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Hier könnte man nun freilich fragen, was damals dem Nous so plötzlich eingefallen ist, ein beliebiges materielles Pünktchen, aus jener Anzahl von Punkten, anzustoßen und in wirbelndem Tanze herumzudrehen, und warum ihm das nicht früher einfiel. Darauf würde Anaxagoras antworten: »Er hat das Privilegium der Willkür, er darf einmal beliebig anfangen, er hängt von sich ab, während alles Andere von außen her determinirt ist.« Er hat keine Pflicht und also auch keinen Zweck, den zu verfolgen er gezwungen wäre; wenn er einmal mit jener Bewegung anfieng und sich einen Zweck setzte, so war dies doch nur – die Antwort ist schwer, Heraklit würde ergänzen – ein Spiel.«
Das scheint immer die den Griechen auf der Lippe schwebende letzte Lösung oder Auskunft gewesen zu sein. Der anaxagorische Geist ist ein Künstler, und zwar das gewaltigste Genie der Mechanik und Baukunst, mit den einfachsten Mitteln die großartigsten Formen und Bahnen und gleichsam eine bewegliche Architektur schaffend, aber immer aus jener irrationalen Willkür, die in der Tiefe des Künstlers liegt. Es ist, als ob Anaxagoras auf Phidias deutete und angesichts des ungeheuren Künstlerwerks, des Kosmos, ebenso wie vor dem Parthenon uns zuriefe: »Das Werden ist kein moralisches, sondern nur ein künstlerisches Phänomen.« Aristoteles erzählt, daß Anaxagoras auf die Frage, weshalb das Dasein überhaupt für ihn werthvoll sei, geantwortet habe »um den Himmel und die gesammte Ordnung des Kosmos anzuschauen«. Er behandelte die physikalischen Dinge so andächtig und mit so geheimnißvoller Scheu, wie wir vor einem antiken Tempel stehen; seine Lehre wurde zu einer Art von freigeistischer Religionsübung, sich schützend durch das odi profanum vulgus et arceo und ihre Anhänger aus der höchsten und edelsten Gesellschaft Athen's mit Vorsicht wählend. In der abgeschlossnen Gemeinde der athenischen Anaxagoreer war die Mythologie des Volkes nur noch als eine symbolische Sprache erlaubt; alle Mythen, alle Götter, alle Heroen galten hier nur als Hieroglyphen der Naturdeutung, und selbst das homerische Epos sollte der kanonische Gesang vom Walten des Nous und von den Kämpfen und Gesetzen der Physis sein. Hier und da drang ein Ton aus dieser Gesellschaft erhabener Freigeister in das Volk; und besonders der große und jederzeit verwegene, auf Neues sinnende Euripides wagte mancherlei durch die tragische Maske laut werden zu lassen, was der Masse wie ein Pfeil durch die Sinne drang und von dem sie sich nur durch possenhafte Karrikaturen und lächerliche Umdeutungen befreite.
Der allergrößte Anaxagoreer ist aber Perikles, der mächtigste und würdigste Mensch der Welt; und gerade über ihn legt Plato das Zeugniß ab, daß allem die Philosophie des Anaxagoras seinem Genie den erhabnen Flug gegeben habe. Wenn er als öffentlicher Redner vor seinem Volke stand, in der schönen Starrheit und Unbewegtheit eines marmornen Olympiers und jetzt, ruhig, in seinen Mantel gehüllt, bei unverändertem Faltenwurfe, ohne jeden Wechsel des Gesichtsausdrucks, ohne Lächeln, mit dem gleichbleibenden starken Ton der Stimme, also ganz und gar undemosthenisch, aber eben perikleisch redete, donnerte, blitzte, vernichtete und erlöste – dann war er die Abbreviatur des anaxagorischen Kosmos, das Bild des Nous, der sich das schönste und würdevollste Gehäuse gebaut hat und gleichsam die sichtbare Menschwerdung der bauenden, bewegenden, ausscheidenden, ordnenden, überschauenden, künstlerisch-undeterminirten Kraft des Geistes. Anaxagoras selbst hat gesagt, der Mensch sei schon deshalb das vernünftigste Wesen oder müsse schon darum den Nous in größerer Fülle als alle anderen Wesen in sich beherbergen, weil er so bewunderungswürdige Organe wie die Hände habe; er schloß also darauf, daß jener Nous je nach der Größe und Masse, in der er sich eines materiellen Körpers bemächtigt, sich immer die seinem Quantitätsgrade entsprechenden Werkzeuge aus dieser Materie baue, die schönsten und zweckmäßigsten somit, wenn er in größter Fülle erscheint. Und wie die wundersamste und zweckmäßigste That des Nous jene kreisförmige Urbewegung sein mußte, da damals der Geist noch ungetheilt in sich zusammen war, so erschien wohl die Wirkung der perikleischen Rede dem horchenden Anaxagoras oftmals als ein Gleichnißbild jener kreisförmigen Urbewegung; denn auch hier spürte er zuerst einen mit furchtbarer Kraft, aber geordnet sich bewegenden Gedankenwirbel, der in concentrischen Kreisen die Nächsten und die Fernsten allmählich erfaßte und fortriß und der, wenn er sein Ende erreichte, das gesammte Volk ordnend und scheidend umgestaltet hatte.
Den späteren Philosophen des Alterthums war die Art, wie Anaxagoras von seinem Nous zur Erklärung der Welt Gebrauch machte, wunderlich, ja kaum verzeihlich; es erschien ihnen als ob er ein herrliches Werkzeug gefunden, aber nicht recht verstanden habe, und sie suchten nachzuholen, was vom Finder versäumt war. Sie erkannten also nicht, welchen Sinn die vom reinsten Geiste naturwissenschaftlicher Methode eingegebne Entsagung des Anaxagoras hatte, die sich in jedem Falle und vor Allem die Frage stellt, wodurch Etwas ist ( causa efficiens) und nicht, weshalb Etwas ist ( causa finalis). Der Nous ist von Anaxagoras nicht zur Beantwortung der speciellen Frage »wodurch giebt es Bewegung und wodurch giebt es regelmäßige Bewegungen?« herbeigezogen worden; Plato aber wirft ihm vor, er habe zeigen müssen, aber nicht gezeigt, daß jedes Ding in seiner Weise und an seinem Orte sich am Schönsten, Besten und Zweckmäßigsten befinde. Dies hätte aber Anaxagoras in keinem einzelnen Falle zu behaupten gewagt, für ihn war die vorhandene Welt nicht einmal die denkbar vollkommenste, denn er sah jedes Ding aus jedem entstehen und fand die Scheidung der Substanzen durch den Nous weder am Ende des erfüllten Raumes in der Welt, noch in den einzelnen Wesen vollzogen und abgethan. Es reichte seinem Erkennen vollständig aus, eine Bewegung gefunden zu haben, welche, in einfacher Fortwirkung aus einem durch und durch gemischten Chaos die sichtbare Ordnung schaffen kann, und er hütete sich wohl, die Frage nach dem Weshalb? der Bewegung, nach dem vernünftigen Zweck der Bewegung zu stellen. Hatte nämlich der Nous einen seinem Wesen nach nothwendigen Zweck durch sie zu erfüllen, so stand es nicht mehr in seiner Willkür, die Bewegung irgend einmal anzufangen; sofern er ewig ist, hätte er auch ewig schon von diesem Zwecke bestimmt werden müssen, und dann hätte es keinen Zeitpunkt geben dürfen, in dem die Bewegung noch fehlte, ja es wäre logisch verboten gewesen, für die Bewegung einen Anfangspunkt anzunehmen: wodurch dann wiederum die Vorstellung vom ursprünglichen Chaos, das Fundament der ganzen anaxagorischen Weltdeutung, ebenfalls logisch unmöglich geworden wäre. Um solchen Schwierigkeiten, die die Teleologie schafft, zu entgehen, mußte Anaxagoras immer auf das Stärkste betonen und betheuern, daß der Geist willkürlich sei; alle seine Akte, auch der jener Urbewegung, seien Akte des »freien Willens«, während dagegen die ganze andre Welt streng determinirt und zwar mechanisch determinirt, nach jenem Urmoment, sich bilde. Jener absolut freie Wille kann aber nur zwecklos gedacht werden, ungefähr nach Art des Kinderspieles oder des künstlerischen Spieltriebes. Es ist ein Irrthum, wenn man Anaxagoras die gewöhnliche Verwechslung des Teleologen zumuthet, der, im Anstaunen der außerordentlichen Zweckmäßigkeit, der Übereinstimmung der Theile mit dem Ganzen, namentlich im Organischen, voraussetzt. Das, was für den Intellekt existirt, sei auch durch den Intellekt hineingekommen, und Das, was er nur unter Leitung des Zweckbegriffs zu Stande bringt, müsse auch von der Natur durch Überlegung und Zweckbegriffe zu Stande gebracht sein. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Band II, zweites Buch, Capitel 26, zur Teleologie.) In der Manier des Anaxagoras gedacht, ist aber im Gegentheil die Ordnung und Zweckmäßigkeit der Dinge direkt nur das Resultat einer blind mechanischen Bewegung; und nur um diese Bewegung veranlassen zu können, um aus der Todesruhe des Chaos irgendwann einmal herauszukommen, nahm Anaxagoras den willkürlichen, von sich allem abhängigen Nous an. Er schätzte an ihm gerade die Eigenschaft, beliebig zu sein, also unbedingt, undeterminirt, weder von Ursachen noch von Zwecken geleitet, wirken zu können.