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1.

Es giebt Gegner der Philosophie: und man thut wohl auf sie zu hören, sonderlich wenn sie den ertränkten Köpfen der Deutschen die Metaphysik widerrathen, ihnen aber Reinigung durch die Physis, wie Goethe, oder Heilung durch die Musik, wie Richard Wagner, predigen. Die Ärzte des Volkes verwerfen die Philosophie; wer diese also rechtfertigen will, mag zeigen, wozu die gesunden Völker die Philosophie brauchen und gebraucht haben. Vielleicht gewinnen, falls er dies zeigen kann, selbst die Kranken die ersprießliche Einsicht, warum gerade ihnen dieselbe schädlich sei. Es giebt zwar gute Beispiele einer Gesundheit, die ganz ohne Philosophie oder bei einem ganz mäßigen, fast spielerischen Gebrauche derselben bestehen kann; so lebten die Römer in ihrer besten Zeit ohne Philosophie. Aber wo fände sich das Beispiel der Erkrankung eines Volkes, dem die Philosophie die verlorne Gesundheit wiedergegeben hätte? Wenn sie je helfend, rettend, vorschützend sich äußerte, dann war es bei Gesunden, die Kranken machte sie stets noch kränker. War je ein Volk zerfasert und in schlaffer Spannung mit seinen Einzelnen verbunden, nie hat die Philosophie diese Einzelnen enger an das Ganze zurückgeknüpft. War je Einer gewillt abseits zu stehen und um sich den Zaun der Selbstgenugsamkeit zu ziehen, immer war die Philosophie bereit, ihn noch mehr zu isoliren und durch Isolation zu zerstören. Sie ist gefährlich, wo sie nicht in ihrem vollen Rechte ist: und nur die Gesundheit eines Volkes, aber auch nicht jedes Volkes, giebt ihr dieses Recht.

Schauen wir uns jetzt nach jener höchsten Auktorität für Das um, was an einem Volke gesund zu heißen hat. Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben ein für allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch, daß sie philosophirt haben; und zwar viel mehr als alle anderen Völker. Sie konnten nicht einmal zur rechten Zeit aufhören; denn noch im dürren Alter gebärdeten sie sich als hitzige Verehrer der Philosophie, ob sie schon unter ihr nur die frommen Spitzfindigkeiten und die hochheiligen Haarspaltereien der christlichen Dogmatik verstanden. Dadurch, daß sie nicht zur rechten Zeit aufhören konnten, haben sie selbst ihr Verdienst um die barbarische Nachwelt sehr verkürzt, weil diese, in der Unbelehrtheit und dem Ungestüm ihrer Jugend, sich gerade in jenen künstlich gewebten Netzen und Stricken verfangen mußte.

Dagegen haben die Griechen es verstanden, zur rechten Zeit anzufangen, und diese Lehre, wann man zu Philosophiren anfangen müsse, geben sie so deutlich, wie kein anderes Volk. Nicht nämlich erst in der Trübsal: was wohl Einige vermeinen, die die Philosophie aus der Verdrießlichkeit ableiten. Sondern im Glück, in einer reifen Mannbarkeit, mitten heraus aus der feurigen Heiterkeit des tapferen und siegreichen Mannesalters. Daß in dieser Zeit die Griechen philosophirt haben, belehrt uns ebenso über Das, was die Philosophie ist und was sie soll, als über die Griechen selbst. Wären jene damals solche nüchterne und altkluge Praktiker und Heiterlinge gewesen, wie es sich der gelehrte Philister unserer Tage wohl imaginirt, oder hätten sie nur in einem schwelgerischen Schweben, Klingen, Athmen und Fühlen gelebt, wie es wohl der ungelehrte Phantast gerne annimmt, so wäre die Quelle der Philosophie gar nicht bei ihnen an's Licht gekommen. Höchstens hätte es einen bald im Sande verrieselnden oder zu Nebeln verdunstenden Bach gegeben, nimmermehr aber jenen breiten, mit stolzem Wellenschlage sich ergießenden Strom, den wir als die griechische Philosophie kennen.

Zwar hat man mit Eifer darauf hingezeigt, wie viel die Griechen im orientalischen Auslande finden und lernen konnten, und wie mancherlei sie wohl von dort geholt haben. Freilich gab es ein wunderliches Schauspiel, wenn man die angeblichen Lehrer aus dem Orient und die möglichen Schüler aus Griechenland zusammenbrachte und jetzt Zoroaster neben Heraklit, die Inder neben den Eleaten, die Ägypter neben Empedokles, oder gar Anaxagoras unter den Juden und Pythagoras unter den Chinesen zur Schau stellte. Im Einzelnen ist wenig ausgemacht worden; aber den ganzen Gedanken ließen wir uns schon gefallen, wenn man uns nur nicht mit der Folgerung beschwert, daß die Philosophie somit in Griechenland nur importirt und nicht aus natürlichem heimischem Boden gewachsen sei, ja daß sie, als etwas Fremdes, die Griechen wohl eher ruinirt als gefördert habe. Nichts ist thörichter, als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen, sie kamen gerade deshalb so weit, weil sie es verstanden, den Speer von dort weiter zu schleudern, wo ihn ein anderes Volk liegen ließ. Sie sind bewunderungswürdig in der Kunst, fruchtbar zu lernen: und so, wie sie, sollen wir von unsern Nachbarn lernen, zum Leben, nicht zum gelehrtenhaften Erkennen, alles Erlernte als Stütze benutzend, auf der man sich hoch und höher als der Nachbar schwingt. Die Fragen nach den Anfängen der Philosophie sind ganz gleichgültig, denn überall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Häßliche, und in allen Dingen kommen nur die höheren Stufen in Betracht. Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer und persischer abgiebt, weil Jene vielleicht »originaler« und jedenfalls älter sind, der verfährt ebenso unbesonnen, wie Diejenigen, welche sich über die griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können, als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne, Blitz, Wetter und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben, und welche zum Beispiel in der beschränkten Anbetung des einen Himmelsgewölbes bei den anderen Indogermanen eine reinere Form der Religion wiedergefunden zu haben wähnen, als die polytheistische der Griechen gewesen sei. Der Weg zu den Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis; ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben – weil sie Das, was sie lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der Cultur und mit den Zielen der Cultur philosophirt und deshalb ersparten sie sich, aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern giengen sofort darauf los, diese übernommenen Elemente so zu erfüllen, zu steigern, zu erheben und zu reinigen, daß sie jetzt erst in einem höheren Sinne und in einer reineren Sphäre zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzu erfunden.

Jedes Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisirte Philosophengesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales, Anaximander, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras, Empedokles, Demokrit und Sokrates. Alle jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Nothwendigkeit. Es fehlt für sie jede Convention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie Alle sind in großartiger Einsamkeit als die Einzigen, die damals nur der Erkenntniß lebten. Sie Alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis in's Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden. Denn keine Mode kam ihnen hülfreich und erleichternd entgegen. So bilden sie zusammen Das, was Schopenhauer im Gegensatz zu der Gelehrten-Republik eine Genialen-Republik genannt hat: ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.

Von diesem hohen Geistergespräch habe ich mir vorgesetzt zu erzählen, was unsre moderne Harthörigkeit etwa davon hören und verstehen kann: das heißt gewiß das Allerwenigste. Es scheint mir, daß jene alten Weisen von Thales bis Sokrates, in ihm alles Das, wenn auch in allgemeinster Form, besprochen haben, was für unsre Betrachtung das Eigenthümlich-Hellenische ausmacht. Sie prägen in ihrem Gespräche wie schon in ihren Persönlichkeiten die großen Züge des griechischen Genius aus, deren schattenhafter Abdruck, deren verschwommene und deshalb undeutlicher redende Copie die ganze griechische Geschichte ist. Wenn wir das gesammte Leben des griechischen Volkes richtig deuteten, immer würden wir doch nur das Bild wiedergespiegelt finden, das in seinen höchsten Genien mit lichteren Farben strahlt. Gleich das erste Erlebniß der Philosophie auf griechischem Boden, die Sanktion der sieben Weisen, ist eine deutliche und unvergeßliche Linie am Bilde des Hellenischen. Andre Völker haben Heilige, die Griechen haben Weise. Man hat mit Recht gesagt, daß ein Volk nicht sowohl durch seine großen Männer charakterisirt werde, als durch die Art, wie es dieselben erkenne und ehre. In anderen Zeiten ist der Philosoph ein zufälliger einsamer Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fäusten sich durchdrängend. Allein bei den Griechen ist der Philosoph nicht zufällig: wenn er im sechsten und fünften Jahrhundert unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint und gleichsam aus der Höhle des Trophonios mitten in die Üppigkeit, das Entdeckerglück, den Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hineinschreitet, so ahnen wir, daß er als ein edler Warner kommt, zu demselben Zwecke, zu dem in jenen Jahrhunderten die Tragödie geboren wurde und den die orphischen Mysterien in den grotesken Hieroglyphen ihrer Gebräuche zu verstehen geben. Das Urtheil jener Philosophen über das Leben und das Dasein überhaupt besagt so sehr viel mehr als ein modernes Urtheil, weil sie das Leben in einer üppigen Vollendung vor sich hatten und weil bei ihnen nicht, wie bei uns, das Gefühl des Denkers sich verwirrt in dem Zwiespalt des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Größe des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur fragt: Was ist das Leben überhaupt werth? Die Aufgabe, die der Philosoph innerhalb einer wirklichen, nach einheitlichem Stile gearteten Cultur zu erfüllen hat, ist aus unsern Zustünden und Erlebnissen deshalb nicht rein zu errathen, weil wir keine solche Cultur haben. Sondern nur eine Cultur, wie die griechische, kann die Frage nach jener Aufgabe des Philosophen beantworten, nur sie kann, wie ich sagte, die Philosophie überhaupt rechtfertigen, weil sie allein weiß und beweisen kann, warum und wie der Philosoph nicht ein zufälliger, beliebiger, bald hier-, bald dorthin versprengter Wanderer ist. Es giebt eine stählerne Nothwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Cultur fesselt: aber wie, wenn diese Cultur nicht vorhanden ist? Dann ist der Philosoph ein unberechenbarer und darum Schrecken einflößender Komet, während er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Cultur leuchtet. Deshalb rechtfertigen die Griechen den Philosophen, weil er allein bei ihnen kein Komet ist.


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