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Pestalozzis Pädagogik in ihrer Durchführung
Die Einteilung der Pädagogik Pestalozzis ergibt sich von selbst aus ihren Prinzipien, von denen besonders das vierte hier entscheidet. Ist das Ziel der Erziehung die genaueste Vereinigung und wechselseitige Unterstützung der sittlichen, geistigen und Kunstkraft je in ihrer normalen Gestaltung, so sind in der Theorie diese drei Grundrichtungen der Bildung zunächst auseinanderzuhalten; und zwar ist die natürliche Reihenfolge ihrer theoretischen Behandlung die eben angegebene. Es war nicht der genaue Ausdruck der Grundmeinung Pestalozzis, wenn in der »Gertrud« die Verstandesbildung voranstand, dann, fast nur andeutungsweise, die physische, und erst zuletzt die sittliche Bildung zur Darstellung kam. In den »Ansichten und Erfahrungen« wird, offenbar in bewußter Berichtigung der »Gertrud«, vielmehr die sittliche Bildung an die Spitze gestellt; ja es kann bei der fragmentarischen Ausführung dieser Schrift leicht so erscheinen, als solle die geistige Bildung als bloßes untergeordnetes Mittel in diese eingeschlossen sein. In allen späteren Darstellungen aber, in der Lenzburger Rede, in der letzten Bearbeitung von »Lienhard und Gertrud«, im Schwanengesang, steht die Reihenfolge: sittliche, geistige, physische Bildung fest. Daß sie auch der natürlichen Stellung der drei Grundprinzipien (Spontaneität, Methode, Anschauung) entspricht, ist im vorigen Kapitel gezeigt worden.
Es ist auffallend, daß diese Einteilung rein vom Inhalt der Bildung entnommen ist. Man könnte eine eigene Theorie der bildenden Tätigkeit, das heißt, des besonderen Anteils der Subjekte: des Erziehenden und des Zöglings, am Erziehungswerk vermissen. Die in Pestalozzis Schriften nicht allzu reichlich verstreuten Bemerkungen hierüber scheinen sich unserer Einteilung nicht glatt zu fügen. Indessen zeigt sich bei näherer Prüfung, daß diese Bemerkungen fast immer die sittliche Führung betreffen und sich der allgemeinen Forderung der unmittelbaren Einlebung in die sittlichen Ordnungen, in der Pestalozzi das wesentliche Mittel der sittlichen Bildung sieht, zwanglos unterordnen. Über das Verhältnis des Lehrenden und Lernenden beim Unterricht aber hat sich Pestalozzi wenig Gedanken gemacht. Was darüber gelegentlich gesagt wird, schließt sich den Vorschriften über die elementarische Anordnung des Lehrinhalts engstens an. Diese ist offenbar überall sein Hauptinteresse; wie auf jeder Stufe der Lehrende mit dem Lernenden in Verkehr treten und ihn gleichsam bei der Hand nehmen muß, um ihn zu ihr hinauf und dann weiter über sie empor zu heben, darüber findet sich nur weniges nebenher. Im ganzen vertraut Pestalozzi auf die Kraft der inneren Förderung, die in der Sache, im Bildungsinhalt selbst liegt; daher läßt er, über die sachliche Anweisung bezüglich des Lehrinhalts hinaus, dem Lehrer fast völlig freie Hand. Eine besondere Lehre von der bildenden Tätigkeit, neben und außer der vom Bildungsinhalt und seiner durch die Sache selbst vorgezeichneten, »elementarischen« Entwicklung, wäre also kaum in seinem Sinne.
Ebensowenig würde seiner Idee eine Scheidung der Pädagogik in Individual- und Sozialpädagogik entsprechen. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft betrifft an erster Stelle die sittliche Bildung, erstreckt sich aber von da aus zugleich auf alles weitere. Die sittliche Bildung besteht eben in der Erhebung des Individuums zu höheren und höheren Stufen der Gemeinschaft. Endlich ist die religiöse Bildung nicht etwa von der sittlichen zu trennen. Religion ist nach Pestalozzi nur die Vollendung der Sittlichkeit; die Gemeinschaft mit Gott ist ihm eins mit der idealen Gemeinschaft des Menschengeschlechts durch das gemeinsame Bewußtsein der schließlichen Einheit des sittlichen Endziels. Auch ist darum nicht in der heute beliebten Verbindung von »sittlich-religiöser«, sondern schlechtweg von sittlicher Bildung zu reden.
A. Die sittliche Bildung
) Das Grundgesetz des Sittlichen ist das Gesetz der Autonomie oder der Freiheit. Doch ist der Mensch zur sittlichen Freiheit eben erst zu erziehen. Der Gang dieser Erziehung aber geht von der Heteronomie – oder vielmehr von der ursprünglichen Anomie durch die Heteronomie – erst zur Autonomie; eben damit vom Selbstwillen des isolierten Individuums durch die bloß äußere, mehr oder minder zwangsmäßige Gesellung zur wahren, inneren Gemeinschaft frei Wollender. Dieser allgemeine Stufengang der sittlichen Bildung erfüllt zugleich mit dem Prinzip der Spontaneität auch das der Methode. Das Prinzip der Anschauung aber bedeutet in Hinsicht der sittlichen Erziehung besonders dies, daß allein » das Leben bildet«; das heißt, daß die Bildung zum Sittlichen nur im Mit- und Füreinanderleben, in der vollen Wirklichkeit gemeinschaftlichen Tuns sich vollzieht, in der sie zugleich die Bildung des Verstandes ganz in sich aufnimmt, und zwar mit dieser sich vereint in dem beiden gemeinsamen Element der Arbeit, in der die Gemeinschaft sittlich Wollender allein wirtungskräftig besteht.
Der aus diesen prinzipiellen Voraussetzungen unmittelbar sich ergebende Hauptgang der sittlichen Bildung stellt sich zugleich dar als Durchgang durch die drei Stufen der Gemeinschaft: 1. das Haus oder die Familie, 2. den bürgerlichen Verein, der als besondere Organisationsform der Erziehung die Schule sich geschaffen hat; bis 3. zur idealen Gemeinschaft des Gottesreichs. Alle drei sind zugleich erziehende Faktoren und das, wozu oder gleichsam wohinein der werdende Mensch erzogen wird. Die Erziehung zur Gemeinschaft besteht eben in der von Stufe zu Stufe innigeren Teilnahme am Leben der Gemeinschaft, also darin, daß sie selbst, die Gemeinschaft, das werdende menschliche Individuum in ihr Leben, in ihr Arbeitsleben aufnimmt und mit ihm immer inniger verwachsen läßt. Und indem sie im Bewußtsein des so in sie hineinwachsenden jungen Gliedes sich Stufe um Stufe aufbaut, baut damit die Gemeinschaft selbst von Geschlecht zu Geschlecht in immer verjüngter Gestalt sich wieder auf; sie besteht ja überhaupt nur im Bewußtsein der an ihr Teilnehmenden. Also hat die Theorie nicht etwa äußerlich zu scheiden zwischen der Gemeinschaft als Faktor und derselben als Aufgabe der Erziehung. Wie etwa bei Aug. Vogel, Systematische Darstellung der Pädagogik J. H. Pestalozzis (Hannover 1886); der im übrigen, wie wir, rein nach dem Inhalt einteilt, und zwar in der richtigen Reihenfolge: sittliche – geistige – physische oder Kunstkraft.
Der hier abstrakt formulierte Gedankengang durchzieht nun in höchst lebendigen Ausführungen beinahe sämtliche Schriften Pestalozzis; er bildet überall das eigentliche Zentrum, um das seine sonstigen pädagogischen Gedanken sich wie selbstverständlich gruppieren und von dem aus sie Licht und Lebenswärme empfangen. Nur das Wichtigste davon soll im folgenden herausgehoben werden.
Die Tagebuchaufzeichnungen von 1774 (mit den Nachträgen im Schweizerblatt 1782) legen nicht nur theoretisch auf die väterliche Erziehung den Hauptnachdruck, sondern zeigen uns Pestalozzi selbst als Vater in täglicher treuer Arbeit an der Erziehung seines Söhnchens. Wichtig sind hier zunächst die Ausführungen über Gehorsam und Freiheit: Gehorsam ist notwendig, aber er muß im Zutrauen wurzeln und insofern selbst auf Freiheit gegründet sein. Dieses wird der Erzieher bei seinem Zögling sicher erreichen, wenn er »nur zum Notwendigen befiehlt«, und zwar nachdem der Zögling zuvor schon zur Empfindung dieser Notwendigkeit gebracht worden ist. »Ich setze zum voraus, du habest mit ganzer Seele für das Zutrauen deines Kindes gearbeitet«; dann wird es zum nötigen Gehorsam von selbst gestimmt sein. Pflicht und Gehorsam selber werden ihm Freude werden. Das ist eine bewußte Korrektur Rousseaus, der die Wörter Befehl, Pflicht, Gehorsam aus dem Wörterbuch des Kindes ganz gestrichen wissen wollte. »Wir müssen verbinden, was Rousseau getrennt« (nämlich Gehorsam und Freiheit). Nur in seltenen Fällen muß der Mensch blind gehorchen. – Vor allem aber hat Erfahrung ihn überzeugt, daß der Mensch »seine Haupt lehre bei seiner Haupt arbeit suchen muß«. Er muß seine erste Weltkenntnis aus seiner Wohnstube und weder aus Rom und Griechenland, noch aus Jerusalem schöpfen, und ebenso die erste Kenntnis seiner Pflichten in seinen Verhältnissen gegen Vater und Mutter finden und lernen; nicht aus Worterklärungen, die einer gefunden Sacherkenntnis oft nur hinderlich sind und im besten Fall nur die Sprache geben können für das, was man aus unmittelbarem Erleben schon kennt und versteht. – Dasselbe bestätigten ihm die Erfahrungen seiner Armenschule (s. o. S. 8 f.). Er wünscht sich ein kleines Buch: » Beruhigende Weisheit für den Armen, nach den eingeschränkten Begriffen der untersten Klasse vom Volk, in ihren Bildern, im Geist ihrer Vorstellungsart enthüllte Wahrheit, Wahrheit für sie, Wärme und Stimmung für sie in ihr Herz, in ihrer Sprache; Leitung und Wegweisung für das Eigentliche Eigentümliche. ihrer Situationen, mit Einfalt und erheiterndem Licht, aber mit warmer, teilnehmender, emporhebender Menschlichkeit enthüllt. Es wäre Samen der Wahrheit in große wüste Heiden für unerschöpflichen Reichtum der Menschheit« ... Das ist deutlich die Idee seiner »Abendstunde«.
Nachdem er in dieser dann den Kerngedanken seiner Grundlegung der sittlichen Erziehung erreicht hat (s. Kap. II, § 7), gibt die höchst anschauliche Erläuterung dazu die wundervolle Schilderung der Wohnstubenerziehung der Gertrud im Roman, die freilich durch eine trockene Wiedergabe der Leitgedanken in irgendeiner abstrakten Fassung allzuviel von ihrem Besten verlieren würde. Das muß man im ganzen Zusammenhang lesen und wieder lesen und sich ganz hineinleben, so wie es aus unmittelbarem warmem Leben geflossen und nicht am Schreibtisch erklügelt ist. Meine Ausgabe (Greßlers Klassiker der Pädagogik, Band XXIV) sucht dies zu erleichtern, indem sie die Darstellung der Wohnstubenerziehung der Gertrud (und weiter die der Einrichtung der ländlichen Erziehungsschule) aus dem Roman als ein Ganzes für sich herauslöst. Denn das Walten der Gertrud – wie »eines jeden Weibes, das seine Wohnstube zum Heiligtum Gottes erhebt und ob Mann und Kindern den Himmel verdient« – ist gleich dem der Sonne Gottes, die vom Morgen bis am Abend ihre Bahn geht: »dein Auge bemerkt keinen ihrer Schritte, und dein Ohr höret ihren Lauf nicht; aber bei ihrem Untergang weißt du, daß sie wieder aufsteht und fortwirkt, die Erde zu wärmen, bis ihre Früchte reif sind«. So bemerkt man im Tun der Gertrud gar nichts, das etwas Besonderes scheint; man meint bei allem, was sie tut, eine jede andere Frau könnte das auch so machen. Aber »ihr könntet nicht mehr sagen, sie in meinen Augen groß zu machen«, sagt der Leutnant; »die Kunst endet, wo man meint, es sei überall keine, und das höchste Erhabene ist so einfach, daß Kinder und Buben meinen, sie können gar viel mehr als nur das«. – Etwas mehr Reflexion gibt dem, der es sucht, die Erläuterungsschrift zum Roman: Christoph und Else, sowie der Aufsatz des Schweizerblatts »Von der Erziehung«. Zwar betrifft das Wichtigste davon den engen Anschluß der sittlichen ebenso wie der geistigen Bildung an die physische oder Arbeitsbildung, wovon überhaupt die Schriften dieser Periode voll sind. Überall aber steht eben dies bei Pestalozzi in engster Verbindung mit der Überzeugung von der unersetzlichen erziehenden Kraft des Hauses, die er besonders in dieser Periode hoch über die der Schule erhebt. So besonders in »Christoph und Else«, 14. Abendstunde. Das Haus lehrt durch die lebendige Tat, nicht durch Worte. Es übt den Gehorsam des Kindes, ohne von ihm zu reden; es macht das Kind arbeiten, ohne erst sagen zu müssen: die Arbeit gibt Brot; es macht das Kind die Eltern lieben, ohne viel zu sagen: Du sollst oder: Du mußt. Diese natürliche Lehre ist durch die künstliche der Schule in keiner Weise zu ersetzen. In allem muß für das Kind die Vaterlehre der Kern bleiben; »für die Schulmeisterarbeit kannst Gott danken, wenn sie eine gute Schale über den Kern herausbringt.« Soll aber die Schule irgend auch nur Ähnliches wirken, so muß wenigstens der Schulmeister ein offener, heiterer, lieber, menschlicher und froher Mann sein, dem seine Schulkinder sozusagen ans Vaterherz gewachsen sind; ein Mann, recht dazu gemacht, den Kindern Herz und Mund zu öffnen und ihren Naturverstand und Mutterwitz sozusagen aus dem hintersten Winkel hervorzulocken; wovon aber leider gewöhnlich das Gegenteil der Fall ist. Kurz: »Häusliche Weisheit ist in der Bildung des Menschen wie der Stamm am Baum; auf ihn müssen alle Zweige menschlicher Kenntnisse, Wissenschaften und Lebensbestimmungen wie aufgepfropft und eingeimpft werden; aber wo dieser Stamm selber serbet (d. h. krankt) und schwach ist, da sterben die eingepfropften Reiser, und die eingeimpften Schosse verwelken.«
Diesem Sinn ist Pestalozzi immer treu geblieben. Wendet sich in der Revolutionszeit seine Aufmerksamkeit mehr dem sozialen Leben in seiner größeren, politischen Gestalt zu, beschäftigt ihn in Stanz und Burgdorf mehr die Untersuchung der intellektuellen Elementarbildung, so hat er die seit seiner Frühzeit in ihm festgewurzelte Überzeugung von der fundamentalen erziehenden Kraft des schlichten Hauslebens doch stets unverändert festgehalten und nur von immer neuen Seiten bestätigt gefunden. »Schulunterricht«, so heißt es im Stanzer Brief, »ohne Umfassung des ganzen Geistes, den die Menschenerziehung bedarf, und (folglich!) ohne auf das ganze Leben der häuslichen Verhältnisse gebaut (zu sein), führt nicht weiter als zu einer künstlichen Verschrumpfungsmethode unseres Geschlechts«. Die Kraft des Erziehers muß »reine, durch das Dasein des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft« sein. Als Inbegriff solcher Vaterkraft lebt Pestalozzis Wirken an den Armenkindern in Stanz unauslöschlich im Gedächtnis seines Volkes. Man muß es wiederum im ganzen Zusammenhang lesen, um den vollen Eindruck davon zu bekommen, wie Pestalozzis sittliche Erziehung an den Stanzer Kindern ganz ein Wirken durch Tat und Leben und nicht durch Worte sein wollte und war. Ist ihm doch sein Grundbegriff der »Anschauung« als der stärksten Kraft der Erziehung gerade aus der Erfahrung dieses seines sittlichen Wirkens erwachsen und von da erst auf den Unterricht übertragen.
Aus eben dieser Gesinnung gab er seiner theoretischen Hauptschrift den (wirklich nur nach dieser Seite bezeichnenden) Titel: » Wie Gertrud ihre Kinder lehrt«. Die sittliche Erziehung wird ja hier (in den beiden letzten Briefen), wie er selbst sagt, nur »berührt«; und sie ist hier so ganz eins mit der Bildung zur Religion, daß wir das hierher Gehörige natürlicher mit dem auf diese bezüglichen (unten § 5) verbinden werden. Einige wertvolle Ergänzungen dazu bietet das »Buch der Mütter« gerade in den sicher von Pestalozzi selbst herrührenden Teilen.
Dagegen bildet die sittliche Erziehung das Hauptthema der zum Ersatz der »Gertrud« bestimmten Briefe an Gesner (in den »Ansichten und Erfahrungen«). Nur Liebe und Tätigkeit für Liebe ist geeignet, eben diese Kräfte im werdenden Menschen zu entwickeln. Also muß von Vater- und Muttersorgfalt – werde sie auch im Notfall von andern an der Eltern Statt geübt – alle Bildung des Kindes ausgehen; folglich bildet das häusliche Leben ihre natürliche erste Stätte. Von da erst erweitert sie sich zugleich mit der Ausdehnung der Gemeinschaftsbeziehungen auf weitere und weitere Kreise bis zu der »größeren Familie, deren Allvater Gott ist«. Die Ausführungen hierüber (besonders vom 5. Briefe an) gehören ebenfalls zu dem, was man lesen und wieder lesen muß und sich ganz davon durchdringen lassen. Auch die von Niederer mit diesen Briefen verknüpfte Abhandlung: »Ein Blick auf meine Erziehungsversuche« s. in m. Ausg. (Greßlers Klassiker, Band XXV) X, 2; S. 394. geht vom häuslichen Leben als dem »von der Natur selbst gegebenen Fundament einer jeden wahrhaft guten Erziehung« aus; denn darin liegt »ein ganzes Gewebe von Fäden, an die sich der ganze Umfang alles dessen, was eine gute Erziehung bedarf, mit Leichtigkeit und Sicherheit anknüpfen läßt«. Ersatz dafür kann die Schule nicht geben; aber sie kann im günstigen Fall »die Kraft des häuslichen Lebens für ihren Zweck sichern, erhöhen und allgemeiner machen«.
Weiter enthält die Lenzburger Rede gerade über dies Thema schöne, echt Pestalozzische Ausführungen (S. X, 306 ff.; Mann, von § 245 an). Es findet sich in diesem Zusammenhang auch der viel zitierte Ausspruch über die körperliche Züchtigung; wobei ja nicht zu übersehen ist, daß ausdrücklich von der elterlichen, nicht von der Schulzucht die Rede ist. Daß ein Erzieher, der nicht ganz an Elternstatt dem Kinde gegenübersteht, der nicht ganz der Liebe des Vaters oder der Mutter gegen das Kind sich rühmen kann, nicht züchtigen dürfte, wäre selbst aus dieser Stelle (und der ähnlichen im Briefe über Stanz, S. VIII, 411 f.) zu schließen; direkt ausgesprochen ist es in einem von Seyffarth (X, 177) mitgeteilten Schreiben Pestalozzis an den Vater eines seiner Ifertner Zöglinge, wo es heißt: »Schläge sind im allgemeinen ein der Erziehung unwürdiges Mittel ... Ich bin mit Ernst wider das Schlagen des fremden Kindes vom fremden Erzieher; nicht so wider die ähnliche Bestrafung von seiten des Vaters und der Mutter. Es gibt Fälle, wo körperliche Strafen allerdings das beste sind; aber sie müssen mit der höchsten Sicherheit vom Vater- und Mutterherzen ausgehen, und der Erzieher, der sich zum wirklichen Vater- und Muttersinn emporhebt, sollte allerdings das Recht haben, in gewissen wichtigen und diese Maßregeln fordernden Fällen hierin das nämliche zu tun.« Da aber diese Bedingung allgemein, besonders bei jüngeren Lehrern, schwerlich erfüllt sein wird, hat Pestalozzi das Schlagen der Kinder in seiner Anstalt allgemein untersagt. Für die seltenen Fälle, »wo solche Strafen entschieden gut sind und ich das Vertrauen der Eltern unbedingt genieße«, hat er solche sich selber vorbehalten; »es vergehen aber halbe und ganze Jahre, da der Fall nie eintritt.«
Auch die in politische und allgemeine Kulturfragen hoch hinaufgreifende Schrift »An die Unschuld usw.« kehrt doch von solchen Höhen immer wieder zurück zur Segenskraft der Wohnstube. Der Grund der Menschenbildung ist zuletzt nirgendwo anders zu suchen als im Menschen selber; dann heißt es sogleich weiter: im Tun der Mutter, in den Bedürfnissen des Kindes. Denn » individuelle Kultur ist das Fundament der Segenskräfte der kollektiven Menschenkultur«. – Die Geburtstagsrede von 1818 sodann, in der er auf die ursprüngliche Idee seiner Armenanstalt noch einmal zurückgreift, ist wieder ganz erfüllt von dem Leitgedanken seiner ersten Periode: daß die Wohnstube des Volks der Mittelpunkt sei, worin »sich alles Göttliche, das in den Bildungskräften der Menschennatur liegt, vereinigt«. Die Elementarbildung »ist in ihrem Wesen nichts andres als ein erhabener Rückschritt zur Einfachheit der Wohnstubenbildung. Diese Kunst ist wahrlich erhaben. Ihre Mittel ... sind nicht einzelne Gaben des Wissens oder der Kunst, die dem Wasser gleichen, das man in Zübern herträgt und auf den dürren Boden ausschüttet. Dieses ausgeschüttete Wasser verliert sich bald; der Boden trocknet wieder auf und wartet trocken, bis wieder ein guter Mensch einen neuen Zuber auf ihn ausschüttet und ihn damit wieder anfeuchtet. Nein, die Mittel der wahren Elementarbildung sind Quellen gleich, die, wenn sie einmal eröffnet, den Boden, den sie segnen, ewig nie wieder auftrocknen lassen.« Alle seine Bemühungen um die Elementarbildung waren in seinen Augen nur »Bruchstücke von Versuchen, die Menschenbildung und, was ebensoviel ist, die Volkskultur ... dem Gange der Natur, in der sich ihre Entfaltung in der Wohnstube ausspricht, näher zu bringen«. Nochmals wird in besonders liebevoller und leichtfaßlicher Art die mütterliche Erziehung vornehmlich in sittlicher Hinsicht vorgeführt in den Briefen an Greaves.
Besonders aber gestaltet sich die um dieselbe Zeit vollendete neue Darstellung der Wohnstubenerziehung der Gertrud in der letzten Ausgabe des Romans zu einem überaus warmen und zugleich klaren Ausdruck dieser somit durch sein ganzes Leben unerschütterlich festgehaltenen Grundüberzeugung von der häuslichen und besonders der mütterlichen Erziehung als dem Urbild und Fundament der »naturgemäßen« Erziehung überhaupt. » Das Leben selber in seinem ganzen Umfang, wie es auf ihre Kinder wirkte, wie es sie ergriff, wie sie sich darein fügten und es benutzten, das war eigentlich das, wovon ihre Lehre ausging«, heißt es von der Gertrud, – Sie »führte die Sprache der Besorgung, der besorgenden Mutter ... Jedes Wort, das sie zu ihrem Kinde redete, war im innigsten Zusammenhang mit der Wahrheit seines Lebens und seiner Umgebungen und in dieser Rücksicht selber Geist und Leben. Der wörtliche Unterricht verschwand gleichsam in dem Geist und Leben ihres wirklichen Tuns, aus dem der Unterricht immer hervorging und zu dem er immer hinführte ... Das Leben ihrer weisen und frommen Mutter ging in der ganzen Fülle seiner Wahrheit und seiner inneren Höhe in sie hinüber. Sie gab ihnen alles, was sie wußte, hatte und konnte. Es war in ihrer Armut äußerst wenig, aber auch das Kleinste, das Geringste, das sie ihnen gab, war durch die Art, die Kraft und die Liebe, mit der sie es ihnen gab, bildend und groß,« Durch solche Einheit der »Lehre« mit dem »Leben« in der häuslichen Gemeinschaft aber wird eben das erreicht, was die Erziehung zum letzten Ziele hat: die harmonisch ineinandergreifende Entwicklung aller seelischen Grundkräfte, durch die auch alles Äußere, Mechanische der Erziehung sich dem einzigen letzten Zwecke der Bildung zur »Menschlichkeit« unterordnet. Selbst »was auch im Unterrichte der Gertrud abrichtend war« – es handelt sich um Baumwollspinnerei – »war in dem Benehmen der Kleinen wie in demjenigen der Mutter durch Liebe und Glauben geheiligt und veränderte dadurch gleichsam seine Natur; der Eindruck der harten Abrichtungskünste war menschlich gemildert und dem Höheren des Bildenden und Erhebenden in der Erziehung untergeordnet und durch diese Unterordnung unschädlich gemacht ... Auch das ist eine Eigenheit der Führung dieser Stube, daß die Mutter und die Kinder mitten in der festesten Ordnung ihres Pflichtlebens offene Sinne für alles Schöne und Gute, das in ihren Umgebungen stattfindet, haben und mitten in ihrer ununterbrochenen Tätigkeit herzliche und freie Teilnahme daran zeigen. Sie spinnen so eifrig, als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber ihre Seelen taglöhnen nicht. Sie bewegen sich während der ununterbrochenen Gleichheit ihrer leiblichen Bewegung so leicht und so frei wie der Fisch im Wasser und so froh wie die Lerche, die in den Lüften ihren Triller spielt.« Dem Muster einer solchen Wohnstube soll dann auch die Schulerziehung sich so genau, als der natürliche Unterschied beider es zuläßt, anpassen; so namentlich in dem engen Anschluß der sittlichen wie der geistigen Nildung an die Arbeitserziehung.
Endlich im Schwanengesang erläutert Pestalozzi nochmals den » Fundamentalgrundsatz« alles naturgemäßen Erziehungswesens«: daß » das Leben bildet«, wie selbstverständlich, indem er vom Hausleben ausgeht und zeigt, wie »in sittlicher Beziehung die Idee der Elementarbildung sich an das Leben des Kindes dadurch anknüpft, daß sie den ganzen Umfang ihrer Bildungsmittel aus dem, dem Menschengeschlecht allgemein innewohnenden und ursprünglich instinktartig belebten Vater- und Muttersinn der Eltern und aus dem im Kreise des häuslichen Lebens ebenso allgemein belebten Bruder- und Schwestersinn hervorgehen macht«. Mutterkraft und Muttertreue am Säugling sind (S. 297 ff.) die Grundlagen der sittlichen Erziehung. Durch sie werden im Kinde »die ersten Spuren der Liebe und des Glaubens naturgemäß entfaltet und zugleich der segensvolle Eindruck der Vaterkraft, des Bruder- und Schwestersinnes vorbereitet und begründet, und so allmählich der Sinn der Liebe und des Vertrauens über den ganzen Kreis des häuslichen Lebens ausgedehnt. Die sinnliche Liebe und der sinnliche Glaube an die Mutter erhebt sich auf dieser Bahn zu einer menschlichen Liebe und zu einem menschlichen Glauben ... Der Kreis der menschlichen Liebe und des menschlichen Glaubens des Kindes dehnt sich immer mehr aus. Wen die Mutter liebt, den liebt ihr Kind auch. Wem die Mutter traut, dem traut es auch ...«, und sein Glaube und sein Vertrauen erhebt sich dann auf dieser natürlichen Grundlage bis zum Glauben und Vertrauen auf den Vater im Himmel.
Die nächste Erhebung der sittlichen Begriffe aber ist die vom häuslichen zum bürgerlichen Verein. Und hier ist es nun, wo die »sozialen« Fragen im gewöhnlich verstandenen engeren Sinne für die Erziehungslehre wichtig werden.
Vom Hause soll die Hebung der Volkskultur ausgehen, aber von da sich auf das ganze Leben des Volkes auch in den größeren sozialen Verbänden ausdehnen. Darum muß schon die Hauserziehung, und dann die ihrem Muster nur nacharbeitende Schulerziehung, auf das soziale Leben in seiner Gesamtheit berechnet, zugleich aber müssen umgekehrt die sozialen Ordnungen so beschaffen sein, daß sie eine ihnen gemäße Erziehung der Jugend in Haus und Schule sichern und unterstützen und selber durchweg in gleicher Richtung mit ihr wirken. Die Grundlage der sozialen Ordnungen aber ist die wirtschaftliche Arbeit. Diese stellt darum Pestalozzi in den Mittelpunkt der häuslichen wie der Schulerziehung des Volkes.
Nicht ohne Einseitigkeit wird die genaue Berechnung der Jugenderziehung des Volkes auf dessen wirtschaftliche Bedürfnisse gefordert in den auf die Armenanstalt auf Neuhof bezüglichen Schriften. »Der Arme muß zur Armut auferzogen werden«, heißt es da geradezu. »Die Auferziehungsstube des Armen muß seiner künftigen Wohnstube soviel möglich gleich sein«; denn das Heil liegt für den Armen in der »angelegensten Ausbildung der tätigsten Industrie, verknüpft mit ernsten, anhaltenden Übungen in allen Arten von Beschwerlichkeiten der im Land üblichen Unterhaltungswege der Armut«; wovon die meisten öffentlichen Stiftungen freilich das Gegenteil zeigen. Und zwar ist es unerläßlich, die Erziehung des Armen auf die gewerbliche Arbeit zu gründen, die nur eben dem höheren Zweck der menschlichen Erziehung dienstbar gemacht und dadurch geheiligt werden muß. Das war die ernste Absicht der Pestalozzischen Anstalt, und nach allem, was die Berichte erkennen lassen, hat sie diese Absicht in hohem Grade erfüllt.
Dasselbe wird dann eingehend dargestellt im Roman, von dem namentlich der dritte, eigentlich aufbauende Teil fast ganz hierher gehört. Da kommt nun auch die andere Seite der Sache zu klarem Ausdruck: Nicht nur die Jugendbildung muß sich dem sozialen Leben anpassen, sondern das soziale Leben selbst muß in jeder Richtung so gestaltet werden, daß es mit der Jugendbildung in der gleichen heilsamen Richtung wirkt. Durch die Erfahrung überzeugt, daß keine noch so elende Lage die Naturkraft der Menschenbildung in irgendeinem Menschen ganz zunichte machen kann, sieht er doch keineswegs die äußere Lage des Menschen als für seine gesunde, namentlich sittliche Erziehung gleichgültig an. »Im Sumpf des Elends wird der Mensch kein Mensch.« Darum muß vor allem das Wirtschaftswesen des Volks in eine gesunde Ordnung gebracht werden. Er fordert daher, neben der Jugenderziehung zur Wirtschaftlichkeit, allgemeine und direkte Maßnahmen der Regierung zur Förderung gesunder Wirtschaft im ganzen Volk; Maßnahmen, die stets in erster Linie bestrebt sein müssen, die eigenen Kräfte des Volkes zur Besserung seiner Lage in Anspruch zu nehmen und direkt in Tätigkeit zu setzen.
Somit ist die Jugenderziehung nur ein Faktor innerhalb der größeren Erziehung, welche die gesamten sozialen Ordnungen auf das heranwachsende Geschlecht üben. Zivil- und Strafgesetz, nicht minder die loseren, aber zugleich umfassenderen und im Grunde wirksameren Ordnungen der gemeinen Zucht und Sitte, alles muß dazu zusammenwirken. Die einzelnen gesetzgeberischen Maßnahmen, die Pestalozzi (in seinem Roman und sonst oft) ins Auge faßt, zielen ausnahmslos, wenn auch mehr oder weniger direkt, auf die sittliche Hebung des Volkes, und zwar vorzugsweise auf dem Wege der wirtschaftlichen Erziehung. Die Staatssorge für das Eigentum darf sich nicht darauf beschränken, daß nicht gestohlen wird; es soll auch der Gebrauch, den ein jeder von seinem Verdienst macht, einer öffentlichen Aufsicht unterstehen. Er fordert Aufhebung der Leibeigenschaft, Befreiung der Güter und Personen von herrschaftlichen Abgaben; zugleich aber Maßregeln, die auf eine geregelte »Selbstsorge« jedes Standes für seine wirtschaftliche Selbständigkeit abzielen. Er wagt zu hoffen, daß es dann der »Galgen-, Rad- und Galeeren-Gerechtigkeit« nicht mehr bedürfen wird, die Galgen und Rad darum brauchen muß, weil man das Volk zuvor verwahrlost und selber zu dem gemacht hat, wofür man es hintennach straft. Daneben bedarf es natürlich auch und besonders einer genauen öffentlichen Aufsicht über die Erziehung der Jugend, auch die häusliche. Selbst die Religion wird ihm zuletzt zu einem und zwar dem höchsten Bestandteil jener »höheren Polizei« (Staatskunst), die zugleich die höhere Pädagogik bedeutet; eine Religion übrigens, die rein und allein auf die menschliche Sittlichkeit gebaut ist (davon im nächsten Paragraphen).
Die gewaltige Gärung, in die das wirtschaftliche und unter dessen Einfluß das politische Leben in jener Zeit geraten war, ließ ihm die Pflicht der Staatssorge für die sittliche Bildung des ganzen Volkes nur um so dringlicher erscheinen. Der Anspruch der unteren, die Verpflichtung der oberen Stände war durch die große Wandlung, die da sichtlich sich vollzog und die bestehenden sozialen Ordnungen überall lockerte und auflöste, unermeßlich erhöht. Nicht um Almosen nur und Spitäler, überhaupt um Gnaden war es da zu tun, sondern um Grundsätze, um Rechtsgefühl, um Selbständigkeit; es durfte die Perle des Rechts nicht verscharrt werden in die Mistgrube der Gnade, wie er es derb ausdrückt. Denn es lag klar vor seinen Augen, wie durch die Schuld der bestehenden sozialen Zustände »die Welt mit elenden, tief verdorbenen Menschen voll« war, das Volk »immer von Schlechtheit zu Schlechtheit, von Verderben zu Verderben, von Niedrigkeit zu Niedrigkeit herabsinken« mußte. In schneidender Schärfe zeiht er die Gesellschaft der Mitschuld am Verbrechen. Doch liegt der Fehler schließlich nicht an einem einzelnen Stande allein; die Selbstsorge jedes Standes für sich mußte zur allgemeinen Erhebung über die gegenwärtige elende Lage aufgerufen werden. Vor allem mußte zu allgemeiner Anerkennung gebracht werden, daß jeder bis zum geringsten herab vollen Anspruch auf menschliche Lebensbedingungen und eine menschliche Bildung hat. »Oder ist unser Jahrhundert mehr als alle Jahrhunderte schuldig, daß unser Herz tot, und wir nicht mehr sehen, nicht fühlen die Seele, die in dem Sohn unseres Knechts lebt und mit uns nach der ganzen Befriedigung ihrer Menschheit dürstet?« »Gehört diesen unseren Mitmenschen, die, mit gleichen Naturrechten wie wir geboren, uns, den Besitzern der Erde mit gleichen Ansprüchen ins Angesicht sehen, gehört diesen Staatsbürgern, die jede Last der gesellschaftlichen Vereinigung siebenfach tragen, keine ihre Natur befriedigende Stellung in unserer Mitte?« »Nein, der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloß um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt.« So wagt er in der Schrift »Gesetzgebung und Kindermord« zu fordern, daß der Staat die Erziehung der vaterlosen Kinder ganz auf sich nehme, mit der ernsten Begründung, daß die Einrichtungen des Staats die Hauptschuld an dem Übel tragen; er verlangt auch hier ein tiefes Eingreifen des Staats in die Wirtschafts- und Erziehungsangelegenheiten aller und besonders der unteren Volksklassen. Zwar hängt er nicht dem Traume einer »idealischen Gleichheit« nach, erkennt vielmehr gerade in der Ungleichheit einen Sporn der Entwicklung aller menschlichen Kräfte und Anlagen. Ein Zurücklenken der Völker zum Kinderstand ist unmöglich; also kann das Heil nur liegen »in der Ausbildung und Veredlung der Männerkräfte zur beruhigenden Weisheit des alles vollendenden Alters. Die Natur will allenthalben vollendete Reifung, aber es fordert schwache Blüten und heiße Sommertage, ehe der Segen des Herbstes seine Früchte zum Kosten anbietet. Ewiger Winter ist der Stand der Natur, den du lobtest, guter Rousseau ...« Und ebensowenig wie die soziale Entwicklung überhaupt läßt die Aufklärung sich zurückschrauben: es ist die Klage schwacher Augen, daß die Sonne jemals zu hell scheine. Auch hat man bisher nicht über zu große Erleuchtung, sondern über Dunkelheit zu klagen; allenfalls erscheint ihm der bisherige Zustand als der einer schwachen Dämmerung, die freilich besser ist als Nacht.
Unter den Stürmen der Revolution aber tritt Pestalozzi mit ganzer Entschiedenheit auf die Seite des sein » Menschenrecht« fordernden Volkes. Nicht daß er an sich die Revolution gutgeheißen hätte. Sie war im Grunde Anarchie – als solche aber doch nur der unausbleibliche Rückschlag gegen den in seinem Wesen nicht minder anarchischen Despotismus. Darum durfte man vor dem Ausbruch des Volksanarchismus sich nicht allzusehr entsetzen. Es war wenigstens ein keiner Dauer fähiger Zustand; es war nur »das Fieber, womit die gute Natur die vom Despotismus in ihren edlen Teilen angegriffenen Staaten zu heilen versucht«. Das Sachliche der Forderung der Volksrechte aber erkennt Pestalozzi unumwunden an. Hatte er in seinen früheren Schriften noch den Feudalzustand vorausgesetzt und die durch den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung notwendig gewordenen Wandlungen in Gesetzgebung und Erziehung von seiten der Feudalherren selbst erwartet, so erkennt er, nachdem jede Hoffnung von dieser Seite gründlich enttäuscht ist, nur noch eine Wahl: »Entweder muß Europa durch Despotie in Barbarei versinken, oder die Kabinette müssen mit Redlichkeit in das, was an dem Freiheitswunsch der Menschheit wahr ist, eintreten.« Dazu gehört vor allem »ein genügender Grad von gesetzlich gesicherter Volkskraft gegen die Regierungsverirrungen«; eine »Sicherung des Menschenrechts im bürgerlichen Zustand«. Das heißt: die Revolution hatte im wesentlichen ihrer Forderung recht. Und so »denunziert« er sich selbst (in der freilich damals nicht zur Veröffentlichung gelangten Schrift »Ja oder Nein«) als »parteiisch fürs Volk«, das will sagen: sein »ganzes Herz hängt an der Hoffnung, daß die Welt nicht endlich dahin komme zu fragen: Was ist das Recht des Volkes? und zu behaupten, es sei keines unter der Sonne«. Doch erwartet er nicht die augenblickliche Durchführung einer absoluten Demokratie, denn »die Stufenfolge der gesellschaftlichen Freiheit muß mit der Stufenfolge der menschlichen Erleuchtung und mit dem bestehenden Fuße des bürgerlichen Eigentums gleichen Schritt halten«. In dieser besonnenen Einschränkung wird die Einsicht fruchtbar in die Bedeutung der Entwicklung in allen Fragen des sozialen Lebens; eine Einsicht, die in den früheren Schriften wenigstens nicht in gleicher Bestimmtheit zu erkennen war.
Aus dieser heißen Anteilnahme an der großen sozialen Bewegung jener Tage ging dann der hochbedeutende theoretische Anlauf der »Nachforschungen« hervor, über den im vorigen Kapitel schon berichtet worden ist. In der Zeit seines erneuten praktischen Wirkens als Erzieher tritt (abgesehen von der Schrift »An die Unschuld usw.«) die besondere Rücksicht auf die sozialen Ordnungen begreiflich mehr zurück. Doch behauptet Pestalozzi unablässig und mit größter Wucht vor allem die allgemeine und wesentlich gleiche Bildungsbedürftigkeit aller Volksklassen. »Alle Menschheit«, so hieß es schon in der »Abendstunde«, »ist in ihrem Wesen sich gleich und hat zu ihrer Befriedigung nur eine Bahn ... Allgemeine Emporbildung der inneren Kräfte der Menschennatur ist (daher) allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedrigsten Menschen«, dem alle Standes- und Berufsbildung untergeordnet bleiben muß. So möchte, nach der »Gertrud«, seine Elementarbildung »die Erlernung der Anfangspunkte aller Künste und Wissenschaften dem Volke allgemein erleichtern und der verlassenen und der Verwilderung preisgegebenen Kraft der Armen und Schwachen im Lande die Zugänge der Kunst, die die Zugänge der Menschheit sind, eröffnen«; sie möchte »den Verhack anzünden, der Europas niedere Bürger in Rücksicht auf Selbstkraft, die das Fundament aller wirklichen Kunst ist, weit hinter die Barbaren von Süden und Norden zurücksetzt, indem er mitten in der Windbeutelei unserer gepriesenen allgemeinen Aufklärung zehn Menschen gegen einen von dem Recht des gesellschaftlichen Menschen, von dem Recht unterrichtet zu werden, oder wenigstens von der Möglichkeit, von diesem Rechte Gebrauch machen zu können, ausschließt«. Der Schulunterricht, wie er damals war, kommt ihm vor »wie ein großes Haus, dessen oberstes Stockwerk zwar in hoher, vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittleren wohnen denn schon mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten ... im dritten wohnt eine zahllose Menschenherde, die für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den oberen das gleiche Recht haben, aber sie wird nicht nur im ekelhaften Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden und Blendwerke die Augen sogar zum Hinaufgucken in das obere Stockwerk untauglich«. Ebenso entschieden tritt die Lenzburger Rede für die »Allgemeinheit der Ansprüche der Menschennatur auf die Entfaltung ihrer sittlichen, intellektuellen und Kunstkräfte« ein. »So wenig als die Lehre Jesu ... ihrem Geist und Wesen nach dem Niedrigen und Armen im Lande entzogen werden kann ... so wenig ist es möglich, das Wesen der Elementarbildung, wenn sie einmal in ihrem Geist und Wesen feststeht, dem Glücklichen zum ausschließlichen Erbteil zu machen und sie dem armen und niederen Mann im Lande zu entziehen«. Vor Gott sind ja auch alle Kinder der Menschen gleich, und er »achtet, indem er seine Gaben unter sie austeilt, nicht darauf, ob eines derselben eine Handvoll Erdenkot mehr als das andere in seiner Hand habe«. Übrigens setzt die Elementarbildung einen ebenso großen Vorzug darin, das anzuerkennen, was das Volk vor ihr in Absicht seiner Kräfte ist ... »sie findet unabhängig von ihr selbst in der ursprünglichen Volksweisheit wahre menschliche Weisheit, in der ursprünglichen Volkskraft wahre menschliche Kraft ... Wahrlich, wenn der Gedanke, die intellektuelle Elementarbildung gehöre nicht für das Kind des Armen im Lande, irgendeinen vernünftigen Sinn hätte, so müßte er darin liegen, daß der einfache Naturmensch durch die starken Eindrücke seiner ebenso einfachen aber kraftvollen Lage diejenige menschliche Bildung lebendig und urkräftig findet, die durch seine unnatürlich verschränkte Existenz dem sogenannten Gebildeten und Glücklichen entzogen ist und ihm auf anderem Wege ersetzt werden muß«. So heißt es in einem Zusatz der Cotta-Ausgabe zu »Christoph und Else« (S. V, 96): »Die erste, die elementarische Entfaltung unserer Kräfte ist ewig und unveränderlich in allen Lagen und Verhältnissen des Menschengeschlechts die nämliche und immer sich selbst gleich; sie ruht auf unveränderlichen und ewigen Gesetzen der Menschennatur selber; weder Stand noch Verhältnisse noch Umstände vermögen irgendeine Abänderung in der Befolgung ihrer ewigen Gesetze zu beanspruchen«; und ähnliches oft.
Unfraglich also will Pestalozzi, daß jeder gesunden Kraft der Bildung in jedem Gliede des Volks, unabhängig von seiner sozialen Stellung, zur Entfaltung verholfen werde. Seine Elementarbildung wollte, wie er oft (so besonders in den »Bemerkungen zu Wittes Schreiben«, 1805, bei Morf, Zur Biographie Pestalozzis, III, 135 ff.; in meiner Ausgabe, Greßler Bd. XXV, 313 ff.) ausführt, das Fundament bieten für eine schlechthin allgemeine Elementarbildung, und nicht für die irgendeines Standes im besondern. Daher hätte es vielleicht nahegelegen, zu folgern, daß auch die Wege der schulmäßigen Bildung grundsätzlich allen unter gleichen Bedingungen offen stehen und für eine reichlich bemessene erste Schulperiode auch gemeinsame sein müßten: die Idee der » allgemeinen Volksschule«. Es fällt auf, daß Pestalozzi diese Konsequenz gleichwohl nicht zieht, sondern an den wenigen Stellen, wo er diese Frage überhaupt berührt, viel mehr geneigt scheint, verschiedene Schulwege für verschiedene Berufsklassen, namentlich aber für Stadt- und Landbevölkerung anzunehmen.
Es hängt das zum Teil zusammen mit seiner sehr bedingten Schätzung der schulmäßigen Form der Bildung überhaupt. In unleugbarer Einseitigkeit stellt er in seiner ganzen ersten Periode die Schulerziehung gegen die Hauserziehung in den Schatten. Seit Burgdorf zwar zeigt sich darin eine gewisse Wandlung. So wird in dem Fragment »Ein Blick auf meine Erziehungsversuche« das Eigentümliche der Schulbildung entschiedener als vordem gewürdigt; es werden die Bedingungen einer guten Schule, besonders die Wichtigkeit der Sorge für einen tüchtigen Lehrerstand erörtert. Bestimmter noch wird in der Schrift »Über Körperbildung« (deren Einleitung nach Stil und Gehalt unbedenklich Pestalozzi selbst zuzuschreiben ist) die Schulerziehung von der häuslichen geschieden (S. X, 169ff.) und als ihre eigentümliche Aufgabe die Entwicklung zur vollen Selbständigkeit des Wollens, der Erkenntnis und der Kraft des heranwachsenden Menschen in dem sich erweiternden Erfahrungskreis und dem gleichzeitig sich erweiternden Kreise des Zusammenlebens erkannt. Auch in der Lenzburger Rede (§ 277 ff.) untersucht Pestalozzi die besonderen Voraussetzungen der »Schulfähigkeit« des Kindes. Weiteres über das Thema findet sich in der letzten Bearbeitung des Romans (S. XI, 362), im Schwanengesang (XII, 457ff., 461) und sonst. Der Begriff der »Erziehungsschule« jedenfalls ist ganz Pestalozzisch; er findet sich schon in der ersten Gestalt des Romans: »Erziehung und nichts anderes«, das Ganze der Erziehung ist die Aufgabe der Schule (S. IV, 450, 453 f.); und in der Lenzburger Rede tadelt er, daß man den Unterricht von der Erziehung sondere: »Der Geist der Erziehung muß in jedem Augenblick der nämliche sein, und da der Geist des Unterrichts in jedem Fall mit dem Geist der Erziehung ein und derselbe sein soll, so muß auch der Geist des Unterrichts in jedem Fache des Unterrichts der nämliche sein«; so in der Spiel- und dann wieder in der Schulstunde usw. Aber im ganzen kommt Pestalozzi doch nicht hinaus über die in seiner Frühzeit in äußerster Schroffheit vertretene Ansicht, daß die Schule nur eine Fortführung und allenfalls Erweiterung der häuslichen Erziehung sei und sein müsse. Ihre eigenartige Aufgabe gegenüber der häuslichen Bildung: daß sie das geeignete Mittel der Einlebung in die umfassenderen sozialen Verbände, zunächst also in den bürgerlichen Verein, ist, wird nicht erkannt oder doch viel zu schwach betont. Und damit hängt es wohl zusammen, daß die Idee der Schule als allgemeiner, nationaler Institution, als eines wesentlichen Gliedes des sozialen Organismus, seinem Denken ferner liegt. Selbst in der Schrift »An die Unschuld«, die einen überaus warmen und eindringlichen Appell an die von den Wirren der napoleonischen Zeit eben wieder zur Ruhe kommenden Völker und Fürsten richtet: sich der heiligen Sache der Volkserziehung mit ganzer Kraft anzunehmen, wird der Volks schule fast nur nebenher gedacht und kaum etwas Entscheidendes über sie im besonderen aufgestellt. Die Idee der Nationalschule, im bestimmten Sinne der nationalen Organisationen des gesamten Unterrichtswesens auf einheitlicher und gleichheitlicher, demokratischer Grundlage, ist uns nicht von Pestalozzi, sondern von Frankreich her gekommen; sie ist durch Fichtes Reden zu allgemeinerer Anerkennung gelangt; Süverns Entwurf eines preußischen Schulgesetzes (1819) war der erste, leider gescheiterte Versuch, sie in gesetzgeberische Tat zu übersetzen. Durch den gleichzeitig engen Anschluß Fichtes und der damaligen preußischen Schulverwaltung an Pestalozzis Grundsätze ist diese Idee mit Pestalozzis Namen eng verknüpft; aber sie stammt nicht ursprünglich von ihm und ist auch nicht direkt durch ihn in die Gedankenwelt der deutschen Schule eingeführt worden. Wohl aber läßt sich behaupten, daß sie in der Konsequenz seiner Grundsätze lag, trotzdem er selbst diese Konsequenz nicht gezogen hat.
Im bisherigen war von sittlicher Lehre, überhaupt von Begriffen des Sittlichen fast gar nicht die Rede. Pestalozzi war eben überzeugt, daß die sittliche Erziehung weit weniger Sache wörtlicher Lehre als der Übung, der unmittelbaren Einlebung in die sittlichen Ordnungen, kurz der Tat (»Tatsache«) sei. Nirgends setzt er etwa ein System der sittlichen Tugenden voraus, um dann im einzelnen zu untersuchen, wie man diese Tugenden im Kinde wecke oder den ihnen gegenüberstehenden Untugenden durch Lehre, Ermahnung, Strafen usw. entgegenarbeite. Auch wo er einmal einzelne Richtungen der sittlichen Erziehung besonders ins Auge faßt (wie etwa die Sittlichkeit des Geschlechtslebens in »Lienhard und Gertrud«, S. IV, 539), hält er sich nicht bei allgemeinen Lehren und Vermahnungen auf, sondern faßt sofort und sozusagen allein die unmittelbar praktisch erziehende Wirkung der Sitten und Lebensgewohnheiten des Volks und ihren Zusammenhang mit den allgemeinen sozialen Zuständen ins Auge. Gerade darin liegt die Stärke seiner Moralpädagogik. Aber freilich, wenn damit seine Ansicht von der sittlichen Erziehung erschöpft wäre, so möchte es leicht scheinen, als sei Pestalozzi überhaupt nur ein Empiriker der Moral gewesen, das Sittliche als reine Vernunftidee ihm gar nicht aufgegangen.
Aber, wenn Pestalozzi als echter Pädagoge die sittliche Bildung des Menschen fest auf Erdgrund baut, so läßt er doch ihren Gipfel sich in die reine Himmelsluft der Idee erheben. Die Sittlichkeit auf der Stufe der Idee aber wird ihm gänzlich eins mit der Religion, wenn es nicht richtiger ist zu sagen, daß die Religion ihm gänzlich eins wird mit der zur Stufe der Idee erhobenen menschlichen Sittlichkeit.
Wir kennen schon die Folge der Stufen der Gemeinschaft, deren höchste die Gemeinschaft des Menschengeschlechts unter dem Allvater im Himmel ist. Ganz genial aber ist es, wie diese weiteste Ausdehnung der Gemeinschaft ihm zugleich die stärkste Verinnerlichung und Rückkehr in das Heiligtum der Individualität bedeutet: »Gott ist die näheste Beziehung der Menschheit«. Nämlich »Gott« ist ihm der letzte Ausdruck des reinen sittlichen Wesens des Menschen, und dieses wiederum der letzte Kern des Menschenwesens überhaupt. »Glaube an dich selbst, Mensch, glaube an den inneren Sinn deines Wesens, so glaubst du an Gott und Unsterblichkeit«, hieß es in der »Abendstunde«. So darf er dann auch sagen: »Gott, den alle Kinder Gottes hören, den die ganze sanfte, fühlende, reine, liebende Menschheit versteht und ganz gleich versteht«; und darf sich zu Rousseaus Überzeugung bekennen: »Glauben an Gott, du bist nicht Folge und Resultat gebildeter Weisheit, du bist reiner Sinn der Einfalt, horchendes Ohr der Unschuld auf den Ruf der Natur, daß Gott Vater ist«; doch mit der gegen Rousseau sich wendenden Folgerung: »Kindersinn und Gehorsam (gegen Gott) ist nicht Resultat und späte Folge einer vollendeten Erziehung, sie müssen frühe und erste Grundlagen der Menschenbildung sein«. Es wäre nicht der Wahrheit gemäß, diesen religiösen Grundzug der Erziehungslehre Pestalozzis in den Hintergrund zu schieben oder gar zu verstecken; es wäre aber auch nicht der Wahrheit gemäß, eine andere Religion bei ihm zu finden als eine »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität«, wie sie zum Beispiel auch Herder in seinen freisten Momenten bekennt; eine Religion des reinen »Moralismus«, am nächsten verwandt der Kants. Eine andere Grundlage, eine andere Quelle des Glaubens an Gott als das eigene sittliche Bewußtsein des Menschen kennt Pestalozzi nicht; und nur weil und sofern er das, was dies Bewußtsein ihm bezeugt, in Jesu Leben und Lehre wiederzufinden vermag, bekennt er sich zu ihm (s. die Schlußanmerkung zur »Abendstunde«, und den Brief an Iselin vom 9. Juni 1779). Somit geht auch dies Bekenntnis nicht hinaus über den moralistischen Sinn seiner Religion.
So heißt es dann in dem schönen Kapitel »Eine Kinderlehr« in »Lienhard und Gertrud«: »Gott ist für die Menschen nur durch die Menschen der Gott der Menschen. Der Mensch kennt Gott nur, insofern er den Menschen, das ist, sich selber kennt, und ehret Gott nur, insofern er sich selber ehret, das ist, insofern er an sich selber und an seinem Nebenmenschen nach den reinsten und besten Trieben, die in ihm liegen, handelt«. Damit ist zugleich der einzig sichere Weg der religiösen Bildung gezeigt, der Weg der menschenliebenden Tat: »Daher«, heißt es weiter, »soll auch ein Mensch den andern nicht durch Bilder und Worte, sondern durch sein Tun zur Religionslehre emporheben. Denn es ist umsonst, daß du dem Armen sagest: Es ist ein Gott, und dem Waislein: Du hast einen Vater im Himmel. Mit Bildern und Worten lehrt kein Mensch den andern Gott kennen. Aber wenn du dem Armen hilfst, daß er wie ein Mensch leben kann, so zeigst du ihm Gott; und wenn du das Waislein erziehst, das ist, wie wenn es einen Vater hätte, so lehrst du es den Vater im Himmel kennen, der dein Herz also gebildet, daß du es erziehen mußtest«; was dann sehr schön am unmittelbaren Beispiel aus dem Leben durchgeführt wird. So legt er durch den Mund des treuherzigen Mareili das schöne Glaubensbekenntnis ab: »Es hat schon gefehlt, wenn's einem über das, was Gottes Wort sagen wolle oder nicht sagen wolle, aufs Erklären und das, was andere Leut dazu sagen, ankommt ... Ihr guten Leute, ihr solltet's wohl wissen, es sind ja genug Sachen in der Welt, die von Gott selber sind und ob denen man nicht verirren kann, was Gott wolle, daß ein jeder Mensch in der Welt sei und tue. Ich habe ja Sonn, Mond und Sterne, und Blumen im Garten und Früchte im Feld, und dann mein eigen Herz und meine Umständ (Angehörigen): sollten die mir nicht mehr als alle Menschen sagen, was Gottes Wort sei und was er von mir wolle? Nehmet nur grad ihr selber, wann ihr vor mir zustehet und ich euch in Augen ansehe, was ihr von mir wollet und was ich euch schuldig; und dann da die Kinder meines Bruders, für die ich versprechen muß: sollten die nicht das eigentümliche Wort Gottes an mich sein, das auf eine Art an mich gerichtet ist und mein eigen gehört, wie es an keinen andern gerichtet und keinem andern gehört? Und das ist gewiß von Gott, und ich kann mich gewiß nicht verirren, wenn ich mir das andere Wort Gottes durch nichts in der Welt als das erklären lassen will«. Es ist, fast bis zum wörtlichen Anklang, dasselbe, was Faust dem Gretchen antwortet: »Wölbt sich der Himmel nicht da droben ... Schau ich nicht Aug in Auge dir ...« Nur von keinem »ewigen Geheimnis« ist bei Pestalozzi die Rede, sondern dies Wort Gottes ist jedem offenbar und verständlich. Rousseaus Appell vom geschriebenen Buche an das »Buch der Natur« ist im menschlichsten Sinne gedeutet und vertieft. Diese lebendige Ausführung macht zugleich klar, in welchem Sinne Pestalozzi später (in der »Methode«) seinen Begriff der »Anschauung« gerade auf die Religion anwenden kann: »Ich zeige dem Kinde ... die Welt, und es ahnet Gott nicht mehr, es sieht ihn, es lebt in seiner Anschauung ...«
Ganz diesem Sinn entspricht das »Etwas über die Religion« im Schweizerblatt; und dann die nur noch mehr in die Tiefe dringenden Ausführungen der »Nachforschungen« über diesen Punkt. Hier wird am bestimmtesten die Idee Gottes rein auf die der autonomen Sittlichkeit zurückgeführt: der Mensch » will einen Gott fürchten, damit er recht tun könne... Er fühlt, was er in dieser Rücksicht kann, und macht sich nun das, was er kann, zum Gesetz dessen, was er soll. Diesem Gesetz, das er sich selbst gibt, unterworfen, unterscheidet er sich vor allen Wesen, die wir kennen ... Es ist in der Weihe dieses Strebens, daß er seine Traumkraft (Ideenkraft!) über die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung erhebe, damit er finde das Bild (die Idee!) eines Gottes, das ihm Kraft gebe gegen den Tiersinn seiner Natur«. – »Die Religion muß die Sache der Sittlichkeit sein ... Die Religion ist in mir selbst ein Werk der Natur, ein Werk des Geschlechts und ein Werk meiner selbst ... Göttlich ist die Religion einem jeden Menschen nur insoweit, als sie in ihm selbst, ein Werk seiner selbst ist; insoweit sie in ihm ein Werk seines tierischen und seines gesellschaftlichen Verderbens, insoweit ist sie nur gottesdienstlich, und insoweit mit sinnlichen Neigungen und tierischen Begierden innigst verwoben.« »Das Christentum ist ganz Sittlichkeit, darum auch ganz die Sache der Individualität des einzelnen Menschen.«
Sehr schön wird dann in der »Gertrud« gezeigt, wie die Bildung zur Sittlichkeit und Religion (die auch hier völlig eins sind) ganz von dem Naturverhältnis zwischen dem Kinde und der Mutter ausgeht: »In allem, was die Mutter ihr Kind lehrt, zeigt sie ihm Gott. Sie zeigt ihm den Allliebenden in der aufgehenden Sonne, im wallenden Bach, in den Fasern des Baumes, im Glanz der Blume, in den Tropfen des Taus; sie zeigt ihm den Allgegenwärtigen in seinem Selbst, im Licht seiner Augen, in der Biegsamkeit seiner Gelenke, in den Tönen seines Mundes – in allem, allem zeigt sie ihm Gott ... Jetzt versucht sie mit ihm die Anfangsgründe der Kunst, ... neue Kräfte entwickeln sich in seinem Geist, es zeichnet, es mißt, es rechnet ... es sieht jetzt Gott in der Vollendung seiner selbst: das Gesetz der Vollendung ist das Gesetz seiner Führung, ... es entfaltet sich in seiner Brust die erste Regung des hohen Gesetzes: Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! An dieses erste Gesetz kettet sich das zweite, mit dem ersten innig verwoben: daß der Mensch nicht um seiner selbst willen in der Welt sei, daß er sich selbst nur durch die Vollendung seiner Brüder vollende.« »Nur das Herz kennet Gott, das Herz, das, der Sorge für eigenes, eingeschränktes Dasein entstiegen, Menschheit umfasset, es sei ihr Ganzes oder nur Teil. Dieses reine menschliche Herz fordert und schafft für seine Liebe, seinen Gehorsam, sein Vertrauen, seine Anbetung ein personifiziertes höchstes Urbild, einen höchsten, heiligen Willen, der da sei die Seele der ganzen Geistergemeine.«
Noch eingehender wird dann in den »Ansichten und Erfahrungen« gezeigt, wie die sittliche Bildung von »Liebe und Tätigkeit für Liebe« zunächst im engen Kreise des häuslichen Lebens ausgeht, von da aber auf weitere und weitere Kreise sich ausdehnt bis zu der »größeren Familie, deren Allvater Gott ist«. Es muß so das Kind »durch die Bildung seines häuslichen Kindersinns zum höhern Sinn der Kindschaft Gottes und zum Vater- und Muttersinn unter seinem Geschlecht« sich erheben, und nun »als Bruder seines ganzen Geschlechts ... den Spielraum seiner neuen Verhältnisse zu immer größerer Belebung seiner Liebe und zu immer steigender Kraft« benutzen, »in dieser Liebe tätig zu sein und sich durch dieselbe immer mehr zu vervollkommnen«. Dieselbe Erweiterungstendenz aber wirkt fort, indem sie den Heranwachsenden nach und nach zur ganzen Natur, der belebten und selbst der unbelebten, in immer umfassendere Beziehung bringt und auch hier von der Stufe einer völligen Abhängigkeit zu immer entschiedenerer Selbständigkeit erhebt. Gerade die wachsende Bekanntschaft auch mit den Weltübeln wird, wenn erst in engeren Kreisen der Keim tatkräftiger Liebe in ihm zu gesunder Entfaltung gelangt ist, diesen nur stärken und höher entwickeln; im entgegengesetzten Falle freilich eine harte Selbstsucht in ihm großziehen, in der er zuletzt auch Sonne, Mond und Sterne nur dann lieben würde, wenn er sie »in sein Gezelt einschließen und unter ihrem Glanze – aber er, er allein – Prachtnächte durchschlummern könnte«. Das »ganze Heer von Krümmungen und Lastern« ist dann die Folge. Und freilich liegen dazu so viele Reize im Menschen selbst und in seiner menschlichen wie natürlichen Umgebung, daß schließlich »der ganze Umfang aller Mittel, die für die Bildung des Kindes zur Liebe und Kraft in seinen Verbindungen mit den Menschen und mit allen Dingen dieser Welt liegen, nicht hinreichen können, seine Ausbildung für den vorgesetzten Zweck beruhigend sicherzustellen. Wer also das Ziel der Ausbildung des Kindes zur Liebe und Kraft gesichert wünscht, muß in dieser Rücksicht dasselbe, ich möchte sagen, Vater und Mutter, sein ganzes Geschlecht und Himmel und Erde verlassen und in sich selbst zurückkehren machen, um die tiefere Begründung und vollendete Sicherstellung der Liebe und ihrer Kraft allein in sich selbst zu suchen und zu finden.« So sehen wir uns wieder »auf den Anfangspunkt zurückgeführt, von dem wir ausgingen: auf die Notwendigkeit, die Kunstmittel der Erhebung und Vollendung des Menschen aus dem Innersten seines Wesens selbst zu schöpfen und ihnen in ihm selbst ein sicheres Fundament zu verschaffen.« Dies sichere Fundament ist die Idee Gottes. Vater und Mutter selbst können, im Gefühl ihrer eignen Unzulänglichkeit, nicht anders, »sie können ihr Kind nicht lieben, ohne dasselbe zu dem Bilde der höchsten Liebe und der höchsten Kraft, die in der Menschennatur liegt, emporheben zu wollen. Die Stimmung, die in ihnen selbst liegt, zwingt sie notwendig, in sich selbst für ihr Kind ein Bild der Vollendung aller Liebe und aller Kraft zu erschaffen ... Das Gute, das in ihnen liegt, hebt sie in sich selbst über die Schranken alles menschlichen Guten empor: sie finden nur in Gott Befriedigung für alles Gute und für alle Kraft, die sie für ihr Kind suchen: sie glauben an Gott.« Dieser so im Innersten der Menschennatur wurzelnde Glaube überträgt sich dann, je reiner und starker er Liebe und Kraft in ihnen für ihr Kind entwickelt, um so sicherer auf das Kind selbst und legt damit in ihm den sicheren Grund zu allem menschlich Guten. – Wir erkennen hier die klarste Ausführung des Gedankenganges, der schon 25 Jahre früher in der »Abendstunde« angedeutet war. (Vgl. ferner die Lenzburger Rede, § 269 ff.)
Auf diesen klaren und richtigen Grundlagen nun freilich etwas wie eine Methodik des Religionsunterrichts aufzubauen, ist weder Pestalozzi noch seinen Mitarbeitern gelungen. Über Versuche in dieser Richtung liegt besonders der Bericht Hennings vor. »Religion ist Lebenslehre und Leben selbst. Das Leben lernt man nur lebend wie die Kunst ... Vater Pestalozzi setzt daher so viel, auch von dieser Seite betrachtet, in die richtige und zarte Behandlung des Kindes von Jugend auf. Er wird daher oft ungerecht gegen das Wort, und haßt besonders alles Erklären. Dennoch handelt er selbst in seinen täglichen Morgen- und Abendandachten gegen diesen seinen ersten Grundsatz.« Niederer trug in seinem Religionsunterricht meist zusammenhängend vor; sich zu dem Standpunkt des einzelnen Kindes herabzulassen, sich in seiner Seele zurechtzufinden und Fragen und Antworten danach einzurichten, war ihm nicht gegeben, Krüsi dagegen las in den unteren Klassen mit den Kleinen Gellerts Lieder und erzählte ihnen herzlich und einfach von den heiligen Männern des Alten und Neuen Bundes ... »Äußerliches, in einer bestimmten Gestalt auftretendes Methodisches des Religionsunterrichts« wußte daher Henning aus Iferten nicht zu entnehmen; Niederer wie Krüsi gestanden, daß sie nicht imstande seien, eine Methode des Religionsunterrichts vorzuzeigen. Aber das ... unmittelbare, nicht durch den Begriff vermittelte, herrliche Leben, das im Wesen und im Ewigen ruht und immer nur zum Wesen und zum Ewigen stiebt«, das, gesteht Henning, sei ihm in Pestalozzi erschienen wie in keinem Menschen.
B. Die Verstandesbildung
) Vom Wollen allein, von der ursprünglichen inneren »Strebkraft« der Menschennatur nach ihrer Selbstentfaltung kann alle Bildung des Menschen ausgehen; darum mußte die Bildung der sittlichen Kraft des Willens, in der das Prinzip der Spontaneität sich am unmittelbarsten und reinsten auswirkt, in der Theorie der Menschenbildung die erste Stelle einnehmen. Weiter aber kommt es nun darauf an, daß diese Strebkraft auch den rechten Weg ihrer Betätigung findet. Diesen Weg gilt es 1. zu erkennen und 2. mit entwickelter Tatkraft zu beschreiten und wirklich bis zu Ende zu gehen. Also fordert die gesunde Entwicklung der Willenskräfte selbst, die ja, wie immerfort betont wurde, an ihre Betätigung ganz und gar gebunden ist, die gleichzeitige normale Entwicklung der Einsicht des Verstandes und der Kraft der ausführenden Tat; die Entwicklung des Kennens und des Könnens, wie Pestalozzi gerne sagt. Von diesen beiden aber muß die Einsicht, das innere Verstehen, deswegen in der Theorie vorangehen, weil ja die menschliche Bildung nur von innen ausgehen und erst dann auch in äußerer Betätigung sich entfalten kann, um in ihr ihre Kraft zu beweisen, aber doch nie in ihr sich zu verlieren und gleichsam auszugeben. Aufs Innere, auf die »Seele« des Menschen kommt es ja zuletzt überhaupt an, nicht auf die äußere Leistung bloß ihrer selbst wegen.
Mußte nun für die Theorie der sittlichen Bildung, wie gesagt, das Prinzip der Spontaneität an erster Stelle leitend sein (welches auf das der »Methode« und der »Anschauung« aber zwingend hinführt), so ist es die Verstandesbildung, in der am sichtlichsten und unmittelbarsten das Prinzip der Methode sich entfaltet; wobei natürlich die Spontaneität, als letzte Quelle, die Anschauung, als Ausfluß und konkrete Darstellung der Methode, zugleich vorauszusetzen ist. Denn überhaupt sind diese drei Fundamentalprinzipien voneinander selbst in der Theorie (vollends in der Praxis) schlechthin untrennbar, sie fordern und bedingen sich alle gegenseitig; nur das Zentrum der Betrachtung gibt für die Willensbildung die Spontaneität, für die Verstandesbildung die Methode, für die Kunstbildung die Anschauung ab. Die Folge dieses strengen Gegenseitigkeitsbezuges der drei Prinzipien aber ist die Forderung der gleichen Gegenseitigkeit und harmonischen Zusammenstimmung der geistigen, sittlichen und Kunstkraft. Ebenso gilt selbstverständlich das Prinzip der Gemeinschaft gleichermaßen für jede der drei Grundkräfte und für die harmonische Vereinigung ihrer aller.
In der Aufstellung und Begründung der drei Fundamentalprinzipien selbst, in dem Nachweis ihres inneren Zusammenhanges und ihrer allgemeinen Konsequenzen für den Aufbau der menschlichen Bildung, mußten nun schon die Grundgesetze des Verstandes, die auch die der Verstandesbildung sind, mit ihren nächsten und allgemeinen Folgen zur Sprache kommen. Für die uns hier obliegende Spezialbehandlung bleibt nur übrig die Durchführung durch die Einzelgebiete, in welche das Ganze der Verstandesbildung sich auseinanderlegt.
Eine systematische Abteilung gleichsam der Provinzen des Verstandes hat nun zwar Pestalozzi nirgends gegeben; doch gibt sie sich durch die Sache selbst. Indem nämlich Pestalozzi mehr durch genialen Instinkt als durch theoretische Reflexion dahin geführt wurde, auf die rechte Kraft- oder Grundbildung, mehr philosophisch gesprochen: auf die formalen Grundlagen der Erkenntnis und nicht auf die einzelnen Materien derselben das entscheidende Gewicht zu legen, so kam er von selbst darauf, die apriorischen, das heißt eben grundlegenden Faktoren der Verstandesbildung weit voranzustellen, und erst danach – überhaupt weit weniger – die mannigfachen Gebiete empirischer Sondererkenntnis in pädagogische Untersuchung zu nehmen. Das ausschließliche Verharren bei diesen grundlegenden »Elementen« war in praktischer Hinsicht allerdings ein Mangel, der sich sehr bald fühlbar machte; aber dieser Mangel war nur die Kehrseite des besten Vorzugs der Pestalozzischen Erziehungslehre: daß sie überall in die Tiefen der Prinzipien hinabstieg, nirgends an der Oberfläche der Probleme haften blieb.
Übrigens hat gerade in der Praxis Pestalozzis Hervorhebung der formalen Faktoren der Bildung den sehr greifbaren Erfolg gehabt, daß seit ihm und unzweifelhaft unter seinem Einfluß (der mit dem der Kantischen Philosophie glücklich zusammentraf) namentlich die Notwendigkeit der mathematischen als der grundlegenden Verstandesbildung entschiedener als je zuvor zu wirklicher und allgemeiner Geltung im niederen wie höheren Schulunterricht gelangt ist. Zwar folgte Pestalozzi, indem er die mathematische Grundbildung so bis zur Einseitigkeit betonte, wie schon gesagt, zunächst mehr nur einem instinktiven Zug. Er gesteht selber, daß die Entdeckung der drei »Elementarpunkte«: Zahl, Form und Sprache ihm nicht aus methodischer Überlegung entsprang, sondern »wie ein Deus ex machina« plötzlich aufging, dann aber ihm über das, was er suchte, nämlich den Normalgang der menschlichen Verstandesbildung, auf einmal neues Licht gab. Eine eigentliche, logische Ableitung gibt er dafür also nicht. Aber selbst das Wenige, was er zur Begründung anführt: »Alle möglichen Gegenstände haben unbedingt Zahl, Form und Namen«, nicht ebenso die übrigen Eigenschaften, »die durch die fünf Sinne erkannt werden«, und darum feien sie allein als »Elementarpunkte« anzusehen, alle übrigen an sie bloß »anzuschließen« oder »anzuketten«, das heißt, ihre Erkenntnis hänge von der »Vorkenntnis« von Zahl, Form und Namen ab – dies Wenige schon, besonders aber dieser Ausdruck »Vorkenntnisse«, beweist, daß es ihm in der Tat auf das logisch Vorausgehende (das, was die Philosophen a priori nennen) ankam. Zwar trifft dies im vollen Umfang nur auf die Zahl und die (geometrische) Form, nicht auf das Wort der Sprache zu. Auch legt Pestalozzi (wie in Kap. II, § 5 schon bemerkt worden ist) offenbar das Hauptgewicht auf jene und nicht auf diese. In der Zahl und Form, das heißt in den mathematischen Elementen der Erkenntnis, hat er das Apriori des Verstandes nicht bloß sachlich richtig getroffen, sondern diesen Apriori-Charakter auch zulänglich bezeichnet durch die Merkmale der Allgemeinheit und Unwandelbarkeit, der Notwendigkeit und Ursprünglichkeit. Ganz verfehlt war übrigens auch die Zusammenstellung der Sprache mit der Zahl und der Form doch nicht. Es barg sich darin (wie auch schon bemerkt wurde) wenigstens die Ahnung der gleichfalls allgemeinen, gesetzlichen und für die ganze Verstandestätigkeit grundlegenden Bedeutung der analytischen Denkfunktion gegenüber der synthetischen. Auch ist in der Pädagogik seither ebenfalls das zu theoretischer Anerkennung und praktischer Geltung gekommen, daß, neben der mathematischen und in notwendiger Ergänzung zu ihr, der Sprachbildung eine allgemeine und grundlegende Bedeutung für die gesamte Bildung des Intellekts zukommt.
Somit werden wir gleichzeitig der Pestalozzischen Heraushebung der »Elementarpunkte« der Verstandesbildung und dem wahren inneren Verhältnis der verschiedenen Unterrichtsfächer gerecht werden, wenn wir zuerst von der mathematischen, demnächst von der Sprachbildung, und erst an letzter Stelle von den übrigen Sonderfächern des Unterrichts handeln, die sich, in gewisser Analogie mit dem Unterschied der mathematischen und sprachlichen »Grundbildung«, in die beiden Hauptrubriken der realistischen und humanistischen Fächer teilen ließen.
Zahl- und Formbildung ist für Pestalozzi zweierlei, aber aufs engste zusammengehörig. Das »Fundament im menschlichen Geiste« ist für beide »eins und dasselbe«, nämlich die Anschauung, hier im engeren Sinne der mathematischen Anschauung. Diese hat man durchaus als Methode zu verstehen, und zwar als die wesentliche und alleinige Methode der sich rein entwickelnden Denktätigkeit. In ihr wirkt nicht eine besondere, auf einen gegebenen Gegenstand, oder eine Gattung oder Eigenschaft solcher, besonders gerichtete, sondern überhaupt die Tätigkeit des Denkens in ihrer Reinheit sich aus und stellt sich notwendigerweise, als ursprüngliche, als Selbsttat des verstehenden Bewußtseins, in ihr konkret dar. An dieser in sich einheitlichen Methode des anschauenden Denkens, der denkenden Anschauung also müssen wohl die Zahl und die Raumform nur zwei Seiten darstellen, die in der Abstraktion zu scheiden, sachlich aber streng zusammengehörig sind. Beide sollen im Unterricht so »innig vereinigt« sein, daß »die (räumlichen) Ausmessungsformen zugleich als erste Fundamente der Zahlverhältnisse, die Zahlverhältnisse als erste Fundamente der Ausmessungsformen gegenseitig gebraucht werden können«. Welches also sind diese zwei Seiten der in sich einen Methode des anschauenden Denkens, der denkenden Anschauung? An einer Stelle (der »Gertrud«, die überhaupt für die Lehre von der mathematischen Bildung die Hauptquelle ist) gibt Pestalozzi hierauf bestimmte Antwort, indem er die Form aus der » unbestimmten, bloß sinnlichen«, die Zahl aus der » bestimmten, nicht mehr bloß sinnlichen Vorstellungskraft« entspringen läßt. Das ist genau richtig: einzig die Zahl drückt unmittelbar die Denkfunktion selbst in Hinsicht des anschaulichen Gegenstandes, die Funktion der Bestimmung oder der synthetischen Einheit aus, während die räumliche Form einer reinen Bestimmung (nach Maß und Verhältnis, wie Pestalozzi sagt) in der Tat nur fähig ist durch die Zahl, ohne sie in der Unbestimmtheit bloß sinnlichen Vorstellens verbleiben müßte. Zwar gewinnt die Geometrie zweifellos sichere Bestimmungen auch ohne Rechnung. Aber richtig ist dennoch, daß alle räumlichen Verhältnisse sich rein rechnerisch darstellen lassen müssen, und daß sie nur so zu ganz reiner und zugleich erschöpfender Bestimmung sich erheben lassen. Erst die neuere Mathematik ist imstande diese Forderung ganz zu erfüllen. Pestalozzi hat von dieser Richtung ihrer Entwicklung schwerlich etwas geahnt oder ahnen können; er hat dennoch in der schier unglaublichen Sicherheit seines Instinkts auch hierin sachlich genau das Richtige getroffen.
Wie aber soll nun doch auch in der Zahl und Rechnung selbst das Prinzip der Anschauung walten? Das bedarf noch der Erklärung. Alles kommt darauf an, daß das Bewußtsein der »Realverhältnisse, die allem Rechnen zum Grunde liegen«, zuletzt des Verhältnisses zur Einheit, »im menschlichen Geist tief erhalten« und nicht durch die »Verkürzungsmittel« der Rechenkunst, nämlich die Zahlwörter und Zahlzeichen (die die Verhältnisbedeutung der Zahl verhüllen, jede wie ein Ding für sich, wie ein Absolutes erscheinen lassen), geschwächt werde. Und dazu dient die anschauliche Darstellung der Zahlverhältnisse an solchen Gegenständen , »die dem Kinde den Begriff des Eins, Zwei, Drei usw.« (nämlich eben daß sie bestimmte Verhältnisse zur Einheit darstellen) »in bestimmten Anschauungen vor Augen legen«; ein Satz, an dem besonders das zu beachten ist, daß der »Begriff« an sich vorausgeht und zugrunde liegt und in den »bestimmten Anschauungen« sich nur konkret darstellt. Die Anschauung wäre gar nicht »bestimmt« ohne die bestimmende Funktion des Denkens. So schwindet jeder Schein, als sei es auf eine Versinnlichung der Zahl abgesehen, die doch vielmehr die reinste Denkbestimmung vertreten sollte. So aber soll und kann gerade die »Ankettung« der Zahl und alles Fortschrittes der Rechnung an die Anschauung der » Vernunftübung des Verhältnisgefühls der Vielheit« dienen (so nach der Vorrede zur Anschauungslehre der Zahlenverhältnisse). Es soll dadurch »die Rechnungslehre in ihren Formen auf die Einfachheit ihrer ursprünglichen Urform (!) und dahin zurückgebracht werden, daß alle Zahlenverhältnisse in diesen Formen dem Kinde nur als Eins und Eins und noch Eins vor Augen gestellt werden, so daß die Zahlen selber ihm in seiner Vorstellung immer nur als ein verkürzter Ausdruck der ihm also vor Augen stehenden Einheiten vorkommen und vorkommen müssen« (ebenda). So wird das Rechnen, obgleich Resultat der klarsten, bestimmtesten Anschauung, dennoch »Vernunftübung« und nicht bloßes Gedächtniswerk oder »routinenmäßiger Handwerksvorteil«.
Näher beschreibt Pestalozzi den Gang der Gewinnung der Zahlbegriffe in der Vorrede zum zweiten Heft der »Anschauungslehre der Zahlenverhältnisse« (1803) so: Das Kind lernt zunächst unter einfachem Hinzeigen: Dies ist ein Hölzchen, Steinchen und so fort, oder es sind zweimal eins oder zwei; nicht sogleich: dies ist Eins, oder zweimal Eins oder Zwei. Aber indem es dann durch verschiedene Wahl des Anschauungsobjekts darauf hingeführt wird, daß bei allem Wechsel der Gegenstände das Eins, zweimal Eins, Zwei usf. immer als das nämliche wiederkehrt, so »sondert sich dann im Geist des Kindes der Abstraktionsbegriff der Zahl, das ist, das bestimmte Bewußtsein der Verhältnisse von mehr und minder, unabhängend von den Gegenständen, die als mehr oder minder dem Kinde vor Augen gestellt werden«; und so kommt das Kind dahin, die Striche, welche die Einheiten vertreten, nicht mehr bloß als einen Strich, zweimal einen Strich usf., sondern bestimmt als Eins, zweimal Eins usf. zu erkennen; die Einheit als solche und als Teil einer Summe von Einheiten, die Summe wiederum als Einheit und Teil einer andern Summe usf. ins Auge zu fassen, und solche Einheiten und Summen im Verhältnis gegeneinander zu bestimmen. Wie wäre das möglich, diese »Verhältnisse«, so »unabhängend« von den sinnlichen Gegenständen, doch von der Anschauung dieser sinnlichen Gegenstände aus zur Erkenntnis zu bringen, wenn nicht die darin sich ausdrückenden Denkfunktionen: die Setzung als Eins, als Eins und Eins oder zweimal Eins usf., in der Anschauung der sinnlichen Gegenstände selbst schon wirksam wären? Ohne das wäre es ja gar nicht möglich gewesen, mit verstandenem Sinn auszusprechen: Dies (hier Wahrgenommene) ist ein Hölzchen, ein Steinchen, und dies hier sind eins und eins oder zweimal eins oder zwei Hölzchen oder Steinchen. So aber wird es ganz deutlich, wie das Bewußtsein der Zahlen, als reiner Allgemeinheitsabstraktionen (wie Pestalozzi sie nennt), doch am sinnlichen Material gewonnen wird; nicht, indem die sinnlichen Gegenstände uns die Zahl als eine ihnen selbst anhaftende Eigenschaft mitteilen, sondern indem am Sinnlichen als der »Materie« die Funktion, die Methode des Anschauens, in der eben die Zahl wurzelt, sich betätigt, und zwar in streng organisch-genetischer Folge in Tätigkeit gesetzt wird (denn wir können nur von Eins auf Zwei und so weiter gelangen), so daß wir dann in und an diesem unserem methodischen Tun auch des Gesetzes dieser Methode, als des Gesetzes unserer Anschauung, uns bewußt werden. So wird dann der Gang der Anschauung selbst – so wie es gefordert war – »reiner Verstandesgang«; es wird alles Schwankende der sinnlichen Anschauung überwunden und zur »bestimmtesten Wahrheit« erhoben, und so die Anschauung ganz zum »Werk«, nicht bloß zum Werkzeug des Verstandes gemacht; es werden Anschauung und Urteil, sinnlicher Mechanismus und reiner Verstandesgang nicht bloß (wie es im 8. Brief heißt) in »Harmonie« gebracht, sondern jener in diesen ganz umgesetzt.
In neuerer Zeit ist Pestalozzis Rechenmethode einer gründlichen Untersuchung unterzogen worden durch A. Walsemann (Hamburg 1901), dem ich in der philosophischen Deutung der Meinung Pestalozzis zwar nicht beistimmen kann, S. m. Rezension, Deutsche Schule, Bd. VI, S. 280 ff., 354 ff., in welcher man die oben vorgetragene Auffassung eingehend begründet findet. der aber die Methode selbst nicht nur aufs genaueste beschreibt und analysiert, sondern sie auch versuchend nachgeprüft und in allem Wesentlichen bewährt gefunden hat. Übertrieben wurde im Unterricht der Pestalozzianer allerdings die »Lückenlosigkeit« im Fortschritt des Unterrichts; dagegen kam wenigstens nicht umfassend und planmäßig genug das abkürzende, symbolische Verfahren zur Anwendung, ohne welches alle höheren Rechenoperationen unleidlich umständlich werden müssen. Es wurde allzu einseitig bloß darauf Gewicht gelegt, daß man den Zusammenhang mit den elementaren Grundlagen, den genetischen Zusammenhang der arithmetischen Begriffe und Operationen nur ja nicht verliere. Das ist aber keine Gefahr, nachdem dieser Zusammenhang erst in so tiefer und solider Weise, wie es im Pestalozzischen Verfahren eben geschah, ist begründet worden. Das sind Mängel, aber von untergeordneter Art und leicht zu verbessern. Der Grundsinn der Pestalozzischen Rechenmethode bleibt unanfechtbar richtig.
Die Zahl ist, wie Pestalozzi wohl erkannt hat, der reine Ausdruck der Denkfunktion in ihrer einfachsten Urform des Verbindens und Trennens. Nicht ebenso unmittelbar ersichtlich ist, wie auch die Raumform rein aus der synthetischen Grundfunktion des Denkens hervorgeht. Wirklich führt sie Pestalozzi, wie wir sahen, nicht direkt auf diese, sondern auf die »unbestimmte, bloß sinnliche« Vorstellungskraft zurück. Aber doch soll es möglich sein, sie ebenso wie die Zahl und in enger Verbindung mit dieser in einem »reinen Verstandesgang« methodisch zu entwickeln; es soll, nicht minder als jede Zahl, auch jede Linie, jedes Maß als reines »Resultat« des Verstandes aus »gereiften Anschauungen« sich erzeugen, und in der »allgemeinen Grundlage unseres Geistes«, eben der Funktion der synthetischen Einheit, wurzeln; ja es sollen die Zahlverhältnisse selbst sich notwendigerweise an Raumverhältnissen, geradezu als solche, darstellen. Also muß wohl zwischen beiden eine nicht erst hinterher sich knüpfende, sondern bis zum Ursprung beider zurückgehende Beziehung obwalten. Diese ursprüngliche Wechselbeziehung hat Pestalozzi wenigstens bis zu dem Punkte durchdrungen, daß 1. es in beiden auf reine » Verhältnisse«, und zwar des Mehr und Minder, ankommt, die sich in der Zahl abstrakt und in erschöpfender Bestimmtheit, in der Raumform konkret, aber ohne die Hilfe der Zahl nur unbestimmt (genauer würde es heißen: nicht in erschöpfender Bestimmtheit) erkennen lassen; und daß 2, beide gleichermaßen, und zwar in genauer Verbindung miteinander sich streng genetisch von ihren elementaren Grundlagen bis zu den fernsten Ableitungen entwickeln lassen müssen.
Historisch ist die Einsicht in die grundlegende Bedeutung der Raumform für die methodische Entwicklung der sinnlichen Gegenstandsvorstellung überhaupt Pestalozzi offenbar früher aufgegangen als die Erkenntnis der gleichartigen Bedeutung der Zahl und der notwendigen Beziehung zwischen beiden. Jene Einsicht kam ihm ungesucht bei Gelegenheit der neben den Sprechübungen hergehenden Zeichenübungen seiner kleinen Pflegebefohlenen in Stanz und Burgdorf. Hatte er die Kinder anfangs gleichzeitig mit den damals sehr mechanisch betriebenen Sprachübungen irgend etwas Beliebiges zeichnen lassen, so ging er bald dazu über, sie Linien, Winkel und Bogen zeichnen zu lassen; zur selbständigen, vom Lehrer unabhängigen Nachprüfung ihrer Zeichnungen wurden ihnen durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten Figuren in die Hand gegeben. Entscheidend aber wurde die Entdeckung, die sich bei diesen tastenden Versuchen ihm erst allmählich aus dem dunklen Gefühl seines genialen Instinkts zu klarer Erkenntnis durchrang: daß den Raumbestimmungen eine schlechthin fundamentale Bedeutung für den Aufbau der sinnlichen Gegenstände überhaupt in unserer Erkenntnis zukommt; und ferner, daß diese Bestimmungen sich aus einfachsten Grundlagen in einem schlechthin notwendigen methodischen Gang aufbauen und nur so sich zu wirklicher Sicherheit und Bestimmtheit der Erkenntnis bringen lassen. Das also bedeutet sein Ausdruck des »ABC der Anschauung«, wo »Anschauung« schlechtweg (nur einmal setzt er hinzu: »im engeren Sinn«) Raumanschauung bedeutet. Diese Verengung des Sinnes des Ausdrucks »Anschauung« war eben deswegen möglich, weil in der geometrischen Anschauung sich das allgemeine Verfahren des Aufbaus der sinnlichen Anschauungen überhaupt in seiner Reinheit darstellt. Sogar im Gebiete des Nichtsinnlichen bewährt die Raumesanschauung (wie Pestalozzi nicht übersehen hat) noch diese grundlegende Bedeutung, indem auch nichtsinnliche Beziehungen durch räumliche wenigstens »analogisch« sich ausdrücken lassen, ja, wenn sie zu sicherer Bestimmung gebracht werden sollen, ausgedrückt werden müssen. Damit aber rückt diese pädagogische Entdeckung Pestalozzis sehr nahe heran an Kants philosophische Entdeckung der »reinen« Anschauung des Raumes und der Zeit. (Die Zeit wird ausdrücklich neben dem Raum genannt in der Denkschrift von 1802, wohl in bestimmter Erinnerung an Kant; so auch im 31. der Briefe an Greaves, wonach die Form als Maß des Raumes, die Zahl als Maß der Zeit die materielle Welt aus den empfangenen Eindrücken herausarbeiten sollen. Sonst wird die Zeit in ihrer selbständigen Bedeutung von Pestalozzi weniger beachtet.) Der sachliche Zusammenhang, vielmehr die völlige Einheit der Grundmeinung Pestalozzis und Kants in dieser Frage wurde von den Zeitgenossen sofort erkannt und sehr bemerkenswert gefunden; so von Ith, Tobler, Grüner, Karl Ritter und natürlich von Niederer; Pestalozzi selbst mußte erst von anderen darauf aufmerksam gemacht werden.
Das »ABC der Anschauung« ist also das ABC der Formen; nämlich: »eine Reihenfolge von das Ganze aller möglichen Anschauungen umfassenden und nach einfachen, sicheren und bestimmten Regeln organisierten Ausmessungsabteilungen des Vierecks« (Quadrats). Hier erkennen wir in dem Ausdruck des »Möglichen« wieder den reinen, kritischen Sinn des »Apriori«. Wie wäre es denkbar, die »Möglichkeit« aller Formanschauung voraus abzusehen, ja in ihrem ganzen Umfang voraus zu bestimmen, anders als kraft einer ursprünglichen Gesetzlichkeit, die nicht außer uns in den Dingen, sondern in uns, in der Art unseres Anschauens liegt? Und eben dies ist die Voraussetzung, welche die Möglichkeit einer »Organisierung« der ganzen Formenwelt nach sicheren »Regeln« allein verständlich macht. Der »Ursprung« dieser Ausmessungsformen aber ist »die gerade Linie in ihrer liegenden und stehenden Richtung«. »Die Abteilungen des Vierecks durch diese letzteren erzeugen (!) dann sichere Bestimmungs- und Ausmessungsformen aller Winkel sowie des Runds und aller Bögen, deren Ganzes ich das Abc der Anschauung heiße«. Dadurch wird »das schweifende Anschauungsvermögen meiner Natur zu einer bestimmten Regeln unterworfenen Kunstkraft, woraus dann die richtige Beurteilungskraft der Verhältnisse aller Formen entspringt, die ich Anschauungskunst heiße«.
Auf diese Entdeckung legt Pestalozzi solches Gewicht, daß ihm der bisherige Mangel dieser Anschauungskunst nicht bloß als eine einfache Lücke in der Bildung der menschlichen Erkenntnisse erschien, sondern als die Lücke des eigentlichen Fundaments aller Erkenntnisse, dem auch die Zahlen- und Sprachkenntnisse wesentlich untergeordnet werden müßten. Dieser Gesichtspunkt sei überhaupt das Fundament seiner Methode, auf dessen Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Wert oder Unwert aller seiner Versuche beruhe.
Solche Ansprüche (die Pestalozzi selbst späterhin nicht aufrecht gehalten hat) müssen freilich dem übertrieben scheinen, der auf praktisch verwertbare Resultate allein Wert legt. Gewiß ist die Ausführung, die Pestalozzi seinem Gedanken gab, in vielem verbesserungsfähig; seine Schüler selbst haben das Verfahren der »Anschauungskunst« mannigfach abgewandelt. Aber die entscheidende Bedeutung seines Fundes ist vielmehr in dem Kerngedanken zu erkennen: in der Einsicht oder wenigstens sicheren Ahnung des reinen Ursprungs der menschlichen Erkenntnis in ihrem eignen, inneren Gesetz.
Übrigens ist auch die Durchführung des Gedankens voll bedeutender Ahnungen. Was zunächst die Wahl des Quadrats als allgemeiner Grundlage der räumlichen Bestimmung betrifft, so ist es deutlich die Darstellung der Raumbeziehungen in rechtwinkligen Koordinaten, was Pestalozzi vorschwebt, Herbart wollte an die Stelle des Pestalozzischen Vierecks das Dreieck setzen, nämlich die trigonometrische Bestimmung. Aber die rechtwinklige Koordinatenbestimmung ist fundamentaler und natürlicher; sie verbindet das einfachste Abstands- und Lageverhältnis (Gleichheit der Seiten und Winkel), um alle Ungleichheiten dadurch zur Bestimmung zu bringen; die Trigonometrie dagegen ersetzt die Lageverhältnisse zum Schein durch Längenverhältnisse: den Winkel durch das Verhältnis zweier Seiten im rechtwinkligen Dreieck; wobei sie natürlich doch den Winkel (nämlich den rechten) vorauszusetzen nicht umhin kann.
Tiefe Ahnungen bergen sich ferner in der Art, wie Pestalozzi die Gesetze der Zahl und die der Form unter sich in Beziehung setzt. Hierbei gilt ihm die Zahl als das Fundamentalere in dem bestimmten Sinne, daß sie allein von allen Unterrichtsmitteln »keine untergeordneten Mittel an sich anschließt«, sondern bis in ihre äußersten Konsequenzen immer nur »einfache Folge der Elementarkraft ist, durch welche wir das Verhältnis des Mehr und Minder in allen Anschauungen uns selbst zum klaren Bewußtsein zu bringen und uns dieses Verhältnis bis zur deutlichsten Bestimmung vorzustellen imstande sind«. Auch alle Messung beruht auf Zählung und Rechnung; die Meßkunst ist nur darum untrüglich, weil sie rechnet; er hätte hinzufügen dürfen: und nur soweit als sie es tut; denn keine sinnliche Messung ist exakt; exakte Maßverhältnisse werden nur gedacht, nur denkend den sinnlichen zugrunde gelegt, und zwar in Zahlbestimmungen, die wir vom Sinnlichen nicht ablesen können, sondern ihm unterlegen müssen.
Es mag für einen Augenblick schwierig scheinen, wie diese Betrachtung nicht bloß auf Maß-, sondern auch auf Lagebeziehungen Anwendung finde. Aber die Lagebeziehungen sind in der Tat ebenso zu exakter Bestimmung nur durch die Zahl zu erheben, wie in der neueren Mathematik von vielen Seiten klar geworden ist. Pestalozzis Ahnung reicht hier noch weiter, als ihm selbst bekannt war und bekannt sein konnte. Es könnte ferner Bedenken machen, daß umgekehrt wieder die Zahlverhältnisse durchaus an Raumverhältnissen (so besonders die Vervielfältigung und Teilung der Zahl am eingeteilten Quadrat) gelernt und eingeübt werden sollen. Die Gegenseitigkeitsbeziehung zwischen Zahl- und Raumerkenntnis kann hier leicht scheinen, geradezu zum fehlerhaften Zirkel zu werden, indem auf der einen Seite das Messen nur ein Zählen, auf der andern wieder das Zählen ein Messen sein soll. Aber, wenn noch so sehr am sinnlich Räumlichen ausgeübt, bleibt das Messen doch immer ein Zählen, das heißt Ausübung der synthetischen Denkfunktion. Aber freilich nur am sinnlich Unbestimmten (das ja nach Pestalozzis Erklärung der Raumform im Unterschied von der Zahl zugrunde liegt) kann die Funktion des Bestimmens (deren reiner Ausdruck die Zahl ist) ausgeübt, und nur durch diese ihre methodische Ausübung kann sie selbst entwickelt werden. Also der Materie – aber nur der Materie nach stützt sich diese methodische Entwicklung der Zahlerkenntnis (und zwar notwendig) auf das räumlich Sinnliche. Alles, was aus der Unbestimmtheit dieses Sinnlichen heraus erkannt wird, ist darum nicht weniger reines »Resultat« (Erzeugnis) des Verstandes, das heißt eben, der Grundfunktion des Bestimmens, deren reiner Ausdruck die Zahl ist. Also bleibt Pestalozzi in seiner Fundamentalansicht vom Bildungsgange der mathematischen Erkenntnis und ihrer Bedeutung für das menschliche Erkennen überhaupt gerechtfertigt. Die glänzenden Erfolge seiner Methode gerade im mathematischen (sowohl Rechen- als Form-)Unterricht sind also nicht ohne tiefen Grund. Namentlich Joseph Schmid brachte es darin zur höchsten Virtuosität. Sein Vorgehen war äußerst systematisch und erreichte sein Ziel mit nie fehlender Sicherheit. Die Schüler des Pestalozzischen Instituts erlangten in den Elementen der Zahl- und Raumlehre eine Selbständigkeit, Richtigkeit und Schnelligkeit, die das Staunen aller Besucher und der besondere Ruhm der Ifertner Anstalt war. Mit dem Schlagwort »Mechanismus« sind diese Erfolge nicht abzutun. Von sehr urteilsfähigen Männern (wie Grüner, von Türk, Clausewitz, Benzenberg, und vor allen Steiner) wird vielmehr gerade das ungewöhnliche Maß von Selbsttätigkeit gerühmt, welches selbst die schwächeren der Ifertner Schüler bewiesen. Sie eben war das mit Sicherheit erreichte Ziel dieser so mechanisch scheinenden »lückenlosen« Durcharbeitung der Elemente, wie schon die Krüsische Bearbeitung der Zahl- und Formenlehre, vollends die Schmidsche (1809-1811) sie zeigt. Freilich führte dieser so wirksame Unterricht nicht weit über die Elemente hinaus. Auf den weiteren Fortschritt über diese zu einem eigentlich wissenschaftlichen Betrieb der Mathematik war das Verfahren zunächst nicht berechnet. Auch innerhalb dieser Grenzen wurde die Anlehnung an sinnliche Anschauung, die sich für die Durcharbeitung der Elemente so förderlich erwiesen hatte, wohl zu lange und zu starr festgehalten, die freiere Entwicklung zum Begriff, das Aufsteigen zu allgemeinen Gesetzen zu wenig ins Auge gefaßt; und es wurde, was hiermit eng zusammenhängt, die »Lückenlosigkeit« des Fortschreitens, die in den ersten Elementen gewiß von größter Wichtigkeit ist, zu äußerlich und dadurch im üblen Sinn mechanisch beobachtet. Dagegen ist es kein Tadel, sondern vielmehr das beste Lob des Schmidschen Unterrichts, daß er wesentlich auf Kraftentwicklung, nicht auf bloße Fertigkeit der praktischen Anwendung gerichtet war; mag immerhin die letztere etwas mehr als billig in den Hintergrund gedrängt worden sein. In jedem Fall bleibt bestehen, daß die sehr bedeutenden Fortschritte der folgenden Jahrzehnte im mathematischen Unterricht durchweg von Pestalozzi und den Seinigen angeregt und vom Geist seiner Methode auch dann geleitet waren, wenn sie von ihrem Buchstaben sich entfernten.
Mit der Zahl und der Form stellt Pestalozzi die Sprache zusammen als drittes der Elemente oder »Grundmittel« der Bildung; wie jede Zahl, jedes Maß, so soll auch jedes Wort ein »Resultat des Verstandes ans gereiften Anschauungen« sein. In welchem genaueren Sinne und in welcher Einschränkung dies richtig ist, ist schon oben ($6, vgl. Kap. II, § 5) erklärt worden. Verkannt wird dabei übrigens, daß das Wort noch etwas mehr ist als der Ausdruck dessen, was man von einer Sache versteht, daß es fast immer auch ein Moment des Gefühls und der Willenstendenz einschließt, also nicht bloß einen logischen, sondern zugleich einen ethischen und einen ästhetischen Charakter trägt; womit auch schon gesagt ist, daß es überhaupt nicht auf das sinnliche Gebiet eingeschränkt bleibt, sondern sich in Freiheit darüber erhebt. Hat also Pestalozzi die Sprache ohne Zweifel zu einseitig nach der Verstandesseite aufgefaßt, so hat er wenigstens nach dieser Seite ihre Funktion im ganzen Wohl begriffen. Das Wort vertritt ihm wesentlich die Begriffsfassung, die kategoriale Bestimmung des Gegenstandes, seine Prägung als Größe, als im Wechsel seiner Bestimmungen doch identisches Ding, in diesem Wechsel gegen anderes so und so bestimmt und wiederum es bestimmend, das heißt als Ursache anderer Veränderungen oder selbst durch anderes verändert, und so fort. »Worte sind Urteile«, heißt es sehr gut schon in den Aufzeichnungen von 1774; in der Tat: das Urteil wird erst fertig durch die analytische Funktion, die eigentlich das Wort vertritt.
Allerdings vermißt man nun hier besonders die genauere logische Durcharbeitung, die ein sehr tiefes philosophisches Studium erfordert hätte. Daraus erklären sich mannigfache Mängel, die der Pestalozzischen Behandlung des Sprachunterrichts anhaften und die er großenteils selbst empfunden hat, ohne ihnen doch abhelfen zu können. In der »Gertrud« zunächst (im 7. Brief) tritt 1. die Lautlehre wohl etwas zu anspruchsvoll in den Vordergrund. Was übrigens Pestalozzi nach dieser Seite erreicht, ist an sich unverwerflich. Die Lautlehre fügte sich am leichtesten dem allgemeinen Gesichtspunkt des elementarischen Verfahrens; konnte doch das Abc zum Vorbild und Wegweiser dienen für das elementarische Vorgehen überhaupt. Schon ursprünglich hießen Elemente στοίχεία zuerst die Buchstaben oder richtiger die Einzellaute gegenüber den Silben und Wörtern. Doch erreicht hier Pestalozzi im Grunde nur eine unvollkommene Vorstufe der um dieselbe Zeit von Stephani wiedergefundenen, von den Pestalozzianern dann meist aufgenommenen Lautiermethode, Gruner in den »Briefen aus Burgdorf« (22. Brief) beschreibt das dort geübte Verfahren deutlich als Lautieren. der ungefähr gleichzeitig auch Olivier nahe kam, ohne sie ganz zu erreichen. Also ist das Verdienst Pestalozzis in diesem Punkte wenigstens nicht ein ganz einziges; die heutige Sprachlehre ist hier wohl eine gute Strecke weiter gekommen. Immerhin darf gesagt werden, daß auch die seither erreichten Fortschritte nur das Prinzip der Pestalozzischen Methode verwirklichen wollen: daß das Kind die Wissenschaften, die es erlernen soll, sich selbst konstruieren muß; so aus den Grundlauten die Silben, aus den Silben die Wörter.
Im zweiten Stück, der Namenlehre, hat Pestalozzi ebensowenig etwa ganz neue Bahnen eingeschlagen. Sein Bestreben, alle für das Kind wissenswerten Namen in feste sachliche Rubriken zu ordnen und dadurch ihren Sachsinn ihm gegenwärtig zu halten, ist nahe verwandt dem des Comenius, und erreicht nicht die von diesem angestrebte erschöpfende Systematik. Von einem wirklich »elementarischen« Aufbau kann nicht die Rede sein. Nicht ganz unrichtig bezeichnet Pestalozzi selbst das, was er hierüber in der »Gertrud« vorbringt, in einem Zusatz der Cotta-Ausgabe als bloßes »chaotisches Zusammentragen von Materialien für ein Haus, das man später bauen will«. Er hat nachmals in dies Chaos etwas mehr System zu bringen gesucht, ohne sich selbst darin ganz genugtun zu können. Deutlicher gibt sich in dem dritten, der eigentlichen Sprachlehre, eine tiefe und richtige Ahnung zu erkennen, obgleich Pestalozzi gerade hier die Unvollkommenheit seines ersten, noch rohen Versuchs selber stark hervorhebt. Was ihm hier vorschwebt, ist das vorhin schon Angedeutete: die kategoriale Bestimmung des Gegenstandes, als »Einheit«, das heißt als Gegenstand, als durch die und die bleibenden Bestimmungen charakterisiert, und als im »Wechselzustand derselben« (nämlich der Gegenstände) so und so näher, insbesondere der Zeit nach sich bestimmend. Hierbei wird bestimmt ausgesprochen, daß Zahl und Form die » eigentlichen Elementareigenheiten aller Dinge« sind, das Wort nur die »Allgemeinheit des Begriffs« ausdrückt. Das heißt, in jenen liegt die fundamentale, synthetische Leistung der Erkenntnis, das Wort ist nur ihr analytischer, von jenen also ganz abhängiger Ausdruck, Hierin liegt die ganze Originalität der Pestalozzischen Sprachlehre; das weitere sind wieder tastende Versuche, die in manchem, wie in der äußerlichen, alphabetischen Anordnung seiner Wörterreihen, seinem eigenen recht verstandenen Prinzip offenbar schlecht entsprechen.
Die Leistungen Pestalozzis für die Sprachlehre sind aber mit den Darlegungen seiner theoretischen Hauptschrift keineswegs erschöpft. Vor allem darf sein bedeutendes Bemühen um die früheste Sprachbildung des Kindes nicht übersehen werden. Man hat sich sehr aufgehalten über den Fehlweg des »Buches der Mütter«, den eigenen Körper des Kindes zum Mittelpunkt seiner frühesten Unterweisung zu machen. Gewiß beruht dieser Einfall des treuherzigen Krüsi, dem dann Pestalozzi selbst »mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit« rechtgab, auf einem naiven Mißverständnis. Krüsi erinnerte sich des Wortes aus der »Gertrud«, daß die Erkenntnis des Menschen von »ihm selbst« ausgehen, daß er selbst den »Mittelpunkt« seiner Erkenntnis abgeben müsse. Dieser Satz ist allerdings einer der tiefsten, die bei Pestalozzi zu finden sind; aber er ist in der Anwendung, die Krüfi davon macht, völlig mißverstanden. »Mittelpunkt« der Erkenntnis ist der Mensch als Erkennender, nicht aber als ein Erkenntnisgegenstand wie andere und dann etwa vor anderen; vollends nicht als Gegenstand äußerer sinnlicher Anschauung. Den äußeren Sinnen ist der eigene Leib nicht näher oder zentraler als der fremde; es ist weder Grund, ihn an den Anfang, noch gar dauernd in die Mitte der sinnlichen Erkenntnis zu stellen. Hier hat also Pestalozzi selbst durch die Ausführung, die er – oder vielmehr sein Mitarbeiter, immerhin unter seiner vollen Zustimmung – seinem Gedanken gab, seine eigene Idee geradezu verdunkelt. Indessen warnt er sogleich vor dem Mißverständnis, als ob die Mutter beim Unterricht des Kindes sich einseitig und ununterbrochen mit dem Kinde beim menschlichen Körper aufhalten sollte; vielmehr soll das Kind von diesem »Mittelpunkt« alsbald schrittweis weiter durch die ganze sich ihm sichtbar darstellende Welt geleitet werben. Gerade die von Pestalozzi selbst herrührenden Stücke im »Buch der Mutter« über die Übung des Sehens und des Redens sowie der spätere, seine und anregungsreiche Aussatz der »Wochenschrift für Menschenbildung«: »Über den Sinn des Gehörs in Hinsicht auf Menschenbildung durch Ton und Sprache« und dann die Briefe an Greaves find voll gesunden Verständnisses der Kindesseele und ihrer förderlichen Behandlung. Und Ähnliches läßt sich wohl sagen von der ganzen Manuskriptmasse, die Seyffarth unter dem Titel »Der natürliche Schulmeister« (IX, 349 ff.) veröffentlicht hat. Der Plan dieser von ihm nie vollendeten Arbeit ist schon in der »Gertrud« skizziert. Dort fordert er bereits ein solches Buch »für die erste Kindheit«; darin sollten aus dem Wörterbuch zuerst die wichtigsten (konkreten) Substantiva, dann Adjektiva und so fort ausgezogen, zu jenen die Adjektiva, die ihre Merkmale ausdrücken, zu diesen umgekehrt die Substantiva, denen sie als Merkmale zukommen, hinzugesetzt werden, und so fort; dann sollten mit Hilfe des so gewonnenen Materials der in der Sprache niedergelegten gemeinen Erkenntnis nach fachlicher Einteilung erst Gegenstände aus dem Gebiete der Erdbeschreibung, dann der Geschichte, der Naturlehre und Naturgeschichte, zuletzt der Mensch nach seinem physischen, gesellschaftlichen und sittlichen Wesen vorgeführt werden, jedes dieser sechs Hauptgebiete in zahlreiche Unterabteilungen gegliedert. Innerhalb jeder der so erhaltenen 70 bis 80 Rubriken sollten die Wörterreihen erst bloß alphabetisch, dann mehr sachlich geordnet, die Rubriken durch Zahlen, Abkürzungen oder willkürliche Zeichen bezeichnet und dann das Kind geübt werden, jedes vorkommende Wort in seine gehörige Rubrik zu stellen. Es folgen Übungen im synthetischen Aufbau von Sätzen aller Art. Besonders wird die Form der Namenerklärung (Wortdefinition) hierzu und zugleich zur Übung im genauen Beschreiben zunächst sinnlicher Gegenstände benutzt. Endlich wird ein Register von Zeitwörtern verwendet, um bei jedem dem Kinde einige wichtige praktische Wahrheiten, welche »die Erfahrungen seines Lebens ihm in Rücksicht auf die Gegenstände, die sie bezeichnen, besonders auffallen machten«, einzuprägen; also zu einer Sammlung von Sentenzen vorwiegend aus dem Gebiete der praktischen Lebensweisheit. Krüsi hat eine Sammlung solcher »Vaterlehren in sittlichen Wortbedeutungen« als »ein Vermächtnis vom Vater Pestalozzi an seine Zöglinge« aus dessen Nachlaß 1829 herausgegeben, Seyffarth die ganze erhaltene Manuskriptmasse, mit dem Titel: »Der natürliche Schulmeister oder Praktische Anweisung in den einfachsten Grundsätzen des Kinderunterrichts in allen Vorkenntnissen, die ihnen unter dem sechsten Jahr beizubringen notwendig sind«, veröffentlicht. Der Untertitel paßt allerdings nicht auf das Ganze, welches unmöglich für Kinder unter sechs Jahren bestimmt sein kann, sondern er würde nur auf das zutreffen, was nach Krüsis Angabe als erster von drei Lehrgängen für die Mütter als Vorbereitung auf den Schulunterricht bestimmt war. Im »Natürlichen Schulmeister« aber ist offenbar bei jedem Wort das zu allen drei Lehrgängen Gehörige zusammengestellt. Es war also wohl die Meinung, daß dasselbe Lehrbuch in dreifacher Art von der Mutter und vom Schullehrer durch drei Stufen des Sprachunterrichts hindurch gebraucht werden solle.
Pestalozzi selbst schiebt in einer Anmerkung der Cotta-Ausgabe zur »Gertrud« alle diese Versuche als »Resultate unreifer Ansichten« beiseite. Das ist doch etwas zu summarisch geurteilt. Der Gedanke einer Systematisierung des natürlichen Vorstellungsschatzes des Kindes an der Hand der Sprache ist an sich keineswegs zu verwerfen. Für die Durchführung freilich wäre vor allem ein genauerer und planmäßigerer Anschluß an die sinnlichen Anschauungen des Kindes nach deren stufenmäßiger Entwicklung zu fordern. Es ist gleich damals und seitdem immer wieder aufgefallen, daß Pestalozzi, der wie kaum ein zweiter gegen das Wortwesen in der Erziehung geeifert und die Rückkehr von den Worten zu den Sachen, zur Anschauung gefordert hat, in der Behandlung der Sprachlehre selbst gegen diese seine Vorschrift vielfach sündigt. Aber grundsätzlich doch will er die Sprache nur zugleich mit der Sachanschauung entwickeln. Auch ist von ihm und den Seinen die wirkliche Ausführung des Gedankens eines methodisch geordneten » Anschauungsunterrichts« ausgegangen, als dessen Urheber allerdings nicht er, sondern mit weit größerem Recht Comenius zu nennen wäre, und um dessen Weiterbildung Rousseau und die Philanthropinisten nicht zu übersehende Verdienste haben. Die Forderung, von der Abbildung auf die wirklichen Gegenstände zurückzugehen, »den Tisch am Tisch« lernen zu lassen, und so alle Gegenstände der unmittelbaren Umgebung des Kindes, dann schon planmäßiger die Pflanzen und Steine, die Tiere und so fort, liegt doch bereits dem »Buche der Mütter« zugrunde. Und von da ergab sich von selbst der Übergang zu einer streng anschaulich-realistischen Behandlung der Heimatkunde, wovon bald weiter zu berichten sein wird.
Bis in sein hohes Alter hat sich Pestalozzi um die Weiterbildung seiner Sprachlehre gemüht. Gerade in den letzten Schriften: im »Schwanengesang« und der »Langenthaler Rede« nimmt die Behandlung der Sprachlehre einen breiten Raum ein. Noch in einer Sitzung der Kulturgesellschaft zu Brugg am 21. November 1826 verfocht Pestalozzi mit Eifer seine Thesen über die Sprachbildung und legte Tabellen zu Sprechübungen ganz kleiner Kinder vor. Auch um eine Methodik des Lateinlernens hat er sich ernstlich, obwohl vergeblich bemüht, übrigens enthalten seine späteren Ausführungen über diese Dinge neben Verfehltem doch auch manches Beachtenswerte, So findet der schon von Montaigne und Comenius vertretene Grundsatz, das Erlernen der Fremdsprachen soviel möglich dem natürlichen Erlernen der Muttersprache ähnlich zu gestalten, an Pestalozzi einen eifrigen Fürsprecher. Das ebenfalls an Comenius, ja an Ratichius erinnernde Bemühen freilich, eine »Normalform« der Sprache zu finden, die unterschiedslos auf jede beliebige Sprache Anwendung finden müsse, die also nur für eine Sprache richtig bestimmt zu sein brauchte, um dann durch einfache Übersetzung sich auf jede andere übertragen zu lassen, hat weder zu einem greifbaren Ergebnis geführt, noch kann es im Prinzip als richtig zugestanden werden. Reden hören und selber reden; erst zuletzt die grammatische Regel; das Redenlernen eng anschließen an die in der Umgebung des Kindes sich darbietenden anschaulichen Gegenstände; stets von den Ausdrücken der »Objekte« (konkreten Substantiven) ausgehen und an diese erst die der Eigenschaften und Handlungen (Adjektive und Verben) anschließen; die Muttersprache zuerst, dann andere lebende, zuletzt erst die toten Sprachen lernen lassen, das sind die einfachen Grundregeln. Sie sind also freilich nicht neu; und eine überzeugende Durchführung im einzelnen ist Pestalozzi offenbar nicht geglückt. Auch läßt sich nicht behaupten, daß diese Vorschriften mit dem Eigentümlichsten und Tiefsten der Pestalozzischen Ideen notwendig zusammenhingen.
In der Elementar- oder Grundbildung liegt die Stärke der Unterrichtslehre Pestalozzis; dagegen tritt sehr zurück, was er zur methodischen Bearbeitung einzelner Fächer des nicht elementaren Unterrichts beigesteuert hat.
Pestalozzis Sprachbildung war, wie wir gesehen haben, weit mehr als nur Sprachbildung. Die Entwicklung der Sprache ist bei ihm, wenn auch nicht so streng methodisch, wie seine Prinzipien es fordern, an die Entwicklung der Sachkenntnis angeschlossen, doch auch nirgends von dieser etwa abgelöst. Die früheste Sprachbildung des Kindes geht genau Hand in Hand mit einer Ausbildung der Sinne, wie etwa Rousseau sie sich gedacht hatte. Und so gehen die höheren Stufen der Sprachbildung nach Pestalozzi genau zusammen mit der Entwicklung zunächst der sinnlichen, dann in stetigem Fortschritt auch der freieren Vorstellung; diese aber faßt er bezeichnenderweise hauptsächlich nach der Seite der sittlichen Grundverhältnisse ins Auge, in die der Lernende sich durch das Leben selbst hineingestellt findet und mit seinem ganzen Denken und Sein mehr und mehr hineinwachsen soll. Auch das ja fiel ihm unter den weiten Begriff der »Anschauung«.
Damit war nun schon der Übergang gegeben zum Unterricht in gewissen Realfächern. Zwar nur wenig findet sich über den naturkundlichen und naturgeschichtlichen Unterricht. Zu diesem war nach den guten Anregungen, die Rousseau gegeben hatte, durch die Pädagogen des Rationalismus, besonders aber durch die Philanthropinisten ein trefflicher Grund bereits gelegt; eigene neue Leistungen auf diesem Felde hat die Ifertner Anstalt nicht aufzuweisen. Was aus diesen Gebieten überhaupt allgemein gelehrt wurde, schloß sich eng an den heimatkundlichen Unterricht an, ja war ganz in diesen eingeschlossen.
Der Unterricht in der Heimatkunde wurde zuerst durch Tobler in ausgezeichneter Weise bearbeitet und ins Werk gesetzt. Als der große Geograph Karl Ritter im Jahre 1807 nach Iferten kam, fand er dort zu seiner Überraschung den geographischen Unterricht fast so, wie er als Schüler der Philanthropinisten ihn sich ausgedacht hatte, in wirklicher Ausübung. Wir besitzen darüber die unmittelbar aus dem Leben gegriffene Schilderung eines Zöglings der Anstalt, L. Bulliemin: »Die ersten Elemente der Geographie lehrte man uns im Freien. Wir machten zuerst einen Ausflug in ein abgeschlossenes Tal in der Nähe von Iferten, durch welches der Büron fließt. Man ließ es uns im ganzen und im einzelnen betrachten, bis wir von ihm eine richtige und vollständige Anschauung hatten. Dann gab man uns auf, uns mit einem Vorrat von Tonerde zu versehen, die an der einen Seite des Tals in Schichten eingebettet lag; damit füllten wir große Bogen Papier, die wir zu diesem Zweck mitgenommen hatten. Nach der Rückkehr zum Schloß wurden lange Tische unter uns verteilt, und jeder mußte auf dem ihm zugefallenen Teil das Tal, an dem wir soeben unsere Studien gemacht hatten, aus seiner Tonerde im Relief nachbilden. Die folgenden Tage neue Ausflüge, neues Erforschen aus immer höher gelegenen Gesichtspunkten, und allemal weitere Ausdehnung unserer Arbeit. So fuhren wir fort, bis wir das Becken von Iferten ganz durchstudiert, es von dem Gipfel des Montéla, der es ganz beherrscht, im Zusammenhang überschaut und danach unser Relief vollendet hatten. Dann, aber erst dann, gingen wir vom Relief zur Landkarte über. für die wir nun erst das Verständnis gewonnen hatten«. Man ließ also, ganz wie in der Arithmetik und Geometrie, die Kinder die Wissenschaft, die sie lernen sollten, von Grund aus selbständig aufbauen.
Noch mehr aus der Tiefe faßte Ritter die Sache. Er bekennt, daß die Idee seines großen Unternehmens der »Erdkunde« ihm aus der Anregung, die er in Iferten im engen persönlichen Verkehr mit Pestalozzi empfangen hatte, unmittelbar erwachsen sei. »Indem ich ihn hörte, fühlte ich den Instinkt der natürlichen Methode in mir erwachen«, äußerte er noch viel später; »er hat mir den Weg eröffnet, und was mir zu tun vergönnt war, schreibe ich mit Freuden ihm als sein Eigentum zu«. Ursprünglich war seine Absicht gewesen, für Pestalozzis Institut, im Geist seiner Methode die Geographie zu bearbeiten; erst bei der Durchführung erweiterte und vertiefte sich sein Plan bis zu den gewaltigen Dimensionen, in denen er dann ausgeführt wurde. Daß Ritter und nach seiner Anleitung Henning die Methodik des geographischen Unterrichts begründet hat, ist allgemein anerkannt.
Nach dem großen Sinne Ritters würde die Geographie den Übergang vom Naturreich zum Reiche des Menschen bilden, daher in der Geschichte ihre natürliche Ergänzung finden. Aber wenn Pestalozzi schon zur Bearbeitung der Heimatkunde nicht mehr als die erste Idee beigetragen hat, so bleibt vollends unzulänglich, was er für den Geschichtsunterricht direkt getan hat. Es ist lehrreich, in Schachts Bericht (bei Israel, Pestalozzis Institut in Iferten) zu lesen, wie Pestalozzi meinte durch trockene Tabellen und Namenregister für dies Fach hinreichend zu sorgen, und wie der treffliche Schacht, der einen recht guten, aber gerade nicht Pestalozzischen Geschichtsunterricht im Institut gab, genötigt war, solcher Veräußerlichung zu wehren. Der große Mann war offenbar selbst ohne Ahnung davon, wie tiefe Grundlagen für einen wirklich belehrenden Geschichtsunterricht er durch seine Forschungen auf sozialphilosophischem, ethischem und religiösem Gebiet gegeben hatte; ebenso wie er aus seiner genialen Erfassung des letzten Kernes der Sittlichkeit und Religion keine Frucht zu ziehen wußte für eine methodische Gestaltung der religiösen oder etwa einer von dieser unterschiedenen rein sittlichen Unterweisung. Auffälliger noch ist, daß auch im Pestalozzischen Kreise keiner darauf gekommen zu sein scheint, auf eben dieser Basis eine Bearbeitung dieser Fächer im Geiste Pestalozzischer Methodik zu versuchen. Dagegen wurden sehr beträchtliche Fortschritte erreicht in zwei Fächern, die dem Mathematischen näher liegen: Zeichnen und Gesang. Bei beiden zwar kann man in Zweifel sein, ob sie noch dem Gebiete der Verstandesbildung zuzurechnen find, da sie einerseits ersichtlich ins Gebiet des Künstlerischen hinübergreifen, andererseits sich dem Technischen zu nähern scheinen. Aber die Kunst im ästhetischen Sinne nimmt, wie schon früher bemerkt, bei Pestalozzi überhaupt keine selbständige Stellung ein; zum »körperlichen Können« aber hat Pestalozzi diese Fächer mit Recht nicht gerechnet, weil das Körperliche des Könnens dabei, die Gelenkigkeit der Finger und der Stimmmuskeln, nur von untergeordneter Bedeutung ist und durchaus untergeordnet bleiben muß der Entwicklung des Sehens und Hörens, und zwar nicht bloß passiver Aufnahme des Gegebenen, sondern selbsttätiger geistiger Verarbeitung.
Insbesondere das Zeichnen steht bei Pestalozzi vielmehr von Anfang an in der engsten Verbindung mit dem Formunterricht. Dieser war zugleich beides: Zeichen- und Geometrieunterricht. Damit ist freilich schon gesagt, daß dies Zeichnen rein geometrisches Zeichnen war und blieb. Unbestritten sind die reichsten Anregungen für die Methodik des Zeichenunterrichts von den Pestalozzischen Schülern: Buß, Jos. Schmid, Ramsauer und anderen ausgegangen. Doch muß gesagt werden, daß diese alle über eine auffallende Einseitigkeit nicht hinauskamen, indem sie allzu eng an den geometrischen Linienkunstruktionen haften blieben. Entgegen der vom Meister selbst in der »Gertrud« ausgesprochenen Warnung fielen sie praktisch immer wieder in den Fehler, daß dem Lernenden die Gegenstände der Natur durchaus zwischen geometrischen Linien erscheinen mußten. Gewiß ist die geometrische Linie der sichere Ausgangspunkt namentlich für das technische Zeichnen. Ja auch über die technische Absicht hinaus ist das echte Sehen oder vielmehr Blicken ein Konstruieren, und die Elemente dieser Konstruktion sind die geometrischen Elemente: Linien, Winkel und Bogen. Es behält daher die Pestalozzische, später besonders durch Stuhlmann und Flinzer weitergebildete Methode des Zeichenunterrichts gewiß ihren begrenzten Wert. Aber, soll das Sehen, das Blicken und mit ihm die Handfertigkeit allgemein zur Kunst erhoben werden oder sich ihr auch nur nähern, so gilt es vom mathematischen Gängelband endlich loszukommen. Bloß die Gegenstände wiederzugeben, wie sie in der Natur sind, das möchte durch das Mittel der Mathematik erreichbar sein; und soweit dies zur Technik auch des Künstlers gehört, gehört zu ihr auch das mathematische Konstruieren des Gegenstandes; aber das wäre zuletzt überhaupt nicht künstlerische, sondern wissenschaftliche und weiterhin technische Aufgabe. Kunst beginnt erst, wo die Objekte als neue, eigene Geschöpfe aus ursprünglicher Phantasie hervorquellen. Es mag also das erstere wohl ausreichen für jede bloß technische Absicht; auch noch für jene gebundene Kunst, die hier und da noch im Volke lebendig ist, die aber eigentlich noch nicht Kunst, obwohl ein gesunder Nährboden für sie ist. Dagegen ist das eigentlich Künstlerische nicht sowohl etwas mehr als etwas ganz anderes. Allenfalls ist das bloß Technische die Voraussetzung dazu; es muß wohl erst ein gewisser Grad der Sicherheit des Auges und der Hand in der schlichten Aufnahme und Wiedergabe des Vorhandenen erzielt sein, ehe die Phantasie dazu erstarken kann, lebensfähige Gestalten selber zu erschaffen. Ob dann für dies letztere eine »Methode« im gleichen Sinne möglich ist, wie für das erstere, mag zweifelhaft erscheinen. Clausewitz z.nbsp;B., dem der Mangel einer Phantasiebildung in Iferten auffiel, meinte, es gebe vielleicht für die schaffende Phantasie gar keine Methode, sie wachse am liebsten spontan, man müsse ihr nur Spielraum lassen. Dagegen war Karl Ritter der Ansicht, daß gerade die Phantasie als das »eigentlich Produzierende im Menschen« einer »recht eigentlich positiven Bildung« bedürfe, die »in das ganze Leben eingreife«. Ich habe vorgeschlagen als das Vermittelnde vom Mathematischen und Dynamischen zum Künstlerischen das Biologische heranzuziehen. Ich meine damit etwas wie die Lippssche »Einfühlung«, die mir zwar noch nicht das Künstlerische selbst, wohl aber der hier gesuchte methodische Weg dahin zu sein scheint. Nämlich, es muß die Naturgestalt mir lebendig werden, ich muß sie leben, sie muß in mein eigenes Lebensgefühl so eingehen, daß nun ihre Wiedergabe mir nicht mehr bloß ein Ausdruck ihres Lebens (das ich bloß genau kennen und in genauer Wiedergabe festhalten möchte), sondern ein Ausdruck meines eigenen Lebens (im Anschauen dieses Objekts) wird. So würde die »Anschauung« recht nach Pestalozzis Begriff rein schöpferische, »hinschauende« Gestaltung sein. Aber so erschöpft sie sich nicht bloß im Mathematischen und Dynamischen, während sie zugleich den Zusammenhang mit diesem nicht verliert.
Eine Eigentümlichkeit Pestalozzis ist, daß er den Schreibunterricht ganz dem Zeichenunterricht untergeordnet und nach gleichen Prinzipien wie diesen behandelt wissen will; das heißt, es wird auf die volle Beherrschung der Grundformen mit dem Augenmaß und der Hand das ganze Gewicht gelegt; die Leichtigkeit und Schönheit im Schreiben der einzelnen Buchstaben wird dann spielend erreicht. Griffel und Schiefertafel sind bekanntlich Pestalozzis Erfindung. Natürlich wurde weiterhin die Verbindung des Schreibunterrichts mit dem Sprachunterricht (zunächst der Lautlehre) nicht vernachlässigt. Die Ausführungen darüber in der »Gertrud« und im »Schwanengesang« sind immer noch aller Beachtung wert und haben für die Ausgestaltung des Schreibunterrichts zweifellos bedeutende Anregungen gegeben.
Ganz Ähnliches wie vom Zeichenunterricht der Pestalozzianer zu sagen war, gilt von der nach Pestalozzischen Prinzipien durch Pfeiffer und Nägeli entwickelten Methodik des Gesangunterrichts. Ja man muß sagen, daß sie in ihrem abstrakt synthetischen Aufbau, in der starren Nebeneinanderstellung von Rhythmik, Melodik und Dynamik (die Harmonik fiel ganz aus) und der Vernachlässigung des Liedersingens geradezu unpestalozzisch war. Es war wieder ein offenbares Mißverständnis der Forderung, daß die Kraftbildung dem Erwerb bestimmter Fähigkeiten vorgehen und die Hauptsache sein müsse. Gewiß soll die Kraft entwickelt werden, aber in der Ausübung, nicht getrennt von ihr. Es muß auf diese Elemente zurückgegangen, es muß der Aufbau der Tonlinie aus ihren Elementen, den Tönen, oder richtiger, den einfachen Grundbeziehungen unter den musikalischen Tönen (den Intervallen), zur Klarheit gebracht werden. Aber zuletzt muß doch die Gestalt der Tonlinie, wie alle künstlerische Gestalt, in freier Phantasie erfaßt werden, oder vielmehr aus ihr unmittelbar hervorfließen, und nur diese freie Phantasiekraft zu entfalten, kann die gleichsam mathematische Konstruktion der Tongestalten einen gewissen vorbereitenden Dienst tun, wie im Zeichnen die geometrischen Liniennetze. Den ersten Schritt zu dieser Berichtigung getan zu haben, dürfte das Verdienst Ludwig Natorps sein, der gerade in seinen Abweichungen von Nägeli ein richtigeres Verständnis des Pestalozzischen Prinzips bewies. Immerhin blieb noch jahrzehntelang ein Mißverhältnis zwischen den Elementarübungen und den eigentlichen Gesangsübungen; zwischen beiden den rechten Ausgleich zu finden ist bis heute die Aufgabe. Direkt berührt wird die Frage der künstlerischen Bildung in der Lenzburger Rede (ß 121 ff,). Daß sie überhaupt als eine Sonderfrage der Pädagogik auftritt, weicht von Pestalozzis sonstigen Begriffen ab und ist also wohl auf Niedereis Rechnung zu setzen. Was aber im einzelnen über die Sache bemerkt wird, trägt zwar ganz das Gepräge der Denk- und Ausdrucksweise Pestalozzis; doch empfindet man hier besonders stark, daß er auf diesem Gebiete nicht recht zuhause ist. Seine Bemerkungen enthalten viel Wahres, aber sie berühren kaum das Eigentümliche der Kunstbildung, sondern fassen wesentlich nur die intellektuellen und sittlichen Voraussetzungen zu ihr ins Auge. Auch in den Briefen von Greaves (23. u. 24. Br.) findet die Bildung des Geschmacks durch Musik, Zeichnen und Modellieren Beachtung.
Für gewöhnlich aber versteht Pestalozzi unter »Kunst« vielmehr die technische Fertigkeit, das »körperliche Können«; die Kunstbildung ist ihm gleichbedeutend mit der physischen, mit der Arbeitsbildung, deren Behandlung uns als letzte Aufgabe übrig bleibt.
C. Die Physische oder Kunstbildung.
Daß in voller Harmonie mit der Bildung des Kopfes und des Heizens auch die der Hand angestrebt werden, und daß gerade in der Arbeit, im schlichten Händewerk die Kräfte der Erkenntnis und des Willens sich so vereinigen müssen, wie es eben zur harmonischen Gesamtbildung des Menschen erforderlich ist, das ist einer der Grundsätze, die für Pestalozzi am meisten bezeichnend sind und daher von den frühesten bis zu den spätesten seiner Schriften in immer neuen Wendungen wiederholt werden. In seiner Frühzeit denkt hierbei Pestalozzi fast ausschließlich an die Bildung des niederen Volkes zur gewerblichen Arbeit. Noch im Stanzer Brief hat er bei der Bildung der Hand offenbar hauptsächlich diese im Auge. Dann aber, in der »Gertrud« (im 12. Brief), erhebt er sich zu der Forderung einer ganz allgemeinen, »elementaren« Ausbildung der Fertigkeit, die von den einfachen Grundarten körperlicher Leistungen, deren der Mensch durch seine physischen Kräfte fähig ist, zu »allen möglichen«, auch den kompliziertesten Fertigkeiten, auf denen die menschlichen Berufe beruhen, aufsteigen soll, das heißt, zur Idee eines » ABC der Kunst«; über dessen Ausführung freilich hier nur knappe Andeutungen gegeben werden. Fichte in den »Reden an die deutsche Nation« wies auf die hohe Bedeutung dieser Idee nachdrücklich hin und bedauerte nur, daß Pestalozzi unterlassen habe, sie auszuführen. Indessen war, als die »Reden« im Druck erschienen (1808), die Lücke bereits ausgefüllt durch die (im Jahre 1807 in Pestalozzis Wochenschrift erschienene) Abhandlung » Über Körperbildung«, die eine volle und reife Ergänzung zur »Gertrud« nach dieser Seite darstellt. Die Schrift ist als Ganzes zwar nicht von Pestalozzi, doch darf die Einleitung, welche das Prinzip der elementarischen Körperbildung entwickelt, nach Stil und Inhalt mit voller Sicherheit ihm zugeschrieben werden.
So wie die Pestalozzische Gesangsbildung ihre Aufgabe darin sah, nicht den Gesang als etwas für sich Stehendes, sondern in »reinem Akkord« mit allen übrigen Mitteln der Elementarbildung zu entwickeln, so strebt auch die Pestalozzische Elementargymnastik nicht auf Virtuosität in bestimmten einzelnen körperlichen Fertigkeiten, auch nicht, wie Jahn und seine Anhänger, auf den einzigen Zweck der Ausbildung zur Wehrtüchtigkeit, sondern auf eine solche Entfaltung der körperlichen Kräfte überhaupt, die mit der gleichzeitigen Entfaltung des Geistes und Willens in reinem Einklang stehe. Pestalozzi sucht eine Gymnastik, »durch welche die Körperbildung, geistig betrachtet, selbst ein Mittel der Geistesbildung, sittlich betrachtet, hinwiederum selbst ein Mittel der sittlichen Entwicklung, und ebenso ästhetisch ... ein Mittel der ästhetischen Entwicklung wird«. Er zeigt, wie in der frühesten, mütterlichen Erziehung diese innere Übereinstimmung und wechselseitige Unterstützung sich natürlich anbahnt; er sondert dann von dieser (wie früher schon bemerkt) die eigentümliche Aufgabe der Schulerziehung. Und er begreift als den natürlichen Ausgangspunkt der eben hier nötig werdenden »Erziehungsgymnastik« eine planmäßig eingeleitete und geordnete, anatomisch und physiologisch wohlberechnete Gelenkübung, mit dem letzten Ziel, »der Vernunft und dem guten Willen des Zöglings eine der Natur und den Gesetzen des Körpers angemessene, aber nach diesen Gesetzen unbedingt freie und selbständige Herrschaft über denselben zu verschaffen«, die ihn fähig mache, »jedem Gebot der Pflicht zu gehorchen«. Er trifft damit nicht nur, sondern übertrifft noch, was Fichte in der »Gertrud« vermißt hatte; es ist ganz die Platonische Auffassung der Gymnastik, die er damit in ihre vollen Rechte wieder einsetzt. Er ist damit zwar nicht sofort durchgedrungen; es traf genau ein, was er vorausgesagt hatte, daß man die von ihm vorgeschlagenen Übungen zu einfältig und kindlich finden werde; mehr als das, man fand sie kleinlich, langweilig und pedantisch. Jahn besonders war diese bloße »Rührkunst« viel zu gering; und Raumer schilt in seiner gemütlichen Weise das »unselige Elementarisieren«. Doch hat sich dank dem dauernd warmen und liebevollen Interesse der deutschen Schulmänner für die Körperbildung das Richtige schließlich von selbst durchgesetzt. Wenn, besonders seit Spieß, die sogenannten Freiübungen als die elementare Grundlage des Turnens nicht mehr bestritten werden, so ist das, nach einer Seite wenigstens, genau das, was Pestalozzi gewollt hat. –
Doch über alle noch so bedeutenden Einzelheiten hinaus, über die hier nur sehr unvollständig berichtet werden konnte, wird Pestalozzis Name im Gedächtnis unseres Volkes und aller Völker, die in dem edlen Streben nach echter Menschenbildung mit dem unseren wetteifern, unvergeßlich leben, dank der Genialität des Herzens und der Tiefe des Verständnisses der Menschenseele und besonders der Kindesseele, die in unerschöpflichem Reichtum aus seinen Schriften uns entgegentritt. Unser Bericht konnte von diesem Geist und dieser Tiefe nur von ferne etwas ahnen lasten. Sollte er erreicht haben, daß der Leser nun erst recht das Verlangen trägt, Pestalozzi selber zu hören, so ist seine Absicht erfüllt.