. Wir vermuten hinter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen ein unsinnliches, der direkten Beobachtung völlig unzugängliches Element, das wir nach unserer Willkür Ursache, zureichenden Grund, Gesetz nennen und dem verschiedene Philosophen andere Namen gegeben haben, z.B. Schopenhauer den Namen Wille, Frohschammer den Namen Phantasie u.s.w. Niemand hat noch eine Ursache als solche leibhaftig wahrgenommen. Man hat immer nur Erscheinungen bemerkt, die auf einander ohne jeden wirklichen Zusammenhang folgten. Ihre Verknüpfung mittels eines unsinnlichen Bandes von Ursache und Wirkung geschieht ausschließlich durch unser Denken. Wir sehen den Blitz und wir hören den Donner. Wir bemerken auch, daß sie in der Regel nach einander auftreten. Aber daß vom Blitze gleichsam eine Kette ausgeht, die den Donner nachschleift, das sehen und hören wir nicht, das lehrt uns keiner der Sinne, welche die Erscheinungen des Blitzes und des Donners selbst unserem Bewußtsein zutragen, das fügt unser Gehirn ganz aus freien Stücken jenen Erscheinungen hinzu.

Durch die Gewohnheit der Ursächlichkeit sind wir sogar dahin gelangt, dem unsinnlichen, nicht wahrgenommenen Elemente der Erscheinung, also ihrer vorausgesetzten oder hinzugedichteten Ursache, eine größere Wichtigkeit beizumessen als der Erscheinung selbst. Das ist natürlich. Der Plan, den wir der Erscheinung unterlegen, ist eine Hervorbringung unseres Gehirns und kann, von unserem Bewußtsein ohne Vermittelung der Sinne direkt wahrgenommen werden, während die Erscheinung selbst außerhalb unseres Bewußtseins vor sich geht und dem Bewußtsein bloß durch die Sinne vermittelt wird; das Selbstgeschaffene, gleichsam vor dem Blicke des denkenden Ichs Entstehende, ohne Sinnesvermittelung Wahrgenommene muß aber diesem Ich wirklicher, wesentlicher und lebendiger scheinen als die außerhalb des Ichs stattfindende und nie ganz vollkommen wahrgenommene Erscheinung. Wenn darum die Erscheinung, so wie unsere Sinne sie wahrnehmen und unserem Bewußtsein melden, ihrem Plane oder Gesetze, wie unser Gehirn es ersonnen hat, nicht ganz gleichkommt, so opfern wir ruhig die Erscheinung dem Gesetze, wir fälschen jene, um dieses zu retten, wir glauben der innern Arbeit des Gehirns mehr als den Sinnen und zwingen unsere Wahrnehmung, sich unserer Erdichtung anzubequemen. Wir sehen z. B. einen Kristall, etwa den einfachsten, einen Würfel. Drei Seiten desselben sind regelmäßig, die drei anderen sind es nicht. Wir haben nun in unserem Gehirn für diese Erscheinung einen Plan ausgesonnen, der sechs gleichgroße viereckige Flächen, zwölf gleichlange Kanten und acht dreiflächige rechtwinkelige Spitzen bedingt. Der Kristall, den wir sehen, entspricht diesem von uns erdichteten Plane nicht. Wir zögern nun keinen Augenblick lang, der Erscheinung Unrecht und unserer Dichtung Recht zu geben, und sagen: »Dieser Kristall hat ein Würfel werden sollen. Der Stoff ist aber hinter dem Gedanken zurückgeblieben. An uns ist es, dem Stoffe nachzuhelfen, ihm die Gestalt zu geben, die er annehmen wollte, jedoch nicht konnte«, und so sehen wir in dem Gebilde, das eine Erscheinung für sich und von einem Würfel ganz verschieden ist, getrost und selbstzufrieden einen Würfel. Wir sind da in der geheimsten Werkstätte des menschlichen Gedankens und ich bitte den Leser um ein klein wenig Geduld, damit wir uns zusammen noch genauer in jener umsehen können. Eine Arbeitsbedingung des Bewußtseins ist die Aufmerksamkeit. Darunter hat man sich die durch reichlichere Blutzufuhr bedingte regere Thätigkeit bestimmter Nervenfasern und Zellen im Gehirn vorzustellen, während die übrigen Fasern und Zellen weniger Blut erhalten, schwächer genährt sind und deshalb völlig ruhen oder nur lässig arbeiten. Ein stärkerer Sinneseindruck übt auf die zu seiner Aufnahme bestimmten Hirnfasern und Zellen einen stärkern Reiz aus und rüttelt sie gleichsam aus ihrem Ruhezustande wach, ein schwächerer gestattet ihnen, mehr oder weniger in ihrer Müßigkeit zu verharren. Der stärkere Sinneseindruck erregt also unsere Aufmerksamkeit und kommt uns zum Bewußtsein, der schwächere thut dies nicht. Wir haben schon im Kapitel über Genie und Talent gesehen, daß wir von den Erscheinungen bloß die Elemente bewußt wahrnehmen, welche unsere Sinne am stärksten reizen, also unsere Aufmerksamkeit erregen. Das Beispiel, das ich dort angeführt habe, ist das eines Ölgemäldes. An dieser offenbar sehr zusammengesetzten Erscheinung ist es das optische Element, welches am stärksten unsern Gesichtssinn reizt und unsere Aufmerksamkeit erregt, also bewußt wahrgenommen wird; die anderen Elemente, z.B. der Ölduft, sind schwächer; sie regen die betreffenden Sinne, z.B. den Geruchssinn, nicht genug an, die entsprechenden Wahrnehmungszentren werden nicht kräftig genug gereizt, um zur Aufmerksamkeit zu erwachen, das Bewußtsein erfährt also nichts von jenen anderen Elementen der Erscheinung »Ölgemälde« und wenn es sich die Vorstellung des Ölgemäldes ausarbeitet, so wiederholt es sich bloß den Gesichtseindruck, während es die Wahrnehmungen der anderen, vom Bilde nicht bis zur Aufmerksamkeit angeregten Sinne vernachlässigt. Das, was wir bei der Wahrnehmung und Vorstellung des Ölgemäldes beobachtet haben, wiederholt sich bei der Wahrnehmung und Vorstellung aller anderen Erscheinungen. In jeder derselben wiegt ein Element vor, während die anderen schwächer hervortreten, also die Aufmerksamkeit weniger erregen. Wir machen nun – immer mit derselben Willkürlichkeit, mit der wir den Erscheinungen eine unsinnliche Ursache unterlegen – aus dem vorwiegenden Elemente der Erscheinung ihr wesentliches Element und vernachlässigen bei ihrer Wahrnehmung und Vorstellung die übrigen Elemente. Im verkümmerten natürlichen Würfelkristall, etwa vom Steinsalz, wiegt das Element der Würfelbildung vor. Einige mehr oder minder regelmäßige Flächen, Kanten und Spitzen erregen unsere Aufmerksamkeit und wir behalten für die Abweichungen von der Würfelform, für die verbildeten Flächen, die verfehlten Kanten, die fehlenden Spitzen, keine Aufmerksamkeit übrig. Die Folge davon ist, daß wir an der Erscheinung des unregelmäßigen Steinsalzkristalls nur ihr vorwiegendes Element, das der Würfelbildung, wahrnehmen und uns vorstellen, obwohl doch offenbar auch ihre schwächer hervortretenden Elemente, ihre Unregelmäßigkeiten, eigene Würde und Bedeutung haben und für den individuellen Steinsalzkristall, den wir gerade vor uns haben, ganz so wesentlich sind wie die dem vorausgesetzten Würfelplane entsprechend gebildeten Kristallteile.

Unser Gehirn ist nun einmal ein unvollkommenes Gerät. Es ist so gebaut, daß nicht alle seine Fasern und Zellen zu gleicher Zeit hinreichend von Blut umspült, hinreichend genährt und angeregt sein können, um den Grad von Thätigkeit zu erreichen, der uns als Aufmerksamkeit zum Bewußtsein kommt. Es arbeitet nur immer ein Teil des Gehirns voll, während der andere mehr oder weniger ruht. Aus dieser Unvollkommenheit ergiebt sich die notwendige Folge, daß wir nicht auf alle Elemente einer Erscheinung gleichmäßig aufmerksam sein, sie nicht alle gleichmäßig wahrnehmen können, sondern bloß die am stärksten hervortretenden bemerken, die unsere Sinne am meisten reizen und das nährende Blut zu den mit den gereizten Sinnen zusammenhängenden Hirnfasern und Zellen rufen, dieselben also zur Aufmerksamkeit erwecken. Das eine Element, das unsere Sinne am meisten reizt, scheint uns die ganze Erscheinung in sich zu fassen und wir wenden den Plan, den wir dem einen Elemente untergelegt haben, auf die ganze Erscheinung an. So erklärt es sich, daß wir die Neigung haben, die Erscheinungen zu schematisieren, sie auf eine einfache Voraussetzung zurückzuführen. Denn was ist ein Schema? Das Formgesetz, das wir einem willkürlich herausgehobenen Elemente einer Erscheinung unterlegen und in dessen Rahmen wir auch die übrigen Elemente derselben einfügen wollen, obwohl sie sich thatsächlich dagegen sträuben. Diese Neigung zum Schematisieren ist ein Fehler unseres Denkens, den die dargestellte Unvollkommenheit unseres Gehirns erklärt. Denn wenn wir schon ursächlich denken, wenn wir schon einer jeden sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung eine unsinnliche Voraussetzung andichten, so müßten wir ja folgerichtig nicht bloß einzelnen willkürlich gewählten, sondern allen Erscheinungen diese Voraussetzung, also eine Ursache, andichten. Thatsächlich ist nicht eine Erscheinung ganz genau wie die andere; die individuellen Abweichungen müssen ebenso ihre Ursache haben wie die Ähnlichkeiten, wenn wir einmal annehmen, daß diese von einer Ursache, einem Gesetze, bedingt sind, und wir haben einer Erscheinung nicht einen einzigen Plan, ein Schema, sondern hundert Pläne, hundert Schemas unterzulegen, ein Schema für jedes Element, das ihr allein und keiner andern eigen ist. Bleiben wir bei dem Beispiele vom Steinsalzkristall. Wenn wir in dem unregelmäßigen Gebilde, das wir vor uns haben, einen Würfel sehen wollen, so berücksichtigen wir bloß die regelrecht ausgestalteten Teile und sagen uns: »Die Ursache der Form dieser Teile ist die, daß das Ganze ein Würfel werden wollte. Das Schema dieses Gebildes ist also der Würfel.« Wir haben aber nicht das geringste Recht, die Abweichungen von dem Schema zu vernachlässigen; wir müssen auch für diese eine Ursache annehmen; die Ursache, welche einzelne Flächen und Kanten verkümmern ließ, ist offenbar eine andere als die, welche andere Flächen und Kanten nach Würfelart gestaltete, thatsächlich wollte also das Gebilde, das wir vor uns haben, nicht ein regelmäßiger Würfel werden, sondern etwas Verschiedenes, Neues, von der Würfelform Abweichendes, gerade die individuelle Erscheinung, die wir sehen, und nichts anderes; das Würfelschema paßt also auf sie nicht und es ist ein Irrtum, wenn wir in dem Gebilde einen Würfel zu erkennen glauben. Wir begehen aber diesen Irrtum dennoch, weil wir unfähig sind, den Unregelmäßigkeiten, die uns weniger auffallen, gleichzeitig dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken wie den regelmäßigen Teilen, und uns deshalb nicht gedrängt fühlen, für jene ebenso eine schematische Ursache zu erfinden wie für diese. So ist jede Klassifikation, jede Schematisierung ein Irrtum, jede Annäherung verschiedener Erscheinungen aneinander eine Willkür, jede Vereinfachung der Mannigfaltigkeit ein Bekenntnis unserer Unfähigkeit des Begreifens. Die Natur bringt bloß Individuen hervor; wir vereinigen sie künstlich zu Gattungen, weil wir unvermögend sind, jeden Zug, der dem einen Individuum eigentümlich ist und keinem andern, scharf zu bemerken, voll zu würdigen und auf eine individuelle Ursache zurückzuführen. Wenn es Ursachen giebt, so hat jede Erscheinung nicht eine, sondern hundert, sondern tausend verschiedene Ursachen, die sich nur einmal und nie wieder in dieser Art kombinieren, so ist jede Erscheinung eine Resultierende von ungezählten Einwirkungen, die alle gleich wichtig sind, da die Erscheinung etwas anderes sein müßte, als was sie ist, wenn nur eine einzige jener Einwirkungen fehlte oder anders geübt würde; giebt es dagegen keine Ursachen, so ist jede Erscheinung ein selbständiger Zufall und kann mit keiner andern Erscheinung verglichen, sondern muß an sich beurteilt und streng individuell angesehen werden. Das ist ein Dilemma, dem wir nicht entgehen können und aus welchem sich logisch ergiebt, daß das Schema in allen Fällen ein Fehler unseres Denkens ist und uns verhindert, die Erscheinungen so zu sehen und aufzufassen, wie sie wirklich sind; denn giebt es Ursachen, so verhüllt uns die Annahme eines schematischen Plans, also einer einzigen bestimmten Ursache, die Aussicht auf alle übrigen Ursachen, deren Ergebnis die individuelle Erscheinung ist, und giebt es keine Ursachen, so ist der vorausgesetzte schematische Plan überhaupt nur ein Traum, der mit der Erscheinung selbst nicht das Geringste gemein hat. Daran ist aber nichts zu ändern und wenn wir nicht annehmen wollen, daß unser Gehirn einen viel höhern Grad organischer Vollkommenheit erreichen und einst fähig sein wird, in seiner ganzen Ausdehnung mit gleicher Aufmerksamkeit zu arbeiten, so bleibt uns nichts übrig, als uns in das Notwendige zu fügen und in aller Zukunft an den Erscheinungen einen Zug deutlicher wahrzunehmen als die anderen, diesen einen Zug mit der ganzen Erscheinung zu verwechseln, ihm die anderen Züge zu opfern, ihn zum Range eines Schemas zu erheben und die Erscheinung als die Verwirklichung dieses Schemas aufzufassen. Jetzt bleibt uns noch übrig, eine letzte Eigentümlichkeit der menschlichen Denkarbeit zu betrachten. Wie fängt es der Geist an, um den vorausgesetzten idealen Plan zu ersinnen, als dessen Verwirklichung er die Erscheinung auffaßt? Er bedient sich bei diesem Geschäfte einer sehr einfachen Methode: er wiederholt den Zug, der als der auffallendste seine Aufmerksamkeit geweckt und sich seinem Gedächtnisse und Bewußtsein eingeprägt hat. Er konstruiert sich also das Würfelschema des Steinsalzkristalls, indem er die Bildungen, die ihm aufgefallen sind, also die gleichmäßigen Flächen und Kanten, wiederholt, bis sie eine geschlossene Figur geben. In dieser Weise vervollständigt der Geist unvollkommene gekrümmte Linien zu regelmäßigen, vollendeten Kreisen, verkümmerte Kristall-, Blumen- oder Blattbildungen zu schematischen Figuren u. s. w. Die Phantasie verhält sich den Sinneseindrücken gegenüber wie ein Kaleidoskop; sie wiederholt die an sich unregelmäßigen Erscheinungen, so daß sie eine regelmäßige Figur geben; denn Regelmäßigkeit ist ja nichts anderes als mehrmaliges Vorkommen derselben Erscheinung. Der Vorgang im Gehirn ist demnach folgender: eine Erscheinung wird durch Vermittelung der Sinne wahrgenommen und dem Gedächtnisse eingeprägt; am deutlichsten wird ein auffallender oder ein an sich nicht besonders hervorstechender, aber sich wiederholender Zug wahrgenommen und behalten, letzterer in der Weise, wie auf den GaltonschenFamilien-PhotographienDie Galtonschen Familien-Photographien werden bekanntlich in der Weise hergestellt, daß gleichgroße Photographien der verschiedenen Familien-Mitglieder während einer gleich langen Zeitdauer nacheinander vor derselben befindlichen Platte ausgesetzt werden. Die Züge, die in mehreren oder allen Einzelphotographien identisch sind, haben eine sich wiederholende, also längere Einwirkung auf die empfindliche Platte als die Züge, die weniger häufig oder nur einmal vorkommen, und treten darum auf der Gesamt-Photographie stärker hervor. So entsteht ein Durchschnitts-Bild, das die allen oder den meisten Familiengliedern eigenen Züge am deutlichsten, die nur wenigen Mitgliedern oder nur einem einzigen zukommenden dagegen um so schwächer zeigt, je weniger häufig sie sich in der Familie wiederholen. diejenigen Züge, welche sich in den verschiedenen Gesichtern wiederholen, stärker hervortreten als die, welche individuelle Eigentümlichkeiten der einzelnen Gesichter sind und nur einmal vor der empfindlichen Platte erscheinen. Wenn das Urteil sich dann die Erscheinung zum Bewußtsein bringen, sich ihrer erinnern will, so liefert das Gedächtnis sie ihm in der Form, in der es sie behalten hat; das heiß, es giebt dem Bewußtsein bloß den hervorstechenden Zug oder denjenigen, der sich wegen seiner Wiederholung besser eingeprägt hat; um aus diesen Einzelzügen nun eine vollständige, allseitig begrenzte Erscheinung machen zu können, ergänzt die Phantasie sie derart, daß sie die vom Gedächtnis gegebenen Züge vervielfältigt, und bringt so eine kaleidoskopische und damit regelmäßige Figur zustande, die das Urteil kraft seines Hanges zur Annahme einer unsinnlichen Voraussetzung der sinnlichen Erscheinung sich gewöhnt, als das Schema oder den Plan zu betrachten, welcher der betreffenden Erscheinung zu Grunde liegt.

Die dargestellten Bedingungen unserer Geistesthätigkeit machen es begreiflich, wie der Mensch zur Erfindung der Symmetrie gelangt ist. Unfähig, mit allen Teilen seines Gehirns zugleich aufmerksam zu sein, hat er von den Erscheinungen nur einzelne Züge wahrgenommen und behalten. Um sich später der Erscheinungen zu erinnern, hat er durch Vervielfachung dieser Einzelzüge die Lücken ergänzt, welche durch den Ausfall der nicht wahrgenommenen und darum auch nicht behaltenen übrigen Züge entstanden. Wenn er sie künstlich darstellte, so ahmte er nicht die wirkliche Erscheinung nach, sondern das kaleidoskopisch regelmäßige, aus Wiederholungen der wahrgenommenen Züge bestehende Bild, das er davon in seinem Bewußtsein hatte. Jedes symmetrische Menschenwerk ist also die Verwirklichung eines von der Phantasie ausgearbeiteten schematischen Erinnerungsbildes mangelhaft beobachteter natürlicher Erscheinungen. Es gehört den Anfängen menschlicher Kunstthätigkeit an. In dem Maße, in welchem der Mensch sich entwickelt, wird sein Geist größerer Aufmerksamkeit fähig; er nimmt mehr Elemente der Erscheinungen wahr; er prägt von ihnen seinem Gedächtnisse ein vollständigeres Bild ein; seine Phantasie hat weniger nötig, die fehlenden Teile durch Wiederholung der vorhandenen zu ersetzen. So sieht er die Dinge richtiger und genauer und wenn er sie künstlich darstellen will, so giebt er sie individueller und weniger schematisch wieder. Je oberflächlicher und flüchtiger die Betrachtung ist, um so symmetrischer ist die Erinnerung, die sie zurückläßt. Das ist für Einzelwesen wie für Völker und Rassen wahr. Die Symmetrie in der Kunst tritt in zurückgehenden Nationen und in Perioden des Verfalls auf. Blühende Perioden und aufstrebende Völker begnügen sich nicht mit dem Schema und der kaleidoskopischen Vervielfältigung einzelner Züge, sondern sind bestrebt, den individuellen Eigenheiten der Erscheinungen möglichst weit nachzugehen.

Derselbe Hang des menschlichen Geistes, seine unvollständigen Vorstellungen durch Wiederholung ihrer in seinem Bewußtsein vorhandenen Bestandteile zu ergänzen, führt auch zu anderen psychologischen Erscheinungen als zu denen der Symmetrie; oder um genauer zu sein, er führt zu anderen als den stofflichen Anwendungen der letztern. Die Sagen vom Kaiser Rotbart, vom portugiesischen Dom Sebastian beruhen ebenfalls auf der menschlichen Neigung zur Symmetrie. Ein Teil des Lebens dieser Helden ist dem Volke bekannt und hat sich seinem Gedächtnisse eingeprägt; den andern Teil, das Ende, hat es nicht kennen gelernt oder vergessen; um nun von dem Leben kein unabgeschlossenes Bild zu behalten, ergänzt es das Fehlende durch Wiederholung des Vorhandenen und dichtet den Geschicken der Helden eine Fortsetzung an, welche in demselben Charakter gehalten ist wie der dem Volke bekannte Anfang. Diese Sagen sind also symmetrische Bildungen; sie sind Beweise, daß der Mensch das Schematisieren der Erscheinungen nicht auf sichtbare Formen beschränkt.

Auf entwickelte und gesunde Geister wirkt die Symmetrie langweilig und unerfreulich, weil sie keinen Reiz zu regerer Geistesthätigkeit übt. Das Urteil will, so oft es eine Erscheinung wahrnimmt, ihr Bildungsgesetz komponieren, ihr ein Schema andichten; das ist zwar eine Unvollkommenheit, aber eine solche, an die das Urteil gewöhnt ist und die es nicht ohne Widerstreben aufgiebt. Die symmetrische Erscheinung läßt ihr keine derartige Arbeit übrig. An ihr ist nichts zu erraten, ihr ist nichts hinzuzudichten. Ihr Bildungsgesetz? Sie drückt es weitschweifig und pedantisch aus. Ihr Schema? Es ist mit ihr identisch und sie weicht nirgends davon ab. Da giebt es keine hervorstechenden Züge zu behalten und durch ihre Vervielfältigung ein unvollständiges Erinnerungsbild zu vervollständigen. Die symmetrische Erscheinung hat dies schon selbst für uns gethan. Sie ist die Stoff gewordene Verlegenheitsarbeit unserer Phantasie und darum für diese eine Beschämung. Aber natürlich machen dieselben Gründe, welche sie dem aufgeweckten Geiste verleiden, sie für die stumpfen und trägen Gehirne erfreulich. Wer nie eine Erscheinung mit genügender Aufmerksamkeit betrachtet hat, um alle oder doch viele Züge derselben wahrzunehmen und um zu erkennen, daß sie ganz eigenartig, nur sich selbst und keiner andern gleich sei, der findet in einem symmetrischen Menschenwerk genau das wieder, was er in der Natur hat sehen können. Seine Erinnerungsbilder sind aus Wiederholungen einzelner grober Züge gezimmert; in seinem Geiste spiegelt sich die Welt symmetrisch und schematisch ab. Es gewährt ihm eine Genugthuung, seine oberflächliche Wahrnehmung von dem symmetrischen Kunstgegenstande bestätigt zu sehen, und er empfindet diesen als ein Kompliment für seine Flüchtigkeit. Die Symmetrie wird darum immer das Schönheitsideal der Philister bleiben, die mit offenen Augen schlafen und jede Störung der dauernden Siesta ihres Gehirns verabscheuen. Wer aber kein geistiger Siebenschläfer ist, der wird das Symmetrische als eine Karikatur seiner eigenen fehlerhaften Denkgewohnheit betrachten und aus seinem Wahrnehmungsbereiche möglichst verbannen.


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