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Wie mancher glaubte nicht nach der orchestralen Composition, die auf Beethoven gefolgt ist, annehmen zu müssen, daß dessen große »Neunte« auch die letzte Symphonie gewesen sei!
»Es erstand ein überragendes Genie, ein sprühender Flammengeist, berufen eine doppelte Krone von Feuer und von Gold zu tragen. Der träumte kühn wie Dichter träumen, ein Ziel so hoch sich zu stecken, daß, wenn es je von der Kunst erreicht werden kann, dies sicher nur in einer Zeit geschehen wird, wo das Publikum nicht mehr aus jener schwankenden, gelangweilten, zerstreuten, unwissenden und dünkelhaften Masse bestehen wird, die in unseren Tagen zu Gerichte sitzt und Gesetze dictirt, die kaum die Kühnsten unwirksam zu machen wagen.«
So sprach einst Liszt von Wagner, und auf wen passt dies mehr als auf ihn selbst!
Wir wollen über diese neue Siegfriedsthat eine Stimme hören, die nun schon vor fast einem Vierteljahrhundert erscholl. Es ist die Blütenlese aus einer größeren journalistischen Arbeit eines verstorbenen vortrefflichen theoretischen »Zukunftsmusikers«, nur nach unserer sichereren Anschauung von der Sache stellenweise retouchirt und ergänzt. Dieselbe steht in der » Neuen Zeitschrift für Musik« vom Jahre 1858 und lautet so:
»Schon Goethe verglich den Fortschritten der Naturwissenschaften gegenüber sich mit einem Wanderer, der das ausgehende Licht ahnt und da es plötzlich in die Erscheinung tritt, sich geblendet abwenden muß, weil er die Fülle desselben nicht ertragen kann.
»Die Leistungen auf musikalischem Gebiet stehen jedoch obenan, wie denn überhaupt die Tonkunst eine der größten Erscheinungen des modernen Geistes bildet.
»So wie jeder jetzt schon die große Zukunft sehen muß, die Richard Wagner dem musikalischen Drama gegeben hat, so hat Liszt die Instrumentalmusik durch das Neue seiner Individualität belebt, dadurch daß er die Form gezwungen hat, sich dieser dienstbar zu machen. Dieses bestimmte Ergreifen des Programms, die Bereinigung von Bewußtem und Unbewußtem ist gerade dasjenige, was die Instrumentalmusik für unsere Zeit und die Zukunft erhält. Früher wurde lediglich die musikalische Stimmung befriedigt, jetzt die Totalität des Geistes.
»Im Unterschiede gegen das Frühere ist es schon die Bezeichnung Symphonische Dichtung, die außerordentlich treffend gewählt erscheint. Ein solcher Name ist das Ei des Columbus, und es wird damit sofort das ganz bestimmte Bewußtsein des Autors ausgesprochen. Nur der Weg nach der poetischen Seite hin war übrig geblieben als der einzige für den Fortschritt, die Verbindung des Instrumentalwerkes mit einem darüber schwebenden allgemeinen poetischen Gedanken, und dieses bestimmte Ergreifen des Programms ist darum entscheidend. Wir sehen schon bei dem späteren Beethoven, wie die gegebenen Schranken durchbrochen werden, wie eine mit vollem Bewußtsein ergriffene neue Stufe des geistigen Lebens sich herausringt. Es ist, wie Liszts Lieblingsschüler Hans von Bülow es ausgedrückt hat, der Klageruf des Adlers, dessen Flug von der Glut der Sonnenstrahlen gehemmt wird, es ist der Wehelaut des Löwen, den die Entbehrungen undurchdringlichen Dunkels gefangen halten. Ein neuer großer Horizont thut sich auf, eine geistige Welt voll Poesie.
»Liszt ergreift mit der Kraft der Phantasie die mannigfaltigsten Stoffe und zieht sie in das musikalische Gebiet herein. Auf der Stufe völliger inneren Reife angelangt wendet er sich einer großen Wechselfülle von Aufgaben zu und von außen empfangend verarbeitet er sie nach innen. Bei dem Deutschen ist das Gefühl das erste und dieses weckt die Thätigkeit der Phantasie. Hier umgekehrt ergreift die Phantasie den Gegenstand und weckt die Thätigkeit des Gefühls. Es sind Geistes-Stimmungen, den Bewegungen der Seele gegenüber, welche den Inhalt der früheren Musik bilden. Man hat das Gefühl, das hier an die höchsten Fragen der Menschheit herangetreten ist, denkend, nicht blos unbewußt empfindend. Es ist somit eine neue Seite, welche dem Umkreise der Tonkunst und dem musikalischen Bewußtsein erobert ward, eine geistige, jedoch gepaart mit ebenbürtiger künstlerischen Naturkraft, die Seite hoher Intelligenz und großer Bildung bei fortgeschrittener Zeit und viel weiteren Lebensverhältnissen, als die meisten der früheren Tonsetzer sie nur ahnen konnten. Der Individualität Liszts und den Bedingungen unserer Zeit gemäß sehen wir auf der Oberfläche allerdings nicht mehr jene sofort entgegentretende Exclusivität, jene strenge Abgeschlossenheit früherer Tage in der Tonkunst. Im tiefsten Grunde jedoch tritt uns ein gewaltig fester Kern der Individualität entgegen: nur Zweige und Wipfel treten in Berührung mit der Außenwelt, den Einwirkungen derselben Raum gebend und von ihr Nahrung ziehend, während der Stamm allen Stürmen trotzt. Dabei die glänzende sinnliche Basis, der große gewaltige Zug der Leidenschaft, die Tiefe des Ausdrucks und des geistigen Gehaltes, überhaupt der große weite Horizont!
»Begegnen wir in den einzelnen Werken nicht der Mannigfaltigkeit der Stimmung, nicht dem Reichthume des Gefühlslebens, nicht der Menge innerer Zustände wie bei früheren Meistern, so zeigt sich dafür ein ganz enormer Reichthum, wenn wir die gesammten Werke überschauen. Eine große Menge neuer, der Musik zugeführter, für dieselbe gewonnener Aufgaben tritt hier ergänzend und für das Verlorengegangene ersetzend ein. Es war ein freudiges Staunen, als diese neue Welt aufging, als man dieses Reichthums und dieser Mannigfaltigkeit inne wurde. Da sind die Präludien mit ihrer Naivetät, mit ihrem einfach menschlichen Inhalte. Zart, schmerzlich bewegt, grandios zugleich erscheint der Dichter im Tasso. Poetische Verklärung herrscht im Orpheus. Antike Herbheit, Schroffheit und Sprödigkeit ist die ganz entgegengesetzte Eigenthümlichkeit des Prometheus. Schwärmerische Entrücktheit führt auf die Höhen des Ideals in der Bergsymphonie. Glanz, Festesrausch, chevalereske Eleganz, Ritterlichkeit sind die Eigenschaften, welche die Festklänge charakterisiren. Deutsche Zartheit und Tiefe, deutsche Kühnheit und Gedankenkraft treten uns im Faust entgegen. Das Adagio, überschrieben ›Gretchen‹, läßt tief in unserem Innern wonnig-wehmuthvoll Fausts Wort erklingen:
»Ist's möglich, ist das Weib so schön?«
Mystische Tiefe liegt im Dante, phantastische Wildheit in der Hungaria, Größe des Schmerzes in der Héroide funèbre . Jedes Werk bildet eine Einheit für sich. Und weil die verschiedenen Stimmungen in verschiedenen Werken niedergelegt sind, konnten dieselben zu größter Schärfe und Bestimmtheit herausgearbeitet werden.
»So entstand der Reichthum an innerlich verschiedenen, die ganze Skala menschlicher Zustände in einem reichbewegten Innern umfassenden Situationen, die man Liszts Symphonische Dichtungen nennt.«
So können wir denn zum Schluß auch hier sagen, wie es in den Meistersingern heißt:
»Den Zeugen, denk' ich, wählt' ich gut:
Tragt ihr Hans Sachs drum üblen Muth?«
Der beste literarische »Zeuge« über die Sache aber ist Richard Wagner in seinem »Briefe über Franz Liszts Symphonische Dichtungen« vom Jahre 1857. Und Liszt selbst bekundete sein sonnenlichtes Bewußtsein über den zukunftsreichen Schritt, den er hier für seine gesammte Kunst gethan hatte, mit den Worten, die er im Jahre 1854 über Beethovens Egmont-Musik schrieb. »Im Egmont erblicken wir eines der ersten Beispiele moderner Zeit: ein großer Tonkünstler schöpft seine Begeisterung unmittelbar aus dem Werke eines großen Dichters,« sagt er. »So unsicher und schwankend uns das Auftreten Beethovens in diesem ersten Versuche auch erscheinen mag, so kühn, so bedeutsam war es zu seiner Zeit selbst. Beethoven begann, indem er diese Fragmente componirte, der Kunst einen neuen Weg zu eröffnen. Mit mächtiger Hand fällte er den ersten Baum eines bis dahin noch ungekannten Waldes, ja er betrat, nachdem er das erste Hindernis hinweggeräumt und Hand an das Werk gelegt hatte, diesen Weg selbst. Die Welt sah ohne besondere Aufmerksamkeit diesem ersten Schritte zu. Die Zeiten aber kamen, in welchen die Kunst diesen Weg wandelte und bald nach ihm diese Bahnen hell gelichtet und geebnet fand.«
So zeichnet denn Liszt nur sich selbst, wenn er die heutige Epoche der Musik folgendermaßen charakterisirt: »Bis in das tiefste Alterthum zurückgehend und nach Stoffen forschend, läßt sie sich kaum irgend ein Moment des poetischen Lebens entgehen. Den Völkern des Orients wie denen des Occidents ringt sie Vorbilder und Farben zu ihren Tongebilden ab. Ein vollflutender magnetischer Strom verbindet Poesie und Musik, diese beiden Formen menschlichen Denkens und Fühlens.« Und so hat vor allen er in der Musik zur That und Wahrheit gemacht, was derjenige Künstler prophezeite, der zuerst derselben diese rein poetische Wendung gab, Joseph Haydn, der Vater der Symphonie, der am Ende seiner Tage ausrief, das, was in der Musik geschehen könne, sei weit größer, als was darin geschehen sei!