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8. Harmonies réligieuses.

» Christus, Oratorium nach Texten aus der heiligen Schrift und der katholischen Liturgie« heißt der Titel von Liszts größtem kirchlichen Werke, vollendet im Jahre 1866.

»Oratorium« stammt von dem oratorio, dem Betsaale her, in dem im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert zu den heiligen Zeiten in Rom und anderswo die Azione sagra, die heilige Handlung ausgeführt oder auch nur theils im Costüm im sogenannten Collectenton recitirt, theils wirklich gesungen wurde. Mit der gleichzeitigen Entstehung der Oper nahm das Oratorium aber durch Vermittlung der italienischen Cantate allmählich deren ganze Art an und unterschied sich von derselben nur dadurch, daß es eben nicht agirt, sondern blos gesungen wurde und einen im Ganzen gehalteneren Ton hatte. So im Wechsel von Recitativ, Arie, Duetten, Terzetten und Chor stehen Händels Oratorien sowie Haydns »Schöpfung« vor uns, und auch Mendelssohn ist hier im Wesen nicht abgewichen, sondern hat nur aus der besonderen protestantischen Kirchenmusik den Choral hinzugefügt und die Recitation in gesteigertem Maße von der Art der Oper entfernt. Im Wurfe selbst nicht geändert ist auch Liszts sogar scenisch aufgeführte »Heilige Elisabeth« vom Jahre 1864, aber das Einzelne ist schon hier hoch überragend und deutet auf höchste Ziele!

Ganz anders als er und alle übrigen Meister auf diesem Gebiete ist dagegen Liszt bei seinem »Christus« verfahren. Er hat gar nicht einmal die Grundlage des Oratoriums genommen, die Gliederung des Stoffes in eine bestimmte Handlung, die durch Erzählung vorgeführt und in ihren entscheidenden Höhepunkten durch die Macht der Musik hervorgehoben und gedeutet wird. Er hat im Gegentheil das Oratorium von jeder Erinnerung an dessen Entstehung und die Verbindung mit der Oper getrennt und den heiligen Vorgang einfach sich selbst darstellen lassen. Es ist daher hier nicht ein Erzählen mit Worten, sondern, wie schon annähernd in Händels Israel ein Erzählen mit Thaten, das heißt mit großen monumentalen Bildern, wie sie in solchen tief seelischen Dingen gerade die Tonkunst zu geben vermag. Und nicht nur das Recitativ ist hier völlig ausgeschieden und das ganz Wenige, was überhaupt noch mit Worten erzählt wird, jenem Collectenton wiedergegeben, den sich die katholische Kirche für ihre Liturgie von Alters her geschaffen hatte, sondern auch alles, was man Arie nennt, ist bis auf einen einzigen unausweichlichen Punkt, der Klage Christi in Gethsemane, ausgeschieden. Ja selbst wo Solo- oder Ensemblegesang erscheint, ist keine Spur von dem persönlichen Wesen des Dramatischen, sondern durchaus ruhiges Sichdarstellen der Sache.

Im Ganzen aber steht hier ein Cyklus von Chorbildern vor uns, die der innere Verlauf des Stoffes selbst gliedert und zusammenhält. Die ganze ungeheure Weltbegebenheit stellt sich unseren Sinnen dar. Ursprünglich hatte der Componist sich an Friedrich Rückert wegen dessen »Evangelienharmonie« wenden wollen, nahm dann aber zunächst einzelne hohe Theile wie die Seligpreisungen und das Vaterunser heraus, die schon in den 1850er Jahren entstanden, und stellte darauf in wachsender Erkenntnis der Besonderheit, mit der hier künstlerisch vorgegangen werden mußte, allmählich selbst die entscheidenden Züge des Werdens der Religion und der Wirkung der Kirche nach der Vulgata und der katholischen Liturgie zusammen.

Ein Oratorium im gewohnten Sinne ist der »Christus« also nicht. Der Componist hat den Namen wohl nur beibehalten, weil er mit Recht darin ein ganz allgemeines Genus der Musik sieht. Es ist aber im Grunde mehr, und zwar eine sehr kraftvolle und klare thatsächliche Herstellung des eigentlichen Wesens der Sache im Gegensatz zur Oper. Es ist in der That jenes reine Epos, das ein Oratorium im Unterschiede von der dramatischen Musik sein soll, und zwar mit all seinen Vorzügen ruhig anschaulicher Ausbreitung der Sache. Man sieht innerlich die große weltbewegende That selbst entstehen und vorgehen, die einzelnen Akte und Höhenpunkte derselben wandeln wie die Helden des Epos in stiller einfacher Größe vor uns ab. Jeder Schein einer Aktion ist vermieden und man erkennt, daß es sich auch hier um eine künstlerische Neuthat, um ein Vorgehen handelt, welches das ganze Genus der Kunst in eine neue Bahn lenkt.

Dies ersieht sich schon aus der Gruppirung des Stoffes.

Die Gliederung des Cyklus stellt sich nicht blos in den drei verschiedenen Theilen, sondern ebenso in den einzelnen Stücken derselben dar. Es ist eine innerliche und freie Anschauung des kirchlichen Inhaltes, die mit jeder vorhandenen Tradition bricht und den Gegenstand aus sich selbst neu aufbaut. Wir glauben daher, damit doch annähernd der Charakter des Totaleindruckes des Werkes bezeichnet sei, sowie er sich schon aus der textlichen Gliederung ergiebt, in einer unsichtbaren Kirche zu weilen, die mit den reinen Mitteln einer Kunst, welche sie obendrein selbst zum Ausdruck ihrer tiefsten Mysterien geschaffen hat, einen Bilderschmuck geschenkt erhalten hat, der den heiligen Glauben, dem sie dient, in seiner ganzen Reinheit und Einheit ausgemalt darstellt. Wir fühlen also von Anbeginn an, daß wir es hier mit einem Künstler zu thun haben, der in dem Glauben, in dem er erzogen wurde, ebenfalls ganz innerlich zu Hause ist, daher auch durchaus mit freiem Blick schaltet und mit sicherer Hand den Grund legt und ausbaut. Dies ist schon an und für sich eine Erneuerung der Sache. Der Meister hat sich hier dem Geiste seiner Kirche gleich innerlich genähert wie S. Bach dem der seinigen. Der Unterschied liegt nicht sowohl in den persönlich schaffenden Künstlern, sondern schon in dem eigenen Gehalt der Sache.

Wir versuchen zur näheren Einführung in dieselbe einiges über die Besonderheit dieser Bilder selbst zu sagen.

Das Werk zerfällt in drei Hauptabschnitte: I. Weihnachtsoratorium, II. Nach Epiphania, III. Passion und Auferstehung. Es spricht seine letzte Ueberzeugung sogleich als Motto mit Paulus' Worten an die Epheser aus: »Wahrheit in Liebe wirkend, lasset uns in allem wachsen an Dem der das Haupt ist, Christus!« Die instrumentale Einleitung, auf die mehrfach wiederkehrende und das Ganze auch rein musikalisch verbindende Intonation »Tönet ihr Himmel von oben« gebaut, scheidet in ihrem streng asketischen Wesen zunächst das Gemüth von dem bunten Gewohnheitsgewirre der Welt aus und bereitet durch kräftig einschlagende Grundaccorde zur Aufnahme einer neuen höheren Welt vor, die sich zum Schluß durch in die Höhe entschwebende Geigentremolationen selbst ankündigt und unmittelbar in ein längeres »Pastorale« überführt, das, die alte Intonation verwendend, die Verkündigung des Engels bei den Hirten einleitet. Diese selbst ist anfangs der einfache Collectenton, dem reiner Chorgesang antwortet, worauf zunächst vom Streichquartett, dann vom vollen Orchester begleitet, der Chor der himmlischen Heerschaaren sein Gloria in Excelsis in voller Breite und mächtigen Dreiklangsfolgen ertönen lässt, bis der Schluß wieder das einfache Hirtendasein darstellt, dem die Ahnung des bedurften Heils zuerst gekommen ist. Das dritte Bild ist die alte Hymne Stabat mater speciosa, die heilige Jungfrau an der Wiege ihres Sohnes, lento misterioso, ein sechsstimmiger a capella-Chor, den zuweilen in einfachen Accorden die Orgel unterstützt und fünf- oder sechsstimmiger Sologesang abwechselnd unterbricht. Die Dichtung ist von einer fast überseligen Hingebungsempfindung, wie sie jenes rauh gewaltthätige Mittelalter erzeugte, es ist das Mysterium der Mutterliebe, von dem aus das spätere liebende Selbstopfer erst völlig zu begreifen ist und in dem sich ja auch überhaupt die weltgestaltende Kraft alles Manneshandelns vorbereitet. Wie bei dem Hirtenbilde die Kindeseinfalt und Herzensreinheit, so sind hier Unschuld und Inbrunst der Empfindung die Grundfarbe des Gewebes. Doch bei dem Inflammatus steigt auch die volle Kraft empor, der jede gesunde Empfindung fähig ist. Das ganze Bild endet in einem tief erathmenden und hoch sich aufschwingenden Amen! Das vierte und fünfte Bild sind abermals rein instrumentaler Natur. Das »Hirtenspiel an der Krippe«, bei dem sehr eindrucksvoll die römischen Pifferari verwendet sind, und der »Marsch der heiligen drei Könige«, die ganze dereinstige weltliche Pracht der Kirche vordeutend, wie sie den Sinnen durch bloßen Klang und Rhythmus völlig vergegenwärtigt werden kann, während Gesang hier nur störend an tiefer liegende Bedürfnisse gemahnen würde. Beide Bilder sind im al fresco-Stile der modernen Orchestermusik gehalten und sehr breit ausgeführt.

Der folgende zweite Theil leitet mit den »Seligkeiten« ein, die Umkehr des gesammten ethischen Bewußtseins der Welt darstellend, ein Barytongesang in melodisch-declamatorischem Tone, dem jedesmal ein sechsstimmiger Chor antwortet, als solle die Aufnahme solcher Wahrheit bei der Welt sogleich thatsächlich bekräftigt werden. Grundlage ist hier der objektive Orgelklang, noch ist die Gemeinde geschlossen. Ebenso waltet bei dem »Paternoster« ein ruhig inniges Sprechen des Gebetes zwischen Vorbeter und Gemeinde, dem besonders das breitere Schlußamen ein Piedestal von Granit bereitet. Ruhe und Würde sind bei beiden Bildern der Grundton. An Musik wird dabei nicht gedacht, sondern die Gestalten der Heiligen sollen dastehen und deutlich redend eine Wahrheit verkünden, die allen hilft. Sehr mächtig im Charakter ist die »Gründung der Kirche«, von ehernem Gewicht das Tu es Petrus, von weicher Milde das »Simon Johannes, hast du mich lieb?«. Der irdisch-sündigen Welt jeder Art wird hier ein zweifelloser Glaube an ein ewig bestehendes Höhere und Ideale, wie es auch Namen haben möge, entgegengestellt. Und daß es der Geist der Sache, nicht ihre vergängliche Hülle ist, sagt der Charakter der Melodie, die sich denn auch zuletzt zum kraftvollen Vorbewußtsein des endlichen Sieges dieses Geistes der Liebe erhebt. Hier ist wieder das volle Orchester zu dem Doppelchor getreten. Denn die Welt, die ganze Welt ist gemeint. »Das Wunder« heißt das neunte Bild. »Die Stürme brausen um die Wette,« – aber gemeint ist nicht der Meeressturm, sondern der Sturm der Begehrungen, dem diejenigen ausgesetzt sind, die »schwachen Glaubens sind«. Nicht der äußere Wunder – d. h. der Aberglaube soll gekräftigt werden, sondern der Glaube der Menschennatur an sich selbst und ihre höhere Bestimmung und Kraft. Daher das wirklich innerlich Friedigende, wenn nach dem wüthenden Orchestergebrause auf Christi Wort die »große Stille« eintritt, die sinnvoll mit dem Motiv der »Seligkeiten« eingeleitet wird, weil ja solche innere Reinheit einzig dem Menschen die wirksame Gewalt über die wilden Mächte seines Innern wie der Welt verleiht!

Ein volles Bild der Volks- und Lebensbewegung ist »Der Einzug in Jerusalem«, ein Vorspiel des Einzugs der ewigen Wahrheitslehre in die ganze große weite Welt, anschaulich gemalt wie Paul Veronese malt. Aber in dem Benedictus des Mezzosopransolos liegt ein Ausdruck innerer Befriedigung und Beseligung, wie sie einzig das einzelne Herz empfindet und ausspricht. Dieser Chor entspricht ganz dem Schlusse des ersten Theiles, führt aber Glanz und Macht der Religion und Kirche wieder mehr ins Ideale.

Der dritte Theil hat vier Bilder. In ihm gipfelt mächtig das Ganze. Denn hier wird leibhaft vor unseren Sinnen jener weltgeschichtliche Seelenvorgang und Leidenskampf der Passion durchgeführt, welcher der Menschheit ein anderes Gesicht gegeben hat. Hier zeigt sich auch, daß, wie es ja bei S. Bach ebenfalls ist, den letztentscheidenden allerfüllenden Sinn und Gehalt der Sache in der Musik nur solche gewaltige Chorbilder geben können, in denen diese Kunst gleicherweise ihr kosmisches wie ihr seelisches Wesen zu enthüllen vermag. Das erste der Bilder ist der Gang nach Gethsemane, wo die schmerzlichste Nothwendigkeit freier Entschluß wird, und es ist nur solchem Seelenzustande entsprechend, daß hier, aber auch hier allein durchaus wirklicher Einzelgesang waltet. Dieser Einzelne repräsentirt in seinem uns alle umfassenden übermenschlichen Entschlüsse die Menschheit. Ihr Mitleiden mit dieser Seelentrauer aber hallt aus dem begleitenden Orchester wieder. Der Spanier Ribera malte in solchem tiefen Farbendunkel. Aber das Quod tu, »Wie du willst!« athmet in seinem tiefen Frieden schon all den Segen, den dieses höchste aller menschlichen Opfer, welche die Welt je gesehen hat, ihr auch bringen sollte.

Von wahrhaft erhabener Sachlichkeit ist es dann, daß die Leidensgeschichte selbst uns wie aus einem Spiegel widerleuchtet. Die tiefergreifende mittelalterliche Sequenz Stabat mater dolorosa ist es, die hier den unerhörten Vorgang erzählt und zwar wiederum mit ihrer selbstgeschaffenen alten Melodie. Was aber auf Grund der zahlreichen inneren Erregungen und »Gesichte« aus dieser einen vierzeiligen rhythmischen Choralweise aufgebaut ist, diese Architektonik findet sich in solcher Macht und Fülle in keinem einzigen Kirchenwerke unserer Zeit. Dieses Stück hat Dimensionen wie das jüngste Gericht in der Sixtina. Es ist aber nicht etwa wie Bachs Riesenchoralchöre gothisch-polyphoner Natur, sondern ebenfalls rein im harmonisch-melodischen Stile geschrieben und nur durch motivisch-thematische Arbeit nach Art der Renaissancekunst in freier Entfaltung der Motive des im Texte liegenden Stoffes, und zwar in hoch zu bewundernder Steigerung und Symmetrie aufgebaut, in den Farben und der tief ergreifenden Charakteristik an P. P. Rubens erinnernd.

Dieser Satz allein würde ganz zweifellos dem Werke die Dauer sichern. Er beweist, daß nicht in einem der beiden Kirchenstile, sei es der Palestrinas oder Bachs, die Composition für die Kirche und ihren Gehalt umfangen ist, sondern daß die allermodernste und vorgeschrittenste Kunst hier deutlich zu sagen vermag, was gesagt werden muß, und daß die gesteigerten Ausdrucksmittel unserer Tage hier sogar noch ganz neue Mittel des Ausdrucks für die Sache geben. Denn, um nur einen Punkt herauszuheben, das zweimal hervortretende Inflammatus mit Chor, Soloquartett, Orchester und Orgel hat in seiner einfachen Größe und einschlagenden Macht etwas geradezu Ueberwältigendes, und dies um so mehr, als es selbst nur die Töne des Hauptmotives des ganzen Stückes verwendet.

Rührend klingt auf solche düsterste Welttragik das alte selige Osterlied O filii et filiae von Knabenstimmen mit Harmonium gesungen. Wie aus fernen Welten hatten zwar schon am Schluß des Stabat mater unerhört ausgedehnte Dreiklangsfolgen das Heil der Welt verkündet. Aber hier klingt es als wirklich gewonnenes Gut aus befreiter Menschenbrust hervor. Und daß es gar bereits den Kindern gehört, ist uns doppelte Gewähr seines Bestandes. Wie ein Sonnenstrahl in eine Kirche fällt dieser Chor in das ganze Düster der Passion.

Das letzte Bild ist denn auch der Gewißheit dieses Besitzes geweiht und stellt schlagkräftig sicher den vollendeten Sieg des Christenthums dar, worauf ein kurzes Amen auf das verbindende Urmotiv Rorate coeli den Ring schließt. Es ist ein Bildercyklus, wie ihn der inneren Anschauung einzig die siegesgewisse Erfassung der Sache geben und nur ein Künstler malen konnte, der den ganzen Bestand der Mittel unserer Kunst wie ein König beherrscht und sein Gemüth in voller Treue und Macht dem Ewigen zugewendet hat. Näheres über die heutige Kirchenmusik und über den »Christus« erfährt der Leser in unserem Buche » Beethoven, Liszt, Wagner« (Wien 1874) und in der »Studie« von L. Ramann (Leipzig 1874).


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