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Stets wird uns das Wirken des künstlerischen Genius ein zur schweigenden Verehrung zwingendes Räthsel, wie das unbegreiflich schaffende Zeugen der Natur selbst bleiben, von dem es schon nach seinem Namen ein Theil und redendes Abbild ist.
Hingerissenheit des ganzen Innern und wieder heimliches Schaudern vor der dunklen Macht, die wie Natur selbst nicht gut noch böse kennt, wonnevolles Schwelgen in einem Meer von Licht, als beleuchte der erste Schöpfungsmorgen die unermeßliche Fülle seiner Gebilde, und wieder Schrecken und Grauen vor dem Ueberwältigenden dieser Unermeßlichkeit und dunklen Tiefe der zeugenden Urmacht, – mit solchen wechselnden Empfindungen erfüllt uns jede wahrhaft geniale Schaffenskraft, zumal in der Musik, wo uns diese mit Sinnen unfaßbare innere Weltpotenz, die endlos zerstörend schafft und schaffend zerstört, fast von Angesicht zu Angesicht gegenüber tritt.
Woher kommt diesem einzelnen Individuum da eine Macht, die Millionen Herzen bändigt und Jahrhunderten Gesetze der Anschauung und Empfindung dictirt, ja die Grenzen der Schöpfung selbst zu erweitern scheint, indem sie Gebilde und Gestalten schafft, die vorher nicht vorhanden waren? Oder ist's nicht so mit diesen Gestalten der tragischen Dichtung? Leben sie nicht gleich der Antike neben und sogar über der Menschheit ein unvergängliches Leben? Geben uns diese Melodien Mozarts und Beethovens nicht ein ganz neues, anderes Gesicht unseres Geschlechts selbst und baut nicht der ungeheure Leipziger Cantor Sebastian Bach in bloßen Tönen Dome auf, die den Plan des geordneten Weltganzen, das wir Kosmos nennen, im frei überschaulichen Bilde den Sinnen selbst faßbar als das Gotteshaus eines Ewigen darstellen?
Woher kommt, wiederholen wir, dieses unbegreifliche Vermögen, ein Können, dem wir schier das Unerhörte und Unmögliche zutrauen? Ist's Zufall der Naturbegabung, ist's geheimnisvoll innere Verbindung mit Mächten, die der gewohnten Sinnesauffassung entgehen und in Zeit und Raum eine Ausdehnung und Wirkung haben, der wir uns eben mit bewußter Absicht erinnern müssen, um die auserwählten Kinder ihrer unermessenen Schaffenskraft zu begreifen?
Dem dichterischen Genius muß eine unabsehbare Weite der Entwicklung alles höheren geistigen Erschauens vorangehen, ehe er die Strahlen zu einem vollen neuen Sonnenleben der Welt zu sammeln vermag: Homer und Sophokles wie Shakespeare und Goethe setzen für ihr überragendes Schaffen eine ganze Weltperiode der Menschheitsbilduug voraus, und Beethoven wußte wohl, was er sagte, wenn er in einem Briefe an Bettina den großen d. h. den wahren Dichter das »kostbarste Kleinod einer Nation« nennt. Die höchste Steigerung der plastischen Anschauung in Verbindung mit äußerster Steigerung jeder technischen Geschicklichkeit durch lange Geschlechter begründete endlich die Möglichkeit der Erscheinung eines Phidias, eines Rafael. Und wer jenen großen Musikbaumeister Sebastian Bach völlig erfaßt hat, der blickt von einer wahren Menschheitshöhe auf ganze Generationen von Geistern hinab, die jene andere Welt lebten und dachten, wo aus bloßen ätherischen Tonschwingungen die ganze Schöpfung sich zu wiederholen scheint, nein eine Schöpfung bildet, die durchaus nichts mit der übrigen Welt zu thun hat und nach der kühnen Hypothese des Philosophen am Ende wohl gar ohne sie und die Welt überhaupt vorhanden sein könnte!
Und Mozart? Wähnt man ein Dasein, in dem es wie Rosen und Veilchen des zartesten innersten Gemüthslebens blüht, es könne vorhanden sein, ohne daß ebenfalls in unendlicher Weite und unsagbarer Tiefe sich eben jene Regionen der Menschenbrust zur vollen Blüte entwickelt haben, aus denen das fließt, was wir »Melodie« nennen und in dem die ewige Schaffenskraft sich ebenso zum innern Daseinsbewußtsein bringt, wie die Vernunft in Begriff und Wort? Dann Beethoven! Eine ganze tief verborgene, von aller weitläufigen Bildung weit abliegende dämonische Macht des Willens und der Begeisterung zugleich mußte vorausgegangen sein, ehe eine solche Erscheinung hervortreten und wie ein neues Sonnensystem an das scheinbar bereits abgeschlossene Firmament treten konnte. Und hätten wir nicht aus fernsten und vor aller Cultur liegenden Weltaltern Spuren dieses höchsten Mannesgeistes – könnten wir nicht Thaten, besäßen wir nicht die sie besingenden Lieder dieser unserer gewaltigen Urahnen, – aus der bisher gekannten und beachteten »Bildung« wäre eine Erscheinung wie dieser Beethoven gar nicht zu begreifen. Aber wie er aus diesem urgermanischen Niederdeutschland abstammt, so ersteht in ihm der ungebändigte Heldengeist früherer Weltalter wieder, der diese Stämme in den Kämpfen mit jeder fremden Volksart selbstständig erhielt und sie befähigte, der Welt selbst eine neue und höhere Cultur bereiten zu helfen.
Von einer gleichen überwältigenden Künstlererscheinung haben wir jetzt erst ein weiteres Stückchen Herkunft und Leben zu berichten, das noch näher auf die Spuren seines Wunderwirkens leitet und durch Erkenntnis der inneren Verbindung mit den geheimnisvoll zeugenden Mächten der Natur auch dem Verstande glaubhaft herstellt, was den empfangenden Sinnen durchaus nicht erst erklärt zu werden braucht, wo es ihnen irgend durch des Meisters Spiel und Schaffen selbst lebendig vor Augen gebracht wird.
Da steht wieder in der » Revue et gazzette musicale de Paris« und zwar im Jahre 1838 ein Brief von ihm, der das erste Wiedersehen seiner ungarischen Heimat schildert. Aus ihm erfahren wir, was auch diesem Geiste, der durch seine kosmopolitische Kunst wie durch seine seltene internationale Bildung alles Bedürfnis irgend einer nationalen Sonderexistenz überwunden zu haben schien, dennoch diese seine Heimat gewesen und geblieben ist.
Vor ungefähr fünfzehn Jahren, so heißt es hier, es war jedoch im Jahre 1821, also vielmehr siebzehn Jahrs vorher, habe der Vater sein friedliches Dach verlassen, um mit ihm in die Welt zu ziehen und die »prunklose Freiheit des Landlebens« mit der glänzenden Laufbahn eines Künstlers zu vertauschen, und Frankreich sei demselben bald als die geeignetste Sphäre für die Ausbildung des Genius erschienen, wie er »in seinem einfältigen Stolze« des Sohnes musikalische Anlagen genannt. Nun schildert er auf das anschaulichste die wichtige Epoche vom fünfzehnten bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahre, die er in Paris verlebt und die ihn vorzeitig seine Heimat habe vergessen und Frankreich als Vaterland ansehen lassen. »Menschen, Dinge, Begebenheiten, Orte wirken mächtig auf seine Einbildungskraft,« sagt er geistreich genug von solch einem jungen Manne von zwanzig Jahren, »von seinem Herzen schießen eine Menge Strahlen aus, er ist beherrscht von einer so unbedingten Nothwendigkeit zu lieben, daß er allem, was sich ihm naht, ein Theilchen seines Ichs hingiebt. Vom Tumult seiner eigenen Gefühle beunruhigt, lebt er nicht wirklich, sondern strebt nur zu lauter Leben. Er ist ganz Neugier, Wunsch, unruhiges Verlangen; eine fortwährende Ebbe und Flut der widersprechendsten Empfindungen wogt in ihm, er erschöpft sich in einem Labyrinth ungeordneter Wünsche und Leidenschaften, alles Einfache, Leichte, Natürliche kann er nur mitleidig belächeln. Er überschreitet allüberall die Grenze, sucht übermüthig Hindernisse aus, und das Gute, das er wirken könnte, die Gefühle, die ihn beseligen könnten, werden von ihm kaum für Werth gehalten. Mit einem Wort, er wird unbarmherzig von diesem Stachel der Jugend gequält?«
Diese Zeit des hitzigen Fiebers, der verschwendeten Kraft, der energischen aber verkehrten Lebensfülle habe er auf Frankreichs Boden verlebt, derselbe Boden habe die Überreste seines Vaters aufgenommen, dort sei sein Grab, die geheiligte Stätte seines ersten Schmerzes: »wie sollte ich mich nicht für das Kind eines Landes ansehen, in dem ich so viel gelitten, so viel geliebt hatte!«
Und doch, es giebt noch eine tiefere Heimat als solche der ersten persönlichen Erlebnisse und geistigen Mittheilung, die Stätte unserer Geburt und frühesten Sinnen- und Empfindungseindrücke. »Ein Zufall weckte mit einemmale das Gefühl, das ich für erloschen hielt, während es nur geschlummert hatte,« sagt er von diesem Heimatsgefühl. Er las eines Morgens in Venedig die Beschreibung des Unheils, das durch Ueberschwemmung über die Hauptstadt seines engeren Vaterlandes gekommen war. »Tief rührte mich solcher Jammer und lebhaft stieg in mir das Verlangen auf, den Unglücklichen zu helfen,« sagt er. »Wie aber sollte ich helfen, der ich weder die Mittel besitze, die das Geld, noch den Einfluß, den die Macht giebt? Gut! dachte ich, du findest keine Ruhe des Herzens, keinen Schlaf der Augen, ehe du nicht dein Scherflein zur Linderung so großer Noth beigetragen. Der Himmel wird den Pfennig des Künstlers ebenso segnen wie das Gold des Millionärs.«
In solcher Empfindung sei ihm plötzlich der Sinn des Wortes »Vaterland« lebendig geworden: »Ich ging in der Erinnerung in die Vergangenheit zurück, that einen Blick in mein Inneres und entdeckte mit einem unaussprechlichen Entzücken rein und unbefleckt den ganzen Schatz der Erinnerungen aus der Kindheit.«
Und jetzt folgt die Beschreibung seines Geburtsortes Raiding und vor allem ein herzenswarmes Lob Ungarns und seiner Bewohner. Zu diesen letzteren aber gehören als alter Bestand eben jene Zigeuner, das äußerlich verstreuteste und verkommenste aller Völker der Erde und doch ein zusammengehöriges Volk und gar eines, das neben allen andern Völkern einen wirklichen Eigenbesitz hat und ihn der Welt als seinen Beitrag zu der großen einigen Menschencultur geschenkt hat, die Zigeunermusik.
Dieser junge Liszt Ferencz war auch Musiker, war es in dem Sinne, daß nichts auf der Welt ihm über einen solchen Seelenbesitz ging, da derselbe und er allein vielleicht völlig, auch dasjenige Gut in sich zu beschließen vermag, welches das heiligste des Menschen ist und aus sich selbst auch eben diese Kunst der Töne so ganz und rein hervorgeboren hat, die Religion. Liszt kannte ja dieses unglücklich-glückliche Wandervolk, es hatte ihm mit seinen Tönen die Seele zuerst für die tief dämonische Welt erschlossen, als welche wir oben die Musik charakterisirten. Aus der leidenschaftlichen Erregung aller Willenskräfte und Lüste in diesen stürmisch erregten Rhythmen war ihm selbst auch das unauslöschliche Sehnen nach einem reineren und höheren inneren Bestände geworden, der aus diesen Zigeunermelodien wie Klage der Seele der Welt selbst ertönt. Er hatte erlebt und erfahren, daß wie ihm selbst so den Zigeunern die Musik ein All, ein Haft der ganzen Existenz sei, der selbst von den Naturbanden des nächsten menschlichen Daseins, von Kindes- und Elternliebe kaum übertroffen werde. Er wußte, daß diesem elenden Volke, das keine Heimat, keinen Staat, keine sociale Vereinigung, keine Cultur, ja keine Religion hat, diese aus ihm selbst erwachsene Kunst der Töne alles dasjenige sei, was über die bloße Natur und ihre Gaben hinaus die Welt bietet, Bildung und Sitte, jedes höhere Denken und tiefere Empfind «» der Menschenexistenz, ja sagen wir Religion und Gott selbst!
Er hatte als Knabe die Hingebung gesehen, die in der Erzeugung solcher Seelenweltweisen versinkt, erstirbt. Er hatte in seinem frühesten Empfinden mit der ganzen Energie eines unerschöpflich jugendkräftigen Herzens diese Töne aus den verborgensten Tiefen eines räthselhaften Wesens empordringen hören und sich selbst zwischen Entzücken und Schmerzen, zwischen Thränen und Wonnen, zwischen Stolz und Sehnen hin- und hergeworfen gesuhlt, ein Spielball unerfaßter ewigen Mächte, die dennoch der Quell, der Bestand unseres Lebens sind. Er hatte selbst jetzt seit Jahren diese unermessene Fähigkeit, welche die volle innere Hingabe an einen Gegenstand außer uns dem Geiste gewährt, in der Welt, in der großen Welt geübt, gelernt. Tiefe Ergriffenheit wie stürmisches Entzücken folgten ihm überall auf dem Fuße, wo seine Hand die Tasten berührte, wo seine Seele in Tönen schwamm, sein Auge voll höherer Wonne an den Gesichten einer übersinnlichen Welt hing, seine Brust vor der ungeahnten Fälle der Eindrücke solchen Fühlens, solchen Schauens stöhnte und er selbst den unbegreifbaren und erschütternden Eindruck völlig theilte, den seine Kunst, sein Zauberspiel da ausübte. Dies hatte er selbst alles erfahren, hundertfach erfahren, wie sollte jetzt sein Herz nicht schlagen, wo er diejenigen wieder sehen, die Laute wieder vernehmen sollte, die ihn so zu sagen zum Leben gerufen? Denn sein Leben war und ist ja nur Musik, und diese Zigeunerweisen sind wie die Seele des Landes, dem sie selbst von allen Ländern der Welt am eigensten angehören. Dieses Land selbst schlug in ihnen das Auge des ersten Bewusstseins auf. Denn ein Ungarn-, ein Magyarenfest ohne diese Musik, es ist kein Ungarn, kein Fest: die Zigeuner und ihre Musik sind wie ein zweites, das ideale Vaterland der Ungarn in jeder, der schmerzlich sehnsuchtsvollsten wie der lebensberauscht entzücktesten Regung ihrer nationalen Existenz.
So hat denn auch der unstreitig größte Sohn, den dieses Ungarn bisher erzeugt, Liszt selbst, jenem äußerlich verkommensten aller Völler der Welt, den Zigeunern, ein Denkmal gesetzt, das in rührender Treue wieder erzählt, was sie eigentlich sind und was er selbst ihnen verdankt. Die Schilderung seines ungarischen Vaterlandes, seiner geliebten Landsleute, dann der Lebens- und Anschauungsweise jenes ewigen Wandervolkes, ihre räthselhafte Herkunft und noch räthselhaftere Fortexistenz, das Geheimnis ihres moralischen Bestandes, wenn man es so nennen darf, in all diesem äußeren Wechsel und entbehrungsreichen Dasein, der Hauch der Poesie, der sie wie alle echten Producte der Natur und man möchte sagen des unmittelbaren Weltgeistes umgiebt, – alles dieses muß man in der Schrift »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« selbst lesen und wird nichts mit der zarten Liebe, seinen Beobachtung, treuen Wiedergabe, tiefen intellectuellen Erkenntnis und ethischen Würdigung und endlich mit der wahrhaft ideal-poetischen Verklärung vergleichen können, womit hier einer scheinbar ebenso gott- wie weltverlassenen Existenz ihr Recht und ihr Grund zu existiren und gleich uns hundert übrigen Völkern auch dauernd fortzubestehen aufs sicherste gewahrt wird. Es ist zugleich ein ebenso schönes Herzens- wie Geistesdenkmal, das sich der große Künstler hier selbst gesetzt hat.
Ein Stück daraus aber, sein Besuch bei den Zigeunern, wird uns zunächst im einzelnen alles erhärten, was wir oben von dem Einfluß ihrer Kunst auf ihn und von dem göttlich frei waltenden und durch nichts einzuengenden Genius der Musik als eines unmittelbaren Abkömmlings der Urmacht der Welt selbst gesagt haben. Wir lassen durchaus unseren Zeugen selbst erzählen, es ist ein buntes Bild, und wie einst ein Salvator Rosa bei seinen Räubern volle Ungehemmtheit und Individualität des Naturlebens und daher unvergleichliche Charakterfülle und Drastik der Landschaften, Gestalten, Gruppen, Trachten, Farben und Formen studirt haben sollte, so werden wir hier in heiter farbigem Bilde wenigstens einen der zahlreichen Keime und Sprossen wieder finden, die in Liszt zu einem so mächtigen und lebenskräftigen Baume erwachsen sind. Von diesen reinen Kindern der Natur behielt er sich wenigstens den einen unentbehrlichen Factor alles Kunstschaffens, die volle Unbefangenheit und die innerste Hingebung in allem, was sie sind und leben und geben.
Liszt erzählt also, wie er bei jener ersten Rückkehr nach Ungarn im Sommer 1838 seine Jugenderinnerung mit einigen ihrer lebhaftesten Eindrücke auffrischen wollte und natürlich dabei diese Horden lieber in Wald und Flur, in dem pittoresken Durcheinander ihrer Wanderungen und Lagerplätze mit all ihren vom conventionellen Firniß unbedeckten Contrasten der Leidenschaft und Stimmung aus den verschiedensten Lebensstufen wiedersah, als in den dumpfen Straßen der Städte, deren Staub sie gern abschütteln, um die Füße an Dorn und Ginster der Haide statt am holperigen Pflaster zu stoßen. »Ich besuchte sie draußen in ihrem Reich, schlief mit ihnen unter freiem Himmel, spielte mit den Kindern, beschenkte die Mädchen, plauderte mit den Herzögen und Häuptlingen, lauschte den Concerten vor ihrem eigenen nicht bezahlenden Publikum im Schein der Herdfeuer, deren Platz der Zufall angewiesen,« – Salvator Rosa unter den Räubern! Und nun folgt eine Schilderung, wie sie eben nur der äußerste Gegensatz eines im vollen Prunk der Städte und gar dieses weltgebietenden Paris erzogenen und wohl auch verzogenen Kindes des »Salons« zu der höchsten Einfachheit solcher Hordenmenschen zu geben vermochte, aber auch nur ein Künstler, der eben von sich sagen konnte: »Später wurde ich selbst wandernder Virtuose, wie sie es in unserem Vaterlande sind, ich blieb dabei gleich ihnen den Bevölkerungen selbst fremd, verfolgte gleich ihnen mein Ideal in einem unausgesetzten Aufgehen in der Kunst, wenn nicht in der Natur.«
Auf die dichten krausen Haare ihrer Lammfellmäntel hingestreckt, aus denen sie ihm ein Ehrenbett mit einem Sockel von soeben gepflückten frisch duftenden Blumen bereitet hatten, vor sich eine Colonade hoher Eschen, deren weitgestreckte Zweige den zu einem weiten Pavillon von blauem Atlas ausgebreiteten, mit einigen Vorhängen duftiger Wolken geschmückten Himmel zu stützen schienen, zu seinen Firsten eine von buntesten Haideblumen gestickte Moosdecke, jenen Kolibriteppichen der mexikanischen Caziken gleich, habe er stundenlang mit dem Anhören eines der besten Orchester von Zigeunern zugebracht, die von dem schönen Sommertage und der reichen Fülle ihres alkoholischen Lieblingstrankes angeregt, mit unbeschreiblichem Feuer die Tänze ihrer Frauen begleiteten, deren Tamburins unter glühend leisem Aufschrei und zauberischen Geberden erklangen. Während der eintretenden Ruhepunkte, so erzählt er, vernahm man das Kreischen der schlecht geschmierten Holzaxen an ihren Wagen, die, um den Tänzerinnen mehr Raum zu schaffen, weiter weggeschoben wurden, die Hurrahs der Buben in ihrem eigenen Jargon, die von den Musikern »höflicherweise« in Elgen Liszt Ferencz! Hoch Franz Liszt! übersetzt wurden. Dann Ueberraschungsjubel beim Anblick eines Mahles, das Fleisch und Honig bot, ein raketenartiges Nußknacken der weißzahnigen Kinder unter hellem Lachen, tollen Sprüngen, Purzelbäumen und einem gar wunderbaren Geschwirr und Lärm – ein volles Lied tollster Natur und Lebenslaune! Förmliche Schlachten wurden dabei um eine Lieblingsnascherei, einige Säcke Erbsen, geliefert, wobei zerlumpte Megären mit aufgesträubtem Haar, triefenden Augen, zahnlosen Kiefern, espenhaft zitternden Händen unglaublich wilde Sarabanden um diese Geschenke tanzten, die ihrer Naschhaftigkeit weidlich Befriedigung versprachen. Die Männer, denen er schöne Pferde geschenkt, zeigten lachend die glänzenden Zähne, ließen die Fingergelenke wie Castagnetten klappern, warfen ihre Mützen hoch in die Luft, stolzirten wie Pfauen umher und nahmen dann die gespornten Rhythmen ihrer Tänze mit einem Feuer wieder auf, das sich bald zur vollen Tollheit steigerte und zuletzt jenes taumelnde, kreisende Drehen hervorbrachte, wie es den Gipfel der Sinnenentrücktheit der Derwischtänze bildet. Wahrlich ein Vorwurf für den Pinsel eines echten Niederländers! Ob so etwas auch wohl die Musik malen kann? Wir wollen sehen, fahren aber erst in der Erzählung fort, die uns wenigstens an den äußersten Rand des inneren Lebens dieser so sonderbar verwahrlosten und scheinbar völlig inhaltslosen Nomadenexistenz führt.
Er unterhielt sich lange mit den Greisen der Horde, bat sie, ihm einige Ereignisse aus ihren Erinnerungen zu erzählen. Ihr Gedächtnis geht aber nicht weit über die Grenzen der lebenden Generation hinaus, und er mußte ihnen behilflich sein, den Lauf der Begebenheiten zurückzuwandern, damit sie dieselben wieder aneinander zu reihen vermochten. Haben sie, so belehrt uns der sichere Kenner der Sache hier, den Faden eines solchen Abenteuers aber einmal gewonnen, so finden sie selbst ungemein viel Gefallen daran, und die alten, unter späteren Eindrücken längst begrabenen Empfindungen steigen in der ganzen Eindringlichkeit ihres Erlebnisses wieder auf. Je seltener ihnen dies zu Theil wird, je größer ist die Lebhaftigkeit, mit der sie den Ton alter Tage wieder anschlagen, und mit steigendem Antheil, oft mit einer bizarren Poesie, mit Bildern von stets wachsender orientalischen Farbenglut schildern sie dann die Scenen, die man ihrem Gedächtnis ab schmeichelt.
Das Berichtete selbst jedoch war nur Aeußerung augenblicklicher und zufälliger Leidenschaft, nicht überlegtes Vorhaben, beharrlich durchgeführter Plan. Denn diese heftigen, regellosen, unbezwungenen Triebe schließen jede Nothwendigkeit der Verstellnug aus. Die Originalität der Begebnisse besteht hauptsächlich in der mehr oder minder energischen oder phantastischen Leidenschaft des Helden, die dann meist mit einem unvorhergesehenen Nebenumstand in Verbindung tritt. Die ungemeine Einfachheit ihrer gegenseitigen Beziehungen schließt jene Folge von Begebenheiten, jenen Wechsel der Umstände aus, denen wie keimende Saaten die Gefühle entsprießen, welche in ihrer Reife die Wendung unserer Geschicke herbeiführen. Geduld und Abwarten steht ihrer eigenwilligen, rasch und derb zugreifenden Art zu fern, sie bemächtigen sich ebenso rasch des Begehrten, wie sie schnelle Rache für jeden Angriff nehmen, wenn nicht einer einmal wie ein verwundetes Wild den Pfeil mit sich fortträgt und um die Wunden zu verbergen, seinen Stamm verläßt. Denn sie beobachten, meldet unser Gewährsmann weiter, über ihre eigenen Herzenskrisen ein aus Stolz und Scheu gemischtes Schweigen wie aus einem Gefühle männlicher Verschämtheit, und von Gefährten berühren sie nur die Verstorbenen und Abtrünnigen, halten aber selbst dann ein Wort, ein Kopfnicken, eine Anspielung für genug, um alles gesagt zu haben. So erfuhr auch Liszt hier nur einzelne Abenteuer von Liebeshändeln, Kampf, verschmitzter Gaunerei u. s. w. und selbst hier verbarg sich gerade stets die Hauptsache, die persönliche Antheilnahme und innere Leidenschaft aufs hartnäckigste, obwohl sich bei manchem hinter aller Verschlagenheit, mit der sie die milde Spende hervorzulocken wissen, ein sehr poetischer Sinn für die Scenen bekundete, deren Zeugen sie waren. So würden sich denn auch hier die kleinen Erzählungen nur »wie Perlen von gleicher Farbe an ein und denselben Faden reihen lassen«.
Bunter und schwirrender aber wird das Bild, als er zum zweiten Male unter seine Freunde zurückkehrt. Es waren wieder dieselben Hochebenen des Oedenburger Comitats, in dem er selbst geboren. Er hatte seiner alten Wirthe nicht vergessen, und auch sie gedachten seiner recht wohl. Denn als er in der ärmlichen alten Kirche, in der er als Kind so innig gebetet, die Messe verlassen, in der alle Anwohnenden laut zu Ehren des gleichen Knaben mitsangen, welchem die guten Frauen des Dorfes beim Abschied prophezeit hatten, daß er »im gläsernen Wagen«, d. h. in glänzender Equipage zurückkehren werde, da empfing ihn eine große Schaar Zigeuner, die festlicher, lärmender und ergötzlicher als je ihn umschwärmten.
Ihr Orchester richtete sich alsbald in einem nahen Eichenwalde ein. Umgestülpte Fässer, mit Brettern bedeckte Tische, von »römischen Betten« aus Heuhaufen umgeben, darunter ein wahrer Thron von Thymian, Schmetterlingsblumen, Flachsblüten in eleganter Halbtrauer, Anemonen in weißer Tunica, wilden Malven, Kornblumen, Schwertlilien und Goldglocken, »würdig, einer Titania seine Blütenstufen darzubieten«! Nachtschatten mit breiten schildförmigen Blättern bildeten einen kolossalen Fächer um das ländliche Fest. Und nun kommt eine Naturschilderung, die fast schon selbst wie ihr lebendiges Abbild in Tönen klingt: »Bienen in Schaaren verließen, vom Dufte des frischen Heues gelockt, summend ihren Stock in den alten Baumstämmen der nächsten Umgebung, in Waizen- und Roggenfeldern zirpten die Grillen. Hornisse und dünkelhafte Wespen brummten ihren Alt, raschelnden Flugs kamen die Wasserjungfern mit ihren knitternden Taffetschwingen, Wachteln und Lerchen schlugen, verscheuchte Spatzen schreien dazwischen, die kleinen Smaragdfrösche überquakten das Rauschen des Baches, und eine ganze Bande obdachloser Jesuiten schwärmten mit den confusesten Melodien um uns her. Welche Polyphonie! Welch ätherische Musik! Welche Smorzandos auf Orgelpunkten! So etwas muß Berlioz vorgeschwebt haben, als er seinen Sylphentanz componirte!« – Nein, sagen wir, solche Bilder der unerschöpflich mannigfaltigen Lebendigkeit schaffender Natur müssen die kühne und allzeit sichere Phantasie desjenigen Künstlers erfüllt haben, der bald selbst all das »Weh und Wehen der allmächtigen Natur«, wie er es genannt hat, so wundervoll treffend wie nur je eine Landschaft des Salvator Rosa oder Ruisdael malte und zudem mitten hinein das lebendige Menschenherz mit all seinem thörichten Stolz und ungestillten Sehnen setzte.
Doch weiter, ein wahrer Höllenbreughel schon in den bloßen schildernden Worten!
»Die Nacht kam eher als die Müdigkeit. Um das Dunkel zu scheuchen, loderte bald ein Dutzend Pechfackeln im Kreise umher. Die Flammen stiegen wie Cylinder von glühendem Eisen empor, denn kein Hauch bewegte die glut- und duftschwere Atmosphäre, die alles unsichtbare aromatische Blut der morgens gemähten Kräuter in sich gesogen. Den halbgeschlossenen träumenden Augen erschienen die Fackeln wie tragende Säulen des dunklen Himmelsgewölbes. Der Rauch wogte langsam empor, das goldene Sternenmeer bald bedeckend, bald enthüllend. Die Finsternis war wie ein dichter Wall um den phantastischen Waldpalast gezogen, und bizarr gewundene Zweige knorriger Bäume ragten wie Skulpturen daran empor. Die Kinder sprangen wie Gnomen umher und zerzausten die Büsche. Immer traumhafter, unzusammenhängender wurde der Anblick. Gespenstisch waren die Frauen anzusehen, wenn sie mit kohlenglühenden Augen, mit liebewinkender und zauberkundiger Hand plötzlich aus irgend einer dunklen Ecke hervortraten, um ›gutes Glück‹ zu weissagen. An einem Abend wie dem heutigen konnte das Beiwort nicht für lügnerisch gelten.«
Daneben stellt sich dann zum guten Schluß ein Stück Humor der Sache, wie es ja echter Natur und ihren Kindern niemals fehlt.
Am andern Morgen wollten die Männer nichts von einer sofortigen Trennung wissen und gaben ihrem Gönner theils zu Pferde, theils laufend bis zum nächsten Dorfe das Geleit. Der gestrigen Glut war Gewitter und Sturm gefolgt, aber alles war schon von einem Scheidetrunk aufgefrischt rüstig und funkelte vor Vergnügen, sie hatten sogar ihr Gaudium an dem lustig stoßweise niederprasselnden Regen. In ihren nach außen gekehrten Lammfellen nahmen sie sich wie Bären auf wüthenden Hengsten aus und ließen dabei die Sporen klirren, daß die neuen Pferde wie Karpfen in die Höhe sprangen. Der Uebermuth dieses Geschlechts, das »nie und nimmer weise wird«, war schon kaum mehr zu zügeln. Sie erreichten bald miteinander in anhaltendem Galopp eine nicht sehr entfernt liegende Schenke, und hier war denn mit einem Morgenständchen der Abschluß der sonderbaren Festbegegnung. Unter einem großen Schuppen, »wo man eben that, als glaube man, es regne nicht«, begann die Symphonie con estro portico, mit begeistertem Schwung. Der circulirende Wein erweckte den gestrigen Alkohol zu neuem Leben und führte alsbald ein rinforzado con rabbia herbei. Wie ein basso continuo grollte in der Ferne der Donner. Das hohe Gebälk und die halb zerfallenen Mauern des Schuppens gaben mannigfachen Widerhall, so daß jeder Ton mit doppelter Kraft ans Ohr schlug. Die leidenschaftlichen Passagen, die virtuosen Kraftstellen verfolgten und vermischten sich. Das musikalische Morgengeheul ward von unartikulirten Tönen durchschnitten, und in dem ungestümen Finale war es, als ob alle Klänge und Töne wie Bergkämme übereinanderstürzten. »Man war wirklich nicht ohne Sorge, ob nicht auch das alte Gebäude niederbrechen würde, so betäubend war die Instrumentation dieses Concertes, das gewiß dem Verdict keines Conservatoriums entgangen wäre und das selbst ich diesmal für etwas gewagt erklären mußte.«
So in geistvoller Schilderung ein Bild lebensvollsten Lebens!
Aber was ist dies alles gegen die Darstellungen, wo der Künstler nun auch den eigenen Pinsel ergreift und in Tönen diese Bilder malt, deren Innerstes fast alles miteinander schon Klang ist! Wenn Salvator Rosa in seine leidenschaftlich bewegten Naturscenen und seine kühne Entfesselung der Elemente Banditen und andere wilde Gestalten nächsten Naturlebens und Bedürfens als passendste Staffage hineinwarf, so meinte man annehmen zu müssen, er habe selbst zeitweilig mit diesen Räubern gelebt. Hier lauschte nun nach eigenem Bericht der Künstler der unentweihten Natur und ihren Söhnen, und eine gar merkwürdige Bereicherung unserer musikalischen Bildersammlung sind die »Ungarischen Rhapsodien«, in denen Liszt die ganze Existenz, die er uns oben in Worten skizzirte, in Tönen nun wirklich ausmalte und so in die Kunstwelt hinüberrettete. Die »Ungarische Phantasie« für Clavier und Orchester aber und gar die stolze symphonische Dichtung »Hungaria«, sie geben ein monumentales Bild dieses seltsam kraftvollen und von den innersten Gegensätzen belebten ungarischen Lebens, das auch jene Naturwelt des Zigeuners in diesem einen Punkte völlig in sich aufgesogen. Von ihr hatten wir hier sicheren Bericht zu geben. Denn es ist, was allerdings an dieser Stelle nicht näher anszuführen noch zu begründen nothwendig erscheint, neben unserer in herkömmlichen Formen schaffenden europäischen Musik in Harmonie, Rhythmus, Melodik und Instrumentation eine musikalische Welt für sich und wie wir selbst hier erkannten, eine gar wunderbar phantastische und farbenreiche, aber sprühenden Lebens voll. Besäßen wir nicht den unnachahmlichen Zauber des Webens der Natur in Shakespeares »Sommernachtstraum«, wir müßten an künstlerischer Darstellung der wunderbaren Poesie der reinen Natur diese aus der Zigeunermusik entsprungenen Werke Liszts für das Poetischste aller solchen Naturpoesie erklären. Jedenfalls dulden sie nur wenig malerische Genrebilder an Kraft, Feinheit und Leben neben sich, und wir sahen, ihre Studien sind ebenfalls direct »nach der Natur« gemacht. Das Nähere, über die Zigeunermusik findet sich im Anhang der »Allgemeinen Musikgeschichte«, Nr. 1511-1513 dieser Bibliothek.