Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Psycho-Physiologie des Genies und Talents.

Den Betrachtungen, welchen dieses Kapitel gewidmet ist, muß ich eine möglichst genaue Umgrenzung der Begriffe vorausschicken, um welche jene sich drehen werden. Was ist ein Talent? Was ist ein Genie? Die Antwort auf diese Fragen besteht gewöhnlich in unbestimmtem Gefasel, in welchem Hauptwörter, die Bewunderung, und Beiwörter, die Lob ausdrücken, vorherrschen. Daran können wir es uns nicht genügen lassen. Wir wollen keine komplimentierenden Floskeln, sondern eine nüchterne Erklärung. Ich glaube nun, wir kommen der Wahrheit sehr nahe, wenn wir sagen: Ein Talent ist ein Wesen, das allgemein oder häufig geübte Thätigkeiten besser leistet als die Mehrheit derjenigen, welche sich dieselbe Fertigkeit anzueignen gesucht haben; ein Genie ist ein Mensch, der vor ihm noch nie geübte, neue Thätigkeiten erfindet oder alte Fertigkeiten nach einer ganz eigenen, rein persönlichen Methode übt. Ich definiere absichtlich das Talent als ein Wesen, das Genie dagegen als einen Menschen. Das Talent scheint mir nämlich keineswegs auf die Menschheit beschränkt. Es ist zweifellos auch im Tierreich vorhanden. Ein Pudel, den man zu verwickelteren Kunststücken abrichten kann als andere Hunde, ist ein Talent; ebenso ein Rotkehlchen oder Schwarzplättchen, das besser singt als seine Artgenossen; vielleicht selbst ein Hecht, der erfolgreicher jagt, oder ein Glühwürmchen, das heller glimmt. Ein Genie dagegen ist bloß beim Menschen denkbar, insofern es bei einem Einzelwesen auftritt. Es soll darin bestehen, daß ein Individuum, um es volkstümlich auszudrücken, neue Bahnen einschlägt, die vor ihm nie gewandelt wurden. Das thut, soweit menschliche Beobachtung es feststellen konnte, kein einzelnes Tier. Gattungen mögen es thun. Sie mögen also gemeinsam mit Genie begabt sein. Die ganze Gemeinschaft der Lebewesen thut es gewiß. Die Entwickelung der Organismen vom einzelligen Wesen bis zum Menschen beweist es. Man kann also sagen, die organische Welt ist in ihrer Gesamtheit ein Genie. Evolution und Genialität sind Synonyme und die Deszendenz-Theorie ist nichts anderes als die Erkenntnis und Verkündigung des Waltens eines Genies in der organischen Welt. Sicherlich besteht ja auch beim einzelnen Tiere eine gewisse Freiheit der Entwickelung, ein Drang zum Abweichen vom ererbten Stammestypus, denn die Veränderungen, die wir im Bau und Wesen der Arten nach langen Zeiträumen wahrnehmen, müssen sich doch in Individuen vollzogen haben. Aber bei dem einzelnen Tiere ist die Abweichung vom Alten und das Streben zum Neuen so überaus gering, daß wir es vernachlässigen müssen, weil wir es nicht wahrnehmen können. Eine Biene, die statt einer sechs- eine acht- oder viereckige Honigzelle baute, eine Schwalbe, die für ihr Nest eine neue Form fände, ein Ochse, der sich lieber töten als ins Joch spannen ließe, wäre ein Genie. Aber dergleichen hat eben die Welt noch nicht erlebt, während sie allerdings Menschen gesehen hat, die gleichwertige Abweichungen von ererbten Thätigkeiten fertig bringen gekonnt.

Zwischen dem Talent und dem Genie besteht also nicht ein quantitativer, sondern ein qualitativer Unterschied. Es entgeht mir hierbei nicht, daß man in letzter Linie dennoch jeden Unterschied auf ein Mehr oder Minder zurückführen kann, wenn man mit der Untersuchung sehr tief in das Wesen der Dinge eindringt. Es sei nur ein Beispiel angeführt. Um Professor der Geschichte zu werden, muß man ein gewisses Maß von Gedächtnis, von Willenskraft und von Urteil haben. Diese Eigenschaften geben zusammen doch nur eine erfolgreiche Mittelmäßigkeit, höchstens ein achtbares Talent. Sind sie aber in ganz außergewöhnlicher Stärke vorhanden, so kann ihr Besitzer ein großer Staatsmann, ein Beherrscher der Menschen werden, er giebt vielleicht der Weltgeschichte eine neue Wendung und man muß ihn als Genie ansprechen. Es ist wahr, der Unterschied beruht bloß auf der verschiedenen Größe derselben Eigenschaften, er ist aber ein so bedeutender, daß die beiden bloß quantitativ verschiedenen Erscheinungen den Eindruck machen, ihrem Wesen nach verschieden zu sein und in keiner Verwandtschaft zu einander zu stehen. So sind ja auch der Montblanc und ein Sandkörnchen aus Quarz bloß quantitativ von einander verschieden. Im Grunde sind sie eins und dasselbe. Das Quarzkörnchen brauchte nur genug groß zu sein, dann wäre es der Montblanc; dieser müßte nur zu einer ganz winzigen Ausdehnung zusammenschrumpfen, dann wäre er das Sandkörnchen. Dennoch finden wir, daß die bloße Größenverschiedenheit ausreicht, um aus zwei ihrem Wesen nach identischen Dingen so grundverschiedene Erscheinungen zu machen, wie es der Montblanc und das Sandkörnchen sind.

Im Kapitel über Mehrheit und Minderheit habe ich bereits zu zeigen gesucht, daß nicht jeder Organismus die Fähigkeit besitzt, auf die von außen kommenden Eindrücke mit eigenen, neuen, nicht ererbten Reaktionen des Nerven- und Muskelsystems, das heißt Gedanken und Handlungen, zu antworten. Das kann nur ein Organismus, der besonders vollkommen gebaut, an Lebenskraft besonders reich ist. Das Genie, dessen wesentliche Eigenschaft ich im Vermögen zu erkennen glaube, die Wahrnehmungen von der Außenwelt eigenartig zu verarbeiten, hat also eine höhere organische Entwickelung zur Voraussetzung. Das Klavier seines Geistes besitzt gleichsam eine Oktave mehr. Diesen größeren Umfang kann kein Fleiß, keine Übung geben. Er muß im Bau des Tonwerkzeugs begründet sein. Goethe sagt so ganz leichthin und mit der unschuldigsten Miene von der Welt: »Greift nur hinein ins volle Menschenleben!« Der »lustigen Person«, der er diesen Vers in den Mund legt, sitzt der Schalk im Nacken. Der Ausspruch klingt wie eine Naivetät und ist thatsächlich die stolze Ruhmredigkeit eines hohen Selbstbewußtseins. »Greift nur hinein ins volle Menschenleben ...« Wirklich! Das Rezept ist bewährt, aber ein Genie muß es befolgen. Der gewöhnliche und selbst der begabte Mensch weiß gar nicht, wie er es anzufangen hat, um diesen Griff zu thun, und wenn er ihn versucht, so wird er die Hand leer zurückziehen. Das macht: der Durchschnittsmensch, und ich rechne auch das Talent zu dieser Gattung, sieht die Welt gar nicht, sondern nur ihr Abbild in den Augen des Genies. Er sieht das »volle Menschenleben« nicht in wahrer Leiblichkeit, im Relief vor sich, sondern nur als Schattenspiel an der Wand, von der magischen Laterne des Genies dahin geworfen. Er mag immerhin versuchen, nach diesen bunten und beweglichen Schatten zu greifen, er wird nichts in die Hand bekommen. Die Erscheinung der Welt bildet einen Rohstoff, mit dem der Durchschnittsmensch nichts anfangen, aus dem nur das Genie etwas formen kann, das dann auch jener zu verstehen imstande ist. Wenn der Durchschnittsmensch Dinge und Ereignisse in abgeschlossenen Gruppen sieht, so ist es, weil das Genie die Gruppen gestellt hat; wenn sich ihm Welt und Leben in Form von übersichtlichen Bildern darstellen, so ist es, weil das Genie sie zusammengefaßt und eingerahmt hat. Er fühlt, urteilt und handelt, wie das Genie vor ihm zum ersten Mal gefühlt, geurteilt und gehandelt hat. An Erscheinungen, die das Genie nicht organisch verarbeitet hat, geht er vorüber, ohne sie wahrzunehmen, ohne etwas bei ihnen zu fühlen, ohne über sie zu urteilen.

Ich kann dieses Verhältnis nicht deutlicher machen als durch ein Gleichnis aus der organischen Welt. Die Stoffe, deren jedes Lebewesen zu seiner Ernährung bedarf, namentlich der Kohlen- und Stickstoff, sind überall auf Erden in ungeheurer Menge vorhanden, aber die Tiere können mit ihnen nichts anfangen, sie in der Form, in welcher die Natur sie ihnen ursprünglich bietet, nicht verwenden. In einer Atmosphäre, die mit Kohlensäure geschwängert, auf einem Boden, der an salpetersauren Salzen überreich wäre, müßte ein Tier elend zu Grunde gehen. Diese Rohstoffe zur Nahrung zu Verarbeiten vermag nur die Pflanze und unter den Pflanzen auch nur die chlorophyllhaltige. Erst wenn die Pflanze in ihrem eigenen Organismus den Kohlen- und Stickstoff verarbeitet hat, wird derselbe für das Tier zur Nahrung tauglich. Ganz so verhält es sich mit dem Genie und Nichtgenie, das Talent mitinbegriffen. Das Nichtgenie kann die Natur nicht verdauen, nicht assimilieren, nicht in Bestandteile des eigenen Bewußtseins umsetzen. Es sieht die Erscheinungen, aber es macht sich kein Bild aus ihnen; es hört, aber es begreift und deutet nicht. Das Genie dagegen hat ein Besondres in sich, gleichsam ein Chlorophyll, wodurch es befähigt wird, aus den Erscheinungen fertige Vorstellungen zu bilden, die dann auch der gewöhnliche Menschengeist in sein Bewußtsein aufnehmen kann. Darwin giebt im ersten Kapitel seiner »Reise eines Naturforschers um die Welt« ein überraschendes Bild von dem Leben auf dem ganz nackten St. Pauls-Felsen mitten im atlantischen Ozean. Zwei Vogelarten brüten da, der Tölpel und eine Seeschwalbenart, der Weißkopf. Auf den Vögeln leben aber als Schmarotzer eine Fliege, eine Zecke und eine Federmotte; von ihrem Dünger nähren sich eine Art Mistkäfer und eine Holzlaus; den Fliegen und Motten stellen zahlreiche Spinnengattungen nach und man kann hinzufügen, was Darwin nicht sagt, daß nämlich um diese höheren Tiere sicherlich eine ganze Welt von mikroskopischen Wesen, von Infusorien, Kokken und Bakterien wimmelt. Es braucht also nur ein Vogel nach St. Paul zu kommen, um die kahle Klippe sofort in eine Nährstätte für eine recht lange Reihe von Geschöpfen zu verwandeln, die ohne jenen keinen Tag lang an diesem Orte dauern könnten. Ein ganz ähnlicher Vorgang ist der der Entstehung z. B. eines Schrifttums in einem Volke. Ein Genie schafft mit den ihm allein eigenen geistigen Verdauungsorganen die sinnlichen Eindrücke in ein menschlich faßbares Kunstwerk um. Sofort giebt es einer ganzen Schar von Schmarotzerwesen die Entstehung. Zuerst kommen die Nachahmer und wandeln das erste Kunstwerk mehr oder minder geschickt ab. Das sind gleichsam die Fliegen und Zecken, welche vom Blute der Seeschwalben zehren. Dann thun sich kritische und ästhetische Schulen auf, die mit der nackten Natur gar nichts mehr zu thun haben und sich nur mit den Ergebnissen der Verdauung dieser Natur durch das Genie und seine Nachahmer abgeben. Das sind etwa die Spinnen, welche hinter den Fliegen her sind, und die Mistkäfer, die sich von den Dungstoffen nähren. Zuletzt erscheinen die Geschichtschreiber der Litteratur, die mit großer Wichtigthuerei erzählen, wie alles vor sich gegangen sei. Für diese finde ich in der Eile nicht gleich das entsprechende Lebewesen auf dem St. Pauls-Felsen, da ich sie doch nicht den Mikroben gleichachten darf. So haben wir nun schon eine große Nationallitteratur mit schöngeistigen Werken zweiten Ranges, mit ästhetischen Systemen, mit geistreichen kritischen Arbeiten, mit Litteraturgeschichten und Sonderabhandlungen über einzelne Abschnitte derselben, mit gelehrten Erläuterungen aller dieser Bücher und mit einer ganzen Zunft von Professoren, die davon leben, daß sie jahraus jahrein über sie tiefsinnige Redensarten machen, und diese ganze Bücherei nebst ihrem lebendigen Anhang von Gelehrten nimmt ihren Ausgang und ihre Daseinsberechtigung ganz allein von den Schöpfungen irgend eines naiven Genies, das weder Gelehrter noch Professor war und sein Meistermerk hervorbrachte, wie der Apfelbaum Äpfel trägt, weil es eben organisch in ihm lag, sie hervorzubringen, und alle die anderen Leutchen, die nach ihm kamen, würden, der nackten Natur gegenübergestellt, nicht einmal Bäh! zu sagen gewußt haben, ja sie wären gar nicht erschienen, ebensowenig wie die kleine Tierwelt auf dem St. Paul-Felsen ohne den Vogel, der ihr Dasein ermöglicht.

Das Genie beruht also auf einer ursprünglich höhern organischen Entwicklung, das Talent auf einer durch Fleiß und Übung erlangten vollen Ausbildung der natürlichen Anlagen, die innerhalb eines gegebenen Stammes die Mehrzahl der gesunden und normalen Individuen besitzt. Wenn ich nun aber die Behauptung aufstelle, daß das Genie eine physiologische, strukturelle Unterlage hat, so ist man berechtigt, mich zu fragen, welches das Gewebe sei, dessen reichere Entwickelung das Genie ergebe. Die Frage sieht sich einschüchternd genug an, sie wäre indes vielleicht nicht gar so schwer zu beantworten, wenn Genie oder Talent einfache Erscheinungen wären. Man könnte dann mit einer recht simpeln Methode zur Lösung der Schwierigkeit gelangen. In diesem Falle ist ein auffallend großes Gedächtnis, in jenem ein ungewöhnlicher Wille vorhanden; offenbar sind also in diesen beiden Fällen die Hirnzentren besonders ausgebildet, welche dem Gedächtnis oder dem Willen vorstehen. Welches diese Zentren sind, weiß man zur Stunde auch noch nicht genau, aber man wird sie mit der Zeit finden und manchen ist man schon auf der Spur. Auf diese Weise wäre die Zergliederung und Erklärung der geistigen Ausnahmeerscheinungen ein Kinderspiel. Ja, aber leider liegen die Dinge nicht so einfach. Genie und Talent sind höchst zusammengesetzte Erscheinungen; nur selten erklären sie sich durch das starke Hervortreten einer einzigen geistigen Grundfähigkeit, wenn auch meistens eine solche vorherrscht und durch genaue Untersuchung festgestellt werden kann; fast immer sind mehrere Grundfähigkeiten, obschon in ungleichem Maße, daran beteiligt, die Gesamterscheinung des Genies oder Talents hervorzubringen, und ihre verschiedenen Mischungsverhältnisse äußern sich in so verschiedenen Endergebnissen, daß es oft überaus schwer ist, aus diesen auf ihre organischen Ursachen zu schließen. Die ganze Kunst der psychologischen Analyse des Genies wie des Talents wird also darin bestehen, das, was sich wie ein einheitliches Ganzes ansieht, in seine einfachen Grundbestandteils zu zerlegen und diese bis zu ihrer Quelle im Organismus zurückzuverfolgen.

Jeder Gebildete weiß heute, daß unser Zentral-Nervensystem, also das Groß- und Kleinhirn, das verlängerte Mark, das Rückenmark, die Sinnes- und Bewegungsnerven, kein einheitliches Organ mit einfacher Verrichtung wie etwa das Herz oder die Niere, sondern eine Zusammenfassung zahlreicher Organe ist, die zwar ihrer Beschaffenheit nach verwandt sind, jedoch ganz verschiedenen Verrichtungen vorstehen. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Verdauungs-System. Der ganze Zug der Eingeweide von der Aufnahms- bis zur Ausscheidungs-Pforte mit allen ihren Anhängseln bildet einen einzigen Apparat, dessen Teile sämtlich miteinander auf den Zweck hinarbeiten, die eingeführten Nahrungsstoffe durch zweckmäßige mechanische und chemische Veränderung derselben zum Aufbau und zur Erhaltung des Organismus tauglich zu machen. Aber wie verschieden sind die einzelnen Bestandteile dieses großen Apparats? Die Mundspeicheldrüsen haben mit dem Pancreas und der Leber nichts gemein; der Magen ist anders eingerichtet als der Dünndarm; die Pepsindrüsen unterscheiden sich in jeder Hinsicht von den Darmzotten. Hier wird ein Saft ausgeschieden, der Stärkemehl in Zucker verwandelt, dort ein solcher, der unlösliches Eiweiß löslich macht. Dieses Gewebe beschäftigt sich bloß mit der Fortbewegung der Nahrungsmasse, jenes hat ihr im Gegenteile zeitweilig den Weg zu versperren und sie zum Verweilen zu zwingen, noch ein anderes besorgt ausschließlich die Aussaugung. Ebenso erfüllt zwar das Zentral-Nervensystem in seiner Gänze die große Gesamtaufgabe, zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, minder philosophisch gesprochen zwischen der Außenwelt und dem Individuum, Beziehungen zu vermitteln, Eindrücke in Bewußtsein umzuwandeln und das Bewußtsein auf die Welt zurückwirken zu lassen, aber diese Arbeit zerfällt in zahlreiche einander sehr unähnliche Einzel-Leistungen, die von ganz verschiedenen Teilen des Gehirns und Rückenmarks geliefert werden. Ich will dies an einem einzigen Beispiele verdeutlichen. Nehmen wir das Sehen. Wer diesem Gegenstande als völliger Laie gegenübersteht, der denkt wohl, es sei etwas ganz Einfaches, ein Zeitungsblatt zu nehmen und zu lesen, was darin steht. Daß man dies nicht können wird, wenn man blind ist, das leuchtet ihm sofort ein. Dagegen wird er vielleicht sehr erstaunt sein, wenn man ihm sagt, daß ein sehendes Auge nicht genügt, um die Handlung des Lesens zu vollziehen, daß dazu die Mitwirkung einer Reihe anderer Organe nötig ist, die im Gehirn ihren Platz haben, und daß das Lesen nicht möglich ist, wenn auch nur ein einziges dieser Organe nicht ordentlich arbeitet. Der Augapfel stellt eine Vorrichtung nach Art der Dunkelkammer dar, auf deren Hinterwand ein verkleinertes und möglichst scharfes Bild der Außenwelt fällt. Diesen Hintergrund bildet eine Ausbreitung des Sehnervs, durch den der empfangene Eindruck, das heißt das auf den Augenhintergrund gefallene Bild, ins Gehirn geleitet wird. Empfunden wird der Eindruck an einer Stelle des Gehirns, die sehr wahrscheinlich im hintern Teil der sogenannten innern Kapsel liegt. Die Deutung des Eindrucks endlich findet an einer andern Stelle statt, die man nach den Forschungen Kutzmauls, Westphals und anderer ziemlich bestimmt in den linken untern Seitenlappen des Gehirns verlegen kann. Das Auge spiegelt also die Außenwelt wieder; das Spiegelbild wird vom Sehnerv zur innern Kapsel geleitet; die innere Kapsel verwandelt das Spiegelbild in eine Sinnesempfindung, diese wird an die graue Hirnrinde weitergegeben und von ihr in eine bewußte Vorstellung verarbeitet. Ist das Auge leistungsunfähig, so spiegelt sich die Außenwelt an keiner nützlichen Stelle ab und die Verbindung zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich ist auf diesem Wege, dem des Gesichtssinns, völlig aufgehoben. Ist der Sehnerv krank, so spiegelt sich zwar die Welt an der richtigen Stelle ab, allein das Bild gelangt nicht dorthin, wo es erst empfunden wird. Ist der hintere Teil der innern Kapsel nicht in Ordnung, so gelangt das Bild wohl ins Gehirn, aber es ist dort sozusagen niemand, der es in Empfang nimmt; es ist, wie wenn eine telegraphische Leitung bestände, im Telegraphenamt jedoch der Empfangsapparat fehlte. Das Bild wird dann nicht empfunden. Ist endlich die Hirnrinde am untern linken Seitenlappen desorganisiert, so wird das Bild zwar empfunden, aber nicht verstanden, nicht gedeutet. Man sieht, aber man weiß nicht, was man sieht. Es ist, um beim Gleichnis mit dem Telegraphen zu bleiben, als wäre der Empfangsapparat da und die Depesche würde im Amte empfangen, sie könnte aber dem Adressaten nicht zugestellt werden. So ist jede einzelne Geistesthätigkeit, jeder Willensakt, jedes Gefühl, jede Vorstellung, und wenn sie sich noch so einfach und einheitlich ansieht, in Wirklichkeit etwas sehr zusammengesetztes, an dessen Zustandekommen zahlreiche wesentlich verschiedene Teile, das heißt Organe, des Zentral-Nervensystems einen Anteil haben.

Diese einzelnen innerhalb des Rückenmarks und Gehirns gelegenen Organe werden Zentren genannt und man hat sie in ein Rangverhältnis zueinander gebracht. Man spricht von niedern und höheren Zentren. Ihren Platz auf der Stufenleiter der Würde bestimmt natürlich die Verrichtung, die sie zu besorgen haben. Man ist aber bei der Schätzung des Werts dieser Verrichtungen nicht etwa von ihrer Wichtigkeit für die Erhaltung des Lebens, sondern von ihrem Anteil am Zustandebringen des spezifisch menschlichen Wesens ausgegangen. Es giebt Fähigkeiten, die der Mensch ganz allein besitzt; z. B. das Vermögen der Abstraktion oder die Sprache; andere, die er mit den Tieren teilt; z. B. das Gedächtnis, den Willen; noch andere, die er mit allen Lebewesen gemein hat; z. B. die Ernährung, die Fortpflanzung. (Wohlverstanden: selbst die menschlichste aller Fähigkeiten, also gerade die als Beispiel angeführte Abstraktion oder Sprache, ist nicht etwa in dem Sinne ausschließlich menschlich, daß sie beim Menschen voll entwickelt auftritt, bei den unter ihm stehenden Tieren aber auch nicht durch eine Spur angedeutet ist; nach den Arbeiten Romanes', des englischen Tierpsychologen, ist es vielmehr kaum zweifelhaft, daß das menschliche Geistesleben nur eine höhere Ausbildung des tierischen Geisteslebens ist und daß die Natur auch hier wie überall nur ununterbrochene Entwickelungslinien, keine Sprünge und Risse kennt. Die weitere Ausführung dieses Gegenstandes gehört aber nicht hierher.) Die Würde einer Verrichtung, folglich auch des ihr vorstehenden Zentrums, steht nun in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer Verbreitung in der organischen Welt und zu ihrer Wichtigkeit für die Erhaltung des Lebens. Ohne die gröberen und feineren Ernährungsvorgänge, also ohne Verdauung, Atmung und Blutumlauf, könnte der Organismus keinen Augenblick lang bestehen; allein die Verdauungszentren in den Ganglien des sogenannten Sympathikus, die Zentren für die Brustmuskel und Herzthätigkeit im verlängerten Mark sind die allerniedrigsten. Die Bewegungen der Gliedmaßen, namentlich aber die richtige Kombination dieser Bewegungen, die erst das Gehen, das Greifen u. s. w. möglich macht, sind wohl noch sehr wichtig für das Individuum, aber man kann doch ohne sie leben; die Zentren der Muskelbewegungen und ihrer richtigen Zusammenstimmung (Koordination ist der Fachausdruck) im Rückenmark und wahrscheinlich in den Hirnschenkeln, vielleicht auch im Kleinhirn, sind aber schon höhere. Gedächtnis, Urteil, Einbildungskraft endlich sind für den Organismus überhaupt keine Lebensnotwendigkeit, sondern ein erfreulicher Luxus; das Individuum kann ohne sie sehr gut jahre-, selbst jahrzehntelang fortbestehen; ihre Zentren in der grauen Hirnrinde aber sind die höchsten. Diese Rangordnung ist durchaus nicht willkürlich, sondern wohlbegründet. Je allgemeiner und notwendiger eine Verrichtung ist, um so einfacher und gröber ist das Werkzeug dazu; in dem Maße, in welchem die Verrichtung eigenartiger und differenzierter wird, muß auch das Werkzeug feiner, verwickelter und darum heikler werden. Ein Pflug ist eine größere Notwendigkeit und wird von mehr Menschen benutzt als eine Taschenuhr, diese ist notwendiger und verbreiteter als ein Präzisionsinstrument zur genauen Vergleichung eines Meterstabs mit dem Pariser Ur-Meter. Der Pflug ist aber viel gröber und einfacher als die Taschenuhr und diese ist viel gröber und einfacher als das Präzisionsinstrument. Einen Pflug zu zerstören ist nicht leicht; eine Taschenuhr will schon etwas zarter behandelt werden, widersteht aber noch manchem Puff; das Präzisionsinstrument wird schon von der Erschütterung des Bodens durch einen in der Ferne vorüberfahrenden Wagen in Unordnung gebracht. Mit den Nervenzentren verhält es sich nicht anders. Je eigenartiger, je besonderer und ausschließlicher die von ihnen verlangte Arbeit ist, um so verwickelter, seiner und darum auch heikler sind sie. Die Ernährung ist eine vergleichsweise grobe Thätigkeit. Streng genommen würde man dazu gar keiner besonderen Organe bedürfen, wie man ja auch zum Beispiel eine Furche ohne Pflug, mit einem Stocke oder Steine oder selbst mit der bloßen Hand graben könnte, nur nicht so leicht und bequem. Jedes allereinfachste Klümpchen Protoplasma hat das Vermögen, sich im weitesten Sinne, durch Aufnahme von festen, flüssigen und gasartigen Stoffen, zu ernähren, also zu verdauen und zu atmen. Wenn wir zu diesem Geschäfte höchst zusammengesetzter Werkzeuge, wie des Blutumlaufs-, Atmungs- und Verdauungs-Systems, bedürfen, so ist es, weil unser Organismus auch verwickeltere Leistungen zu besorgen hat als ein Protoplasma-Klümpchen und auf die Arbeitsteilung angewiesen ist, wie denn auch z. B. ein Staatsminister nicht Zeit hat, sich selbst sein Mittagmahl zu kochen und seine Kleider zu flicken, was dagegen der neapolitanische Lazzarone ganz gut besorgen kann. Immerhin ist auch in unserem zusammengesetzten und mit sehr weitgehender Arbeitsteilung schaffenden Organismus die Ernährung ein niedriges und einfaches Geschäft und die ihr vorstehenden Zentren sind so grob, daß sie zerstörenden Einflüssen am längsten widerstehen und thatsächlich am letzten sterben. Auch die Bewegungszentren sind noch ziemlich niedrig und darum entsprechend widerstandskräftig. Es wird von diesen Zentren, die sich im Rückenmark befinden, nur ganz wenig verlangt. Wenn die Empfindungsnerven ihnen die Wahrnehmung zutragen, daß auf den Leib irgendwo eine fremde Kraft einwirkt, möge sich diese in Form einer einfachen Berührung oder eines Schmerzes kundgeben, so haben sie bestimmte Muskelgruppen zu einer Zusammenziehung zu veranlassen, andere an einer solchen zu verhindern und auf diese Weise eine zweckmäßige Bewegung zustande zu bringen, welche den Leib aus dem Bereiche der fremden Kraft entfernt. Man nennt das eine Reflexbewegung. Sie erfolgt ohne Befehl, ja ohne Kenntnis des Bewußtseins. Ein Frosch, dem das Gehirn ausgeschnitten ist, kann sie vollziehen. Die Bewegungszentren sind recht beschränkt, um nicht zu sagen dumm. Sie können die veranlassende Ursache der ihnen zugetragenen Wahrnehmungen nicht unterscheiden. Sie können auf die äußeren Anregungen nur mit den einfachsten Bewegungs-Maßregeln antworten. Wenn der Leib ohne Gefahr der fremden Kraft ausgesetzt bleiben kann, so muß ein höheres Zentrum ihnen befehlen, sich ruhig zu verhalten. Wenn es umgekehrt mit dem einfachen Wegrücken nicht genug ist, wenn der Leib etwa laufen oder springen soll, um sich einer äußern Einwirkung zu entziehen, so muß ihnen wieder ein höheres Zentrum befehlen, die richtigen Muskelgruppen in Bewegung zu setzen, deren Zusammenziehung das Laufen oder Springen giebt. Die Hirnzentren endlich, die den Willen und das Bewußtsein mit seinem ganzen Inhalt erzeugen, sind die höchsten, denn ihre Thätigkeit ist die mannigfaltigste und zusammengesetzteste, sie ist eine am ausschließlichsten menschliche und bedarf, wenn sie richtig besorgt werden soll, eines so genauen Ineinandergreifens so vieler seiner Bestandteile, daß schon sehr kleine Einflüsse den überempfindlichen Apparat stören, wie ja auch schon sehr kleine Einwirkungen ihn in Thätigkeit versetzen. Je höher ein Zentrum ist, um so später entwickelt es sich zur Reife, um so länger arbeitet der Organismus daran, es fertig zu machen, um so früher nützt es sich ab. Die Rangordnung der Zentren ist also keine willkürliche, sie ist nicht nach individuellen Anschauungen von der größern oder geringern Wichtigkeit ihrer Leistungen festgestellt, sondern von der Natur selbst gegeben. Ein Feinschmecker würde vergebens sagen: »Meinung gegen Meinung; ich stelle das Ernährungszentrum höher als das Gedächtnis- oder Urteilszentrum.« Man müßte ihm darauf erwidern, daß seine persönlichen Neigungen ihn zu einem Irrtum verleiten, das Ernährungszentrum könne nicht das höhere sein, denn es sei durch das ganze Tierreich verbreitet, erscheine im ersten Augenblicke des individuellen Lebens, dauere bis zum äußersten Verfalle des Organismus und liefere eine stets gleichförmige, niemals individuell modifizierte Arbeit, während das Gedächtnis- und Urteils-Zentrum erst bei den höheren Tieren auftreten, im individuellen Leben erst auf einer gewissen Höhe der Entwickelung erscheinen, in der Regel vor dem natürlichen Tode des Organismus stumpf und untüchtig werden und eine Arbeit liefern, die allen Änderungen der äußeren Verhältnisse folgen können muß.

Die übrigens schon von Virchow vorgeahnte neue, darwinistische Biologie faßt selbst den höchsten Tierorganismus, den menschlichen, nur als eine Kolonie einfacher Lebewesen mit weitgehender Arbeitsteilung und durch sie bedingter Veränderung der einzelnen Bürger dieser Kolonie auf. Ursprünglich ist jede Zelle, aus der wir bestehen, ein Organismus für sich, der alles kann, was zu können einem Organismus, der bestehen will, notthut; die Zelle kann sich also ernähren, auf die einfachste Weise durch Teilung fortpflanzen und durch Zusammenziehung ihres Protoplasmas bewegen. Indem ihrer aber ungezählte Millionen zusammentreten, um einen Tier- oder Menschen-Organismus zu bilden, teilen sie sich in diese verschiedenen Beschäftigungen, jede kann nur noch eine bestimmte Arbeit besorgen, verlernt die übrigen und müßte zu Grunde gehen, wenn die anderen Zellen nicht für sie thäten, was sie nicht mehr zu thun vermag. Das rote Blutkügelchen kann Sauerstoff aufnehmen und allen Geweben zutragen, aber sich nicht mehr bewegen und fortpflanzen. Die Muskelfaser kann sich bewegen und die übrigen Gebilde des Leibes mit sich schleppen, aber sie könnte keine unvorbereiteten Nahrungsstoffe aus der Natur an sich ziehen und sich nicht vermehren u. s. w.

Bei aller ursprünglichen Gleichheit sämtlicher Bestandteile, oder, um bei dem frühern Ausdrucke zu bleiben, sämtlicher Bürger der Kolonie, hat sich jedoch in dieser ein sehr strenges Rangsystem ausgebildet. Der Organismus ist eine zusammengesetzte Gesellschaft mit Proletariern, Bürgern und herrschenden Klassen. Er schließt Elemente in sich, welche die verschiedensten Entwickelungsstufen tierischen Lebens vertreten. Blutkörperchen und Lymphzellen stehen nicht höher als Bakterien, mit denen sie sich ja oft zu schlagen haben, von denen sie sogar manchmal besiegt werden, wenn sie sich auch in der Regel als die stärkeren erweisen. Das Rückenmark steht nicht höher als etwa das eines Frosches, das Empfindungszentrum nicht höher als das eines Menschen der niedersten Race, etwa eines Buschmanns, erst die vornehmsten Zentren des Denkens und Urteilens erheben den vagen Organismus über alle anderen Lebewesen und machen denselben nicht zu einem Lebewesen überhaupt, nicht zu einem Wirbeltiere, nicht zu einem Menschen im allgemeinen, sondern zu einem bestimmten Menschen, zu einem Individuum, das sich von allen anderen unterscheidet und über alle anderen hervorragt, wenn jene Zentren besonders entwickelt sind.

Die Hierarchie innerhalb des Organismus schließt übrigens eine gewisse Selbständigkeit der einzelnen Klassen dennoch nicht aus. Ich möchte sagen: es herrscht zwischen ihnen ein beständiger Kampf demokratischer und aristokratischer Grundsätze. Die niedrigen Zentren lassen sich von den höheren nicht gern befehlen, die höheren streben vergebens, sich der Tyrannei der niederen zu entziehen. Die Hirnzentren können die Ernährungszentren nicht verhindern, ihre Arbeit zu verrichten, sie können sie nicht bestimmen, die Arbeit so oder so, rascher oder langsamer zu verrichten; die Leistungen der Blutkörperchen, der Lymphdrüsen u. s. w. entziehen sich vollständig der Einwirkung des Bewußtseins und Willens; nur indirekt vermögen die Hirnzentren den Beweis zu liefern, daß sie denn doch die mächtigeren sind; es liegt in ihrer Gewalt, den niederen Zentren die Bedingungen vorzuenthalten, unter denen allein sie ihre Thätigkeit ausüben können, indem sie z. B. die Einführung von Nahrung in den Magen, von Luft in die Lunge verhindern und es dadurch den Verdauungsdrüsen und Blutkügelchen unmöglich machen, ihre Arbeit zu thun. Umgekehrt halten die niederen Zentren auch die höheren in einer starken Abhängigkeit, denn die letzteren können ihr Bestes nur dann leisten, wenn die ersteren ihre Pflicht regelrecht und vollständig erfüllen.

Demokratische Tendenzen herrschen nicht nur in den niederen Klassen der Kolonie, welche den Organismus bildet; auch deren ganzes Staatsrecht ist ein demokratisches oder doch wenigstens kein monarchisches. Wir haben nicht ein einziges Zentrum, welches mit Allgewalt wie ein absoluter König alle Zentren des Organismus regiert, sondern mehrere, die einander vollständig gleichgeordnet sind und in der organischen Kolonie ganz dieselbe Würde bekleiden. Wenigstens drei dieser Zentren können den Anspruch erheben, als das Triumvirat angesehen zu werden, das im Organismus Herrscherbefugnisse übt; es sind das die Zentren des Bewußtseins, des Gedächtnisses und des Willens. (Eigentlich ist es eine bloße Annahme von mir, daß diese drei Thätigkeiten bestimmte Zentren haben; bewiesen ist es bis jetzt nicht und es wäre möglich, daß eine noch tiefere Untersuchung die Erkenntnis zum Ergebnis hätte, Bewußtsein, Gedächtnis und Wille seien nicht einfach, sondern zusammengesetzt und auf letzte Grundbestandteile zurückführbar.) Sie beeinflussen einander, sind aber von einander unabhängig. Damit ihre Thätigkeit eine dem Organismus förderliche und nützliche sei, müssen sie zusammenstimmen; doch fehlt diese Harmonie manchmal in Fällen von Hirnkrankheiten und selbst bei anscheinend voller geistiger Gesundheit. Man verliert manchmal das Gedächtnis, bewahrt aber das Bewußtsein. Ebenso kann man bei erhaltenem Bewußtsein den Willen verlieren. Willen und Gedächtnis bestehen andererseits bei fehlendem Bewußtsein, z. B. im Nachtwandeln oder in manchen Formen des Hypnotismus. Und auch wenn alle drei Zentren normal arbeiten, gehen sie gewöhnlich dennoch ihre eigenen Wege, die ja gleichlaufend fein können, es aber durchaus nicht immer sind. Wir wissen, daß das Gedächtnis vom Willen ganz unabhängig ist. Es bringt uns Vorstellungen ins Bewußtsein, die mir nicht gesucht und verlangt haben, und enthält uns hartnäckig andere vor, an die wir uns mit größter Anstrengung zu erinnern suchen. Ebenso ist der Wille vom Bewußtsein und dessen ganzem Inhalt unabhängig. Wir haben gut uns mit dem Aufgebot aller Kräfte unseres Urteils zu überreden, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, wir thun sie dennoch nicht. Das Bewußtsein ist voll überzeugt, der Wille aber kehrt sich nicht daran. Oder wir beweisen uns selbst mit den unwiderleglichsten Gründen, daß mir eine bestimmte Handlung unterlassen müssen. Der Wille hört zu, läßt reden und thut schließlich doch das, wogegen sich das Bewußtsein auflehnt. Die höchsten Zentren stehen also selbständig nebeneinander, vertragen sich einmal, stoßen ein andermal feindlich auseinander und ringen eigentlich während des ganzen Lebens um den vorwiegenden Einfluß im Organismus.

Wir haben schon früher, im Kapitel »Mehrheit und Minderheit«, gesehen, daß die höchsten Zentren nur bei sehr reicher und vollkommener Entwickelung imstande sind, neue Kombinationen herzustellen, das heißt auf die äußeren Eindrücke mit solchen Gedanken und Handlungen zu antworten, die bis dahin nicht üblich waren und für die es überhaupt noch kein Beispiel giebt, während dieselben Zentren bei nicht ganz so hoher Entwickelung nur in herkömmlicher und ererbter Weise arbeiten, das heißt genau so schaffen, wie sie selbst bei ähnlichen Anlässen früher geschafft haben und wie vor ihnen von den Eltern geschafft worden ist. Jede Thätigkeit, die man wiederholt übt, wird organisiert; das heißt das Verhältnis, in welches die Nervenzellen und Nervenfäden zu einander treten müssen, um diese Thätigkeit hervorzubringen, wird zu einem festen und starren und die letztere geht automatisch vor sich. Trotz allem, was Herbert Spencer gegen die Heranziehung von Vergleichen und Bildern zur Erklärung psychologischer Vorgänge sagen mag, bleibt dieselbe doch ein gutes Mittel, um den so überaus schwierigen Gegenstand auch Laien klar zu machen. Ich zögere also nicht, zur Erklärung dessen, was unter nicht organisierter und organisierter Thätigkeit der Hirnzentren verstanden wird, ein grobes und darum anschauliches Beispiel anzuführen. Die organisierte Thätigkeit verhält sich zur nicht organisierten wie das Spiel einer Musikdose zu dem eines Künstlers. Das Stück, für welches die Musikdose gebaut ist, spielt sie richtig durch, wenn man sie aufzieht; ein anderes als dieses Stück kann sie aber natürlich nicht spielen. Der Künstler dagegen wird jedes Stück spielen, dessen Noten man ihm vorlegt, und bei einem höhern Grade der Begabung wird er auch Stücke neu erfinden und nicht bloß aus fremden Noten heraus spielen können. Bei der Durchschnittsmenge sind die Hirnzentren wie die mechanischen Musikwerke; sie spielen nur die Stücke, die in sie hineingebaut, die in ihnen organisiert sind. Wer war der Mechaniker, der ihr Spielwerk auf die bestimmten Musikstücke eingerichtet hat? Das war die Reihe der Vorfahren, welche diese Musikstücke immer in derselben Weise so lange gespielt haben, bis das anfangs von frei spielenden Fingern zum Tönen gebrachte Instrument automatisch wurde. Bei den Ausnahmemenschen dagegen sind die Hirnzentren wie die Künstler; sie können Stücke spielen, die man früher nicht gehört hat; ihr Repertoir besteht nicht aus ein paar Stücken, die immer wieder heruntergeleiert werden, sondern wechselt fortwährend und ohne Zahlbeschränkung. Es bleibt eine letzte Frage: weshalb werden häufig geübte Thätigkeiten organisiert? Oder, um beim gewählten Beispiele zu bleiben: weshalb wird ein wiederholt frei gespieltes Stück schließlich auf die Musikwalze aufgesetzt? Meine Antwort kann nur eine Hypothese sein, die aber mit allem übereinstimmt, was wir von den Gesetzen der Natur wissen: das geschieht durch die Wirkung des allgemeinen Gesetzes, daß in der Natur alles mit dem möglich geringsten Kraftaufwands gethan wird. Wenn der Wille oder das Bewußtsein neue Kombinationen zu veranstalten haben, so erfordert das eine große Ausgabe an Nervenkraft. Jedes Tempo der Arbeit muß kommandiert und beaufsichtigt werden. Diese Ausgabe wird nun erspart, wenn es möglich ist, häufig vorkommende Tätigkeiten automatisch zu verrichten. Dann genügt ein einmaliger Impuls, den ein bloßer Sinneseindruck oder ein Befehl des Willens oder Bewußtseins geben kann, um die Mechanik in Bewegung zu setzen, und die Arbeit wird von Anfang bis Ende gethan, ohne daß die höchsten Zentren achtzugeben, einzugreifen und Einzelbefehle zu erteilen haben. Das ist wohl der Grund, weshalb häufig geübte Thätigkeiten nicht mehr von den höchsten Zentren frei verrichtet werden, sondern automatisch, das heißt organisch, vor sich gehen. Diese Tendenz der Arbeit- und Kraftersparung durch möglichst weitgehende Umwandlung freier in automatische Thätigkeit ist eine so starke, daß sie sich nicht bloß in der Gattung, sondern auch im Individuum fortwährend zur Geltung drängt. Es bedarf keiner langen Reihe von Geschlechtsfolgen, um eine Verrichtung in den sie leistenden Zentren zu organisieren; das geschieht in ganz kurzer Zeit, in viel weniger als einem einzigen Menschenleben. Selbst der mächtigste, also nach meiner früheren Auseinandersetzung originellste Organismus sieht seine Eigenartigkeit automatisch werden und wenn er den anderen Organismen gegenüber noch immer originell ist, so ist er es sich gegenüber nicht mehr. Er wird gleichsam zur Spieldose, welche die eigenen Tondichtungen mechanisch spielt. So erklärt es sich, daß das persönlichste Genie zuletzt manieriert wird und der brave Schuster hatte so unrecht nicht, als er vor einem schönen Bilde die Bemerkung machte, daß wohl viel Gewohnheit dazu gehöre, dergleichen hervorzubringen.

Die automatischen Verrichtungen der höchsten Zentren kommen uns nicht in der Form von Gedanken, sondern in der von Emotionen zum Bewußtsein. Nur diejenigen Thätigkeiten, die vom Anfang bis zum Ende im Bewußtsein vor sich gehen, das heißt die mit einem Sinneseindruck beginnen, sich in eine Wahrnehmung verwandeln, eine Deutung auf ihre Ursache erfahren, im Gedächtnis untergebracht werden und zu einem Urteil führen, dessen Vollstreckung dem Willen ausdrücklich aufgetragen wird, nur diese Thätigkeiten werden vom denkenden Ich als klare, scharf umrissene Gedanken empfunden. Diejenigen Thätigkeiten dagegen, die ohne direkte Dazwischenkunft des Bewußtseins vor sich gehen, die also darin bestehen, daß ein Zentrum auf eine Anregung hin maschinenmäßig einen Cyklus organisierter Handlungen durchläuft, wie eine Musikdose ihr Stück abspielt, diese Thätigkeiten werden nur als unklare, verschwommene Gemütsbewegungen, oder, um bei dem fremden, aber genau umschriebenen Fachausdrucke zu bleiben, als Emotionen empfunden. An dieser Unterscheidung ist sehr strenge festzuhalten. Sie bildet die Voraussetzung all dessen, was ich in diesem Kapitel noch zu sagen habe, und ich werde in den folgenden Abschnitten dieses Buches von ihr noch manches ableiten. Man vergesse nur nie, daß das, was wir das Bewußtsein nennen, nicht den ganzen Organismus, sondern nur ein Organ desselben, ein Hirnzentrum umfaßt, daß es mit einem Worte nicht das Bewußtsein, sondern ein Bewußtsein ist. Jedes Zentrum hat sein eigenes Bewußtsein, von dem aber das höchste Zentrum, dasjenige, welches die Grundlage unseres denkenden Ichs, unserer geistigen Persönlichkeit ist, keine oder nur dunkle Kunde erhält. Von den Vorgängen in den Zentren des Rückenmarks und des sympathischen Systems erfährt unser Ich, das heißt das höchste Hirnzentrum, nichts oder nichts Genaues. Und doch ist es zweifellos, daß jene Zentren auch ihr Bewußtsein, allerdings ein enges und untergeordnetes, haben, daß sie in jedem Falle wissen, mit welcher Thätigkeit, mit welchen Befehlen an die ihnen unterstehenden Gewebe, sie auf Anregungen antworten fallen. Man muß sich das Bewußtsein als ein inneres Auge vorstellen, welches durch eine Art Mikroskop auf die Zentren und deren Thätigkeit blickt. Das Sehfeld dieses Mikroskops ist ein verhältnismäßig kleines; was außerhalb desselben liegt, sieht das beobachtende Auge natürlich nicht; ebensowenig die Ursprünge und Enden von Bildern, die über das enge Sehfeld hinausragen. Letzte Ergebnisse der Thätigkeit anderer Zentren nimmt das Bewußtsein wahr; ihre Anfänge und Entwickelung nicht. Wenn das Gedächtnis eine Vorstellung ins Sehfeld des Bewußtseins rückt, so sieht dieses sie; wie diese Vorstellung aber herbeigeschafft wurde und wohin sie gleitet, das sieht das Bewußtsein nicht. Ebenso verhält es sich mit dem Willen. Die Wirkung einer Thätigkeit des Willenszentrums, nämlich eine zweckentsprechende, zusammengesetzte Muskelbewegung oder Reihe von Bewegungen, sieht das Bewußtsein. Wie aber der Innervations-Impuls, das heißt die Kraft, welche durch die Nervenbahnen die Muskeln zur Zusammenziehung anregt, entsteht, das erfährt das Bewußtsein nicht. Die Art, wie das Bewußtsein die eigene Thätigkeit und die der anderen Zentren, soweit sie in seinem engen Sehfelde erscheinen, empfindet, ist eine völlig verschiedene. Die eigenen Handlungen, die es beginnt und beendigt, deren alle Teile es selbst bereitet, lassen in ihm keine Unsicherheit und kein Unbefriedigtsein zurück. Es sind eben, wie oben gesagt, Gedanken, also Helligkeiten; die nur unvollkommen wahrgenommenen Handlungen der anderen Zentren dagegen, auf die es keinen direkten Einfluß hat, deren einzelne Abschnitte es nicht sicher unterscheidet, deren Anfang, Entwickelung und Ende ihm entgehen, erwecken im Bewußtsein eine Art Unbehagen und Spannung, ich möchte sagen eine Sehanstrengung, das Gefühl, das ein Auge hat, welches etwas Entferntes, Kleines oder schwach Beleuchtetes genau sehen möchte und nicht kann; es ist eine Erkenntnis der eigenen Grenze, eine Erkenntnis von Schwäche und Unvollkommenheit, eine Neugierde und Unruhe und ein Drang des Mehrwissens. Diese Empfindung ist eben die Emotion, die uns nur als Ahnung, Sehnsucht, unbestimmte Erregung und verschwommen begrenzter Wunsch zum Bewußtsein kommt. Die scharfe und klare Gedankenarbeit, diese Thätigkeit des höchsten Bewußtsein-Zentrums, die ich der Kürze halber im Gegensatze zur Emotion Kogitation nennen will, wird von den vollkommener ausgerüsteten Individuen geleistet, welche die Fähigkeit besitzen, neue Kombinationen herzustellen. Die Durchschnittsmenge, deren Zentren automatisch arbeiten, die also nur organisierte Kombinationen enthalten, bleibt auf die Emotion beschränkt. Weitaus die meisten Menschen haben während ihres ganzen Lebens nie einen klaren, vollbeleuchteten Gedanken im Bewußtsein; dieses bekommt bei ihnen nie andere als halbdunkle, verschwommene Bilder zu sehen; sie wären nicht imstande, in einem gegebenen Augenblicke deutlich auszusprechen, was in ihrem Geiste vorgeht; jeder Versuch dieser Art würde alsbald in unbestimmtes Gefasel und nichtssagende Gemeinplätze ohne Relief auslaufen; sie leben ausschließlich von Emotionen. Die Emotion ist also das Ererbte, die Kogitation das Erworbene. Die Emotion ist Gattungsthätigkeit, die Kogitation Thätigkeit des Einzelwesens.

Die Emotion ist trotz ihrer Verschwommenheit, trotzdem sie das Bewußtsein unbefriedigt läßt, ja beunruhigt, subjektiv angenehmer als die Kogitation, und zwar aus drei Gründen. Erstens ist sie leichter, das heißt sie kommt mit geringerem Aufwande an Nervenkraft zustande, da eben automatische Arbeit der Zentren bequemer ist als bewußte und freie, Bequemlichkeit aber als Annehmlichkeit, Anstrengung als Mühsal oder Schmerz empfunden wird. Zweitens schließt gerade das Unvermögen des Bewußtseins, in den Vorgängen innerhalb der automatisch arbeitenden Zentren, also in den Emotionen, klar zu sehen, neben einem Elemente der Beängstigung auch ein Element des Reizes und der Anregung in sich; das Bewußtsein sucht zu erraten, was es nicht weiß, es sucht auszugestalten, was es nicht deutlich sehen kann; diese Thätigkeit des Bewußtseins ist nichts anderes als die Phantasie, die also durch die Emotion angeregt wird; die Phantasie aber ist erfahrungsgemäß eine angenehme Thätigkeit des Bewußtseins. Drittens – und dieses Argument findet sich schon bei Darwin – sind natürlich die wichtigsten Thätigkeiten des Organismus auch die am häufigsten geübten; es werden also in der Regel die infolge ihrer häufigen Wiederholung automatisch gewordenen, organisierten Verrichtungen auch für die Erhaltung des Einzelwesens und der Gattung die wichtigsten sein; da diese Verrichtungen nur in der Form von Emotionen zum Bewußtsein gelangen, so wird der Organismus den Emotionen als dem Ausdruck der für ihn wesentlichsten und bedeutungsvollsten organischen Thätigkeiten die größte Bedeutung beimessen, das heißt subjektiv gesprochen, sie am tiefsten und mächtigsten empfinden. Von der Kogitation gilt das Gegenteil dieser drei Argumente. Sie kann nicht als angenehmer empfunden werden, weil sie erstens dem Durchschnitts-Organismus zu schwer und unbequem ist, weil sie zweitens das erfreuliche Spiel des Bewußtseins, das man Phantasie nennt, nicht anregt, weil sie drittens dem Organismus auf den ersten Blick nicht wichtig und wesentlich erscheint, denn er hat erfahrungsgemäß bis dahin ohne sie bestanden und sie wird ihre Wichtigkeit oder Nützlichkeit erst zu erweisen haben, indem sie, einmal mit Vorteil für den Organismus geübt, häufig sich zu wiederholen Gelegenheit findet; in diesem Falle aber wird sie rasch organisiert sein und sich aus Kogitation in Emotion verwandeln. Eine Fülle dunkler Erscheinungen wird durch diese Voraussetzungen aufgeklärt. Die Romantik, die das Alte dem Neuen vorzieht, das Mittelalter »poetischer« findet als unsere Zeit, eine Ruine anschwärmt und ein zweckmäßiges, in gutem Stande befindliches Gebäude scheußlich nennt, diese Romantik hat ihre Wurzel darin, daß die alten, ererbten Vorstellungen automatische Thätigkeiten der Zentren anregen, folglich als Emotion empfunden werden, während die neuen noch nicht organisierten Vorstellungen mit einer Anstrengung des Bewußtseins nachgedacht werden müssen, also Kogitation hervorrufen. Die alte Postkutsche erweckte bei der Generation, die sich ihrer noch bedient hat, Emotion, die Eisenbahn Kogitation; die Zeitgenossen der großen Umgestaltung des Verkehrswesens fanden also die Postkutsche poetisch, die Eisenbahn nüchtern und unangenehm. Die ganze Poesie und ihre Wirkung beruhen auf diesem Grundunterschiede zwischen Emotion und Kogitation. Der Inhalt der Poesie sind allgemein menschliche Beziehungen, Zustände und Leidenschaften, also oft geübte, automatisch gewordene, organisierte Thätigkeiten; die Poesie geht demzufolge aus Emotion hervor und erweckt Emotion. Selbst in ihrer Ausdrucksweise knüpft sie an alte Vorstellungen an, nicht zufällig, sondern notwendig, weil es eben naheliegt, daß sich ererbte Vorstellungen auch in der Tracht, in der man sie von den Ahnen ererbt hat, in das Sehfeld des Bewußtseins schieben. Darum spricht die Poesie heute noch von Geistern und Elfen und Göttern; darum anthropomarphosiert sie die Natur und die Gemütsregungen; darum waffnet sie ihre Helden mit Pfeil und Keule und nicht mit Mausergewehren; darum läßt sie Reisende ihre Bahn auf einem guten Rosse und nicht in einem Schlafwagen zurücklegen; darum bewahrt sie die Weltanschauung der Kinderzeit unserer Gesittung. Mit neuzeitlichen Vorstellungen und Formen kann sie nichts anfangen. In unserer heutigen Weltanschauung findet sie sich nicht zurecht. Das ist zu neu für sie; das hat sich noch nicht organisiert; das ist noch nicht automatisch; es ist mit einem Worte noch nicht emotionell, sondern kogitationell. Darum ist jeder Versuch, der Poesie einen modernen Inhalt zu geben, vollständig aussichtslos. Wenn manche Reimer sich vorsetzen, sogenannte Gedankenpoesie zu schaffen, Wissenschaft in ihre Verse einzuführen, so beweisen sie nur, daß sie vom Wesen der Poesie auch nicht die leiseste Ahnung haben. Die Poesie ist Emotion; sie zur Kogitation machen zu wollen ist ganz so, als wollte man einen Traum in helles Wachen verwandeln, ohne daß er doch aufhören sollte, Traum zu sein. Der Übergang aus der Kogitation in die Emotion wird aber erfolgen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Was heute neu ist, das wird in einem Jahrtausend alt sein. Was heute individuell ist, das wird dann der Gattung angehören, ererbt und organisiert sein. Dann wird ein Bahnhof ganz so poetisch scheinen wie heute eine Burgruine, eine Kruppsche Kanone ganz so wie heute eine Turnierlanze, eine Anspielung auf eine elektrodynamische Maschine oder einen Bacillus ganz so wie heute ein Hinweis auf die Flügel des Gesanges oder auf das Schluchzen der Nachtigall. Denn man vergesse nur nicht, daß all das alte Rüstzeug der Poesie einst ganz so neu, also kogitationell war wie heute die Eisenbahn, die Artillerie, die Naturwissenschaft; damals hat man ganz gewiß die Ritterrüstung und das Schloß auf der Bergkuppe ebenso nüchtern gefunden wie heute einen Waffenrock und eine Kaserne und nur das, was damals das Alte war, als poetisch gelten lassen. Das ist nicht bloße Vermutung, wir haben bestimmte Anhaltspunkte für diese Behauptung. Fast bei allen alten Völkern knüpften sich an die Steinwerkzeuge religiöse, mystische, also emotionelle Vorstellungen, als jene bereits seit Jahrhunderten im Besitze von Bronzegeräten waren. Das Steinwerkzeug war den Barbaren der Bronze- und frühen Eisenzeit, was der mittelalterliche Kram den schwärmerischen Naturen unserer Zeit ist.

Es giebt Geschlechter, Alter, Völker, Epochen, in denen die automatische über die frei kombinierende Thätigkeit der höchsten Zentren, Emotion über Kogitation, vorwiegt. Das Weib, dessen höchste Zentren fast niemals zu der kräftigsten Ausbildung gelangen, die sie im Manne viel häufiger erreichen, ist weit emotioneller als der Mann. Das Kind, dessen Zentren noch nicht voll entwickelt, der Greis, bei dem sie bereits im Verfall sind, haben beinahe nur Emotionen, keine Kogitation. In der Krankheit, in der Rekonvaleszenz, während der Organismus, also auch das ganze Zentralnervensystem, noch geschwächt ist, bringt derselbe nur Emotionen zustande. Hirnkrankheiten kündigen sich zu allererst durch die Leichtigkeit an, mit der das betreffende Individuum die Stimmung wechselt, weinerlich und lachlustig wird, also Emotionen hat. Die Chinesen, die neuzeitlichen Romanen sind emotionelle Völker, sie lassen sich von halbbewußten Stimmungen, das heißt von der automatischen Erbthätigkeit ihrer Zentren leiten und bringen nur wenige Individuen hervor, in denen die höchsten Zentren genug stark sind, um den Automatismus zu hemmen (»zu inhibieren« ist der Fachausdruck der Physiologen) und freie Kombinationen herzustellen, das heißt persönlich zu denken, kogitationell zu sein. Das Mittelalter war eine ganze lange Epoche von rein emotionellem Charakter. Das Herkömmliche war allmächtig. Das Individuum ging vollständig in Sippe, Körperschaft und Stand auf. Es gab fast ein halbes Jahrtausend lang kein Hirnzentrum, das zur Kogitation fähig gewesen wäre. Darum mußte die ganze Epoche sentimental religiös und mystisch sein, Beiwörter, die nichts anderes bedeuten als jene Unklarheit, mit der, wie wir oben gesehen haben, die automatische Thätigkeit der Zentren dem Individuum zum Bewußtsein kommt.

Die Auseinandersetzungen, die ich bisher gegeben, sind breit geworden, aber der Leser, der nicht Psychologe von Fach ist, wird sie unerläßlich finden. Nun erst kann er verstehen, was damit gemeint war, als ich sagte, Genie und Talent seien auf den Grad der Entwicklung bestimmter Zentren zurückzuführen. In welchem Teile des Gehirns jedes der Zentren zu suchen ist, deren besondere Entwicklung sich durch eine besondere Begabung äußert, das wissen wir in den meisten Fällen nicht. Es ist aber nicht ausgeschlossen, ja sogar wahrscheinlich, daß die vereinigten Forschungen der klinischen Medizin, der pathologischen Anatomie und der Experimental-Pathologie, vielleicht auch die erst in neuester Zeit begonnene systematische Untersuchung des Gehirns hervorragender Männer, den Sitz der einzelnen Zentren feststellen werden.

Derjenige, für den die geistigen Thätigkeiten Verrichtungen einer Seele, also eines nichtstofflichen Gastes unseres Körpers, sind, wird die Erklärung der Erscheinung eines Genies und selbst Talents entweder lächerlich leicht oder ganz unmöglich finden. Er kann sich nicht damit helfen, daß er sagt, Peter hat mehr Seele als Paul, denn dort, wo kein Stoff vorhanden ist, giebt es auch keine Ausdehnung, welche nur dem Stoffe, und keine Intensität, welche nur der an Stoff gebundenen Kraft zukommt, also auch kein Mehr und kein Weniger, sondern immer nur die Einheit. Ebensowenig kann er sagen, die Verschiedenen Seelen seien ihrem Wesen nach verschieden, es handle sich also nicht um ein Mehr oder Weniger, sondern um ein Anders; denn eine Wesensverschiedenheit des Nichtstofflichen ist dem menschlichen Verstande ebenso undenkbar wie eine Wesensverschiedenheit des Stoffes, den unsere Weltanschauung als einheitlich, unveränderlich und immer sich selbst gleich annimmt. Es bleibt also nur die Erklärung, die keine ist, daß Gottes Gnade der einen Seele eben eine reichere Thätigkeit gestattet als der andern. Wer dagegen mit der neuzeitlichen Wissenschaft annimmt, daß geistige Thätigkeiten Verrichtungen bestimmter Organe, nämlich der Hirnzentren, sind, der kann ohne jede Schwierigkeit verstehen, daß ein besser entwickeltes Organ besser arbeiten wird, als ein minder gut entwickeltes. Warum bei einem Individuum dieses oder jenes Zentrum besser entwickelt ist als bei einem andern, das ist damit freilich noch nicht erklärt. Aber diesem zudringlichen Warum, das nach dem letzten Grunde der Erscheinungen fragt, geht ja die exakte Wissenschaft überhaupt aus dem Wege.

Bei dem Talente brauchen wir nicht lange zu verweilen. Es hat keine anatomische Unterlage. Es beruht nicht auf einer besonderen Entwicklung der Zentren. Es unterscheidet sich weder im Wesen noch selbst in den Mengeverhältnissen von den Leuten, an denen man kein Talent bemerkt. Ich bin nicht weit entfernt, diesen Gedanken noch schroffer auszudrücken und zu sagen: es giebt überhaupt kein Talent. Man darf wenigstens unter diesem Worte nichts Spezifisches verstehen. Was es giebt, das ist Fleiß und Gelegenheit, nämlich Gelegenheit zur Übung und zur Entwickelung. Jeder Normalmensch, eine Bezeichnung, die also Krankheit, Verkümmerung und Zurückbleiben hinter dem heutigen Durchschnittstypus der weißen Menschheit ausschließt, hat alles in sich, was nötig ist, um jede Thätigkeit in einer Weise zu verrichten, die man gemeinhin »talentiert« nennt. Er braucht sich dieser Thätigkeit nur ausschließlich oder vorwiegend zu widmen. Aus jedem vollkommen gesunden Durchschnittskinde kann man alles machen, was man will, wenn man es vernünftig, genügend lang und genügend streng dazu drillt. Bei richtiger Trainierung wäre es durchaus kein Kunststück, Regimenter, ja Armeen von allem, was Sie wollen, von Künstlern, Schriftstellern, Rednern, Gelehrten heranzubilden, ohne vorhergehende Auswahl, nach Los oder Laune, wie man Rekruten ins Heer einstellt, und jeder Mann dieser Armeen müßte durchaus als ein Talent anerkannt werden. Auf dieser stillschweigenden Voraussetzung beruht ja unser ganzes Bildungswesen. Die Schule nimmt an, daß alle Schüler gleich begabt sind und dieselben Bildungsziele erreichen können; sie hat deshalb für alle dieselben Lehrmethoden, dieselben Aufgaben, denselben Lehrstoff. Wenn es in der Wirklichkeit dennoch gute und schlechte Schüler giebt, so liegt dies, soweit unvollkommene, also nicht typische, krankhafte Entwickelung ausgeschlossen werden kann, nur noch an größerem oder geringerem Fleiße oder an der Möglichkeit, sich den Aufgaben der Schule mehr oder minder ausschließlich zu widmen. Allerdings werden diese Armeen von Gelehrten, Rednern, Dichtern, Malern u. s. w. nie etwas Neues schaffen; sie werden die Grenze ihres Fachs nie erweitern, dessen Ziele nie hinausrücken; aber das, was man vor ihnen gethan hat, werden sie ganz geschickt, ganz leicht, ganz tadellos nachthun und wer das kann, den nennt man ja ein Talent. Es giebt Beispiele genug von Menschen, die tatsächlich auf den verschiedensten Gebieten als Talente anerkannt werden mußten. Ich will nur an die Universaltalente der Renaissance erinnern und als individuelles Beispiel etwa Urbino Baldi nennen, der klassischer Philologe, Maler, Mathematiker, Arzt, Dichter war, sechzehn Sprachen erlernte, an der Paduaner Universität Medizin lehrte und in allen Fächern ganz Tüchtiges leistete. In früheren Jahrhunderten waren solche Universaltalente überhaupt nicht selten und man könnte ihrer auch heute so viel wie man nur will heranzüchten, wenn der Wissensstoff sich nicht so bedeutend vermehrt hätte. Es kostet jetzt viel mehr Zeit, alles geschickt nachzuahmen, was bereits vorher geleistet worden ist. Das ist eine Frage der Jahre, nichts der Anlage. Würden die Menschen zweihundert Jahre alt, so könnte auch heute wie zur Zeit der Renaissance ein und derselbe Mensch eine ganze Anzahl verschiedener Geistesthätigkeiten bis zu ihrer vollkommenen Beherrschung erlernen und in jeder derselben die Tüchtigkeit erlangen, die ihn zu einem Talente der betreffenden Spezialität machen würde.

Was fange ich nun aber mit den sogenannten ausgesprochenen Neigungen zu einem bestimmten Berufe an? Ein Kind will von frühauf Soldat, ein anderes Musiker, oder Naturforscher, oder Mechaniker werden. Das deutet doch darauf hin, daß in ihm etwas ist, was anderen ganz fehlt oder nicht in diesem Maße eignet. Allerdings; so sagt man. Ich glaube aber, daß es sich in allen diesen Fällen von angeblicher Neigung eines Kindes zu einem Berufe um ungenaue Beobachtungen handelt. Meistens wird dem Kinde durch einen äußerlichen Umstand, durch das Beispiel seiner Umgebung, durch vor ihm geführte Gespräche, durch zufällig in seine Hand geratene Bücher oder vor seine Augen gelangte Schauspiele die Vorliebe für einen bestimmten Beruf nahegelegt worden sein und bei noch vorhandener vollständiger Gleichgiltigkeit für alle Berufe bedarf es ja nur einer ganz geringen Anregung, um die Aufmerksamkeit auf den einen mehr als auf die anderen hinzulenken. Und in den wenigen Fällen, die nicht auf diese Weise zu erklären sind, ist die sogenannte ausgesprochene Neigung zu einem bestimmten Berufe durchaus keine solche, sondern eine ausgesprochene Abneigung gegen andere Berufe, die auf der Empfindung der Unfähigkeit zu gewissen Thätigkeiten beruht, welche wieder durch mangelhafte Entwicklung einzelner Nervenzentren bedingt, ist. Damit sind wir aber schon in das Gebiet des Krankhaften gelangt, wir haben da Individuen vor uns, die in irgend einer Richtung hinter dem Normaltypus zurückbleiben, mein Satz aber, daß Talent bloß Entwickelung durch ausreichende Übung ist, darf nur auf voll und gleichmäßig ausgebildete, normaltypische Individuen angewandt werden. Man sehe nur genau zu und man wird finden, daß jedesmal, wenn ein Junge dem Gymnasium oder dem Kaufmannskontor entläuft und Künstler oder Soldat wird, er nicht, wie er sich später wohl selbst einbildet, aus unwiderstehlichem Drang zum Künstler- oder Soldaten-Berufe gehandelt hat, sondern aus Angst vor der Mathematik oder vor der strengen Zucht eines Geschäftshauses und in der unbestimmten Vorstellung, daß die andere Laufbahn leichter und angenehmer sein werde als die ursprünglich eingeschlagene. Dieser Umsattler hat nicht vor anderen etwas voraus, eine bestimmte Fähigkeit zur Kunst oder zum Waffenhandwerk, sondern er hat um etwas weniger als die anderen, es fehlt ihm die Fähigkeit, die Anstrengungen des regelrechten Lernens oder der kaufmännischen Zucht zu ertragen.

Nach dem Vorausgeschickten erledigt sich die Frage der Erblichkeit des Talents von selbst. Da ich an das Talent als an etwas im Organismus Vorgebildetes nicht glaube, so kann ich auch an seine Erblichkeit nicht glauben. Was man für Erfahrung ausgiebt, das kann mich in dieser Anschauung nicht irremachen, ebensowenig wie das vielgerühmte Buch Galtons, das er mit merkwürdig ungenauer Anwendung des Hauptworts »Erbliches Genie« nennt. Daß in einer Familie eine Reihenfolge sogenannter Talente einer und derselben Richtung beobachtet wird, beweist nicht das Geringste. Was ist natürlicher, als daß das Kind früh durch das Beispiel des Vaters oder Oheims etc. angeregt wird, seinem Denken eine bestimmte Richtung zu geben? Der Sohn des Arztes ist seit seiner Kindheit von Vorstellungen medizinischer und naturwissenschaftlicher Art umgeben; er muß sich, wenn er nicht stumpfsinnig ist, notwendig mit diesen Vorstellungen beschäftigen, sie werden ihn zur Wahl des väterlichen oder eines verwandten Berufes drängen und wenn er ein Normalmensch ist, so wird er zweifellos in dem gewählten Berufe tüchtig, also ein Talent werden. Hat er darum ein bestimmtes Talent seines Vaters geerbt? Nein. Seine Fähigkeit, alle menschlichen Thätigkeiten vollkommen zu erlernen, wurde nur durch das Beispiel des Vaters auf die Erlernung der väterlichen Thätigkeit gelenkt. Als der Sohn eines Generals wäre derselbe Knabe ein militärisches Talent, als der Sohn eines Malers ein talentierter Künstler geworden, in allen Fällen ein anständiges Mittelmaß, doch schwerlich mehr erreichend. Das Vorkommen mehrerer Talente derselben Art in einer Familie, weit entfernt die Erblichkeit des Talents zu zeigen, beweist geradezu das Gegenteil, es beweist, daß ein normal entwickeltes Kind in jeder Laufbahn, auf die es durch Familienüberlieferung hingewiesen wird, es zum Rang eines Talentes bringen kann, durch die bloße Wirkung des Beispiels, ohne daß eine besondere organische Bildung dazu notwendig ist. Es giebt eine Kreuzprobe, welche die Frage endgiltig lösen könnte, aber sie ist meines Wissens nie gemacht worden. Sie bestände darin, daß ein auf der Straße aufgelesenes, im Findelhause erzogenes Kind trotz einer Schule, die keinen Beruf besonders hervorhöbe, aus entschiedener Neigung einen bestimmten Beruf wählte, es in demselben zu anständigen, wenn auch nicht außerordentlichen Erfolgen brächte, später seine Herkunft entdeckte und fände, daß es aus einer Familie stamme, welche in demselben Berufe bereits Talente aufzuweisen hatte. Diese Probe müßte wiederholt geliefert werden, damit man die Einwirkung eines Zufalls ausschließen könne. Dann erst wäre bewiesen, daß ein bestimmtes Talent erblich ist. Aber ich wiederhole, es ist mir nicht bekannt, daß eine solche Kreuzprobe bisher jemals vorgekommen ist, und ich zweifle sehr, daß sie je vorkommen wird.

Ganz anders liegen die Dinge beim Genie. Dieses ist nicht ein anderer Ausdruck für Fertigkeit, durch hinreichende Übung erlangt. Es ist kein Normaltypus, der sich infolge günstiger Bedingungen gut entwickelt hat. Das Genie ist eine außerordentliche Bildung, die von den normalen Bildungen abweicht. Es beruht auf der besondern Entwickelung eines Nervenzentrums, manchmal möglicherweise auch mehrerer oder sogar aller Zentren. Es verrichtet deshalb alle Thätigkeiten, denen die bei ihm ungewöhnlich entwickelten Zentren vorstehen, in einer außerordentlich vollkommenen Weise, viel vollkommener als Menschen vom Durchschnittstypus, und hätten sie durch Übung ihre gleichen Zentren zu der ihnen erreichbaren Vollkommenheit ausgebildet. Vom rein physiologischen Standpunkte aus mühte man eigentlich in jedem Falle von Genie sprechen, wo irgend ein Zentrum, ja irgend ein Gewebe in außerordentlicher, das normale Maß weit überragender Weise ausgebildet ist. Ein überaus robuster Mensch, der imstande wäre, anhaltend die härtesten Arbeiten zu verrichten, allen Unbilden des Wetters ausgesetzt zu bleiben, des Schlafes beraubt, unzureichend genährt, mangelhaft bekleidet zu sein und dabei an seiner Gesundheit keinen Schaden zu leiden, könnte ein Genie der Lebenskraft genannt werden, denn seine allerniedrigsten Zentren, diejenigen, welche die einfachsten Verrichtungen des Organismus, die intimsten mechanischen und chemischen Arbeiten der lebendigen Zelle besorgen, müßten bei ihm außerordentlich vollkommen sein. Milo van Kroton war in diesem Sinne ein Muskelgenie. Das Muskelgewebe hatte bei ihm eine Entwickelung wie bei keinem andern Menschen, von dem die Alten Kenntnis hatten. Er konnte darum Dinge thun, die vor ihm nie gethan wurden, die den Normalmenschen nicht möglich schienen und auch nicht möglich waren. Er riß Bäume mit den Händen entzwei. Das war eine Methode des Spaltens, auf die vor ihm niemand verfallen und die man ihm mit aller Übung nicht nachmachen konnte. Höchstens mochte man es an viel dünneren und schwächeren Bäumen versuchen. Es hat gewiß Muskeltalente gegeben, die durch anhaltende Übung dahin gelangten, an jungen Stämmen das Kunststück fertig zu bringen, welches das Muskelgenie allein an alten Bäumen ohne Vorbild und Übung beim ersten Versuche vollbringen gekonnt. Es könnte einen Menschen geben, der ein so vollkommenes Gehör hätte, daß er, auf der Straße dahinwandelnd, mit größter Deutlichkeit vernähme, was in den innersten Gemächern der Häuser gesprochen oder selbst nur geflüstert würde. Er wäre ein Gehörgenie. Er würde ohne Mühe, ganz von selbst, Dinge erfahren und hinter Geheimnisse kommen, die zu erraten dem Normalmenschen gar nicht denkbar schiene. Solche Vollkommenheiten nennen wir aber nicht Genie, weil sie nicht ausschließlich menschlich sind. Die niedrigsten Zentren der Lebensvorgänge hat jedes Lebewesen und wenn der vorhin gezeichnete robuste Mensch als Genie der Lebenskraft angesprochen würde, so hätte auch ein Frosch, der in einen Stein eingewachsen ungezählte Jahrhunderte lang fortlebt, oder eine Katze, die sechs Wochen lang ohne Nahrung in einer Eisenröhre unter Brandschutt eingeschlossen bleibt, ohne umzukommen, ein Recht auf dieselbe Bezeichnung. Ebenso wird Milo von Kroton durch seine Muskelentwickelung nur in eine Reihe mit einem besonders starken Elefanten oder selbst nur mit einem Ausnahme-Floh gestellt, der viel weiter springen kann als alle seine Artgenossen, und ein Gehörgenie ragt nicht über die Tiere hervor, bei denen der eine oder der andere Sinn bis zu einer uns unbegreiflichen Vollkommenheit entwickelt ist, wie der Gesichtssinn bei den Tag-Raubvögeln und der Geruchssinn bei den Hunden. Gewisse Tiere haben Fähigkeiten, welche ein eigenes Zentrum voraussetzen, was dem Menschen fehlt. Der Zitteraal kann elektrische Schläge austeilen; die Brieftaube findet über ganze Kontinente hinweg den Weg zu ihrem Schlage zurück; gewisse fleischfressende Wespen haben eine so genaue Kenntnis der Anatomie der Gliedertiere, daß sie durch Stiche, die mit unfehlbarer Sicherheit geführt sind, die Nervenganglien sämtlicher Leibesringe einer Raupe mit Ausnahme der Kopfganglien durchbohren, so daß die Raupe vollkommen gelähmt ist, aber nicht stirbt und der Wespenbrut lebendigen Leibes zur Nahrung dienen, sie aber nicht durch Bewegungen in dem engen Neste beschädigen kann. Alle diese Fähigkeiten gehen dem Menschen ab. Er wird sie auch schwerlich jemals erlangen, weil er sie nicht braucht. Er ersetzt sie überreichlich durch eine höhere, umfassendere Fähigkeit, die des Urteils. Er baut sich mächtigere Elektrizitätsquellen als die des Zitterrochen. Er findet mit Kompaß und Landkarten seinen Weg ebenso sicher wie die Brieftaube. Er erlernt die Anatomie, bis er in ihr noch bewanderter ist als die Raubwespe. Aber theoretisch wäre es doch denkbar, daß ausnahmsweise einmal ein Mensch geboren würde, der das elektrische Organ des Gymnotus besäße, oder das Orientierungs-Organ der Brieftaube, oder das Organ, welches der Raubwespe ein Lehrbuch der Anatomie und Physiologie ersetzt, oder ein Organ, das ihn befähigte, die Bewegungen, welche in arbeitenden fremden Hirnzentren vorgehen, so wahrzunehmen, wie wir mit den Augen und Ohren Bewegungen anderer Art wahrnehmen, also Gedanken zu lesen. Ein solcher Mensch würde Dinge vollbringen, die wir nicht anders als wunderbar nennen könnten. Bei allen anderen als den Höchstgebildeten würde er für einen Zauberer gelten. Aber als ein Genie würde man ihn schwerlich bezeichnen. Wir müssen eben diesen Namen solchen Wesen vorbehalten, bei denen nicht irgend ein unter- oder außermenschliches, sondern ein rein und ausschließlich menschliches Zentrum, eines jener höchsten Zentren, die der Mensch allein unter allen Organismen in voller Ausbildung besitzt, ausnahmsweise mächtig entwickelt ist.

Diese Begrenzung seines Sinnes schließt den Mißbrauch des Wortes aus, dessen sich selbst die sorgfältiger bedachte Rede gewöhnlich schuldig macht. Es ist mir leid, daß ich Namen heranziehen muß, aber ich glaube, ihrer nicht entbehren zu können, wenn diese Ausführungen ganz deutlich werden sollen. Man nennt einen Liszt, einen Makart, einen Damison ein Genie. Das ist nicht richtiger, als wenn man nach meinem Beispiele von vorhin einen außerordentlich muskelstarken Menschen ein Genie nennte. In allen drei Fällen handelt es sich um eine besondere Vollkommenheit sehr niedriger Zentren. Um dies zu beweisen, muß man nur die offenbar höchst zusammengesetzte Erscheinung eines Klavierspielers, Farbenkünstlers und Tragöden zergliedern und in ihre einfachen letzten Bestandteile auseinanderlegen.

Nehmen wir zuerst das Klavierspiel. Dasselbe wird durch Finger-, Hand- und Armbewegungen (die vergleichsweise unwesentlichen Fußbewegungen können wir vernachlässigen) und durch Impulse hervorgebracht, welche diese Bewegungen stärker oder schwächer, langsamer oder rascher, gleichartiger oder unregelmäßiger machen. Es kommen also dabei in absteigender Reihenfolge in Betracht: ein Zentrum, das verschieden starke und verschieden geartete, ungemein rasch wechselnde Bewegungs-Impulse ausschlägt, Nerven, die empfindlich genug sind, diese Impulse mit größter Schnelligkeit und Genauigkeit zu übermitteln, so daß sie weder an dem Maße ihrer Stärke noch an ihrer Eigenart die geringste Veränderung erleiden, endlich Muskeln der oberen Gliedmaßen, die ihre Zusammenziehungen so genau abstufen, daß die Bewegungen den Impulsen stets vollkommen proportionell bleiben. Wir wissen, daß die Arbeit der zweckmäßigen Zusammenfügung von Muskelbewegungen, die Koordination, bestimmte Zentren hat, und mir dürfen annehmen, daß die musikalischen Impulse in einem Empfindungszentrum entstehen, dessen automatische Thätigkeit durch Eindrücke namentlich des Gehörssinns, aber auch anderer Sinne und Hirnzentren angeregt wird, wenn diese Eindrücke immer oder oft mit solchen des Gehörssinns zusammengesellt auftreten. Solche nichtakustische, aber mit diesen gewöhnlich zusammengesellte Eindrücke sind in erster Linie die geschlechtlichen. Der Urmensch, wie noch heute eine ganze Reihe von Tieren, hat sein Liebeleben höchst wahrscheinlich mit Lautkundgebungen (rhythmischen Schreien, Gesang) begleitet und davon ist eine in unseren Hirnzentren organisierte Verknüpfung der Thätigkeiten des Fortpflanzungs- und des Tonempfindungs-Zentrums zurückgeblieben. Wird das eine Zentrum angeregt, so tritt gleichzeitig das andere in Thätigkeit. Liebesempfindungen regen also musikalische Impulse, Thätigkeit des Zentrums für die musikalischen Impulse die Arbeit des Liebes- (Fortpflanzungs-) Zentrums an. Aber das ist nicht entfernt die einzige Verknüpfung dieser Art. Jede Erscheinung der Außenwelt schließt Anregungen, nicht für einen Sinn, sondern für alle Sinne in sich. Nehmen wir die Erscheinung eines sonnigen Frühlingsmorgens. Der Hauptsinn, an den sich die Erscheinung wendet, ist allerdings das Gesicht, weil ihr wesentlichster Bestandteil das Sonnenlicht und dessen eigenartige Wirkung auf die Landschaft ist. Aber daneben erhält der Geruchssinn den Eindruck von Gras- und Blumenduft, Wasserdunst und Ozon, der Gefühlssinn den Eindruck von Kühle und einem bestimmten Grad von Feuchtigkeit und der Gehörssinn den gewisser Tier- und Vogelstimmen und Laub- oder sonstiger Geräusche. Jede einzelne zusammengesetzte Erscheinung besteht so aus Eindrücken mehrerer oder aller Sinns, diese verschiedenen Eindrücke, von denen die einen stärker, die anderen schwächer sind, werden vom Gedächtnis als Gesamtbild aufbewahrt und ein bestimmter Eindruck eines einzigen Sinnes erweckt auch in den anderen Sinnes- und Empfindungszentren die Eindrücke, die gewöhnlich mit jenem zusammen empfangen werden. So wird der charakteristische Geruch des Sommermorgens auf dem Lande oder im Walde die ganze Erscheinung des Sommermorgens in uns wachrufen, also auch die übrigen Sinneseindrücke, aus denen sie sich zusammensetzt: den Gefühlseindruck der Kühle und Frische, den Gehörseindruck des Hahnenschreis, Lerchengesangs, Hundegebells und Glockengeläutes u.s.w. Irgend eine ganz leise Anregung eines beliebigen Sinnes kann also wie die übrigen, so auch das Tonempfindungs-Zentrum zu einer Thätigkeit anregen, die nach der Natur jener Sinnesanregung verschieden geartet sein wird. Die Verknüpfung der Thätigkeit der verschiedenen Zentren geht vollkommen außerhalb des Bewußtseins, vollkommen automatisch vor sich. Das Bewußtsein kann auch nicht immer unterscheiden, welcher Sinneseindruck die Thätigkeit eines anderen Zentrums angeregt hat, weil es nicht gewohnt ist, die Erscheinungen zu analysieren und festzustellen, welchen Anteil jeder Sinn an ihrem Zustandekommen hat, sondern gewöhnlich einen einzigen Sinneseindruck, weil er der stärkste ist, für den allein wesentlichen hält und die übrigen, schwächeren und untergeordneteren, ganz vernachlässigt. Um von meinem eigentlichen Gegenstande nicht allzuweit abzuschweifen, will ich dafür nur ein Beispiel anführen. Von der Erscheinung eines Ölgemäldes bildet auch ein Geruchseindruck, der von Ölfarbe oder Firnis, einen Bestandteil; doch ist derselbe ein so schwacher und namentlich so unwesentlicher neben dem Gesichtseindruck, daß wir uns seiner schwerlich bewußt werden, daß wir ihn vollkommen vernachlässigen und nicht bedenken, daß an der Ausarbeitung der Vorstellung »Ölgemälde« in unserm Bewußtsein auch das Geruchszentrum einen Anteil hat. Dennoch genügt es, daß das Geruchszentrum einmal einen ähnlichen Sinneseindruck, also den von Firnis oder Ölfarbe, erhält, um auch die übrigen Zentren zu der Arbeit anzuregen, die sie gewohnheitsmäßig zusammen verrichten, so oft sie die Vorstellung »Ölgemälde« ausarbeiten; in unserm Bewußtsein wird also plötzlich die Vorstellung eines Gemäldes erscheinen, ohne daß wir uns erklären können, woher uns dieses Bild ins Gedächtnis komme. Das ist eine der wesentlichsten Formen der Gedanken-Assoziationen; so erklären sich die Stimmungen, die uns beschleichen, wir wissen nicht wie; so vielleicht auch die meisten Träume, in denen die Sinneszentren bei schwacher oder aufgehobener Thätigkeit des Bewußtsein-Zentrums sehr geringe äußere Eindrücke automatisch zu den Vorstellungen verarbeiten, von denen sie einen Bestandteil bilden. Um ein ausgezeichneter Klavierspieler zu sein, muß also ein Individuum diese Bedingungen erfüllen: es muß ein sehr empfindliches, das heißt leistungstüchtiges Nervensystem haben, sein Lautempfindungs-Zentrum muß durch äußere Eindrücke, nicht bloß des Gehörs, sondern nach dem vorstehend erklärten Mechanismus auch der übrigen Sinne, leicht angeregt werden, Impulse auszugeben, und sein Koordinations-Zentrum muß ein besonders vollkommenes sein, so daß es die feinsten, genauesten und verwickeltsten Bewegungen der Handmuskeln in raschester Abwechselung kombinieren kann. Den Rang des Klavierkünstlers bestimmt das Vorwiegen des einen oder des andern Zentrums. Ist hauptsächlich sein Koordinations-Zentrum entwickelt, so wird er ein glänzender Techniker sein, alle Schwierigkeiten spielend überwinden, aber den Eindruck der Kälte und Seelenlosigkeit machen. Ist dagegen neben dem Koordinations- auch das Lautempfindungs-Zentrum hervorragend entwickelt, so wird das Spiel nicht bloß technisch gewandt sein, sondern auch wechselnde und mannigfaltige Empfindungs-Impulse widerspiegeln, also belebt und seelenvoll wirken. Ein überaus hochentwickeltes Lautempfindungs-Zentrum wird imstande sein, mächtigere Impulse auszugeben als die gewöhnlichen und bekannten und dieselben in eigenartiger, neuer Weise zu kombinieren; es bildet die psychophysische Unterlage eines Tonsetzer-Genies; es ist das Merkmal eines Beethoven. Ein ebenso entwickeltes Lautempfindungs-Zentrum, zu dem sich ein gut entwickeltes Koordinations-Zentrum gesellt, giebt ein Individuum, das als Kompositeur ein Genie und dabei als Klavierspieler bedeutend ist; etwa einen Mozart. Ist das erste Zentrum noch immer ungemein vollkommen, aber dennoch das zweite vorwiegend, so entsteht einer jener Komponisten, deren Musik nur dann zur vollen Wirkung kommt, wenn sie von ihnen selbst oder ganz getreu nach ihrer Eigenart, das heißt nach der Eigenart ihres Koordinations-Zentrums, gespielt wird; also z.B. ein Chopin. Ein überaus gut entwickeltes Koordinations-Zentrum zusammen mit einem etwas, aber nicht viel über den Durchschnitt hervorragenden Lautempfindungs-Zentrum endlich giebt einen wunderbaren Klavierspieler und bemerkenswerten musikalischen Nachempfinder, aber kaum mittelmäßigen Komponisten wie Liszt, den man mißbräuchlich ein Genie nennt. Dieses Genie würde, wie die eingehende Analyse gezeigt hat, auf außerordentlicher Entwickelung des Koordinations-Zentrums beruhen, also ein Koordinations-Genie sein. Dieses Zentrum ist aber ein niedriges, nicht ausschließlich menschliches und seine besondere Entwicklung giebt keinen Anspruch auf die Bezeichnung Genie, die für die Vollkommenheit spezifisch menschlicher Zentren vorbehalten werden muß. Eine ausgezeichnete Koordination zeigen auch Tiere, so namentlich Affen, deren Kletter- und Gleichgewichts-Kunststücke von nicht vielen Menschen nachgeahmt werden können. Beim Menschen selbst setzt die hervorragend gute Verrichtung vergleichsweise niedriger Thätigkeiten ebenfalls sehr vollkommene Koordinations-Zentren voraus. Man muß z.B. ein hochentwickeltes Koordinations-Zentrum der unteren Gliedmaßen besitzen, um ein ausgezeichneter Schlittschuhläufer zu sein. Dieselbe Vollkommenheit, verbunden mit einem gut entwickelten Lautempfindungs-Zentrum, wird einen hervorragenden Tänzer geben; dagegen wird sie die psychophysische Unterlage eines ausgezeichneten Reiters bilden, wenn sie statt mit einem bemerkenswerten Lautempfindungs-Zentrum mit gut entwickelten Zentren des Willens, dieses wesentlichsten Bestandteils des Mutes, und des Urteils gesellt ist. Eine hohe Entwickelung des Koordinations-Zentrums der oberen Gliedmaßen giebt ebenfalls eine ganze Reihe von verschiedenen Fähigkeiten, je nach den höheren Zentren, die gleichzeitig gut entwickelt sind und ihre Impulse jenem mitteilen. Die Kombination des Koordinations- und Lautempfindungs-Zentrums giebt, wie wir gesehen haben, den Klavierkünstler; diejenige des ersteren und der Willens- und Urteils-Zentren wird einen ausgezeichneten Fechter geben. So besteht eine kuriose Parallele zwischen dem Tänzer und Klavierspieler einerseits, dem Reiter und Fechter andererseits. Von einem »genialen« Klavierspieler zu sprechen ist also nicht richtiger, als einem Tänzer, Reiter oder Fechter den Titel Genie zu geben. Der Stoff, den ich da behandele, ist ein ungeheuer großer. Er würde die weitläufigsten Entwickelungen nicht in Kapiteln, sondern in dicken Bänden gestatten. Man könnte nahezu endlos die verschiedenen Zentren kombinieren und sehen, welche besondere Fähigkeit dabei herauskommt. Das muß dem Leser überlassen bleiben, der durch die vorstehenden Beispiele dazu angeregt sei. Noch eine Frage will ich, aber ebenfalls nur andeutend, nicht erschöpfend, behandeln. Was wird ein Mensch, der die organischen Anlagen eines Liszt hat, wenn er geboren wird, ehe das Klavier oder irgend ein Werkzeug erfunden ist, das durch Handbewegungen zum Tönen gebracht wird? Es entsteht dann eben nicht die charakteristische Kombination der beiden Zentren, von denen das eine außerordentlich, das andere gut entwickelt ist. Jedes arbeitet dann für sich und wir sehen statt eines Liszt ein Wesen, das sich durch große Fingerfertigkeit in allen Handarbeiten, also etwa durch geschicktes Knüpfen, oder Flechten, vielleicht auch durch bemerkenswerte Taschenspieler-Kunst auszeichnet und daneben musikalische Stimmungen hat, die sich bloß durch Vorliebe für Gesang, vielleicht auch durch Versuche im Singen oder Pfeifen ausdrücken können. Selbst die Thätigkeit des vornehmsten Zentrums, das bei einem Klavierkünstler in Betracht kommt und dessen höchste Entwickelung thatsächlich ein Genie, etwa einen Beethoven, giebt, die des Lautempfindungs-Zentrums, ist noch eine rein automatische, rein emotionelle und steht hinter jeder kogitationellen Thätigkeit zurück. Die des minder vornehmen, des Koordinations-Zentrums, ist überhaupt keine geistige, keine ausschließlich menschliche Thätigkeit mehr, sondern eine solche, die sehr vielen Organismen auch außerhalb der Menschheit, und zwar in hoher Vollkommenheit, eigen ist.

Wenden wir nun dieselbe Zergliederungsmethode auf die Erscheinung eines Farbenkünstlers, z. B. eines Makart, an. Ein malerisches Kunstwerk, ein Bild, ist wieder etwas sehr Zusammengesetzes, dessen einfache Bestandteile in den verschiedensten Verhältnissen an der Hervorbringung der Gesamterscheinung beteiligt sein können. Was bei einem Bilde in Betracht kommt, das ist zuerst die Farbenwirkung, dann die Form und schließlich der geistige Inhalt, man nenne ihn nun Gegenstand (»Anekdote«) oder Komposition. Unser Lichtempfindungs-Zentrum ist so beschaffen, daß es die Eindrücke von gewissen Farben und deren Zusammenstellungen als angenehme, die von anderen als unangenehme empfindet. Worauf diese Verschiedenheit der subjektiven Empfindung beruht, das kann ich nicht mit Bestimmtheit erklären. Helmholtz und Brücke haben über diese Frage herrliche Untersuchungen veröffentlicht und es mindestens sehr wahrscheinlich gemacht, daß die subjektive Wirkung der Zusammenstellung von Farben wie von Tönen auf dem Verhältnisse beruht, in welchem die Zahl, Weite und Form der Schwingungen oder Wellenbewegungen zu einander stehen, die wahrscheinlich in unseren Sinnesorganen die Veränderungen hervorrufen, welche wir als Farben oder Töne empfinden. Es würde sich also nach diesen großen Forschern bei angenehmen und unangenehmen Farben- und Tonempfindungen um die unbewußte Feststellung einfacher oder komplizierter arithmetischer und geometrischer Verhältnisse der Äther- oder Stoffbewegungen handeln. Doch dem sei nun wie ihm wolle, genug es ist Erfahrungs-Thatsache, daß es angenehme und unangenehme Farben und Farbenzusammenstellungen giebt. Ein besonders gut entwickeltes Lichtempfindungs-Zentrum wird einen Menschen befähigen, zunächst die Farbeneindrücke besonders stark zu empfinden, also an gut zusammengestimmten Farben sich besonders zu erfreuen, von mißtönenden besonders abgestoßen zu werden, sodann selbst Farben und Farbenzusammenstellungen zu finden, die in hervorragendem Maße angenehm wirken. Das Zentrum, das hier in Betracht kommt, gehört, wie alle Sinneszentren, zu den niederen Hirnzentren. Es ist durchaus kein wesentlich menschliches, sondern ein durch das ganze Tierreich bis sehr tief hinunter verbreitetes. Wir dürfen annehmen, daß sehr viele Vögel, ja sogar Falter, Käfer und selbst Weichtiere es besitzen, da die prächtige Färbung dieser Tiere sonst vollkommen unverständlich wäre; seit Darwin giebt man aber ziemlich allgemein zu, daß die schönen Farben der Tiere durch die geschlechtliche Zuchtwahl erlangt worden sind, also dadurch, daß das Individuum, welches mit ihnen geschmückt war, von den Individuen des entgegengesetzten Geschlechts bevorzugt wurde, was undenkbar wäre, wenn man bei diesen Individuen nicht einen Sinn für Farbenwirkung, eine Freude an schönen Farben voraussetzte. Durch seinen bloßen Farbensinn, das heißt durch seine Freude an schönen Farben wird also ein Mensch erst zum Genossen der Elster, des Pfauenauges oder der Seeanemone. Die Entwicklung des Lichtempfindungs-Zentrums genügt bloß zu einer Kunstübung: zur Herstellung angenehm bunten Flächenschmucks, also von Teppichen, Tapeten und Wandbemalungen mit gut zusammengestimmten Farben. Eigentliche Bilder, die unter dem Impulse dieses Zentrums entstehen, werden vielleicht so wirken wie hübsche orientalische Teppiche, jedoch als Kunstwerke einen tiefern Rang einnehmen, weil sie in ihrer Art nicht entfernt so vollkommen sind wie diese.

Das zweite Element, das bei einem Gemälde in Betracht kommt, ist die Form. Das Bild sucht uns nämlich die äußere Erscheinung der Dinge vorzutäuschen. Die Mittel, deren sich die Malerei zur Herbeiführung dieser Täuschung bedient, sind die Zeichnung und die Farbe. (Wohlverstanden: diese Unterscheidung halte ich nur der Bequemlichkeit wegen fest; denn im Grunde ist das, was wir Zeichnung nennen, auch nur eine Farbenwirkung; die Zeichnung täuscht uns die Dinge ebenfalls durch einen Gegensatz von Lichtstärke-Graden oder Farben, gewöhnlich von Schwarz und Weiß, vor.) In der Wirklichkeit sehen wir die Dinge je nach ihrer Lage im Raume, also nach ihrer Entfernung von uns und von einander, nach ihrer Stellung über oder unter uns oder seitlich von uns in verschiedener Form, Größe und Beleuchtung. Eine und dieselbe Kugel erscheint uns groß, wenn sie uns nahe, klein, wenn sie von uns entfernt ist; einmal, wenn sie entsprechend beleuchtet ist, sehen wir eine volle Hälfte, in anderen Lagen bloß einen größern oder kleinern Abschnitt von ihr; daß sie rund ist, erkennen wir nicht direkt, sondern daran, daß der hervorgewölbteste, uns am nächsten liegende Teil anders beleuchtet ist, eine andere Färbung zeigt als die weiter zurück liegenden. Trotzdem das Bild, das wir auf unserer Netzhaut von dieser Kugel haben, in jeder Lage ein andres ist, führen wir es dennoch auf eine und dieselbe veranlassende Ursache zurück, das heißt wir erkennen in dem, was wir sehen, immer dieselbe Kugel, wir mögen sie nun in der Nähe groß, aus der Entfernung klein, wir mögen eine Hälfte oder einen kleinern Schnitt, wir mögen sie, von vorn beleuchtet, in der Mitte am hellsten und nach den Rändern des Kreisbildes hin dunkler, oder, von hinten beleuchtet, in der Mitte am dunkelsten und nach den Rändern hin heller sehen. Das, was uns die Bilder, das heißt die Netzhaut-Eindrücke, deuten gelehrt hat, ist die Erfahrung, die wir unter Mitwirkung der übrigen Sinne und des Urteils erlangt haben. In Wirklichkeit sehen wir nur Flächenbilder, die in einer und derselben Ebene liegen, deren Bestandteile verschiedene Größen, verschiedene Farben und verschiedene Helligkeitsgrade haben. Daß diesen Verschiedenheiten in der Farbe, der Größe, der Beleuchtung Verschiedenheiten in der Entfernung entsprechen, daß die uns in derselben Ebene erscheinenden Gegenstände thatsächlich in verschiedenen Ebenen liegen, das wissen wir durch die Erfahrung. Um zu wissen, daß ein Flächenbild von Kreisform, das in der Mitte anders beleuchtet ist als an den Rändern, eine Kugel sei, müssen wir einmal ein solches Bild abgetastet haben, wir müssen uns der Bewegungen erinnern, die unsere Hand ausführen mußte, um die Oberfläche dieses Gegenstandes zu umschreiben, der Muskelsinn muß unserm Gesichtssinn zu Hilfe kommen und dessen Angaben vervollständigen. Ebenso müssen wir, um zu wissen, daß ein uns klein und verschwommen scheinendes Haus thatsächlich groß, aber entfernt ist, einmal den Weg zu einem solchen kleinen und verschwommenen Objekte zurückgelegt haben und uns erinnern, welche Bewegungen unsere Beine machen mußten, damit schließlich aus dem kleinen und verschwommenen ein großes und scharf begrenztes Objekt werde. Die Malerei nun ahmt die Gegenstände nach, nicht wie sie wirklich sind, sondern wie sie sich auf unserer Netzhaut abzuspiegeln pflegen, also in ihren scheinbaren Größen-, Farben- und Beleuchtungs-Verhältnissen, und wenn sie diese richtig wiedergiebt, so folgen wir unserer erworbenen Gewohnheit und deuten dieses Flächengemälde, wie wir die Flächenbilder unserer Netzhaut zu deuten pflegen, das heißt wir sehen in einem Pünktchen, das unklar gemalt ist, trotz seiner Kleinheit ein großes Haus, trotzdem es eine Spanne vor unserem Auge auf der Leinwand dasteht, ein entferntes Haus, und trotzdem es mit vielen anderen Gegenständen auf derselben Leinwandfläche liegt, ein Haus, das in einer ganz anderen, weit mehr zurückgerückten Ebene liegt als etwa die Bäume oder andere Gegenstände des Vordergrundes. Die Arbeit der Deutung geht natürlich nicht im Auge, sondern in den höheren Zentren, denen des Gedächtnisses und Urteils, vor sich, sie wird nur durch den Gesichtseindruck angeregt. Um also in unserem Bewußtsein ein Bild hervorzurufen, braucht der Maler uns eigentlich bloß ein einziges Merkmal, sei es den Umriß, sei es die Lichtwirkung des betreffenden Gegenstandes, vor das Auge zu führen. Die übrigen Merkmale fügt das Gedächtnis automatisch hinzu, weil es gewohnt ist, dieses Merkmal immer zusammen mit anderen auftreten zu sehen. Auf diese Weise glauben wir oft auf einem Gemälde mit den Augen Dinge zu sehen, die gar nicht auf der Leinwand sind, die also unser Auge gar nicht sehen kann, die unsere Hirnzentren hinzufügen und mit denen sie selbstthätig die Andeutungen ergänzen, die der Maler allerdings in sein Gemälde eingeführt hat. Ich will das nur durch ein einziges Beispiel erläutern. Wir glauben auf einem Gemälde die einzelnen Haare eines Bartes, die einzelnen Blätter eines Baumes zu sehen. Der Maler hat aber weder Haare noch Blätter gemalt, sondern eine gewisse Wirkung von Licht auf einer unregelmäßigen braunen oder grünen Fläche; da wir aber diese Lichtwirkung oft auf Bärten und Baumkronen beobachtet und die Erfahrung gemacht haben, daß sie Haare oder Blätter voraussetzt, so legt unsere Erinnerung ihr auch auf dem Gemälde die Haare oder Blätter unter, die gar nicht dort sind, und wir sehen in unseren Hirnzentren etwas, was unsere Augen durchaus nicht sehen. Die Kunst des Malers besteht nun darin, die Merkmale der Dinge zu finden und sie so nachzuahmen, wie sie unsere Netzhaut in der Wirklichkeit zu empfinden pflegt. Er kann alle Merkmale wiedergeben ober nur einige, aber die wesentlichen. Der bloße Umriß erinnert nur an ein einziges Merkmal, an die Begrenzung der Dinge, erfordert also eine sehr ausgedehnte Nachhilfe der Hirnzentren, wenn er allein eine Vorstellung der Dinge erwecken soll. Die perspektivische Umrißzeichnung giebt uns bereits eine Vorstellung von den Verhältnissen der Dinge im Raume, denn wir finden in ihr die scheinbaren Größenverschiedenheiten wieder, die wir in der Wirklichkeit beobachten. Die schattierte Zeichnung fügt den Dingen ein weiteres Merkmal hinzu, nämlich die Verschiedenheit der Beleuchtung, die uns in der Wirklichkeit die Schätzung der Größe und Entfernungen und damit die Erkenntnis der Beschaffenheit des Objekts erleichtert. Die Farbe endlich liefert uns das letzte Merkmal, welches der Gesichtssinn überhaupt wahrnehmen kann, und das in den Umrissen, der Perspektive, der Beleuchtung und der Farbe richtige Gemälde bringt im Auge ganz denselben Eindruck hervor wie die Dinge selbst, so daß es den höheren Zentren unmöglich ist, den einen Eindruck von dem andern zu unterscheiden und bei dem Vorhandensein aller optischen Merkmale in der gemalten Nachahmung der Dinge nicht die Dinge selbst zu erkennen. Die Arbeit des Malers ist eine sehr scharfe Analyse seiner Vorstellungen, in denen er den Anteil der höheren Zentren von denen der Gesichtseindrücke unterscheiden muß. Um beim obigen Beispiele zu bleiben: wenn er Laub sieht, so muß er diese Vorstellung zergliedern und bemerken, daß er mit den Augen keine Blätter, sondern nur eine eigenartig beleuchtete, unregelmäßige grüne Fläche sieht, welche erst sein Gedächtnis in das Bild einzelner Blätter auflöst; er darf also auch keine Blätter, die er sich vorstellt, aber nicht wirklich sieht, sondern nur die eigenartig beleuchtete grüne Fläche, die sein Auge wirklich wahrnimmt, wiedergeben. Der Laie hat gar keine Vorstellung, wie verschieden das, was unser Auge wirklich sieht, von dem ist, was wir uns vorstellen, wenn wir einen bestimmten Gesichtseindruck empfangen. Der Maler aber muß von der Vorstellung ganz absehen und sich bloß an den Eindruck halten, der sie hervorruft. Diese Analyse geht unbewußt vor sich. Sie beruht auf einer Fähigkeit, von den Lichtwahrnehmungs-Zentren aus die Muskeln, welche beim Zeichnen und Malen in Bewegung gesetzt werden, zu innervieren, ohne daß eine Dazwischenkunft der höheren, der Gedächtnis- und Urteils-Zentren, stattfindet. Die Hand kann auf diese Weise bloß das zeichnen und malen, was das Lichtempfindungs-Zentrum wirklich empfindet, das heißt sieht, und nicht das, was die höheren Zentren ergänzend oder ändernd hinzufügen. Ganz schließt die direkte Verbindung der Lichtempfindungs- mit den Bewegungs-Zentren, welche die organische Unterlage der malerischen und zeichnerischen Begabung ist, die Dazwischenkunst höherer Zentren nicht aus. Diese treffen nämlich unter den Bestandteilen des Eindrucks, den das Lichtempfindungs-Zentrum von einem Dinge empfängt, eine Auswahl und behalten nur einige, die wesentlichen, zurück, welche dann mittels Muskelbewegungen nachgebildet werden, während die nichtwesentlichen mehr oder weniger vernachlässigt bleiben. Die auch noch in vielen Fällen unbewußte Empfindung, daß das eine Merkmal, eine Umrißlinie, eine Lichtwirkung, eher geeignet ist, eine Vorstellung von einem bestimmten Objekte zu erwecken als ein anderes, erhebt die Thätigkeit des Malers von einer Sinnes- und Muskel- zu einer geistigen Thätigkeit und bewirkt, daß ein Gemälde etwas anderes ist als eine Photographie. Immerhin ist diese Thätigkeit noch eine recht tiefstehende; sie geht nur zum kleinsten Teile von den höchsten Zentren aus und wendet sich nicht an die höchsten Zentren. Ihr Ergebnis ist ein Kunstwerk, dessen einziges Verdienst die Wahrheit ist; aber eine uninteressante, in keiner Weise anregende Wahrheit. Ein Individuum, das die Fähigkeit besitzt, seine Gesichtseindrücke rein, ohne Beimischung der von der Erinnerung und dem Urteil gelieferten Ergänzungen wiederzugeben, wird ein vortreffliches Stillleben zeichnen und, wenn es auch noch Farbensinn hat, malen können. Es wird ein Klassiker des Spargels und der Austern werden und in der Abbildung von Kupferkesseln und Römern triumphieren. Darüber hinaus wird es aber nicht gelangen.

Und nun kommen wir zum dritten Elemente, das bei einem Gemälde in Betracht zu ziehen ist, zu seinem geistigen Inhalte, also zu dem, was es darstellt, zu seinem Stoffe oder Gedanken. Dieselbe Gabe der Analyse, die es dem Maler ermöglicht, die wirkliche optische Erscheinung der Dinge von ihrem psychischen Bilde zu trennen und von jener Erscheinung die wesentlichsten Bestandteile zu erfassen und wiederzugeben, gestattet ihm in höherer Ausbildung, auch die wirkliche optische Erscheinung von Vorgängen festzuhalten und nachzubilden. So wenig wir die Rundung einer Kugel wirklich sehen, so wenig sehen wir eine Bewegung oder eine Gemütsverfassung. In jenem Falle sehen wir thatsächlich einen charakteristisch beleuchteten flachen Kreis, in diesem eine Reihe aufeinanderfolgender Bilder oder eine gewisse Stellung der Gesichtsmuskeln, der Gliedmaßen und des Leibes. Aber die Erfahrung hat uns gelehrt, daß der flache Kreis, wenn er in der gewissen Weise beleuchtet ist, eine Kugel bedeutet, und ebenso wissen wir aus Erfahrung, daß eine Reihe identischer Bilder, die nacheinander auf unserer Netzhaut erscheinen und, um immer deutlich gesehen zu werden, Bewegungen unserer Augen- und Halsmuskeln erfordern, Bewegung des gesehenen Gegenstandes, und daß gerunzelte Brauen und geballte Fäuste bei einem Menschen Zorn bedeuten. Der Maler erfaßt nun das optische Merkmal, das z. B. für den Zorn, die Freude, den Kummer bezeichnend ist, und indem er es getreu wiedergiebt, erweckt er in uns die Vorstellung, daß er die eigentlich nicht darstellbare entsprechende Gemütsverfassung dargestellt hat. Aus dem Vorangeschickten ergeben sich die Grenzen der Kunst des Malers. Diese Kunst ist zunächst eine rein historische; das heißt sie kann nur Vorgänge darstellen, die wir bereits so oder ähnlich gesehen haben, deren optische Merkmale uns bekannt sind. Wollte der Maler solche Vorgänge darstellen, die uns gänzlich unbekannt sind, so würden wir vor einer optischen Erscheinung stehen, die wir nicht deuten könnten; die Netzhaut empfinge Eindrücke, Gedächtnis und Urteil würden diesen aber nichts hinzufügen und das Gemälde würde bloß eine Sinneswirkung, aber keine Vorstellung hervorbringen, die ja der Maler mit den Mitteln seiner Kunst nicht geben, nur anregen kann und die unser eigner Geist auf Grund der vom Maler gelieferten Veranlassung ausarbeiten muß. Die Malerei ist ferner nicht fähig, sehr differenzierte Geistesvorgänge darzustellen, sondern muß sich an weite, umfassende Allgemeinheiten halten. Sie kann den besondern Gedanken nicht ausdrücken: »Ich bin unzufrieden mit der Art, wie ich meine letzten zehn Jahre verbracht, und namentlich mit der Laufbahn, die ich gewählt habe,« höchstens kann sie im allgemeinen die Empfindung ausdrücken: »Ich bin unzufrieden.« Warum? Weil wohl die Unzufriedenheit im allgemeinen ein sichtbares Merkmal hat, nämlich eine gewisse Miene und Haltung, während sich die Unzufriedenheit mit einer Laufbahn oder einem Lebensabschnitte durch kein besonderes, ihr allein eigenes optisches Merkmal von der Unzufriedenheit im allgemeinen unterscheidet. Diese Grenzen der Malerei bedingen, daß sie eine rein emotionelle Kunst ist und keine kogitationelle sein kann. Das völlig Neue, das rein Persönliche, das an nichts Bekanntes Anknüpfende ist ihr unzugänglich. Das Genie des Malers wird aber darin bestehen, daß er erstens selbst an sehr verwickelten Vorgängen optische Merkmale herausfindet, die nur ihnen und keinen anderen eigen sind, die jedoch jede andere als die schärfste und eindringlichste Analyse übersieht, daß er zweitens die Merkmale, die er wahrgenommen hat, mit höchster Treue wiedergiebt und daß er drittens bedeutende Vorgänge zum Gegenstande seiner Darstellung wählt. Das bloße Talent und gar die Talentlosigkeit würden es wenigstens in den beiden ersten Punkten dem Genie niemals gleichthun können, denn sie sind unvermögend, die Erscheinung selbst auf ihre wesentlichen optischen Merkmale zu analysieren und diese Merkmale charakteristisch wiederzugeben; alles, was sie können, ist, die vom Genie ihnen gebotene malerische Analyse der Erscheinungen nachzuahmen.

Wir haben nun die einfachen Bestandteile, die zusammen ein Malergenie geben: Farbensinn, die Fähigkeit, an einer Erscheinung das vom Auge wirklich Gesehene von dem durch die Geistesthätigkeit Hinzugefügten zu unterscheiden, endlich das Vermögen, zusammengesetzte Vorgänge auf die ihnen allein zukommenden optischen Merkmale zurückzuführen, die ihre richtige Deutung sofort gestatten. Die beiden ersten Fähigkeiten sind niedere und automatische; ihr Besitz kann auf die Bezeichnung »Genie« keinen Anspruch geben. Die dritte dagegen setzt bereits die Dazwischenkunft hoher Zentren voraus und bedingt eine neue, selbständige Thätigkeit: das Herausfinden bezeichnender optischer Merkmale, die vorher nie als solche erfaßt worden waren. Alle drei Fähigkeiten müssen nicht notwendig vereint und in gleichem Maße entwickelt sein. Je nach dem Vorwiegen der einen oder der andern wird auch die Physiognomie des Malergenies eine andere werden. Analytische Fähigkeit, Wahrhaftigkeit und Farbensinn in annähernd gleicher Vollkommenheit geben einen Raphael; damit schafft man eine sixtinische Madonna, welche die wesentlichen Merkmale derjenigen Erscheinung wiedergiebt, die im Manne (im Weibe viel weniger und im halbwüchsigen Individuum gar nicht) die mächtigsten Emotionen erweckt, nämlich des vollkommen schönen und reinen Weiblichen, das seine Geschlechtszentren anregt, und des Göttlichen, das zu seinem ererbten Sinne für das Mystische spricht, welche dabei in Zeichnung und Farbe den Eindruck der Wahrheit macht und durch ihre Farbenstimmung sinnlich angenehm wirkt. Ein Murillo und Velasquez haben ebenso angenehme Farbenstimmung und größere optische Wahrheit, erwecken aber nicht dieselben Emotionen, weil der Inhalt ihrer bedeutendsten Werke sich nicht an zwei so mächtige Gefühle wie die Geschlechtlichkeit und den Mystizismus, sondern entweder an den letztern allein oder an die bloße Neugierde, an die mehr oder weniger oberflächliche Teilnahme an einem menschlichen Vorgänge, wendet. (An die Madonnen Murillos denke ich dabei nicht, weil ich sie nicht für seine besten Schöpfungen halte, sondern an seine großen epischen Bilder in der Caridad.) Farbenreiz, leidliche Wahrheit und Anknüpfung, nicht an tief menschliche, sondern an vaterländische, nationale Emotionen geben einen Paolo Veronese, Wahrheit und bedeutender Inhalt ohne besonderen Farbenreiz einen Cornelius oder Feuerbach. Fehlt die höchste Gabe des Malers, nämlich die, bedeutende Erscheinungen oder Vorgänge in ihren wesentlichen optischen Merkmalen wiederzugeben, sind aber optische Wahrheit und Farbensinn hervorragend vorhanden, so bekommen wir einen Leibl, einen Meissonier, einen Hondekoeter, Künstler, die Überraschendes und Angenehmes schaffen, jedoch schwerlich tiefere Emotionen erregen können und die man nicht mehr Genie wird nennen dürfen. Starkes Vorwiegen der Fähigkeit, optisch wahr zu sehen und nachzubilden, bei geringer oder fehlender Entwickelung des höchsten analytischen Vermögens und Farbensinns giebt einen Courbet, dessen Bilder weder farbensinnlich angenehm noch inhaltlich bedeutend, aber so optisch wahr sind, daß sie uns ganz dieselben Empfindungen geben wie die dargestellten Dinge in der Wirklichkeit selbst. Da sind wir beinahe schon bei der Photographie angelangt, mit dem einen kleinen Unterschiede, daß diese alle optischen Merkmale der Dinge – bis auf deren Farbe – gleichmütig wiedergiebt, während bei einem Courbet doch noch ein höheres Zentrum das Bild auf seinem unbewußten Wege von der Netzhaut zur malenden Hand aufhält, einige unwesentliche Bestandteile unterdrückt und nur die charakteristischen durchläßt. Der bloße Farbensinn allein endlich giebt einen Makart, der angenehme Farben nebeneinander zu legen versteht wie der australische Kragenvogel vor seiner kunstvollen Laube auch, aber weder die Dinge optisch wahr sieht und wiedergiebt, noch imstande ist, bedeutende Vorgänge oder Erscheinungen in ihren wesentlichen sichtbaren Merkmalen so darzustellen, daß man sie begreift und von ihnen die Emotionen erhält, welche die Vorgänge oder Erscheinungen selbst zu geben vermöchten. Einen Makart ein Genie zu nennen wird nur dann zulässig sein, wenn man diese Bezeichnung auch auf den Kragen- oder Atlas-Laubenvogel anwendet.

Mit dem Schauspieler können wir viel rascher fertig werden. Seine eigenartige Fähigkeit beruht auf der durch besondere Pflege erreichten Entwickelung solcher organischen Eigenschaften, die zu den allgemeinsten nicht bloß der Menschen, sondern auch der höheren Tiere gehören, nämlich des Nachahmungs-Vermögens und der Wechselwirkung der Vorstellungen auf die Bewegungen, der Bewegungen auf die Vorstellungen. Über das Nachahmungs-Vermögen brauche ich kein Wort zu verlieren. Jeder weiß, was das ist, und zu zeigen, auf welchen organischen Voraussetzungen es beruht, wird die Aufgabe eines folgenden Kapitels sein. Die Wechselwirkung der Vorstellungen und Bewegungen dagegen bedarf eines Wortes der Erläuterung. Alle äußeren Eindrücke, die durch die Sinnesnerven den Rückenmarks- oder Hirnzentren zugetragen werden, erregen in diesen eine Arbeit, die als Bewegungs-Impuls zu sinnlicher Wahrnehmung gelangt. (Hier sei nur nebenhin bemerkt, doch nicht des weiteren ausgeführt, daß selbst dann, wenn der äußere Eindruck scheinbar bloß bewußte Gedankenarbeit – Kogitation – oder unbewußte, automatische Arbeit der höheren Zentren – Emotion –, jedoch keine verspürbare Bewegung anregt, auch ein, wenn schon nur sehr schwacher, Bewegungs-Impuls mit ausgelöst wird, den besonders empfindliche Personen wie die bekannten »Gedankenleser« in manchen Fällen eben noch wahrnehmen können.) Nehmen wir grobe und darum deutliche Beispiele. Die Empfindungsnerven einer Fingerspitze, die unvorsichtig einer heißen Ofenplatte genähert wurde, tragen dem Rückenmark und Gehirn einen Eindruck zu, der im niederen Rückenmarkszentrum allgemein als Gefahr, im höhern Hirnzentrum bestimmter als Schmerz und zwar als brennender Schmerz empfunden wird. Die Antwort darauf giebt das Rückenmarkszentrum in Gestalt eines Bewegungsimpulses an die Armmuskeln, der ein rasches Zurückfahren der Hand bewirkt, und das Hirnzentrum in Gestalt eines Bewegungsimpulses an die Gesichts-, Atem- und Kehlkopf-Muskeln, der ein schmerzliches Verziehen der Miene und das Ausstoßen eines Schreis zur Folge hat. Die Empfindung oder Vorstellung eines Brandschmerzes hat also bestimmte Bewegungsimpulse hervorgerufen. Umgekehrt erwecken nun dieselben Bewegungen, also das jähe Zurückziehen der Hand, das charakteristische Verziehen der Gesichtsmuskeln und das durch kräftige Zusammenziehung der Zwischenrippenmuskeln und des Zwerchfells bei entsprechender Haltung der Kehlkopfmuskeln bewirkte Ausstoßen eines Schreis in den höhern Hirnzentren zwar nicht die Empfindung, aber die Vorstellung eines plötzlichen Schmerzes an der Hand. Jedermann kann folgenden Versuch machen: er stelle zunächst fest, in welchen Bewegungen bei ihm der Seelenzustand tiefer Trauer zum sichtbaren Ausdruck gelangt; etwa durch Senken des Hauptes, eine bestimmte Miene, eine bestimmte Klangfarbe der Stimme, Schluchzen u. s. w.; er mache nun alle diese Muskelbewegungen genau nach und er wird sehr bald, vielleicht zu seinem Staunen, bemerken, daß er tief traurig gestimmt ist. Er wird dann sogar wahrnehmen, daß selbst diejenigen Begleiterscheinungen dieser Stimmung mit auftreten, die nicht willkürlich hervorgerufen werden können, weil sie nicht auf Bewegungen der quergestreiften Muskeln beruhen, also Thränen-Absonderung und trübe Gedanken-Verbindungen, Phantasiebilder u. s. w. Man muß sich eben immer gegenwärtig halten, daß die Nerven, die von den Körpergrenzen zu den Zentren gehen, dann diese Zentren selbst und die Nerven, welche von ihnen zu anderen Zentren oder zu Muskeln ziehen, einen einzigen Apparat bilden, dessen Verbindungen organisch und automatisch geworden sind, und daß der Apparat seine ganze automatische Arbeit abhaspelt, wenn man ihn an welcher Stelle immer in Thätigkeit setzt, entweder in der richtigen oder in umgekehrter Reihenfolge, durch die Vorstellung zur Bewegung oder durch die Bewegung zur Vorstellung. Das ist der Mechanismus, mit welchem der Schauspieler seine Aufgabe erfüllt, die darin besteht, gegebene Seelenzustände, diejenigen der Person, welche er darstellt, sinnlich wahrnehmbar zu machen. Er kann diese Aufgabe auf zwei Arten erfüllen, auf eine bewußte und auf eine unbewußte. Mit Bewußtsein kann er genau und scharf beobachten, durch welche Muskelbewegungen, also Gesten, Mienen und Stimmbiegungen, gegebene Seelenzustände, etwa Heiterkeit, Mißtrauen, Träumerei u. dgl., bei bestimmt organisierten Personen, bei ruhigen, bei nervösen, bei wohlerzogenen, bei rohen Männern zum sicht- und hörbaren Ausdruck zu gelangen pflegen, und sich bemühen, durch den bloßen Willen diese sämtlichen Gruppen von Bewegungen nachzuahmen. Oder er kann sich im allgemeinen den auszudrückenden Seelenzustand vorstellen, der Vorstellung durch einige von ihr gewöhnlich veranlaßte Bewegungen nachhelfen und es diesen dann überlassen, rückwirkend die Vorstellung zu einer sehr lebhaften zu machen, so daß sie dann unbewußt und automatisch alle Bewegungsimpulse ausgiebt, die ihr geläufig sind, die willkürlichen ebenso wie die unwillkürlichen. Die erste Methode ist die schwierigere und sie bleibt immer höchst unsicher. Sie setzt dieselbe Gabe der Beobachtung und Analyse der Erscheinungen voraus, die wir beim Maler als notwendig erkannt haben. Der mit Bewußtsein nachahmende Schauspieler muß die Seelenzustände, die er darstellen will, tatsächlich beobachtet haben; es darf ihm von ihren wahrnehmbaren Äußerungen keine einzige wesentliche entgangen sein und er kann sich nicht, wie der Maler, auf die optischen Merkmale der Erscheinungen beschränken, sondern muß auch die phonetischen berücksichtigen. Findet er in seinem Gedächtnis nicht das Vorbild, das er nachahmen will, oder hat er dieses nicht genügend scharf beobachtet, so wird seine Nachahmung unbeholfen und unvollkommen sein und nicht den Eindruck der Wahrheit machen können. Die zweite Methode ist dagegen leicht und sicher. Da dieselben Seelenzustände mit ganz leichten individuellen Anpassungen bei allen Menschen dieselben wahrnehmbaren Kundgebungen anregen und der Schauspieler doch auch ein Mensch ist, so wird er, wenn er einmal den betreffenden Seelenzustand in sich hervorgebracht hat, diesen ruhig arbeiten lassen können; die für ihn bezeichnenden wahrnehmbaren Kundgebungen, alle ohne Ausnahme, die willkürlichen wie die unwillkürlichen, selbst Thränen, Augenausdruck u. s. w., werden nacheinander unfehlbar zum Vorschein kommen und die volle menschliche Wahrheit der Nachahmung wird erreicht sein. Das einzige, was zur Übung dieser Methode nötig, ist ein sehr unstäter loser Gleichgewichtszustand der Hirnzentren. Man darf keine festen Stimmungen, kein kräftiges Bewußtsein, keine eigenartige Persönlichkeit haben. Die kogitationelle Thätigkeit der höchsten Zentren darf nicht über deren emotionelle vorherrschen, nicht deren automatische Arbeit hindern und beeinflussen. Der ausgezeichnete Schauspieler muß gleichsam eine Flinte mit ungemein leichtem Spiel des Hahns sein. Wie in diesem Falle die leiseste Berührung den Schuß losgehen macht, so führt bei jenem der geringfügigste äußere Eindruck den Seelenzustand herbei, der dargestellt werden soll und der dann seine eigene Versinnlichung automatisch ausarbeitet. Ein solches Verhalten, das leuchtet wohl ein, ist nur von einem Gehirn zu erwarten, dessen höchste Zentren in der Regel unbeschädigt sind, also keine eigene Gedankenarbeit verrichten und deshalb bereit sind, auf alle Sinneseindrücke mit den entsprechenden Stimmungen und Vorstellungen zu antworten. Wo bleibt da für ein Genie Platz? Die allenfalls noch kogitationelle Gabe der Beobachtung und bewußten Nachahmung stattet nur einen Schauspieler zweiten Ranges aus. Gerade die ausgezeichnetsten, wahrsten und wirkungsvollsten Menschendarsteller dagegen müssen untergeordnete Geister sein, ein leeres Bewußtsein und eine verkümmerte Persönlichkeit haben und ihre Zentren müssen mit einer fast schon als krankhaft anzusprechenden Leichtigkeit in automatische Thätigkeit versetzt werden können. Ist es doch bezeichnend, daß Leibesschönheit und gute Eigenschaften der Stimme, also niedere organische Vollkommenheiten, mit zu den wesentlichen Voraussetzungen gehören, die einen wirkungsvollen Menschendarsteller geben! Der ausgezeichnete Schauspieler hat recht eigentlich die psychologische Beschaffenheit des Kindes und des Wilden: die hemmende (inhibierende) Thätigkeit der Bewußtseins-Zentren übt bei ihm keinen Einfluß auf die automatische Arbeit der Bewegungszentren. Die Erziehung hat beim Menschen der Gesittung gerade die Aufgabe, diese hemmende Thätigkeit zu üben und zu stärken; wir werden dazu angehalten, unseren Gemütszuständen nicht zu gestatten, daß sie sich in Bewegungsimpulsen, in Schreien, Gesichtsverzerrungen und Gesten, versinnlichen, und wir bringen es tatsächlich dahin, daß wir die automatische Arbeit der Zentren völlig unterdrücken, daß wir jede oder fast jede sinnlich wahrnehmbare Kundgebung unserer Gemütszustände verhüten und durch kein äußeres Zeichen verraten, was in unserem Bewußtsein vorgeht. Der Schauspieler, der dieses Erziehungsideal erreichen würde, könnte seine Kunst nicht länger üben.

Es ist also, wie wir nun gesehen haben, durchaus mißbräuchlich, in der Musik einen Instrumentisten, in der Malerei einen Zusammensteller angenehmer Farben und einen Schauspieler überhaupt ein Genie zu nennen. Besondere Entwickelung so niederer Zentren, wie es das Koordinations- oder das Lichtempfindungs-Zentrum sind, oder besonders rege Wechselwirkung von Bewegungen und sie gewöhnlich veranlassenden Seelenzuständen geben nicht mehr den Anspruch auf die Bezeichnung Genie als etwa eine besonders vollkommene Muskelentwickelung oder ein besonders gutes Auge. Das Genie beruht nur auf der ausnahmsweisen Vollkommenheit der höchsten und darum rein menschlichen Hirnzentren, als deren Thätigkeit wir das Urteil und den Willen betrachten. Urteil und Wille, das sind in letzter Linie die Fähigkeiten, deren Zusammenwirken den Menschen über das Tier und deren außergewöhnlich mächtige Ausbildung das Genie über den Durchschnittsmenschen erhebt. Durch Urteil und Willen allein und durch nichts anderes ist das Genie ein Genie. Was ist Urteil? Eine Thätigkeit, die aus Vorstellungen, welche von Sinneseindrücken oder vorangegangener Urteilsthätigkeit gegeben sind, selbständig neue Vorstellungen entwickelt. Den Stoff, den das Urteil verarbeitet, liefern das Gedächtnis, welches seinerseits aus den Sinneseindrücken schöpft, und der Verstand, der die Sinneseindrücke deutet. Die Gesetze, nach denen das Urteil arbeitet, bilden zusammen das, was wir Logik nennen. Also der Sinneseindruck wird von den Empfindungszentren aufgenommen, vom Verstande gedeutet, vom Gedächtnis bewahrt und zuletzt vom Urteil nach festen Regeln, denen der Logik, zu neuen Vorstellungen verarbeitet, die nicht mehr auf direkter sinnlicher Wahrnehmung beruhen. Ein allereinfachstes Beispiel wird dies selbst demjenigen Leser klar machen, der nie etwas von wissenschaftlicher Psychologie gehört hat. Meine Sinne, Gefühl und Gesicht, gaben mir einmal den Eindruck, daß auf mich im Freien Wasser fiel und der Himmel schwarz war. Mein Verstand verknüpfte diese verschiedenen Sinneseindrücke und deutete sie zu der Vorstellung: es regnet aus den Wolken. Mein Gedächtnis bewahrte die Eindrücke und ihre Deutung. Nun sehe ich einmal dicke Wolken heraufziehen und alle sonstigen Bedingungen (Temperatur, Barometerstand, Windrichtung u. s. w.) sich wiederholen, unter denen es zu regnen pflegt. Mein Urteil wird nun aus der ihm vom Gedächtnis gelieferten Vorstellung von Regengüssen in der Vergangenheit, deren Bedingungen der Verstand festgestellt hat, nach dem von der Erfahrung gegebenen logischen Gesetze, daß dieselben Ursachen unter denselben Bedingungen dieselben Wirkungen veranlassen, die neue Vorstellung ausarbeiten: es wird alsbald regnen, eine Vorstellung, die auf keinem Sinneseindruck beruht, da ja ein Vorgang, der erst in der Zukunft eintreten wird, noch keinen Sinneseindruck hervorbringen kann. Daß auch das Urteil auf der Thätigkeit eines Organs, eines Hirnzentrums beruht und nicht eine außerhalb des Stoffes stehende Erscheinung sein kann, wie der sonst so große und tiefe Denker Wundt annimmt, ist schon dadurch bewiesen, daß es sich durch häufige Wiederholung wie jede andere Hirn- und Rückenmarkszentrums-Thätigkeit im Einzelwesen wie durch Vererbung in der Gattung organisiert, also automatisch wird. Wenn wir bei meinem einfachen Beispiel bleiben, so finden wir, daß auch sehr niedere Tiere, sogar Würmer, des Urteils fähig sind, daß es regnen wird, wenn gewisse Erscheinungen auftreten, denn sie treffen bei drohendem Regen die bei ihnen üblichen Vorbereitungen für denselben, Verkriechen sich, graben sich ein u. s. w. Je vollkommener aber das Urteilszentrum ist, um so leichter wird es ihm, aus dem ihm von den Sinnen, dem Gedächtnis und dem Verstande gelieferten Stoffe neue Vorstellungen zu bilden und um so weiter werden sich diese neuen Vorstellungen zeitlich, räumlich und artlich von den Sinneseindrücken entfernen, welche zu ihrer Bildung die erste Veranlassung gegeben haben. Es wird sich also von dem minder vollkommenen Urteilszentrum darin unterscheiden, daß letzteres bei der Bildung von neuen Vorstellungen, also Urteilen, sich nicht gern von der sichern Unterlage, den Sinneseindrücken und den Erinnerungen, entfernt, während das erste in wunderbar kühner Thätigkeit aus den Sinneseindrücken und Erinnerungen ein Urteil ausarbeitet, dieses Erzeugnis seines eigenen Schaffens wieder als ein dem Sinnes-, Gedächtnis- und Verstandes-Material gleichwertiges Produkt behandelt und aus ihm mit den Gesetzen der Logik weitere Urteile ableitet und dieses Ableiten von Urteilen auseinander, dieses Aufhäufen neuer Vorstellungen auf der manchmal überaus kleinen Unterlage eines Sinneseindrucks frei und leicht bis zu Grenzen treibt, die dem Durchschnittsmenschen unerreichbar scheinen. Man kann dieses Verhältnis von Sinneseindruck und Urteil veranschaulichen und sagen, die Urteilsthätigkeit gleiche beim Durchschnittsmenschen einer Pyramide, deren Basis der Sinneseindruck, deren Spitze das Urteil ist, beim Genie dagegen einer umgekehrten Pyramide, die auf einer Spitze von Sinneseindruck steht und sich zu einer Basis von Urteil verbreitert. So befähigt der Besitz eines mächtigen Urteilszentrums, aus einem einzigen Eindrucke, einem Blicke, einem Laute, den verwickeltsten Zusammenhang der Dinge zu erraten, aus der Gegenwart die Zukunft, oft die ferne Zukunft vorherzusehen, aus einer Erscheinung ihr Gesetz zu erkennen, das Ergebnis der Einwirkung verschiedener Erscheinungen aufeinander noch vor der unmittelbaren Beobachtung vorauszuwissen; ein solches Urteilszentrum giebt, um es volkstümlich auszudrücken, Menschenkenntnis, Herrschaft über die Lage, sicherste Selbstführung und Führung anderer, Weisheit, Einsicht und Erfindungskraft. Das Urteil, wie ich es bisher definiert habe, hat die Annahme der Kausalität zur Voraussetzung, das heißt die Annahme, daß jede Erscheinung eine Ursache hat, daß gleiche Ursachen unter gleichen Verhältnissen gleiche Wirkungen haben und daß die Größe der Ursache zur Größe der Wirkung in geradem Verhältnisse steht. Nur bei dieser Annahme hat das Material, welches ihm vom Gedächtnis geliefert wird, für das Urteil einen Wert und kann dieses aus Erinnerungsbildern neue Vorstellungen formen, aus der Vergangenheit auf die Zukunft, aus Nahem auf Fernes, aus sinnlich Wahrnehmbarem auf außerhalb des unmittelbaren Sinnesbereichs Liegendes schließen. Ich kann mir aber ein so gewaltiges Urteilszentrum vorstellen, daß es zu seiner Arbeit keines Gedächtnismaterials, also auch keiner Kausalität bedürfte, sondern fähig wäre, den Sinneseindruck unmittelbar zu neuen Vorstellungen zu verarbeiten, die auf der Erkenntnis eines eigenen Gesetzes in jeder neuen Erscheinung beruhten und nicht einfache Projektionen von Erinnerungsbildern in die Zukunft, sondern wirklich vollständig eigenartige, nichts Bekanntes wiederholende Bewußtseinszustände wären. Doch ich will diesen Gedanken nicht ausspinnen, da ich mich innerhalb der Grenzen des heute gegebenen Menschlichen halten möchte.

Neben dem Urteil, haben wir gesagt, ist der Wille der wesentlichste Bestandteil des Genies. Was ist Wille? In der Beantwortung dieser Grundfrage habe ich die Kühnheit, sowohl von Kant, vor dessen erdrückender Größe ich mich sonst in Demut beuge, als auch von Ribot, dessen Tiefsinn und Forschergründlichkeit ich übrigens freudig anerkenne, abzuweichen. Wenn uns Kant erklärt, der Wille sei zugleich das Befehlende, das Gesetz und das Gehorchende, so ist das eine transscendentale Definition, die schwerlich verständlicher und einleuchtender ist als die theologische Erklärung von der Einheit der drei Naturen Gottes. Ribots Definition, nach welcher der Wille die Reaktion des Ichs auf die Einwirkungen der Außenwelt wäre, ist viel zu weit und umfaßt eigentlich das ganze Bewußtsein, das, insofern es auf Sinneseindrücken beruht und seinen ganzen Inhalt aus Sinneseindrücken schöpft (die Frage, ob wir es nötig haben, aprioristische Vorstellungen anzunehmen, lasse ich hier unberührt), auch nur eine »Reaktion des Ichs auf die Einwirkungen der Außenwelt« ist; eine Definition aber, welche zur Annahme führen müßte, daß Bewußtsein und Wille identisch seien, kann nicht richtig sein. Wer auf dem naturwissenschaftlichen Standpunkte steht, der wird mit mir sagen dürfen: der Wille ist die Thätigkeit eines Zentrums, dessen einzige Aufgabe im Organismus es ist, Muskelzusammenziehungen zu veranlassen, anders gesagt, Bewegungsimpulse auszugeben. Philosophisch kommt diese Definition des Willens derjenigen Schopenhauers nahe, denn Schopenhauer nennt das, was Bewegungen veranlaßt, nicht nur bei einem Organismus, sondern auch bei unorganischen Dingen Willen und da jede Erscheinung in letzter Analyse eine Bewegung oder ein Widerstand gegen eine Bewegung, also eine passive Bewegung ist, so wäre der Wille das Wesen aller Erscheinungen, also der Welt. So weit gehe ich nicht. Trotz der theoretischen Ähnlichkeit oder meinethalben selbst Identität des Falles eines Steins und des Schrittes eines Menschen ist man dennoch berechtigt, praktisch diese beiden Bewegungen voneinander zu unterscheiden und für das, was den Steinfall und was den Menschenschritt veranlaßt, nicht dieselbe Bezeichnung anzuwenden. Wir werden also die Ursache von Bewegungsimpulsen nur bei Organismen Willen nennen und den Willen bloß als eins Begleiterscheinung des Lebens gelten lassen. Daß man Muskelzusammenziehungen nicht bloß mit dem Willen, sondern auch durch andere Einwirkungen, z. B. einen galvanischen Strom, veranlassen kann, beweist nichts gegen die Richtigkeit meiner Definition; denn erstens ist es nicht ausgeschlossen, daß dieselbe Erscheinung von verschiedenen Ursachen hervorgerufen sein kann, und zweitens beweist uns nichts, daß nicht auch der Wille eine Art elektrischer Erscheinung ist, wie man denn auch von »Nervenströmen«, »Nervenkraft«, »Nervenfluidum« spricht, Ausdrücke, die alle auf die Vorstellung zurückführen, daß das Willenszentrum eine Art elektrischer Batterie und der den Muskeln gesandte Bewegungs-Impuls eine Art elektrischen Stromes sei. Man wendet vielleicht ein, daß der Wille auch Erscheinungen hervorrufe, die nicht geradezu Muskelbewegungen genannt werden können; man macht z. B. zweifellos Willensanstrengungen, um sich einer Sache zu erinnern, Gedächtnis aber ist keine Muskelthätigkeit. Darauf erwidere ich: das Gedächtnis gehorcht denn auch tatsächlich dem Willen nur sehr unvollständig und ich glaube, der Wille wirkt nur ganz indirekt auf das Gedächtniszentrum in der Weise ein, daß er Zusammenziehungen und Erweiterungen, also Bewegungen der nicht unter der direkten Kontrole des Bewußtseins stehenden glatten Muskeln in den Gefäßen veranlaßt, welche dem Gedächtniszentrum Blut zuführen. Durch die reichlichere Blutzufuhr wird das Organ zu größerer Thätigkeit angeregt und es kann dann manchmal dem Bewußtsein das gewünschte Erinnerungsbild liefern, welches von ihm nicht zu erlangen war, solange es weniger Blut erhielt und weniger lebhaft arbeitete. Ich bleibe also dabei, daß keine mir bekannte psycho-physiologische Erfahrung dem Satze widerspricht, der Wille sei die Thätigkeit eines Organs, welches Bewegungsimpulse ausgiebt. Nun sind die Fragen zu beantworten, wie die vom Willen ausgegebenen einfachen Bewegungsimpulse zweckmäßige Bewegungen veranlassen und wie der Wille selbst zu seiner spezifischen Thätigkeit angeregt wird. Man findet die Antwort auf diese Fragen, wenn man sich gegenwärtig hält, daß das Leben überhaupt eine sehr zusammengesetzte Erscheinung ist und namentlich jede höhere Lebensthätigkeit nur durch ineinandergreifendes Zusammenwirken verschiedener Organe zustande kommt. Der Wille veranlaßt bloß Zusammenziehungen der Muskeln; nichts anderes. Die Koordinationszentren nehmen aber den Impuls auf und verteilen ihn an diejenigen Muskeln, welche sich zusammenziehen müssen, um die beabsichtigten, zweckmäßigen Bewegungen herbeizuführen, um sie nicht bloß in der gewünschten Form, sondern auch in der gewünschten Stärke herbeizuführen. Die Koordinationszentren spielen also dem Willen gegenüber die Rolle wie in einem elektrischen Apparat etwa die eingeschalteten Kommulatoren, Relais und Widerstände der Batterie gegenüber. Wer hat aber die Koordinationszentren gelehrt, die Muskeln zu erkennen, die sich zusammenziehen müssen, damit eine bestimmte Bewegung in der beabsichtigten Weise und Stärke ausgeführt werde? Die Erfahrung des Einzelwesens und der ganzen Gattung seit ihrem Entstehen, eine Erfahrung, die organisiert ist und automatisch wirkt. Und wie wird der Wille zu seiner spezifischen Thätigkeit angeregt? Durch Einwirkung aller anderen Zentren, durch Induktion, möchte ich mit Heranziehung einer Vorstellung aus dem Bereiche der Elektrizitäts-Wissenschaft sagen. Ein bloßer Sinneseindruck kann ohne Dazwischenkunft des Bewußtseins den Willen zum Ausgeben eines Bewegungs-Impulses veranlassen; es entsteht eine Reflexbewegung, die ganz falsch »unwillkürlich« genannt wird. Unwillkürlich, das heißt nicht vom Willen angeordnet, ist sie nicht; nur unbewußt. Die automatische Thätigkeit der hohen Zentren, also die Emotionen, regen ebenfalls den Willen an. Diese Ursache einer Willenshandlung gelangt mit der oben geschilderten den Emotionen eigentümlichen Halbdeutlichkeit zum Bewußtsein. Endlich kann auch die selbständige, neue, nicht organisierte Thätigkeit des Bewußtseins, also das Urteil, die Kogitation, eine Willensarbeit veranlassen. Das Urteil selbst »will« nicht; es bildet nur eine Vorstellung von irgend einer einfachen oder zusammengesetzten Bewegung oder selbst langen Reihe aufeinander folgender Bewegungen, die ihm in einer gegebenen Lage zweckmäßig scheinen; ist der Organismus gesund, regelrecht entwickelt und im Gleichgewichts, so genügt diese Vorstellung, um das Willenszentrum zur Ausgabe eines Bewegungsimpulses zu veranlassen. Daß die Bewegung vollzogen ist, erfährt das Bewußtsein wieder durch die ihm gemeldeten Eindrücke des Muskelsinnes. Der Vorgang ist also dieser: das Urteil bildet eine Vorstellung von Bewegungen, der Wille giebt die Impulse zu ihnen, die Koordinationszentren verteilen die Impulse zweckmäßig und der Muskelsinn meldet die geschehene Bewegung ins Gehirn zurück. Bewußt sind nur der Anfang und das Ende dieses Vorganges, die Bewegungsvorstellung, welche das Urteil ausgearbeitet hat, und die Kenntnis der vollzogenen Bewegung. Was dazwischen liegt, das entzieht sich dem Bewußtsein. Wie die Bewegungsvorstellung zur Bewegung wurde, das erfährt es nicht. Ungenaue Beobachtung aber hat diese so einfache und klare Folge organischer Akte verdunkelt. Weil man sich der Bewegungsvorstellungen und der ausgeführten Bewegungen bewußt wird, hat man den Willen selbst ins Bewußtsein verlegt. Und doch lehrt die Erfahrung, daß auch die allerlebhafteste Bewegungsvorstellung nicht notwendig von einer Bewegung gefolgt, daß also das Urteil noch durchaus nicht der Wille sei. In einer Krankheit, welche man Neurasthenie oder Nervenschwäche nennt, ist das Willenszentrum dem Einflusse des Urteils entzogen. Man hat dann gut sich Bewegungen vorstellen, man führt sie nicht aus. Man erkennt vollkommen die Zweckmäßigkeit, ein Buch zu nehmen oder über die Straße zu gehen, allein man vermag die Arme oder Beine nicht zu den hierzu notwendigen Bewegungen zu bestimmen; man ist aber nicht etwa gelähmt, sondern vollkommen imstande, z. B. fremde Befehle auszuführen. Der Kranke sagt dann wohl: »Ich will, aber ich kann nicht.« Das ist jedoch unrichtig. Die Wahrheit ist, daß er denkt, aber nicht will. Das Urteilszentrum arbeitet, das Willenszentrum nicht. Man sagt sehr häufig von Menschen, daß sie willensschwach seien. Das ist in der Regel unrichtig. Das, was meistens schwach ist, das ist das Urteilszentrum. Dieses ist nicht fähig, bestimmte Bewegungsvorstellungen in genügender Schärfe auszuarbeiten. Darum kann auch der Wille nicht in Thätigkeit treten. Wenn aber ein fremdes Urteil ihnen solche Bewegungs-Vorstellungen mitteilt, also ihnen rät oder befiehlt, so führen sie die Bewegungen gewaltig, sicher und unwiderstehlich aus, ein Beweis, daß ihr Willenszentrum stark genug ist. Dasselbe gilt von den Fällen, in welchen man von einem Willenszwiespalt oder von einer dem Einflüsse des Willens entzogenen Handlung der Leidenschaft spricht. Der Zwiespalt herrscht nicht im Willen, sondern im Urteil. Man hat nicht »zwei Willen, die einander bekämpfen«, sondern zwei Vorstellungen, deren keine klar und deutlich genug ist, um den Willen zu einem Impulse anregen zu können. Sowie eine Vorstellung ganz deutlich wird, besiegt sie die andere und versetzt den Willen in Thätigkeit. Hamlet ist nicht willenlos, sondern urteillos. Sein Urteilszentrum erweist sich nicht als stark genug, um eine bestimmte Vorstellung zweckmäßiger Bewegungen auszuarbeiten. Könnte er dies, so würde sein Wille die Bewegungen auch vollziehen, vorausgesetzt, daß das Willenszentrum gesund ist, worüber uns Shakespeare keine Andeutung giebt. Und wenn man in der Leidenschaft etwas thut oder unterläßt, was scheinbar die Vernunft verbietet oder befiehlt, so ist nicht etwa »der Wille ohnmächtig gewesen«, wie die Romanphrase geht, sondern die automatische, emotionelle Thätigkeit der höchsten Zentren war stärker als ihre freie, kogitationelle, die bewußten Vorstellungen des Urteils haben gegen die halb- oder unbewußte organisierte Arbeit der Hirnzentren nicht Vorgewogen, der Wille hat die kräftigere Anregung von ihrem Automatismus erhalten und die Bewegungsbilder verwirklicht, die automatisch, und nicht diejenigen, die vollbewußt hergestellt morden sind. Der Wille ist also mächtig genug gewesen; ohnmächtig war nur das Urteil, die automatische Arbeit der höchsten Zentren zu hemmen und mit seiner freien, bewußten Arbeit auf den Willen einzuwirken. Wir werden die Verwechselung von Urteil und Willen nicht begehen und bei Unentschlossenheit oder vernunftwidrigen Handlungen der Leidenschaft oder bloßer Gewohnheit nicht von Willens-, sondern von Urteilsschwäche sprechen. Wirkliche Willensschwäche werden mir nur dann annehmen dürfen, wenn bei einem gesunden Menschen (wo also nicht etwa die Verbindung zwischen dem Urteils- und Willenszentrum gestört ist und beide zwar kräftig genug, aber unfähig sind, einander regelrecht zu beeinflussen) ganz klare und bestimmte Bewegungsvorstellungen des Urteils nicht verwirklicht oder nur unvollkommen und zögernd ausgeführt werden und wo auch Impulse der Leidenschaft bloßes Gefühl, Wunsch, Sehnsucht bleiben, aber nicht zur That werden. Denn das einzige Maß der Stärke des Willens ist seine Fähigkeit, Widerstände zu überwältigen. Nicht die Muskeln sind es, die Hindernisse besiegen, sondern der Wille ist es, die Menge von Anregung, die er den Muskeln giebt. Wahnsinnige, bei denen das Willenszentrum krankhaft erregt ist und außerordentlich starke Impulse an die Muskeln ausgiebt, vollbringen Handlungen, die man nicht für möglich halten würde. Schwächliche Greise oder Frauen zerbrechen Eisenstäbe, zerreißen Ketten, können im Ringen von mehreren handfesten Aufsehern nicht überwunden werden. Wenn dieselben Personen in gesundem Zustande Ähnliches leisten könnten, so würde man sie zu den stärksten Individuen des Zeitalters rechnen. Sie können es aber nicht, obwohl sie doch im Besitze desselben Muskelsystems sind wie zur Zeit ihres Wahnsinns. Man ersieht daraus, daß es bei großen Kraftleistungen nicht entfernt so viel auf die Muskeln als auf die Stärke des Impulses ankommt, den ihnen das Willenszentrum sendet. Der erste Widerstand, den der Wille zu besiegen hat, ist der Leitungswiderstand, der ihm von den Geweben, den Nerven und Muskeln, entgegengesetzt wird. Je kürzer die in Betracht kommende Nervenbahn, je kleiner und zarter die anzuregende Muskelgruppe ist, um so geringer ist dieser Widerstand, um so schwächer kann der Willensimpuls sein, der zur Hervorbringung einer Bewegung notwendig ist. Die feinsten quergestreiften Muskeln, die wir besitzen, sind der Reihe nach diejenigen des Kehlkopfs, des Auges, der Mundhöhle, des Gesichtes, der Hand. Schon ein sehr schwacher Wille genügt also, um diese Muskeln in Bewegung zu setzen und zu schmatzen, Gesichter zu schneiden, grimmig oder froh zu blicken und zu gestikulieren. Darauf beschränken sich dann auch die Handlungen gewöhnlicher Menschen. Etwas schwerer ist es schon, die groben Muskelgruppen der Arme, noch schwerer, die der Beine und des Rumpfes zur Zusammenziehung zu veranlassen. Das erfordert eine stärkere Impulsion, also eine kräftigere Arbeit des Willenszentrums. Wirklich willensschwache Menschen gelangen deshalb kaum dazu, dem Schwatzen und Gestikulieren ein Unternehmen folgen zu lassen, das Gänge oder ein Schaffen mit den Armen erfordert. Am schwersten endlich ist die Ausführung solcher Bewegungen, die den Zweck haben, äußere Widerstände, sei es unbelebter Dinge oder lebender Wesen, zu überwältigen. Da muß der Wille nicht blos die inneren Leitungshindernisse, die uns als Trägheit oder Bewegungsunlust zum Bewußtsein kommen, sondern Naturkräfte (z.B. die Schwerkraft) oder die Impulse eines fremden Willens besiegen; er muß also imstande sein, kräftige Impulse auszugeben, jedenfalls kräftigere als die des gegnerischen Willens, wenn der zu überwindende Widerstand von einem Menschen herrührt. Ist der Wille dazu nicht stark genug, so werden die Bewegungsvorstellungen des Urteils, und wären sie noch so klar und bestimmt, unverwirklicht bleiben. Man wird genau wissen, was man thun sollte, man wird auch aufs lebhafteste wünschen, es zu thun, aber thun wird man es doch nicht. Das, was man Mangel an Ausdauer und Feigheit nennt, ist nichts anderes als eine Erscheinungsform der Willensschwäche. Man verharrt nicht bei einem Unternehmen oder schreckt schon vor dessen Beginn zurück, wenn man entweder aus Unkenntnis desselben seine Schwierigkeiten überschätzt oder es kennt und seinen Schwierigkeiten nicht gewachsen zu sein glaubt. In beiden Fällen formt das Urteil die im gegebenen Falle angezeigten Bewegungsvorstellungen nicht deutlich, weil ihm das Gedächtnis Erinnerungsbilder von Fällen vorhält, in welchen der Wille sich zur Bewältigung ähnlicher Schwierigkeiten zu schwach erwiesen hat. Lauheit und Feigheit beruhen demnach auf der Erfahrung von Willensschwäche.

Mächtige Entwickelung des Urteils- und des Willenszentrums sind also die organischen Unterlagen der Erscheinung, die man Genie nennt. Einseitige Entwicklung des Willenszentrums genügt noch nicht zur Ausstattung eines Genies. Riesen an Willen werden imstande sein, alle Hindernisse zu überwinden, die sich der Verwirklichung ihrer Bewegungsvorstellungen entgegenstellen, mögen sie nun die Form von Dingen oder Menschen, von Gesetzen oder Sitten annehmen; aber sie werden nicht selbständig bedeutende und zweckmäßige Bewegungsvorstellungen ausarbeiten können. Herkules vollbringt die zwölf Arbeiten, aber Eurystheus muß sie ihm auftragen. Mit dem Willen allein wird man im besten Falle ein Heerführer unter Alexander dem Großen, ein Seleukus, ein Ptolemäus, oder ein Marschall Napoleons; man wird der berühmte Minister eines genialen Monarchen oder, und zwar viel häufiger, der unsterbliche Souverän eines genialen Ministers; im schlechtesten Falle wird man ein Wüstling, von dessen Orgien Länder und die Geschichte widerhallen, oder ein Verbrecher, der alle Zeitgenossen in Schrecken versetzt; ein Cäsar Borgia oder ein Schinderhannes. In jenem Falle verwirklicht man die Bewegungsvorstellungen, die ein fremdes, geniales Urteilszentrum ausgearbeitet hat, in diesem die halb- oder unbewußten emotionellen Anregungen der eigenen Zentren. Einseitige Entwickelung des Urteilszentrums bringt dagegen für sich allein ein Genie hervor, nur wird dieses einen andern Charakter haben, je nachdem neben dem Urteils- auch das Willenszentrum weniger oder mehr ausgebildet ist. Urteilsgenie ohne besondere Willenskraft giebt einen großen Denker, einen Philosophen, Mathematiker, vielleicht noch Naturforscher. Denn bei ihren Thätigkeiten sind die geringsten dynamischen Hindernisse zu überwältigen, die schwächsten Muskelzusammenziehungs-Impulse auszugeben; ihr Urteil braucht nicht grobe Bewegungsvorstellungen auszuarbeiten, sondern erweist seine Größe und Gewalt auf andere Art, indem es aus den Sinneseindrücken endlose, neue, unsinnliche Vorstellungen ableitet; aus einer einfachen Zahlenbeobachtung den pythagoräischen Lehrsatz, die Theorie der Zahlen, die Integral- und Differenzialrechnung; aus dem Falle eines Apfels das Gesetz der Schwerkraft; aus dem Wahrnehmungsinhalt des Bewußtseins eine Erkenntnistheorie, aus den Erfahrungsthatsachen der Entwicklungslehre und Paläontologie das evolutionistische System Darwins. Ich kann die Anschauung Bains nicht teilen, der in der Rangordnung des Genies das philosophische Genie obenan stellt. Meine Theorie zwingt mich, dem reinen Denker und Forscher den untersten Platz in dieser Rangordnung anzuweisen; denn ihre Größe beruht auf ihrem Urteil allein, dieses ist aber für sich, ohne Mitwirkung des Willens, außer stande, die von ihm ausgearbeiteten Vorstellungen, und wären sie noch so wunderbar, zu sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen zu machen. Um sie wenigstens auszusprechen oder aufzuschreiben, bedarf es schon einer Muskelthätigkeit, also eines Willensimpulses. Würde der Wille eines Urteilsgenies nicht einmal zur Veranlassung der Schreib- oder Sprechthätigkeit genügen, so blieben dessen erhabenste Vorstellungen rein subjektive Bewußtseins-Zustände, von denen niemand außer ihm selbst eine Ahnung hätte. Sie wären molekulare Bewegungsvorgänge in seinem Gehirn und von anderen nur in dem Maße wahrnehmbar, in welchem solche durch den Raum hindurch von einem andern Gehirn empfunden und wiederholt werden können, sofern man nämlich diese Art der Wahrnehmung, also ein Gedankenlesen höchster Art, für möglich hält.

Tritt zum Urteilsgenie ein Willenszentrum von guter Durchschnittsbildung, so erhalten wir den großen Förderer der Experimental-Wissenschaften und den Erfinder. Das Wesen der Anlagen und Thätigkeit dieser beiden ist eigentlich identisch. Der Experimentator wie der Erfinder leitet aus den Erscheinungen Gesetze ab und sinnt stoffliche Bedingungen aus, die ihm gestatten, die gefundenen Gesetze nach seiner Willkür wirken zu lassen. Der Unterschied zwischen ihnen ist kein theoretischer, nur ein praktischer. Jener begnügt sich damit, solche Umstände und Vorrichtungen zusammenzustellen, die ihm zeigen sollen, ob die sinnlichen Vorgänge mit den Vorstellungen seines Urteils übereinstimmen, ob ein von seinen Hirnzentren gefundenes Gesetz sich in der Welt der Erscheinungen bewahrt; dieser dagegen sucht solche Veranstaltungen zu schaffen, die den ausschließlichen Zweck haben, die menschliche Bequemlichkeit im weitesten Sinne zu erhöhen. Allerdings haben wir da einen Irrtum zu vermeiden. Eine Erfindung, eine Entdeckung muß nicht notwendig das Ergebnis von Urteilsgenie gepaart mit ausreichender Willenskraft sein. Der Zufall kann an ihr mitgearbeitet haben. Der Mönch Schwarz suchte nicht das Pulver, als sein Schwefel-, Salpeter- und Kohlengemenge im Mörser aufflog, und Professor Galvani dachte nicht im Entferntesten an eine unbekannte Naturkraft, als er seinen sezierten Froschschenkel an den Kupferhaken steckte. Im ganzen bin ich aber dennoch nicht geneigt, dem Zufall mehr als einen ganz geringen Anteil an den großen Entdeckungen und Erfindungen einzuräumen. Es gehört immerhin ein außergewöhnliches Urteil dazu, eine unbekannte Erscheinung richtig zu beobachten, sofort zu bemerken, daß sie mit den zur Zeit vorhandenen Kenntnissen nicht befriedigend erklärt werden kann, ihre Ursachen und Bedingungen zu finden und aus ihr neue Vorstellungen abzuleiten. Der Zufall wird also nur dann zum Ausgangspunkte einer Entdeckung oder Erfindung, wenn er einen bedeutenden kogitationellen Menschen zum Zeugen hat. Der emotionelle Durchschnittsmensch mit seinem automatisch arbeitenden Gehirn bleibt stumpf vor Erscheinungen, die sich mit seinen ererbten und organisierten Vorstellungen nicht decken. Wäre der Mörser von Schwarz vor einem Durchschnittsmenschen losgegangen, so hätte dieser sich bekreuzt, an eine Teufelserscheinung geglaubt und aus seiner Beobachtung höchstens die Lehre gezogen, daß er sich hüten müsse, je wieder an Schwefel zu rühren. Das Pulver hätte er nicht erfunden. Die gewissen fruchtbaren Zufälle ereignen sich täglich vor den Augen der Menschheit und haben sich immer vor ihnen zugetragen. Es muß aber erst ein außerordentlich mächtiges Urteil vor sie hintreten, um sie zu verstehen, ihre Gesetze und Anwendungen zu finden. Der ganze Stoff an Erscheinungen, die den biologischen, chemischen und physikalischen Wissenschaften, den Erfindungen im Gebiete der Dampfkraft, der Elektrizität, der Mechanik zu Grunde liegen, ist unverändert seit ewigen Zeiten da und er war für die Menschen der Steinzeit ganz so vorhanden wie für uns. Allein um ihn zu verstehen und zu bemeistern bedurfte es einer Entwicklung des Urteils, die weder von den Urmenschen noch von den Menschen des Altertums erreicht war. Ebenso sind wir auch heute zweifellos von Erscheinungen der wunderbarsten Art umgeben, bei denen wir uns nichts denken, die wir nicht zu deuten wissen und deren Gesetze wir nicht suchen, weil unter den Mitlebenden niemand ein genug mächtiges Urteil besitzt, um aus ihrer sinnlichen Wahrnehmung die Vorstellung ihrer Ursachen und möglichen Wirkungen abzuleiten. Es ist aber äußerst wahrscheinlich, daß später Genies kommen werden, denen dies erreichbar, ja leicht sein wird, und unsere Nachfolger auf Erden werden nicht begreifen, daß wir blöd und stumpf, an den merkwürdigsten Erscheinungen vorübergehen konnten, wie wir nicht verstehen, daß die Menschen nicht schon vor Jahrtausenden auf Sprengstoffe, Dampfmaschinen und Anwendungen der Elektrizität gekommen sind. Sehen wir nun von der, wie ich zu zeigen gesucht habe, winzig kleinen Mitarbeit des Zufalls ab, so bleibt die Thatsache übrig, daß Versuche im Sinne Bacons, »an die Natur gerichtete vernünftige Fragen«, die mit Bewußtsein und Absicht gestellt sind und auf die man eine im Voraus erratene Antwort erwartet, also die methodischen Arbeiten eines Robert Meyer, Helmholtz, Röntgen, ein Urteilsgenie und ein tüchtig organisiertes Willenszentrum zur Voraussetzung haben. Die Gesellung des Willenszentrums ist nötig, weil es sich ja beim Experimentieren und Erfinden wesentlich darum handelt, vom Urteilszentrum ausgearbeitete Vorstellungen zu versinnlichen, die Versinnlichung aber nur durch Muskelthätigkeit bewirkt werden kann, die wieder bloß durch Willensimpulse zustande kommt.

Wenn endlich das Willenszentrum ebenso außerordentlich entwickelt ist wie das Urteilszentrum, wenn wir also einen Menschen vor uns haben, der zugleich ein Urteils- und ein Willensgenie ist, so grüßen wir eine jener Erscheinungen, welche den Lauf der Weltgeschichte verändern. Ein solches Genie äußert sich nicht in Gedanken und Worten, sondern in Thaten. Sein Urteil arbeitet neue, persönliche Vorstellungen aus und sein Wille ist rege und stark genug, sie allen Hindernissen zum Trotze in Handlungen umzusetzen. Es verschmäht die bequemeren Arten der Versinnlichung von Vorstellungen, nämlich die durch Laute und Zeichen, und strebt diejenigen an, die ein Überwältigen der größten Widerstände nötig machen. Es spricht und schreibt also nicht, sondern handelt, das heißt verfügt über andere Menschen und über Naturkräfte im Sinne seiner Vorstellungen. Dieses Genie wird in der Menschheit, was es will und thut, was es will. Es entdeckt Weltteile. Es erobert Länder. Es beherrscht Völker. Es geht den Lebensgang Alexanders, Mohameds, Cromwells, Napoleons. Seinem Walten setzt nichts Menschliches eine Grenze, es müßte denn ein gleich großes ober noch größeres Urteils- und Willensgenie zum Zeitgenossen haben. Es kann nur an einer Naturkraft scheitern, die mächtiger ist als die Kraft seines Willens. Ein Orkan hätte Columbus vernichten können; Krankheit fällte Alexander; Napoleon wurde an einem russischen Winter zu Schanden. Das Urteilszentrum kann in seinen Vorstellungen selbst die Natur überwinden. Das Willenszentrum vermag nur Kräfte zu besiegen, die schwächer sind als seine eigene Kraft.

Die Organisation eines solchen Urteils- und Willensgenies bringt es mit sich, daß es mehr oder weniger, in äußersten Fällen vollkommen, dessen entbehrt, was man Gefühl und künstlerischen Sinn, Schönheits- und Liebesbedürfnis nennt. Seine mächtigen Zentren setzen alle Eindrücke in klare Vorstellungen um und leiten vollbewußte Urteile aus ihnen ab. Eine automatische Thätigkeit findet höchstens in den niederen Zentren der Koordination und Ernährung statt; die höheren arbeiten eigenartig, nicht nach ererbter Schablone. Von dunkeln, halb- oder unbewußten Regungen ist das Genie beinahe ganz frei. Es ist in keiner Weise sentimental. Es macht deshalb den Eindruck der Härte und Kälte. Diese Worte besagen aber nichts anderes, als daß es rein kogitationell, nicht emotionell ist. Mit dieser Organisation hängt es auch zusammen, daß das Genie den fertigen Gedanken anderer Köpfe sehr schwer zugänglich ist. Seine Zentren sind auf eigenartige, nicht auf Nachahmung fremder Arbeit gerichtet. Sie müssen sich dem Rohstoff sinnlicher Wahrnehmungen gegenüber befinden, um denselben in ihrer persönlichen Weise zu neuen Vorstellungen zu verarbeiten. Vorverdaute Erzeugnisse des Urteils, das heißt ein Rohstoff sinnlicher Wahrnehmungen, der bereits in fremden Hirnzentren die Umwandlung in Vorstellungen erfahren hat, also gerade die, ich möchte sagen geistigen Peptone, die der Durchschnittsmensch allein assimilieren kann, widerstehen ihnen.

Bei diesem Punkte meiner Betrachtungen richtet sich eine bedrohliche Frage vor mir auf. Wenn das Genie Urteil und Wille in außerordentlicher Vollendung ist, wenn seine Thätigkeit in Hervorbringung neuer, unsinnlicher Vorstellungen und in deren sinnlicher Verwirklichung besteht, was fange ich dann mit den emotionellen Genies, mit den Dichtern und Künstlern an? Habe ich dann überhaupt das Recht, zuzugeben, daß Dichter und Künstler ebenfalls Genies sein können? Nun, dieses Recht ist in der That mindestens zweifelhaft. Halten wir uns nur gegenwärtig, was eigentlich Emotion ist. Sinneseindrücke werden zu den zuständigen Sinneszentren geleitet, diese Sinneszentren versetzen andere Sinneszentren, nämlich diejenigen, welche gewöhnlich mit den anderen zusammen Eindrücke zu empfangen pflegen, in Thätigkeit; sie regen die Willens- und Koordinationszentren an und rufen irgend eine Handlung des Organismus, sei es auch nur einen Gesichtsausdruck, eine Änderung im Herzrhythmus, einen Ruf, als Gegenwirkung hervor; alles das automatisch, nach ererbter, organisch gewordener Gewohnheit, ohne Dazwischenkunft des Urteils, das von den Vorgängen in den niederen Zentren nur eine dunkle Halbkenntnis, eine unbestimmte Ahnung erhält. Diese Vorgänge, die außerhalb des Bewußtseins stattfinden, sind eben die Emotionen. Die Dichtung, die Musik, die bildenden Künste haben keine andere Aufgabe, als Emotionen hervorzubringen. Jede sucht mit ihren Mitteln in unserem Organismus die Vorgänge anzuregen, welche in der Wirklichkeit durch eine bestimmte Folge von Sinneseindrücken veranlaßt werden und die wir als Emotionen empfinden. Der lyrische Dichter strebt mit Worten, der Musiker mit Tönen, der Maler mit Farben unsere Hirnzentren zu der Arbeit zu bestimmen, welche sie zu liefern pflegen, wenn die Sinne ihnen die Eindrücke zutragen, die etwa von einem schönen und liebreizenden Wesen des entgegengesetzten Geschlechts, einem Feinde, einer zerstörenden Naturgewalt, einem leidenden Mitgeschöpfe, einer bestimmten Jahreszeit ausgehen. Je richtiger sie die durch ihre Kunst darstellbaren, also die in Worten ausgedrückten geistigen, die optischen, die akustischen Merkmale der Vorgänge zu erfassen und nachzuahmen wissen, um so näher werden die von ihnen angeregten Emotionen den Emotionen kommen, welche die Vorgänge selbst hervorrufen würden. Eine Hervorbringung der Dichtkunst, Malerei u. s. w., die in uns keine Emotionen erregt, wird von uns nicht als Kunstwerk anerkannt, und wenn unser Urteil noch so sehr erkennt, daß sie klug erdacht, mit großem Aufwand an Fleiß und Geschicklichkeit, mit Besiegung mächtiger Hindernisse hergestellt ist. Die Wirkung des Kunstwerks beruht also auf automatischer Thätigkeit unserer Zentren; diese wird aber nur durch Eindrücke angeregt, die der Organismus und die ganze Reihe seiner Vorfahren zu empfangen gewohnt waren; dies schließt jede wirkliche Neuheit des Kunstwerks aus; dasselbe muß, um zu wirken, alte, gewohnte, organisierte Eindrücke zum wesentlichen Inhalt haben. Als das Eigentümliche des Genies haben wir aber die Fähigkeit erkannt, neue, von den bis dahin bekannten abweichende Vorstellungen zu bilden und in sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen umzusetzen. Wie verträgt sich das nun mit der Kunst, in der es sich ausschließlich darum handelt, alte, der ganzen Gattung eigene und in ihr organisch gewordene Eindrücke zu wiederholen?

Die Antwort auf diese heikle Frage macht mich bloß insofern verlegen, als ich mit ihr gegen weitverbreitete Anschauungen verstoßen muß. Es ist wahr, das emotionelle Genie ist nicht eigentlich ein Genie. Es schafft in der That nichts neues, giebt dem menschlichen Bewußtsein keinen reicheren Inhalt, findet keine unbekannten Wahrheiten und übt keinen Einfluß auf die Welt der Erscheinungen, aber es hat dennoch gewisse psychophysische Voraussetzungen, die es zu einem Sonderwesen machen und vom Durchschnittsmenschen unterscheiden. Die Zentren, welche die emotionellen Thätigkeiten liefern, müssen bei ihm mächtiger entwickelt sein als in gewöhnlichen Organismen. Die Folge davon ist, daß nicht bloß ein Sinneseindruck bei ihm die automatisch arbeitenden Zentren zu intensiverer Thätigkeit anregt, sondern auch, daß sein Bewußtsein von dieser Thätigkeit mehr wahrnimmt, weil dieselbe in ihm sozusagen geräuschvoller, großartiger, aufsehenerregender vor sich geht. Ich kann dies ganz deutlich machen, wenn ich an ein früheres Bild anknüpfe. Ein emotionelles Genie ist auch nur ein mechanisches Spielwerk, kein frei erfindender und frei spielender Virtuose; gut; aber es giebt Spielwerk und Spielwerk, von der winzigen Musildose, die ein schwindsüchtiges, kaum hörbares Gesäusel von sich giebt, bis zur mechanischen Orgel, deren Donner die Mauern erzittern machen kann. So muß man sich vorstellen, daß die automatisch arbeitenden Zentren beim emotionellen Genie wohl auch mechanisch, aber unvergleichlich lauter spielen als bei den Durchschnittsmenschen, daß jenes die Orgel ist, während diese bloß Dosen sind. Und eine Folge der Gewalt seines Mechanismus ist, daß das Bewußtsein des emotionellen Genies an dessen Thätigkeit mehr teilnimmt als bei den gewöhnlichen Menschen; aber wohlgemerkt, nicht schaffend und beeinflussend, sondern wahrnehmend. Sein Urteil kann an der automatischen Arbeit seiner Zentren nichts ändern, aber es kann zusehen und beobachten, wie sie vor sich geht. In diesem beschränkten Sinne erfüllt das emotionelle Genie ebenfalls die Forderung der Neuheit und Eigenartigkeit, die ich an die Arbeit des Genies stelle. Es bringt allerdings nur Emotionen hervor, die der Menschheit angeerbt und altgewohnt sind, aber es bringt sie mächtiger hervor, als andere Menschen vor ihm es vermochten. Seine Wirkung ist also im Grade, wenn schon nicht in der Art, neu.

Die Rangordnung der Genies wird durch die Würde des Gewebes oder Organs bestimmt, auf dessen ausnahmsweiser Vollkommenheit sie beruhen. Jede andere Rangordnung ist unnatürlich und willkürlich, und wäre sie selbst so geistreich begründet wie die, welche Bain aufstellt. Je ausschließlicher menschlich ein Hirnzentrum ist, ein, um so höheres Genie wird seine besondere Entwickelung geben. Es ist kaum nötig, diesen Gedanken durch einen Hinweis auf früher Gesagtes zu erläutern. Die Entwicklung von Knochengewebe kann kein Genie geben, denn große Knochen sind nicht menschlich im engsten Sinne, sondern eignen auch den Walen und Elefanten; ebensowenig die Entwickelung von Muskelgewebe, die einen Milo von Kroton auszeichnet, ihn aber noch nicht über den Rang starker Tiere erhebt; auch die Sinneszentren sind nicht geeignet, die organische Unterlage eines Genies zu bilden, denn in der Scharfsichtigkeit wird der Kondor immer auch das vollkommenste menschliche Äuge und Lichtwahrnehmungszentrum meistern, in der Feinhörigkeit der Mensch es nie mit gewissen Antilopenarten aufnehmen können u. s. w. Selbst die höchsten Zentren sind noch nicht rein menschlich, wenn ihre Vollkommenheit nicht über den Automatismus hinausreicht. Denn aller automatischen Gegenwirkungen des Organismus auf die Eindrücke von außen sind auch die höheren Tiere fähig und diese Gegenwirkungen kommen ihnen sogar unverkennbar als Emotionen zum Bewußtsein. Handlungen und die sie begleitenden Psychischen Erregungen der Liebe, des Hasses, der Rache, der Furcht, der Rührung beobachten wir beim Hunde oder Elefanten ganz so wie beim Menschen und der einzige Unterschied zwischen den Tieren und dem Menschen ist in dieser Hinsicht der, daß die menschlichen Emotionen auch durch künstliche Nachahmungen oder Symbolisierungen von natürlichen Erscheinungen angeregt werden können, die tierischen dagegen bloß durch diese Erscheinungen selbst, daß also am Zustandekommen der Emotionen beim Menschen die deutende Thätigkeit des Urteils, folglich auch des Gedächtnisses und Verstandes einen viel größeren Anteil hat als beim Tiere. Rein menschlich ist dagegen das Urteil, soweit es über die einfache, unmittelbare Deutung des Sinneseindrucks hinausgeht, soweit es aus diesem Vorstellungen bildet, denen kein vor den Sinnen stattfindender Vorgang entspricht, soweit es also, um es mit dem Fachausdrucke zu bezeichnen, abstrahiert und von Abstraktionen wieder Abstraktionen ableitet. Urteil in diesem Sinne hat außer dem Menschen kein anderes Tier. Und ebensowenig ist die organische Abhängigkeit des Willenszentrums vom Urteilszentrum bei irgend einem Tiere so ausgesprochen wie beim Menschen. Urteils- und Willenszentrum bringen also durch ihre hohe Entwicklung ein echt menschliches Genie hervor, das der höchste Ausdruck der bisher erreichten organischen Vollkommenheit des Menschen ist. Am höchsten stehen folglich unter den Genies diejenigen, die Urteils- mit Willensgenialität vereinigen. Das sind die Männer des Handelns, die die Weltgeschichte machen, die Völker geistig und stofflich formen und ihnen auf lange Zeit hinaus ihre Geschicke vorschreiben, die großen Gesetzgeber, Organisatoren, Staatenbilder, Revolutionäre mit klaren und von ihnen erreichten Zielen, auch noch Feldherren und Eroberer, wenn sie nach scharf umrissenen Vorstellungen ihres eigenen Urteils und nicht halbbewußten Impulsen oder fremden Eingebungen handeln. An Erkenntnis stehen diese vornehmsten Genies ganz so hoch wie diejenigen der folgenden Kategorie, sie leiten aus ihren Wahrnehmungen ebenso sicher unsinnliche Vorstellungen ab, finden also ebenso zuverlässig den sinnlich nicht wahrnehmbaren Zusammenhang der Erscheinungen, ihre Ursachen, ihre Gesetze, ihre fernen und fernsten Folgen in der Zeit und im Raume. Doch haben sie vor ihnen die Fähigkeit voraus, ihre Vorstellungen nicht bloß gegen die Widerstände des unbelebten Stoffes, sondern auch gegen die lebendiger Organismen, gegen die der Menschen, zu verwirklichen; sie dürfen also ihrem Urteile gestatten, mit Aussicht auf Versinnlichung durch den Willen Vorstellungen zu bilden, welche Völker, ja die ganze Menschheit zum Inhalt haben und die sie nur auf die Weise verwirklichen können, daß sie die Willenszentren von Völkern, ja der Menschheit von ihrem eigenen Willen und Urteil abhängig machen.Einige Kritiker wollen durchaus einen Widerspruch finden zwischen der vorstehenden Stelle und dem Satze Seite 51: »Einen originellen Politiker, Gesetzgeber, Staatsmann darf es nicht geben. Je banaler jeder von ihnen ist, um so besser für ihn, um so besser für sein Volk.« Ich bitte diese Kritiker, beide Stellen und dann auch Seite 53 etwas aufmerksamer zu lesen. Sie werden dann finden, daß ich alles Ersinnen neuer Organisationen, Gesetze, Staatenbildungen als Geniearbeit bezeichne, jedoch die Verwirklichung dieser Gedanken von den Gedanken selbst sorgsam unterscheide. Die »großen Gesetzgeber, Organisatoren, Staatenbilder«, die mit dem Urteils» zugleich Willensgenie verbinden, werden die Völker gewaltthätig in ihre neuen Konzeptionen hineinzwingen und das schlägt selten zum Heile der Völker aus. Sind sie aber bloße Urteilsgenies, so werden sie so wirken, wie es Seite 53 angegeben ist; sie werden überreden, predigen, erziehen; sie werden die Menge allmählich mit ihren neuen Gedanken vertraut machen, und wenn diese bereits Gemeingut geworden sind, wenn selbst der Philister sie schon bequem nachdenken kann, weil er sie vom Vater und Großvater geerbt hat, dann wird es einem »Politiker, Gesetzgeber, Staatsmann« der landläufigen Art, das heißt, der es im Wege der Anciennetät geworden ist, leicht sein, die Gedanken des Genies, die nicht länger neu, sondern bereits banal geworden sind, zu verwirklichen. Daß diese Art der Reform für die Völker die wünschenswertere ist, wird man mir wohl zugeben.

In zweiter Linie kommen die Genies des Urteils mit guter, aber nicht genialer Entwicklung des Willens, die großen Forscher, Versucher, Entdecker und Erfinder. Was sie hinter den Genies der ersten Kategorie zurückstehen macht, das ist ihr Unvermögen, sich der Menschen als des Stoffes zur Verwirklichung der Vorstellungen ihres Urteils zu bedienen. Sie werden also nur solche Vorstellungen verwirklichen können, die den unbelebten Stoff zum Inhalt haben. Ihr Wille ist stark genug, um tote, nicht, um lebendige Hindernisse zu überwinden. Den dritten Rang nehmen die reinen Urteilsgenies ohne entsprechende Ausbildung des Willens ein, die Denker, die Philosophen. Durch ihre Erkenntnis, ihre Weisheit, ihre Gabe des Erratens sinnlich nicht wahrnehmbarer, zeitlich oder örtlich entfernter Vorgänge kennzeichnen sie sich als vollbürtige Genies von derselben Familie wie die Staatengründer und die Entdecker. Aber sie sind darin unvollkommen, daß die Vorstellungen, die ihr Urteil in herrlicher Vollendung ausarbeitet, in ihrem Gehirn bleiben oder höchstens in Gestalt von geschriebenen oder gesprochenen Worten eine Versinnlichung erfahren. Einen direkten Einfluß auf die Menschen oder die unbelebten Dinge haben sie nicht. Bewegungserscheinungen veranlassen sie nicht. Ein fremder Wille muß erst von ihren Vorstellungen angeregt werden, damit die Vorgänge in ihrem Urteilszentrum Vorgänge außerhalb ihres Organismus veranlassen. Hinter den drei Kategorien der kogitationellen Genies, hinter den Bändigern der Menschen, den Bändigern des Stoffs und den bloßen Denkern, kommen endlich die emotionellen Genies, die sich durch eine größere Stärke der automatischen Arbeit ihrer Zentren, aber nicht durch eine persönliche Sonderentwickelung derselben von der Durchschnittsmenge unterscheiden und der letzteren keine neuen bewußten Vorstellungen, auch keine bewußten Bewegungs-Anregungen, sondern nur halb- oder unbewußte Emotionen geben können. Unter den emotionellen Genies nehmen wieder die Dichter den ersten Platz ein, denn erstens hat an ihrer Arbeit das Urteil einen großen Anteil und zweitens bringen sie ihre Wirkung durch ein Mittel hervor, welches von allen sinnlichen Mitteln weitaus das geeignetste ist, Bewußtseins-Zustände, diesen höchsten Inhalt aller Kunst, wahrnehmbar zu machen, nämlich durch das Wort. Während sich bildende Künstler und Musiker auf das Erfassen und Wiedergeben solcher sinnlich wahrnehmbaren Merkmale von Bewußtseins-Zuständen beschränken müssen, welche diese nur in großer Allgemeinheit erkennen lassen, ist der Dichter imstande, sie scharf zu umgrenzen und so zu spezialisieren, daß man sie kaum mit anderen, verwandten Bewußtseins-Zuständen verwechseln kann. Der Mitwirkung des Urteils kann höchstens der Lyriker entbehren, dessen »Aug' in schönem Wahnsinn rollt« und bei dem die Eindrücke ohne Umweg durch das Bewußtsein die Sprachzentren automatisch zur Thätigkeit anregen. In allen anderen Dichtungsarten dagegen hat der Dichter mit seinem Urteile bewußte Vorstellungen zu bilden, die sich von denen des Denkers nur darin unterscheiden, daß sie die Vergegenwärtigung ererbter Emotionen und nicht das Erraten nicht wahrnehmbarer Beziehungen der Erscheinungen zum Gegenstande haben. Diese Rangordnung ist die allein natürliche, denn sie beruht auf organischen Voraussetzungen. Die gewöhnliche Schätzung der verschiedenen Kategorien von Genies weicht aber allerdings von ihr sehr bedeutend ab. Kogitationelle Naturen bewerten das Genie nach dem Nutzen, den es der Gesamtheit bringt und den sie zu erfassen vermögen, emotionelle Naturen nach der Stärke und Wonnigkeit der Emotion, die es in ihnen zu erregen vermag. Für ein ursprüngliches Gemeinwesen ist ein tapferer und kräftiger Krieger das wichtigste Mitglied. Muskel- und Willensstärke, also Mut, werden deshalb als die herrlichsten Gaben eines Menschen geschätzt, ihr glücklicher Besitzer wird über alle seine Stammesgenossen gestellt und als Halbgott verehrt werden. In einem solchen Gemeinwesen kann offenbar kein großer Denker und Forscher, kein Philosoph, kein Mathematiker, kein Experimentator auf Würdigung Anspruch erheben. Wenn einem Stamme der Rothäute ein Descartes oder Newton erstände, so würde man ihn als unnützes Mitglied der Horde betrachten und jeden glücklichen Bärenjäger, jeden Krieger, der bereits mehrere feindliche Skalpe am Gürtel trägt, hoch über ihn stellen. Und vom Nützlichkeitsstandpunkte aus mit vollem Rechte, denn was der Indianerstamm auf der von ihm erreichten Entwicklungsstufe braucht, das ist keine Mathematik und Metaphysik, sondern Fleisch und Sicherheit. Ein Überlebsel dieser Anschauungsweise von Wilden und Barbaren ist es, wenn man mitten in unserer angeblichen Gesittung dem Soldaten den Vornehmsten Rang anweist und seiner Kriegstracht, den kriegerischen Tätowierungen an seinem Kragen, seinen Ärmeln und der Brust seines Waffenrocks die Verehrung erweist, die im Urzustände der Menschen durchaus natürlich und verständlich war, auf unserer heutigen Kulturhöhe aber ohne vernünftige Bedeutung ist. Und ebenso natürlich ist es, daß die emotionellen Naturen den Wert eines Genies nach den Emotionen bemessen, die dasselbe ihnen giebt. Sie sind eigenartigen, persönlichen Denkens unfähig, dagegen mag ihre automatische, organisierte Hirnthätigkeit ganz tüchtig sein. Ihr Bewußtsein ist also nicht mit klaren Vorstellungen, sondern mit den hier wiederholt geschilderten Halbdunkeln, verschwommenen Bildern gefüllt, als welche die automatische Thätigkeit der Hirnzentren vom Bewußtsein wahrgenommen wird. Das wirkliche, das heißt das Urteils-Genie verlangt von ihren höchsten Zentren bewußte, nicht organisierte, nicht ererbte Arbeit, und die können sie nicht leisten. Das Urteils-Genie besteht also für sie gar nicht. Das emotionelle Pseudo-Genie dagegen regt die automatische Thätigkeit ihrer Zentren an und wird deshalb von ihnen wahrgenommen; es ist für sie eine Quelle von Empfindungen und da man das Leben nach seinem Inhalt an Empfindungen mißt, so ist das emotionelle Genie für sie geradezu ein hehrer Lebensspender. Frauen (und Männer, die ihnen an Geistesentwickelung gleichkommen) werden daher einen Künstler immer höher schätzen als einen Denker und Forscher und unter den Künstlern steht ihnen sehr natürlich der Musiker am höchsten, weil die Emotionen, welche ihnen die Musik giebt, auch die Geschlechtszentren anregen und darum die tiefsten und angenehmsten sind. Auch der Maler und selbst der Schauspieler werden bei ihnen einen sehr hohen Platz einnehmen, der erstere, weil seine Kunst keinerlei kogitationelle Thätigkeit anregt, also von ihnen ohne die Beschwerlichkeit des Denkens genossen werden kann, der zweite aus demselben und dem dazutretenden Grunde, daß sich die Wirkung seiner nachahmenden und emotionelle Seelenzustände verwirklichenden Thätigkeit durch die menschliche Wirkung seiner Persönlichkeit verstärkt. Den Dichter werden die emotionellen Naturen, also in erster Linie auch wieder die Frauen, nur in dem Maße schätzen, in welchem seine Arbeit eine rein emotionelle, nicht kogitationelle ist; also den Lyriker mehr als den Epiker, den Schilderer äußerlicher, aufregender Vorgänge mehr als den Zergliederer von Seelenregungen. Eine solche Bewertung des Genies kann natürlich für uns nicht maßgebend sein. Wenn die Stärke der von ihm erregten Emotionen für den Rang des Genies bestimmend sein soll, so müßte beispielsweise dem Manne seine Geliebte, dem Weibe sein Geliebter höher stehen als irgend ein Genie, das die Menschheit bisher hervorgebracht hat, denn zweifellos, ruft Julie in Romeo und Leander in Hero gewaltigere Empfindungen hervor als Goethe oder Shakespeare, Beethoven oder Mozart, von Kant oder Laplace, Julius Cäsar oder Bismarck natürlich nicht zu sprechen. Und ich glaube auch, wenn man diese interessanten Pärchen befragte, sie würden nicht anstehen, ihre Julie oder ihren Leander als das herrlichste aller denkbaren vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Genies zu erklären.

Nicht die Wirkung einer Persönlichkeit auf andere ist also der Maßstab ihrer Bedeutung, denn diese Wirkung ist eine ganz verschiedene, je nachdem die Menschen, auf die sie geübt wirb, mehr oder minder hoch entwickelt, mehr oder minder kogitationell sind, – sondern der mehr oder minder ausschließlich menschliche Charakter der Hirnzentren, deren außergewöhnliche Entwickelung die psychophysische Grundlage ihrer Erscheinung ist. Und da das höchste und menschlichste Hirnzentrum das Urteilszentrum ist, so stattet die Urteilsentwickelung allein ein wahres Genie aus, das allerdings auch entsprechender Willensentwickelung bedarf, um die Arbeit seines Urteilszentrums anderen sinnlich wahrnehmbar zu machen. Das Urteilsgenie ist bis jetzt das letzte Wort menschlicher Vollkommenheit. Ob die organische Entwickelung der Menschheit noch weitergehen und welche Richtung sie nehmen wird, das konnte höchstens kraft seiner Fähigkeit, aus Gegebenem auf Entferntestes in Raum und Zeit zu schließen, ein großes Urteilsgenie erraten.


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