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Zweites Kapitel.

Die Prinzipien der Pestalozzischen Pädagogik.

§ 1. (Die Ausgabe eines Systems der Pestalozzischen Pädagogik.)

Gibt es ein System der Pädagogik Pestalozzis? In dem Sinne freilich nicht, daß er selbst seine Gedanken über Erziehung zu einem System ausgebaut und ein solches in seinen Schriften vorgelegt hätte. Seine Denkrichtung war von Haus aus nichts weniger als systematisch. Oft hat er ausgesprochen, daß seine Ideen ihm stets aus den Erfahrungen seiner Erziehungsarbeit hervorwuchsen, und daß er nur darum ihnen etwas zutraute, weil sie das unmittelbare Resultat seiner Erfahrungen und somit als »Tatsache« ihm bewährt waren. Zu ihrer abstrakt logischen Verarbeitung mangelte ihm, wie er selbst am besten wußte und oft bis zur Übertreibung ausgesprochen hat, die genügende theoretische Schulung; dazu hielt er beinahe jeden andern, hielt er namentlich seinen Niederer für viel geschickter als sich selbst, dem das Theoretisieren stets sauer fiel, der nur mühsam sich zu einiger begrifflicher Klarheit über seine eigenen Grundsätze durchzuringen vermochte.

Aber das hindert nicht, daß in Pestalozzi eine natürliche Philosophie arbeitet, wie überhaupt in jedem echten Genie. Denn schöpferisch ist nur der Geist, der zu den Ursprüngen der Wahrheit herabsteigt. Das aber und nichts anderes ist Philosophie. Versteht man darunter gemeinhin mehr die analytische Arbeit, welche den Zusammenhang aller abgeleiteten Gestaltungen des Menschengeistes mit den letzten erreichbaren Ursprüngen derselben in logischen Formen darzustellen bemüht ist, so wäre doch all solches analytische Treiben leer und unfruchtbar, wenn nicht die Analyse ihr sicheres Fundament hätte in den ursprünglichen, schöpferischen Synthesen, in denen die menschliche Erkenntnis, in denen das, was man kurz zusammenfassend den Menschengeist nennt, allein lebendig wirksam ist.

Daß das letzte Schöpferische im Menschen eben der »Geist«, das heißt der Gedanke ist oder die Idee, dessen ist sich Pestalozzi wahrlich bewußt gewesen. Die Rechenschaft aber von dem Gedanken, der Idee, als den Schöpfern ihrer Gegenstände, heißt Philosophie. Und so hat Pestalozzi die Aufgabe, die durch die Eigenart seiner Anlage und seines Interesses am Menschen, besonders am werdenden Menschen ihm gestellt war, als philosophische stets anerkannt und ausdrücklich bezeichnet. Schon in dem ersten bedeutenden Dokument seiner Forschung, der »Abendstunde«, fragt er nach der Wahrheit, die, aus dem »Innersten unseres Wesens« geschöpft, »allgemeine Menschenwahrheit« sei; nach einer wahren, beruhigenden Weisheit, die »einfach und allgemein anwendbar« sei. Nach einem Briefe des Jahres 1785 ist er bemüht, die »allgemeine Theorie der echten Menschenführung« in helleres Licht zu setzen. Er arbeitete damals an dem Abschluß seines Romans; an dessen Ende aber, wie dann auch in der zweiten Bearbeitung, sehen wir ihn bestrebt, über die »Philosophie« (das heißt, den theoretischen Ertrag) seines Buches sich klar zu werden. In den »Nachforschungen« sodann will er zwar »weder von der Philosophie der Vorzeit noch von derjenigen der Vergangenheit irgend eine Kunde nehmen«; aber doch bezeichnet er eben dies Buch brieflich schon vor der Veröffentlichung als die »Philosophie seiner Politik«; er freut sich, durch Fichte überzeugt zu sein, »sein Erfahrungsgang habe ihn im wesentlichen den Resultaten der Kantischen Philosophie nahegebracht«; und Herder als Rezensent nennt das Buch, indem er auf seine ja offenkundigen Beziehungen zu Rousseau hinweist, doch seinem Grundcharakter nach »die Geburt des deutschen philosophischen Genius«. Daß es den Charakter einer Philosophie – und zwar einer »Philosophie der Politik« im höchsten Sinne: der Gemeinschaft als Erziehung und der Erziehung als Gemeinschaft – wirklich hat, daß es eine abstraktive Methode, nächst verwandt der Platos im »Staat«, befolgt, ist unbestreitbar. Daß es aber eine höchst unklare Philosophie, ein »Galimatias« sei, haben nur Nichtphilosophen behauptet; gerade die am meisten philosophischen Leser haben, von Herder und Fichte an, das Gegenteil gefunden. Nur analytische Deutlichkeit ist es, die ihm mangelt; die Synthese ist von großer Tiefe und bis auf weniges auch, wie alles wahrhaft Tiefe, von einfacher Klarheit. Immerhin hatte dieser direkt philosophische Anlauf für ihn nur die Bedeutung einer Episode; er wäre schwerlich dazu gekommen ohne die lange unfreiwillige Unterbrechung seines praktischen Wirkens. Aber auch auf der Höhe der von Stanz ab mit verdoppelter Energie wieder aufgenommenen Erzieherarbeit vermißt und sucht er (nach einem Briefe an Wieland 1801) im Gegensatz zu jeder zerstückten Behandlung der Erziehungsfragen »Fundamente für den ganzen Menschen«; er strebt und glaubt (in der »Gertrud«) die »unwandelbare Urform der menschlichen Geistesentwicklung« zu entdecken; er möchte die Gesetze des Unterrichts aus der »Natur unseres Geistes« herleiten usf. Er hat dann die Aufgabe der philosophischen Rechtfertigung seiner »Methode« zwar dem gründlich philosophisch geschulten Niederer anheimstellen wollen, dem er geradeswegs zutraute, daß er ihn sogar besser verstehe, als er sich selbst verstand. Auch wäre es irrig zu behaupten, daß dieser die Ideen seines schwärmerisch verehrten Meisters nicht auch im wesentlichen zutreffend aufgefaßt hätte, wenngleich er hernach durch Hineintragung neu-idealistischer, besonders Schellingscher Gedanken sie einigermaßen aus ihrer ursprünglichen Richtung gebracht hat. Pestalozzi hat dies, nachdem er eine Zeitlang ihm beinahe blind vertraut hatte, später selbst stark empfunden und nun, zumal unter der Einwirkung Schmids, sich schroffer, als in der Sache begründet war, von ihm losgesagt. Aber selbst jetzt, z.B. in der Geburtstagsrede von 1818, behauptet er mit größtem Nachdruck den Wissenschaftscharakter der von ihm angestrebten Erziehungsmethode, wenn er auch fern ist von dem Anspruch, im Besitz dieser gesuchten Wissenschaft zu sein. Ja selbst aus der bitteren Stimmung heraus, in der das schließliche Scheitern seiner praktischen Unternehmungen ihn zurückließ, selbst in der Zeit seines tiefsten Mißtrauens nicht nur gegen Niederer, sondern gegen seine eigene philosophischere Periode, im »Schwanengesang«, vermag er dennoch den philosophischen Grundzug seines Bestrebens nicht zu verleugnen. Auch jetzt noch, ein Jahr vor seinem Tode, hofft er die Erziehungslehre auf »tiefgreifende psychologische Grundsätze«, auf die »ewigen Gesetze der Menschennatur« gegründet zu haben, und verspricht sich alles von einer »immer wachsenden Klarheit der Theorie« der Erziehung, ohne welche alle einzelnen Bemühungen um diese »durchaus kein Fundament eines inneren, sich untereinander gegenseitig unterstützenden und belebenden Zusammenhanges« haben würden. Und wenn er in der Vorrede der Cotta-Ausgabe der »Gertrud« gegen die »der praktischen Ausführung vorgeschrittene und sie weit überflügelnde und hinter sich zurücklassende Deduktionsansicht« Niederers sich allerdings verwahrt und im Gegensatz dazu erklärt, den Weg seiner »Empirik«, der der Weg seines Lebens sei, fortwandeln zu wollen, so betont er doch unmittelbar in demselben Zusammenhang, daß sein Tun »doch nicht völlig nur ein blindes Tappen nach wirklich nicht begriffenen Erfahrungen war«; er hofft vielmehr, es werde auch in seinem empirischen Gang in Rücksicht auf seinen Gegenstand »einiges (als) philosophisch begründet klar« geworden sein, was auf irgendeinem anderen Gang nicht leicht zu der gleichen Klarheit hätte gebracht werden können. Auch die analytische Form der Deduktion hat er damit schwerlich überhaupt und grundsätzlich ablehnen wollen. Wenn er z. B. in der Denkschrift von 1802 seine »endlichen Schlußsätze gänzlich, nur auf vollständige Überzeugung oder wenigstens auf vollkommen eingestandene Vordersätze gründen« will, so strebt er unleugbar eine deduktive Begründung der Erziehungslehre an. Die geradezu wegwerfenden Selbsturteile Pestalozzis über seine philosophische Begabung aber (er sei für das eigentliche Philosophieren seit seinen zwanziger Jahren zugrunde gerichtet u. dgl.) sind nicht zu buchstäblich zu nehmen und dürfen für unser Urteil nicht maßgebend sein. Das »eigentliche«, nämlich analytische Philosophieren war allerdings nicht seine Sache, er hat es darin nie zu irgendeiner routinemäßigen Gewandtheit gebracht; aber fast in allen seinen Schriften finden sich Ausführungen, die auch strengeren Anforderungen in dieser Hinsicht genügen. Es haben doch die philosophisch Höchstgebildeten seines Zeitalters – wie Herder, Fichte, Schelling, Herbart, Fröbel, Nicolovius, Süvern, Fischer, Stapfer, Ith, Grüner u. v. a. – keine geringe Aufgabe darin gesehen, seine Ideen gründlich zu durchdenken, allerdings auch sie zu größerer analytischer Klarheit erst durchzuarbeiten. Es haben schöpferische Gelehrte wie Karl Ritter und Jakob Steiner aus seinen in philosophischer Tiefe begriffenen Ideen die Anregung zu Forschungen geschöpft, die ganzen Wissenschaften neue Bahnen gewiesen haben. Überhaupt sein ganzes Zeitalter hat ihn philosophisch genommen; gewiß, weil es ein philosophisches Zeitalter war; aber eben ein solches hätte der Unphilosoph, den manche aus ihm haben machen wollen, unmöglich anziehen, es hätte nicht in ihm sich wiederfinden können, wenn nicht etwas von Philosophie in ihm selbst lag. Nur eine unphilosophische Zeit hat das Philosophische in ihm verkennen können; seitdem aber Interesse und Verständnis für Philosophie bei uns wieder im Aufsteigen ist, findet auch der Philosoph in Pestalozzi mehr und mehr wieder die Beachtung, die er beanspruchen darf.

Liegt aber eine Philosophie in Pestalozzis Erziehungslehre, so ist es eine unabweisbare Aufgabe, sie auch so rein als möglich herauszuarbeiten; selbst auf die Gefahr eines gewissen »Konstruierens«; eine Gefahr übrigens, die, wer sie kennt, auch wohl wird vermeiden können, einfach, indem er sich strengstens an Pestalozzis eigene Aussprüche hält und nur bemüht ist, das Zerstreute zu sammeln, das nicht in ausgesprochenem logischem Zusammenhang in seinen Schriften Vorliegende in den an sich in der Sache gegebenen Zusammenhang auch hineinzustellen.

Das also soll im folgenden unsere Aufgabe sein.

§ 2. (Das Grundprinzip der Pestalozzischen Pädagogik und seine Momente.)

Gibt es ein System der Pädagogik Pestalozzis, so muß es auch ein Prinzip derselben geben, ein einziges zuletzt; denn wo nicht ein Prinzip, da ist im strengen Sinne auch nicht ein Prinzip erreicht.

Zwar ist die Forderung der absoluten Einzahl des Prinzips nicht ganz unbedenklich. Zu oft hat die Metaphysik sich und ihre Adepten damit betrogen, daß sie eigensinnig alles auf eine einzige Voraussetzung stützen wollte. Entspringt doch ein starker Strom niemals aus einem einzigen Quell. Aber in dem Sinne doch ist die Forderung der Einheit des Prinzips begründet, daß es ein einziger, zwingender Zusammenhang untrennbar unter sich verbundener Gedankenmotive sein muß, auf den sich zuletzt alles zurückführt. Eine Einheit des Prinzips in diesem Sinne aber läßt sich für Pestalozzis Pädagogik in der Tat behaupten.

Das Wort, in dem er sie, zwar unbestimmt genug, zum Ausdruck zu bringen liebt, ist das Rousseausche Schlagwort » Natur«. Den »Weg der Natur« sucht Pestalozzi schon in der Erziehung seines Söhnchens zu befolgen; das »Buch der Natur« (ein vollends Rousseauscher Ausdruck) ist seine Richtschnur in der »Abendstunde«, wo überhaupt das Wort »Natur« fort und fort, und stets in bedeutungsvollem Zusammenhang, auftritt. Von da an aber zieht sich dieses Wort durch alle seine Schriften; wie in der Frühzeit, so faßt sich nochmals in seiner letzten Periode in ihm das Ganze seiner Absicht zusammen. Nachdem die von Niederer am stärksten beeinflußte Darstellung seiner Prinzipien, die der Lenzburger Rede, ihn nicht mehr befriedigt, gedenkt er (brieflich seit 1811) in einem Buche von der » Naturgemäßheit der Erziehung« nochmals das Ganze seiner Grundsätze darzulegen. Wirtlich lautet so das Thema der letzten zusammenfassenden Darstellung, seiner Erziehungslehre im »Schwanengesang«.

Die Vieldeutigkeit dieses Wortes ist gerade darum kein Schade, weil das »Prinzip« einer Erziehungslehre notwendig mehrere Seiten hat. Es kommt nur darauf an, genau auszumachen, was alles in diesem Prinzip der Naturgemäßheit für Pestalozzi eingeschlossen liegt. Eine Stelle aus der letzten Bearbeitung des Romans (S. XI, 395) läßt den Reichtum der Gedankenmotive, die in diesem einen Wort anklingen, wenigstens ahnen. Er fordert hier vor allem die rechte » Grundbildung«. Es sei vergeblich, bloß einzelne Unterrichts- und Bildungsgegenstände befördern zu wollen, ohne ihr Ganzes gemeinsam mit einem Blick ins Auge zu fassen (hier die klare Forderung der Einheit des Prinzips). Aber man gehe meist zu Werke ohne einen Begriff von der Menschenbildung im reinen Sinn des Worts, ohne Umsicht über das ganze Wesen der Erziehung und Aufmerksamkeit auf ihre ersten Fundamente, auf den Zusammenhang aller Bildungsmittel und Bildungsanstalten unter sich selber und ihrer innere Übereinstimmung mit dem Naturgange, nach welchem alle Kräfte unseres Geschlechts nach ewigen Gesetzen entfaltet werden, sowie mit der Wahrheit der Lage und der Umstände eines jeden Individuums, dessen Kräfte durch die Erziehung entfaltet werden sollen. In diesen Sätzen, in denen jedes Wort bedeutsam ist, kann man so ziemlich alles vereinigt finden, was wir im folgenden uns in fünf Einzelpositionen auseinanderlegen. Es wird gefordert: erstens das Ausgehen aller Bildung von den eigenen Kräften des zu Erziehenden (wenn geredet wird von einem » Naturgang«, nach welchem alle »Kräfte unseres Geschlechts« nach ewigen Gesetzen »entfaltet« werden); wir nennen es das Prinzip der Spontaneität der Bildung. Es wird zweitens ein methodischer Gang dieser Selbstentfaltung des Menschengeistes vorausgesetzt (ein » Naturgang« nach »ewigen Gesetzen«), von den wahren Elementen (hier: Fundamente) aus in geregeltem, stetigem Fortschritt bis zur Vollendung in einem »Ganzen« (hier: das Ganze der Erziehungsgegenstände, das ganze Wesen der Erziehung): das Prinzip der Methode. Weniger deutlich kommt gerade an dieser Stelle das Dritte zum Ausdruck: der durch jene zwei ersten Voraussetzungen bedingte lebendige Tatcharakter der Bildung, den Pestalozzi am liebsten mit dem Wort » Anschauung« bezeichnet. Dies verbirgt sich hier in dem einzigen Worte » Kräfte«; denn diese Kräfte sind in ihrer Betätigung, nicht als tote »Vermögen« zu denken. Indirekt übrigens liegt es – wie sich künftig eigen wird – mit in dem Hinweis auf die besonderen »Lagen« und »Umstände« des Individuums. Wir nennen es das Prinzip der Anschauung. Diese drei Prinzipien zunächst beschreiben sozusagen den Lebensprozeß der Bildung im ganzen: nach seinem Ursprung überhaupt, nach seiner gesetzmäßigen Entwicklung, und nach dem unmittelbaren Inhalt, der vollen Aktualität jedes einzelnen seiner Momente. Sie finden auf alle Bildung unterschiedslos, auf ihr Ganzes wie auf jedes Einzelglied der Bildungsarbeit Anwendung. Weiter bedarf es nun (viertens) eines Prinzips eben für die Gliederung des Bildungswerks nach seinen mannigfachen Seiten oder Richtungen. Gewöhnlich wird es von Pestalozzi ausgesprochen als das Prinzip der gleichmäßigen, harmonischen Entfaltung der menschlichen »Kräfte«, die er regelmäßig, ihrer obersten Einteilung nach, durch die Trias "Kopf, Herz und Hand« ausdrückt. Die obigen Sätze deuten auch darauf hin, indem sie die Entfaltung »aller« menschlichen Kräfte nach »gemeinsamem« letztem Gesetz und in strengem »Zusammenhang«, in »innerer Übereinstimmung« untereinander fordern. Wir nennen es mit einem anderwärts von Pestalozzi gebrauchten Ausdruck: das Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte. – Alle vier Prinzipien wurden hier vorerst in ausschließlicher Beziehung auf den zu bildenden Einzelnen verstanden. Alle Erziehungsarbeit aber vollzieht sich auf dem Boden der Gemeinschaft. Somit sei als letztes, fünftes Prinzip das der Gemeinschaft aufgestellt. (Darauf weist in den obigen Sätzen besonders die Bezugnahme auf die unterschiedlichen »Lagen« und »Umstände« des »Individuums«, nämlich innerhalb der menschlichen Gemeinschaft; besonders das Wort »Umstände« bedeutet bei Pestalozzi stets dies mit.)

In nicht wenigeren als diesen fünf Momenten dürfte das Grundprinzip der Pestalozzischen Pädagogik, welches er das Prinzip der »Naturgemäßheit der Erziehung« nennt, sich umschreiben lassen. Unter diese aber wird der wesentliche Gehalt seiner Erziehungsideen sich erschöpfend gruppieren lassen; das heißt, diese fünf Momente sind zur Begründung der Pädagogik Pestalozzis sowohl notwendig als hinreichend. Wir benennen sie nochmals in Kürze als:

  1. das Prinzip der Spontaneität,
  2. das Prinzip der Methode,
  3. das Prinzip der Anschauung,
  4. das Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte,
  5. das Prinzip der Gemeinschaft.

Es sollen nun diese fünf – nenne man sie Prinzipien oder Momente des einen Prinzips der Naturgemäßheit einzeln erwogen werden, so aber daß zugleich ihre zwingende Zusammengehörigkeit und wechselseitige Ergänzung deutlich wird.

§ 3. (Das Prinzip der Spontaneität.)

Das erste Prinzip besagt in Kürze: daß alle Bildung des Menschen im letzten Grunde Selbstentfaltung seiner Kräfte, nicht Mitteilung oder Aufprägung einer gewissen Form von außen, sei es von den Dingen oder von anderen Menschen, als seinen Bildnern, sei. Die Dinge könnten ihm allenfalls nur den zu verarbeitenden Stoff liefern, und die freilich nötige Hilfe des Anderen kann und soll stets nur »Hilfe zur Selbsthilfe« sein.

Schon in Rousseaus Naturevangelium schlummerte, und schlummerte kaum nur, diese Einsicht, Schon ihm ist Bildung wesentlich Selbstentwicklung ( développement interne). Vollends bei Pestalozzi bedeutet die »Natur«, die den Menschen bilde, weit an erster Stelle die eigene Natur des Menschen; sie bedeutet das, was in seiner Bildung vom eigenen Gesetz seines Wesens abhängt und daher unabänderlich gilt, im Unterschied von allem, was durch wandelbare äußere Umstände bestimmt, daher an sich überwindlich ist und im Fortgang seiner Entwicklung überwunden werden muß. Man kann es daher auch das Prinzip der Autonomie (Selbstgesetzgebung: daß der Mensch sich nach den eigenen Gesetzen seines Wesens bildet) nennen.

Schon in den Aufzeichnungen über die Erziehung seines Söhnchens sagt Pestalozzi: das Kind soll so viel als möglich selber tun, selber finden; gleichbedeutend: der Erzieher soll wissen, daß die Natur es besser lehrt als Menschen. Freiheit ist darum die Luft, in der die Erziehung allein atmen kann; auch der notwendige Gehorsam muß in freiem Zutrauen gegründet sein. In der »Abendstunde« sodann heißt es: »Auf welchem Wege, auf welcher Bahn werde ich dich finden, Wahrheit, die mein Heil ist und mich zur Vervollkommnung meiner Natur emporhebt? Im Innern meiner Natur ist Aufschluß zu dieser Wahrheit. Alle Menschheit ist in ihrem Wesen sich gleich und hat zu ihrer Befriedigung nur eine Bahn. Darum wird die Wahrheit, die rein aus dem Innersten unseres Wesens geschöpft ist, allgemeine Menschenwahrheit sein ... Alle reinen Segenskräfte der Menschheit sind nicht Gaben der Kunst und des Zufalls, im Innern der Natur aller Menschen liegen sie mit ihren Grundanlagen« usw. »Natur« bedeutet hier ersichtlich: Spontaneität, Autonomie. Sie steht über aller Willkür und »Kunst« des einzelnen Menschen oder besonderer gesellschaftlicher Ordnungen und Klaffen; aber sie ist nichts über dem Menschen, sondern der Ausdruck seiner eigenen inneren Schöpfungskraft.

Unmittelbar aus dieser eisten Voraussetzung folgert Pestalozzi, schon in diesen Sätzen selbst, die Allgemeinheit der menschlichen Bildung; Allgemeinheit in doppelter Bedeutung: als inhaltliche Gemeinsamkeit der »menschlichen« – das heißt fortan prägnant: aus dem Wesen, aus der »Natur« des Menschen fließenden – Bildung, und als geforderte Allgemeinheit der Ausbreitung dieser wahren Menschenbildung auf alle Glieder und Schichten der Menschheit. In jedem einzelnen soll die Bildung seiner inneren Kräfte die Richtung nehmen auf das, was seinem Wesen nach allen gemein ist und darum auch allen gemein werden kann; und für die vielen soll eben damit die Bildung wenigstens in der Grundlage gemeinsam, für alle dieselbe werden, wenn auch dann auf dieser gemeinsamen Grundlage sich nach den besonderen Lebensaufgaben differenzieren. Dieser absichtliche Doppelsinn der »allgemeinen« Bildung spricht sich deutlich aus in dem Satze: » Allgemeine Emporbildung dieser inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschen«. Dagegen »Übung, Anwendung und Gebrauch seiner Kraft in den besonderen Lagen und Umständen der Menschen ist Berufs- und Standesbildung. Diese muß immer dem allgemeinen Zweck der Menschenbildung untergeordnet sein«. Denn »wer nicht Mensch ist, in seinen inneren Kräften ausgebildeter Mensch ist, dem fehlt (die) Grundlage zur Bildung seiner näheren Bestimmung und seiner besonderen Lage«.

Etwas mehr im Hintergrund bleibt das Prinzip der Spontaneität in »Lienhard und Gertrud«; konnte doch sogar der Schein entstehen, als ob hier die »allgemeine« Menschenbildung gegen die Arbeits- und Berufsbildung ganz zurückgedrängt werde. Aber bei näherem Zusehen schwindet dieser Schein. »Die Umstände machen den Menschen«, aber der Mensch macht auch wieder die Umstände. » Von Natur« – so philosophiert er in deutlicher Erinnerung an Rousseau, aber über diesen doch wesentlich hinausgehend – »von Natur ist der Mensch weder gut noch vernünftig; eben deshalb muß die Gesellschaft aus ihm etwas ganz anderes machen, als er von Natur ist.« Sie muß ihn »durch Einrichtungen, Sitten, Erziehungsarten und Gesetze, die ihn in seinem Innersten verändern und umstimmen, in das Geleise einer Ordnung hineinbringen, die wider die ersten Triebe seiner Natur streitet... Das aber fordert die ganze Weisheit eines die menschliche Natur tief kennenden Gesetzgebers, den Menschen dahin zu bringen, daß er beim Werk seines bürgerlichen Lebens und bei Verrichtung seiner Berufspflichten eine das Innere seiner Natur befriedigende Laufbahn finde ... Dieses Geschlecht wird nicht anders und nicht besser, als wo es durch eine mit seiner Natur übereinstimmende Bildung und Führung mit Weisheit zu seiner bürgerlichen Bestimmung emporgehoben und zu dem gemacht wird, was es in der Welt wirklich sein soll.« – Hier sieht man klar vor Augen, wie vielsinnig das Wort »Natur« für Pestalozzi ist. Einmal heißt der »Naturmensch«, wie vielfach bei Rousseau, das sich selbst überlassene, wild aufwachsende, bloße Triebwesen (die »ersten Triebe seiner Natur«); das andere Mal handelt es sich um das »Innere« seiner Natur (wir fanden denselben Ausdruck in der »Abendstunde«), das heißt um seine vernünftige, seine sittliche Natur, die der sinnlichen gerade entgegengerichtet, aber darum nicht weniger, sondern weit mehr als diese sein eigenes Wesen ist. Im Grunde ist es der schlichte Unterschied des dem Augenblick haltlos hingegebenen und des Menschen, der »unterscheidet, wählet und richtet« und so »dem Augenblick Dauer verleiht«. Gerade die Ordnungen der Wirtschaft und des Rechts, ebenso wie die der gemeinen Zucht und Sitte, die für die wilde Natur des Menschen harter Zwang sind, dienen der Entbindung seiner höheren Natur; auf der ideal höchsten Stufe aber würde jeder Zwang der »Heteronomie« (Fremdgesetzgebung) schwinden und ganz der Autonomie (Selbstgesetzgebung) Platz machen. Diese Entwicklung von der Heteronomie zur Autonomie ist die Erziehung des Menschlichen im Menschen, des Vernunftwesens aus dem bloßen Triebwesen. Die ganze in »Lienhard und Gertrud« vorgeführte soziale Erziehung, so vielseitig sie äußere Faktoren, insbesondere die Berufsarbeit und um ihrer willen die gesamten sozialen Ordnungen als Faktoren der Menschenbildung heranzieht, stellt daher dennoch zuletzt alles in die »Seelsorge« jedes Einzelnen für sich; sie soll zuletzt nur dienen, ihn zu befreien. Gerade deshalb kommt dabei aufs Arbeiten so viel an, weil es das eigene Tun des Menschen entbindet; und auch nur zur Befreiung der Eigentätigkeit dient die Staatshilfe. Gerade die »Stärke des Staats ruht darauf, daß seine Glieder Raum und Spielkraft und Reiz finden an Leib und Seele für sich selber zu sorgen«. Denn »es ist, wie wenn es nicht sein müsse, daß Menschen durch ihre Mitmenschen versorgt werden. Die ganze Natur und die ganze Geschichte rufen dem Menschengeschlecht zu, es solle ein jeder sich selbst versorgen, es versorge ihn niemand und könne ihn niemand versorgen, und das Beste, das man an dem Menschen tun könne, sei, daß man ihn lehre, es selber zu tun.« Goldene Worte hat auch das Buch »Christoph und Else« über die gesunde Selbstsorge jedes Standes für sich, von der zugleich das rechte gegenseitige Verhältnis unter ihnen allen hauptsächlich abhänge.

Wie schon in diesen frühesten Dokumenten deutlich zu erkennen ist, daß das Prinzip der Spontaneität für Pestalozzi an erster Stelle von der sittlichen Kraft im Menschen gilt, so kommt dies zu sonnenheller Klarheit in den »Nachforschungen«. Hier ist die Übereinstimmung mit Kant besonders greifbar eben in der Grundeinsicht, daß der Mensch als sittliches Wesen »Werk seiner selbst« ist, »sich selber das Gesetz gibt«, und daß, eben kraft dieses Charakters der Autonomie, der sittlichen Freiheit, der Mensch nie bloß als Mittel für fremden Zweck, sondern unbedingt als Selbstzweck zu achten ist. Jener Doppelsinn des Wortes »Natur«, der uns in dem Roman schon begegnete, liegt hier ebenfalls durchweg zugrunde: der niederen sinnlichen Natur des Menschen setzt das gesellschaftliche Leben zunächst tausendfältige Hemmung entgegen, ja verkrüppelt sie geradezu. Aber über beide »Stände« des Menschen, den natürlichen und den gesellschaftlichen, erhebt sich sein sittlicher Stand. Es sind deutlich die drei Stadien, der Anomie, der Heteronomie und der Autonomie: die Gesetzlosigkeit des bloßen Augenblickstriebes; das nur äußerlich verbindende Gesetz der Gesellschaft; das innerlich bindende Gesetz des eigenen sittlichen Bewußtseins. In jedem dieser Stadien zwar folgt der Mensch dem Gesetz seiner eigenen »Natur«, aber in jedem nach einer anderen Richtung. Auch der gesellschaftliche Stand nämlich ist der Ausdruck einer bestimmten Stufe der Entwicklung des Menschentums, der Stufe des »Vertrags« (oder »Verkommnisses«). Er selbst, »macht« die Umstände, die dann freilich ihn »machen« helfen. Auch positives, auf Gewalt gegründetes Recht und Unrecht, gegenseitige Verpflichtung und damit alle Formen des sozialen Lebens sind seine Schöpfungen, die, solange sie bestehen, freilich auf ihn eine kaum überwindliche Macht üben und vielfach der Entfaltung seiner höheren, sittlichen Natur ebenso entgegenwirken können, wie sie seine rohe sinnliche Natur hemmen und (wie gesagt) verkrüppeln; die aber zu ändern und zum Guten, nämlich zur reineren Entfaltung seiner sittlichen Natur zu lenken doch in seiner Macht steht. Darauf deutet er die Worte des Goetheschen Gedichts: »Nur allein der Mensch vermag das Unmögliche; er unterscheidet, wählet und richtet, er kann dem Augenblick Dauer verleihn«. »Er allein« (so erklärt es Pestalozzi) »vermag nicht auf dem Punkte der bloßen in sich befriedigten Sinnlichkeit stehen zu bleiben, er muß sich entweder darüber erheben oder darunter versinken. Er hat eine Kraft, Überlegung und Gedanken in sich selbst walten zu lassen gegen den Instinkt: dem Gesetze, das er sich selber gibt, unterworfen, unterscheidet er sich vor allen Wesen, die wir kennen«. – Die gänzliche Unabhängigkeit der sittlichen Kraft im Menschen von der »Natur« im niederen, tierisch triebmäßigen wie im bloß »gesellschaftlichen« Sinne ist es nach Pestalozzi auch, die in der Religion sich ausdrückt. Sie gerade wird daher von ihm strengstens im Sinne der Autonomie gedeutet; sie ist ganz des Menschen eigenes Werk. Der Mensch »will einen Gott fürchten, damit er recht tun könne«: Das Wesen der Religion »ist nichts anderes als das innere Urteil meiner selbst von der Wahrheit und dem Wesen meiner selbst«; nichts anderes als »der göttliche Funken meiner Natur, und meiner Kraft, mich in mir selbst zu richten, zu verdammen und loszusprechen«. So hieß es schon in »Lienhard und Gertrud«: »Der Mensch kennt Gott nur, insofern er den Menschen, das ist, sich selbst kennt«; und so formuliert die »Abendstunde« den tiefen Satz: »Gott ist die näheste Beziehung der Menschheit«. »Glaube an dich selbst, Mensch, glaube an den inneren Sinn deines Wesens, so glaubst du an Gott und Unsterblichkeit«. »Glaube an Gott ist Bahn der Natur zur reinen Bildung der Menschheit«; er ist »der Menschheit in ihrem Wesen eingegraben; wie der Sinn vom Guten und Bösen, wie das unauslöschliche Gefühl von Recht und Unrecht, liegt er unwandelbar fest als Grundlage der Menschenbildung im Inneren unserer Natur«.

Es ist sehr bemerkenswert, daß die Einsicht in den rein inneren, autonomen Grund der menschlichen Bildung Pestalozzi, ebenso wie einst Plato und auch wohl Kant, zuerst am Sittlichen aufgegangen ist und sich von da erst auf das Gebiet des »Verstandes« übertragen hat. Bestimmt wenigstens und voll bewußt vollzieht sich diese Übertragung erst mit dem erneuten Wirken Pestalozzis als Erzieher in Stanz und Burgdorf. In der unmittelbaren Erfahrung seiner Erzieherarbeit an den Geringsten der Geringen wurde es ihm leuchtend klar, daß der Gang der Erziehung weder vom Ökonomischen, noch sonst von etwas Äußerem ausgehen müsse, sondern daß es gelte, » erst ihr Inneres selbst zu wecken und zu beleben, um sie dadurch auch für das Äußere tätig, aufmerksam, geneigt, gehorsam zu machen«; getreu dem Grundsatz Jesu: »Macht erst das Inwendige rein, damit auch das Äußere rein werde«. Dies erstreckt sich nun aber sofort auf das Gebiet der Erkenntnis mit: der jetzt erst von Pestalozzi geprägte Begriff der »Anschauung« bedeutet besonders dies mit; es handelt sich dabei um das » Bewußtsein intuitiver Erfahrung«, wodurch »Hauptsätze der menschlichen Erkenntnis dem Lernenden » mit reiner Psychologie in die Seele gelegt«, »in ihrem Erkenntnisvermögen fest gegründet werden«, und so »sich ihnen selber als wahr darstellen« müssen. Das kann nicht sagen wollen: sie werden von außen in die Seele hineingebracht; sondern sie wurzeln im »Erkenntnisvermögen« ursprünglich; die Erziehung weckt nur die schlummernden, bringt sie zu sicherem »Bewußtsein«. Darum ist auch die Stimmung der so geleiteten Zöglinge (wie in der »Gertrud« im Rückblick auf Stanz gesagt wird) » nicht die Stimmung der Lernenden«, sondern die » aus dem Schlaf erweckter unbekannter Kräfte«. Gerade der Ausdruck der » psychologischen« Begründung der Erziehung und des Unterrichts will bei Pestalozzi dies und nur dies besagen: daß aus der eigenen Psyche des Lernenden das, was er lernen soll, herausentwickelt werden muß; daß auch die Hilfe des Lehrers dabei nur »Hilfe zur Selbsthilfe« sein kann und soll.

In voller Klarheit aber wird gleich im nächsten Dokument, der Denkschrift von 1800, die Form alles Unterrichts gegründet auf die » allgemeine Grundlage unseres Geistes«, vermöge welcher » unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfangen hat, in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist, zu einem Begriff, auffaßt«; so daß jedes Wort, jede Zahl, jedes Maß ein » Resultat des Verstandes« ist, das »von (aus) gereiften Anschauungen erzeugt wird«. Und weiter führt er dieses und alle anderen »Gesetze« des Unterrichts zurück auf ein letztes Zentrum: »auf den Mittelpunkt deines ganzen Seins, und dieser Mittelpunkt bist – du selber«. Denn »alles, was du bist, alles, was du willst, alles, was du sollst, geht von dir selber aus«. Auch hier finden wir die klarste Bestätigung dafür, daß die Spontaneität der Bildung ihm zuerst am Sittlichen klar geworden ist. Eben diese Sätze nun aber wiederholt er buchstäblich in der »Gertrud« und fährt fort: » sollte nicht auch meine Erkenntnis von mir selbst ausgehen«? Damit ist die Übertragung des Gesichtspunktes der Autonomie auf die Verstandesbildung ausdrücklich vollzogen. Er wiederholt ebenfalls den schon in der Denkschrift gebrauchten Vergleich der Selbstentfaltung des sich bildenden Geistes mit dem Wachstum des Baumes (ein Vergleich, auf den er öfter zurückkommt; besonders schön in der Rede Von 1818, S.X 430ff.): so wie aus dem Keime des Baumes Stamm, Äste und so fort hervorgehen, so (heißt es in der Denkschrift) muß aller Unterricht das Wesentliche eines jeden Erkenntnisfachs »unerschütterlich tief in das Wesen des menschlichen Geistes eingraben« usw. Allerdings ist hierbei noch einige Unsicherheit in der Fassung zurückgeblieben, indem jenes »Selbst«, in welchem die Gesetze der Verstandesbildung zuletzt ihre Wurzel haben, weiterhin (in der »Gertrud«) den »fünf Sinnen« gleichgesetzt wird. Aber daneben steht unmittelbar darauf wieder das Richtige: daß dieses »Selbst« vielmehr den »Mittelpunkt« bedeutet, »in dem sich deine Vorstellungen in dir selbst vereinigen«. Schon dies würde keinen Zweifel aufkommen lassen an dem klaren Idealismus der Grundansicht, der sich dann noch weiter in den Worten ausspricht: »Alles, was (vielmehr: wes) du dir von dir selbst bewußt bist, dessen bist du dir bestimmt bewußt; alles was du selbst kennest, das ist in dir selbst, und an sich durch dich selbst bestimmt«; also gehe die Kenntnis der Wahrheit bei dem Menschen von der Kenntnis seiner selbst aus usf.

Die philosophisch gebildeten Freunde wenigstens erkannten in Pestalozzis Ansicht sofort und ganz einmütig den Sinn des Kantischen » a priori« Nachweisungen s. Ges. Abhandlungen I, S. 168 ff.). Hat Pestalozzi selbst diesen Ausdruck (vielleicht absichtlich) vermieden, so finden sich doch dem nahe kommende. So bezeichnet er seine bekannten »Elemente«, Zahl, Form und Sprache, als » Vorkenntnisse«, von denen alle sonstige Erkenntnis der Gegenstände abhänge; und von den beiden ersten, die in der Tat allein auf vollen Apriori-Charakter Anspruch machen können, heißt es: das Kind müsse nicht nur früh eine runde und eine viereckige Sache als rund und viereckig benennen können, sondern es müsse, »wenn es möglich ist, beinahe noch voraus« den Begriff des Runden, des Vierecks, der Einheit als reinen Abstraktionsbegriff sich einprägen, damit es dann alles, was es in der Natur als rund, als viereckig, als einfach, als vierfach usw. antrifft, an das bestimmte Wort, das die Allgemeinheit dieses Begriffes ausdrückt, anschließen könne. Jedenfalls die beiden Kantischen Kriterien des Apriori, die Allgemeinheit und Notwendigkeit, werden von Pestalozzi fort und fort betont. Es fehlt auch nicht der wichtige und vielleicht allein schon entscheidende Satz, daß kraft der ursprünglichen Gesetzlichkeit unseres Anschauens es möglich ist, eine » das Ganze aller möglichen Anschauungen« umfassende Reihenfolge von Formen uns zu entwickeln, indem sie von ihrem » Ursprung« an (der geraden Linie in ihren mannigfachen Lagen) in streng gesetzmäßigem Gang sich » erzeugen«. Das ist der Grundsinn seines »ABC der Anschauung«, der hiernach sich wesentlich deckt mit dem des schönen Kantischen Vergleichs, daß wir (auf Grund des Apriori) die Erscheinungen »buchstabieren« müssen, um sie »als Erfahrung lesen zu können.« Völlig wird der Sinn dieses Pestalozzischen Prinzips mißverstanden, ja in sein Gegenteil verkehrt, wenn man unter seiner »Anschauung« die sinnliche Wahrnehmung, und diese als passive Entgegennahme von außen versteht. Pestalozzi sagt es doch ganz klar (im Anfang des zehnten und dann des elften Briefes in der »Gertrud«): die einzelne, für sich betrachtete »Anschauung« zwar, im Gegensatz (!) der »Anschauungskunst«, sei nur das bloße Vor-den-Sinnen-stehen des Gegenstandes; aber die Anschauungs kunst (das heißt, eben sein ABC der Anschauung) habe gerade die Bedeutung: unsere Vorstellung von Zahl und Form über dies Stadium des bloß passiven Entgegennehmens zu erheben; denn »es ist ein reiner Verstandesgang möglich; es ist meiner Natur möglich, alles Schwankende der menschlichen Anschauung zur bestimmtesten Wahrheit zu erheben; es ist ihr möglich, die Anschauung selber dem Schwanken ihrer bloßen Sinnlichkeit zu entreißen und sie zum Werk der höchsten Kraft meines Wesens, zum Werk des Verstandes zu machen«. Man beachte wohl: zum Werk, nicht bloß zum Werkzeug. So hieß es in den »Nachforschungen«: der Mensch als sittliches Wesen sei »Werk seiner selbst«, das heißt, er mache sich selbst dazu. So haben die besten seiner Zeitgenossen, so hat vor allem der große Mathematiker ihn verstanden, der unmittelbar aus der Schule von Iferten hervorging: Jakob Steiner. Er schöpfte aus dem Unterricht, den er dort erhalten hatte, die Überzeugung, in deren Fassung man den klaren Ausdruck des Kantischen Idealismus der Erkenntnis sofort wiedererkennt: daß in der Mathematik » der Mensch ein Gesetzgeber der Natur«, und daß das Vermögen des Menschen, die Gesetze der äußeren Anschauung vorher bestimmen zu können, das sei, was in der Mathematik des Raumes sich beweise.

Die gleiche Auffassung findet sich klar ausgesprochen in der Denkschrift Pestalozzis von 1802, in der Einleitung der Schrift »ABC der mathematischen Anschauung für Mütter« und sonst oft. In der Lenzburger Rede gehören zwar die auf diesen Punkt direkt bezüglichen Ausführungen des ersten Teils vielmehr Niederer an, sind also für Pestalozzi selbst nicht unbedingt beweisend. Dagegen wird der Grundgedanke in echt pestalozzischer Weise durchgeführt § 64 ff. Ausgehend von jenem »praktischen Urprinzip des Christentums«, daß es gelte »erst das Innere zu reinigen, damit das Äußere rein werde«, schildert er lebhaft den erhebenden Einfluß, den es auf das Kind hat, wenn es »ein ihm gegebenes geistiges Problem in sich selber aufgelöst hat und sich dieser Auflösung bewußt ist«: das Auge seines Zöglings gleicht dann dem »blitzenden Auge des griechischen Jünglings, wenn er sein heiliges Wort Heureka (Ich hab's gefunden!) aussprach.« Das allein ist der »rein menschliche Reiz zum Fortschritt« und der »der Menschheit wahrhaft würdige Lohn dieses Fortschritts«. Denn »die Menschennatur ist Gottes, sie ist eine göttliche Natur. Das Menschliche in unserer Natur wird nur durch das Göttliche, das in ihr liegt, wahrhaft entfaltet.« – Auch in der Schrift »An die Unschuld usw.«, desgleichen (wie schon gesagt) in der Geburtstagsrede von 1818 und in den Briefen an Greaves (bes. dem 21., 29. und 31. Brief) finden sich schöne Ausführungen, welche unwidersprechlich beweisen, daß Pestalozzi auch als Greis von dieser idealistischen Grundansicht noch ganz erfüllt war. Die letzten bedeutenden Zeugnisse dafür enthält die Neubearbeitung des Romans in der Cotta-Ausgabe. Es genügt daraus anzuführen, daß der Unterricht in der Geometrie wie in der Arithmetik » psychologisch« begründet werden soll, »um die geistige, eigentliche, die Form- (und Zahl-)verhältnisse innerlich fassende und schaffende reine Kraft zu begründen und zu entfalten«; daher die Kinder diese Verhältnisse »durch ihr innerlich gebildetes Erfindungsvermögen gleichsam durch sich selbst finden, in sich selbst entfalten«; wo der Ausdruck »Erfindungsvermögen« das vorige »innerlich fassen und schaffen« vortrefflich erläutert. Es ist besonders bemerkenswert, daß Pestalozzi auch hier an der reinen Spontaneität der Erkenntnis festhält, denn diese Äußerungen gehören der Zeit an, wo er nach vielverbreiteter Meinung die philosophischen Anwandlungen, die nur Niederers Einfluß verschuldet habe, glücklich wieder überwunden haben sollte. Allgemein heißt es von den Kindern der Gertrud: »Sie ergriffen alles, was sie ihnen zeigte, wie wenn sie nichts lernten, wie wenn es schon vorher in ihnen gelegen wäre. Es war aber auch so: ihr Lehren legte eigentlich nichts in sie hinein, es entfaltete nur die Kräfte, die in ihnen selbst lagen und durch welche sie das, was sie äußerlich erkannten, in sich selbst aufnahmen und als einen reinen Erwerb ihrer selbst und ihrer eigenen Kraft, und nicht als etwas fremdartig in sie Hineingelegtes, in sich selbst liegend erkannten.« Man fühlt hier, wie Pestalozzi sich kaum genug tun kann, die reine Spontaneität der Bildung zu bekräftigen. Die Erinnerung an Platos Erklärung des »Lernens« als eines Bei-sich-selber-findens liegt hier besonders nahe. – So wird dann das Kind »zum Enthusiasmus im Gefühl seiner selbst und seiner Kraft gebracht«; es lernt den Unterricht verstehen als das Mittel seiner Erhebung zur Selbständigkeit, und zwar allseitigen Selbständigkeit. Denn das Prinzip der Autonomie der Bildung erstreckt sich auf alle, je nach eigenen Gesetzen, doch harmonisch mit einander sich entfaltenden menschlichen Grundkräfte. Jede von diesen »entfaltet sich nach eigenen, ihr selbständig einwohnenden Gesetzen, vermöge einer, jeder derselben ebenso selbständig einwohnenden lebendigen Strebkraft nach ihrer Entfaltung«; jede dieser Strebkräfte ist »in ihrem Wesen selbständig und nach ihren eigentümlichen Gesetzen selbsttätig«; wie dann des genaueren für jede der drei Grundkräfte besonders und für die Vereinigung ihrer aller durchgeführt wird (s. u. § 6).

Von einer gewissen Abschwächung, welche die idealistische Grundansicht in den Schriften des 80jährigen Greises, dem Schwanengesang und der Langenthaler Rede erfährt, wird weiter unten beim Prinzip der Anschauung zu reden sein. Übrigens werden wir gerade aus dem Schwanengesang noch Ausführungen zu zitieren haben, die wieder ganz im idealistischen Sinne sprechen.

§ 4. (Das Prinzip der Methode.)

Das Prinzip der Spontaneität besagt nur, daß, nicht auch, wie alle menschliche Bildung aus der »Natur« des sich bildenden Menschengeistes hervorgehe; oder es sagt darüber nur so viel, daß es nach Gesetzen, schließlich nach einem einzigen Grundgesetze geschehen müsse. Ein Gesetz aber spricht aus, was in allen Fällen, unter allen wechselnden Umständen unausweichlich stattfindet. Allgemeinheit also und Notwendigkeit sind seine Kriterien. Ein Gesetz der menschlichen Bildung wird demnach besagen müssen: eine immer gleiche Art ihres Hervorgehens aus den inneren Quellen des sich bildenden Geistes; einen immer gleichen Gang, das ist eine Methode seiner Bildung; woraus weiter folgen wird die Regel eines immer gleichen Verfahrens dessen, der als Führer auf diesem Gang, das heißt als Lehrer und Erzieher, diese ihrem Wesen nach spontane Bildung doch zu überwachen und in gesunder Bahn zu erhalten die Aufgabe hat. Also führt das Prinzip der Spontaneität mit Notwendigkeit auf ein zweites Prinzip, das wir füglich das der »Methode« nennen können.

Von Methode, unter diesem Namen, ist bei Pestalozzi zwar erst seit Stanz und Burgdorf die Rede. Doch sind die Grundzüge seiner Methode schon früh erkennbar. Schon bei den ersten Erziehungsversuchen, die er mit seinem Söhnchen anstellt, forscht er nach einem »Wege« der Natur, und die Grundzüge des Unterrichtsverfahrens: das Ausgehen vom Einfachsten, Nächstliegenden, und dann lückenlose Fortschreiten, sind bereits deutlich zu erkennen. Man soll das Kind nicht Drei sagen lassen, bis es das Zwei ordentlich gekannt hat, von A nicht zu B gehen, bis das A ganz gekannt ist, und so in allem; keinen Schritt weiter, bis jede Lücke erfüllt ist; Ordnung, Vollendung, Vollkommenheit in allem! So ist das Fortgehen in der »einfalten Wahrheit« Natur und leicht. – Die hier schon so bestimmt angedeutete Gesetzlichkeit des allgemeinen Entwicklungsganges klingt auch in der »Abendstunde« an, besonders in der Stufenordnung der Gemeinschaftsformen. Der »Kreis« des menschlichen Wissens, heißt es dort, ist enge, und dieser Kreis fängt nahe um den Menschen her, um sein Wesen, um seine nächsten Verhältnisse an, dehnt sich von da aus, und muß bei jeder Ausdehnung sich nach diesem Mittelpunkt aller Segenskraft der Wahrheit (eben dem eigenen Wesen des Menschen!) richten. Hier schwebt statt des sonst vorwaltenden Bildes der linearen Fortschreitung das die Entwicklung viel treffender ausdrückende einer Fortschreitung in konzentrischen Kreisen (oder in der Spirale) vor. – Der Sache nach liegt dasselbe natürlich auch im Roman zugrunde; doch vermißt man eine deutlichere Ausführung darüber. Dagegen weisen die »Nachforschungen« auf den hier entscheidenden Gesichtspunkt schon durch ihren Titel: sie betreffen den » Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts«. Dieser »Gang« aber gestaltet sich hier fast im Hegelschen Sinne »dialektisch«: der gesellschaftliche Stand des Menschen verneint den natürlichen, und beide überwindet der sittliche; er überwindet sie, indem er sie zugleich vereint; hebt sie auf, genau im Hegelschen Doppelsinn der Verneinung und der Aufbehaltung kraft der Erhebung unter einen höheren Gesichtspunkt. Dieser logische Charakter der gedachten »Entwicklung« ist ebenso auffallend wie freilich die vollständige Abwesenheit des Bewußtseins dieses ihres logischen Charakters.

Selbst in dem Bericht über Stanz wird das Wort »Methode« nur erst gelegentlich und mit schwacher Betonung gebraucht (S. VIII 417): »Ich kannte keine Ordnung, keine Methode, keine Kunst, die nicht auf den einfachen Folgen der Überzeugung meiner Liebe gegen meine Kinder ruhen sollte. Ich wollte keine kennen.« Dafür tritt das Wort, welches das Unterscheidende der Pestalozzischen »Methode« fortan regelmäßig zu bezeichnen dient, das Wort »Elementarbildung«, hier zuerst und gleich mit starkem Nachdruck auf. Auch dieses Wort ist nicht schlechthin neu; es ist offenbar dem Sprachgebrauch der älteren, rationalistischen Pädagogik entlehnt; es war, ebenso wie das Wort »Methode«, den Philanthropinisten geläufig und ist gewiß von da her auf Pestalozzi übergegangen. Doch ist der Zusammenhang mit diesen Vorgängern mehr ein kritischer: jene hatten keine wahre, » naturgemäße« Methode, obgleich sie sie suchten und zu haben vermeinten. Sie wollten elementar vorgehen, aber es gelang ihnen nicht, bis auf die wahren Elemente zurückzugehen, ja diese ganze Aufgabe einer Bildung von den Elementen aus, im strengen Sinne des Rückganges auf das Letzte, auf solche Anfänge, die zugleich Ursprünge bedeuten, war vordem noch gar nicht recht erkannt; mit den wahren Anfängen aber auch nicht das Gesetz des methodischen Fortschritts der Bildung. Das empfand Pestalozzi besonders stark, wie es hier erst galt, eine völlig neue Bahn zu brechen. »Je gelehrter und gebildeter die meisten Menschen waren ..., desto weniger verstanden sie mich, und desto unfähiger zeigten sie sich, die Anfangspunkte auch nur theoretisch festzuhalten, auf die ich zurückzugehen suchte«. Pestalozzi konnte also keine etwa schon vorhandene Art der Organisation des Unterrichts einfach übernehmen; er mußte »für die Ordnung des Ganges im Ganzen selbst noch ein höheres Fundament suchen und dasselbe gleichsam hervorbringen«. Ehe dies Fundament da war, war an keine » Organisation« des Unterrichts und des ganzen Lebens der Anstalt zu denken. »Ich wollte auch das nicht. Beides sollte statt eines vorgefaßten Planes aus meinen Verhältnissen mit den Kindern hervorgehen. Ich suchte auch darin höhere Grundsätze und bildende Kräfte«. Er suchte sie, wie wir schon vernahmen, in nichts Äußerem, sondern im »Innern« des Kindes selbst; das heißt: das Prinzip der Methode mußte aus dem der Spontaneität fließen. Er sucht die » Sicherheit der Fundamente«, von denen alle Kenntnisse, alles Wissen des Menschen ausgehen und auf denen sie (fort und fort) ruhen.

Das also versteht er unter » Elementarbildung«. Er unterscheidet: die sittliche Elementarbildung, die Elementarbildung des Lernens, und die des Arbeitens. Er sucht in jedem Fach die » einfachen Urgrundlagen«, so wie in der Sprache die Grundlaute; dann die » Urfügungen«, wie in der Sprache die einfachen Lautverbindungen. Und er strebt »das Unbedeutendste, so die Kinder lernten, zur Vollkommenheit zu bringen und nie in nichts zurückzugehen, sie kein Wort, das sie einmal gelernt hatten, vergessen, keinen einzigen Buchstaben, den sie wohl geschrieben, jemals wieder schlechter schreiben zu lassen«. So hofft er »die Vereinfachung aller Lehrmittel so weit zu treiben, daß jeder gemeine Mensch leicht dahin zu bringen sein könne, seine Kinder zu lehren, und allmählich die Schulen nach und nach für die ersten Elemente beinahe überflüssig zu machen.« Mit dem Wort » Psychologie«, »psychologisch«, »Psychologisieren« des Unterrichts bezeichnet er eben den strengen sachlichen Stufengang der Bildung: weil ja die zu erkennenden Wahrheiten dem Lernenden »in die Seele gelegt« oder »im Erkenntnisvermögen fest gegründet« werden müssen. Durch » psychologisch gut gereihte Erkenntnisse« schreitet das Gedächtnis fort usw.

Der Begriff der »Elemente« stammt weiter zurück wohl von Euklid, dessen großes Werk, aus dem das ganze Abendland seine Mathematik gelernt hat, unter eben diesem Titel »Elemente«, durch die Geschichte ging. Das griechische Urwort ist » prota«, erste, nämlich erste Sätze, an die alle folgenden sich anschließen, aus denen sie in lückenloser logischer Verkettung hervorgehen. In Kants Philosophie aber erhalten die Elemente den geklärten und vertieften Sinn der Grundfaktoren, der Ursprungs- vielmehr als bloßen Anfangspunkte der Erkenntnis. Diesen vollen Sinn haben die »Elemente« auch für Pestalozzi. Mit diesem ersten Erfordernis der Methode aber, dem Ausgehen von den wahren Anfängen, ist schon von selbst gegeben die zweite Forderung der stetigen Fortschreitung, der kontinuierlichen Entwicklung (» Lückenlosigkeit« ist der gewöhnlichste Ausdruck bei Pestalozzi und den Seinen), und die dritte des gesicherten Abschlusses allemal in einem erreichten » Resultat«, nicht um bei diesem dann starr zu verbleiben, sondern nur des Gewonnenen, als eines relativ »Vollendeten«, sich erst zu versichern, es in festen Besitz der Erkenntnis zu bringen, dann aber es wieder zur Basis eines weiteren Fortschritts zu gebrauchen. Dieser Dreischritt der »Methode« hat eine so zwingende innere Notwendigkeit, daß er, wo nur überhaupt in der Erziehungslehre nach Methode ernstlich gefragt wird, sich unausbleiblich einstellen wird. Zu einem »Weg« gehört eben notwendig ein Anfangs- und Endpunkt und ein stetiger Übergang von jenem zu diesem.

Vielleicht nur ein etwas zu einseitiger Nachdruck wird auf dies Grundgesetz der »Methode«, das in dem Ausdruck der »Elementarbildung« sich kurz zusammenfaßt, in den Schriften der Burgdorfer Zeit gelegt, besonders seit durch die Entdeckung des »ABC der Anschauung« im Mathematischen, in der Zahl- und Formenlehre das Prinzip der Methode seine glänzendste Bewährung gefunden hat. Dieser Ausdruck des »ABC« ist ja für die Grundabsicht der Methode wieder höchst bezeichnend: so wie alle Wörter der Sprache immer aus denselben einfachen Grundlauten, so müssen alle Verhältnisse der Zahl und der Form sich aus gewissen Urelementen gleichsam buchstabieren, das heißt konstruktiv aufbauen lassen. Es enthüllte sich ihm eben, wie einst Plato und Descartes und wiederum Kant, an dem ewigen Musterbeispiel des Mathematischen die Kraft der »Methode« überhaupt (wie denn auch eben dieses Wort bei den genannten drei Philosophen die gleiche fundamentale Bedeutung gewinnt): die Kraft (wie Pestalozzi sagt), »sich in jedem Fach durch sich selber weiter zu helfen«; denn die Methode wirkt gleich einem »Schwungrad, das nur angelassen werden muß, um seinen weiteren Lauf durch sich selber zu finden«. So wird die Methode »für einen jeden zum Spiel, sobald er den Faden ihrer Anfangspunkte in die Hand kriegt, der ihn sichert, sich nicht mehr in die Abwege zu verirren, welche die Kunst dem menschlichen Geschlecht allein schwer machen, indem sie ihre Fundamente in ihm selber verkennen und ihn von der Natur wegführen, die nichts von uns fordert, das nicht leicht ist, wenn wir es auf dem rechten Wege und nur an ihrer Hand suchen«. Überall sehen wir hier das Motiv der Methode mit dem der Spontaneität in enger Verknüpfung; das Wort »Natur« ist es, welches beide vereint.

Das Gesetz der Methode gilt aber nicht etwa bloß für die Mathematik; vielmehr muß zuletzt alle Erkenntnis unseres Verstandes auf einem einzigen Urgesetz beruhen, welches kein anderes ist und sein kann, als das Gesetz des Verstehens selber. Das wird zuerst klar in der Denkschrift von 1800, die das Wort »Methode« schon im Titel führt. Die ersten Seiten dieser Denkschrift (aus denen das Wichtigste bereits zum vorigen Paragraphen mitgeteilt worden ist) predigen in immer neuen Wendungen eigentlich nur dies. Von demselben Enthusiasmus der Methode ist denn auch die Hauptschrift dieser Periode, die »Gertrud« erfüllt. Wir kennen schon den Ausdruck der » unwandelbaren Urform der Geistesentwicklung«. Diese kann ihrem ganzen Sinn nach ja nur eine sein; und so legt Pestalozzi den stärksten Nachdruck auf die notwendige Einheit der Methode. Seine Methode sei »nicht die Lehre von tausenderlei einzelnen Wahrheiten, sondern Zurücklenkung zur (einen, unteilbaren) Wahrheit«. »Es gibt nicht und kann nicht zwei gute Unterrichtsmethoden geben, sondern nur eine, nämlich diejenige, die vollkommen auf den ewigen Naturgesetzen beruht.« Er will damit nicht behaupten, er habe die Gesetze dieses » reinen Verstandesganges« des Unterrichts in ihrer Vollendung dargelegt; doch darf er auf die » Sicherheit seiner Grundsätze« zuversichtlich bauen, die vollendete Entwicklung aber getrost der Zukunft des Menschengeschlechts anheimstellen.

Wir kennen auch schon den Ausdruck des Organisierens als gleichbedeutend mit dem des Psychologisierens; und auch den so anstößigen des Mechanisierens, des physischen Mechanismus. Wenn Pestalozzi glaubte, daß gerade mit diesem Wort »Mechanisieren«, welches ihm der französische Erziehungsrat Glayre an die Hand gegeben hatte, »der Nagel auf den Kopf getroffen« sei, so dachte er nicht an den gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern er gab – wie so oft – dem Wort seinen eigenen Sinn; übrigens einen ganz wohl verständlichen: man redet doch in der Logik von einem Aufbau auf Grundlagen, Fundamenten, einem Konstruieren und dergleichen; ganz diesen einfachen und naheliegenden Sinn gibt dem »Mechanisieren« die authentische Erklärung, die Pestalozzi wenige Jahre später (in der Vorrede zur Anschauungslehre der Zahlverhältnisse) gegeben hat: er meinte damit nichts als die » Ordnung aller Anschauungen in Reihenfolgen und das Ineinandergreifen derselben zu wechselseitiger Unterstützung«; wie etwa die Maschinenteile in bestimmter Weise angeordnet sein müssen, um ihrem Zweck gemäß ineinanderzugreifen. Auch der starke Ausdruck, daß wenigstens für die ersten Stufen des Unterrichts der Lehrer zum »bloßen mechanischen Werkzeug der Methode« werden müsse, will ausdrücklich nicht mehr besagen, als daß die Resultate der Methode » durch die Natur ihrer Formen und nicht durch die Kunst des sie leitenden Mannes hervorquellen müssen«; durch die Natur ihrer Formen, nämlich als der Formen, in denen der Inhalt der Bildung in dem sich bildenden Geiste selbst und durch ihn, aus seinen eigenen »Quellen« sich gestalten muß. Die Beiwörter »physisch« und »mechanisch«, wird man sagen dürfen, bezeichnen schlechtweg die Gesetzmäßigkeit im Aufbau des Bildungsinhalts. Das Wort »physisch« entspricht einfach dem Wort »Physis«, Natur; das Wort »Mechanismus« hebt besonders das Moment hervor, daß, eben zufolge des Hervorgehens aus einer und derselben Grundgesetzlichkeit unserer Natur, allemal die vorausgehenden Faktoren der Bildung die nachfolgenden, aber auch alle gleichzeitigen sich wechselseitig stützen und tragen müssen. Dagegen drücken die Beiwörter »psychologisch« und »organisch« allerdings deutlicher zugleich mit dieser Gesetzlichkeit das spontane Hervorgehen aus den eigenen inneren Quellen (Organen) der Psyche aus. Im »Mechanismus« liegt das nicht unmittelbar; aber es ist ebensowenig darin verneint, sondern im Grunde überall von Pestalozzi mitverstanden.

Das Grundgesetz aber, welches die »unwandelbare Urform der Geistesentwicklung« ausdrückt, kann kein anderes sein als das Gesetz der Synthesis, der synthetischen Einheit, wie es nicht erst Kant als das Grundgesetz des Verstehens überhaupt entdeckt hat. Die Form alles Unterrichts – hörten wir schon – gründet sich auf die »allgemeine Grundlage unseres Geistes, vermöge welcher unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfangen hat, in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist zu einem Begriff, auffaßt.« Die drei Grundforderungen der Methode: das Ausgehen von den Elementen, die lückenlose Fortschreitung, und die Vollendung in einem Ganzen, drücken deutlich dies selbe Gesetz aus. In schlichter, analytischer Form erkennen wir es wieder in dem Gang durch die drei Stufen: Erfassen des Einzelnen, dann Abwandlung durch eine Reihe, eine Mannigfaltigkeit verschiedener Momente, endlich Zusammenfassung in einem Ganzen, bis zur Einfügung in das schließliche »Ganze unseres Wissens überhaupt«. Schon v. Sallwürk hat hierin mit Recht die deutliche Vorausnahme des berühmten Herbartschen Stufenganges des Unterrichts gesehen, der auch bei diesem den Gang der »Synthesis« darstellt.

Die Allgemeingültigkeit der Methode und ihre unendliche Entwicklungsfähigkeit wird von Pestalozzi wiederholt behauptet. Durch die letztere besonders bleibt sie davor bewahrt, zur starren Schablone zu werden, da sie kraft dieser in ihr liegenden unbeschränkten Entwicklungsfähigkeit ja der genauesten Anpassung an jede Besonderheit des Bildungsinhalts und selbst an die Individualität jedes Einzelnen fähig sein muß. Dies kommt im »Schwanengesang« vortrefflich zum Ausdruck. Nur eine »innere« Gleichheit der Methode sei zu behaupten, heißt es dort sehr gut, nicht aber eine »äußere Gleichheit ihrer Ausführungsmittel« (das nennt also Pestalozzi nicht »Methode«!); vielmehr werde jeder einzelne Mensch diese Mittel nach der Verschiedenheit seiner Individualität anders als jeder andere ausführen. Vollendung zwar ist das Ziel; und damit, daß die Elementarbildung jeden einzelnen Schritt der Bildung zur Vollendung zu bringen strebt, ehe sie einen Schritt weiter geht, weckt sie in ihrem Zögling allgemein das Streben nach einer Vollendung, die dem Menschen freilich nicht beschieden ist. Ein vollendetes Gleichgewicht seiner Kräfte ist für den Menschen nicht möglich, die größtmögliche Näherung zum Gleichgewicht aber kann und muß für alle gefordert werden. – Man darf sagen: die Gefahr, daß die »Methode« sich zu einem äußerlichen Mechanismus verknöchere – eine Gefahr, der manche übereilte Anwendungen der Pestalozzischen »Methode« in den ersten Jahren vielleicht erlegen sind – ist hier wenigstens im Grundsatz klar überwunden.

§ 5. (Das Prinzip der Anschauung.)

Vgl. zu diesem Paragraphen die sechste der »Gesammelten Abhandlungen zur Sozialpädagogik«, aus der nur das Wichtigste hier wiederholt ist. Die Anerkennung der Anschauung als des »absoluten Fundamentes aller Erkenntnis« nennt Pestalozzi einmal (in der »Gertrud«, zu Anfang des 9. Briefes) den » obersten Grundsatz« des Unterrichts, mit dessen Aufstellung er die »durch die Natur selbst bestimmte Urform der menschlichen Ausbildung« zum erstenmal aufgedeckt habe. Danach könnte man versucht sein, das Prinzip der Anschauung geradezu als das (letzte, einzige) Prinzip der Pestalozzischen Pädagogik anzusehen. Wirklich ist es nur eine neue – also immer doch nur eine unter mehreren Wendungen des in der Tat einzigen und letzten Prinzips, auf welches auch in der eben mitgeteilten Stelle das Wort »Natur« hindeutet. Welche Seite am Prinzip der »Naturgemäßheit« also ist es, die das Wort »Anschauung« ausdrückt, und wie verhält sich diese zu den zwei Momenten, die wir als die Prinzipien der Spontaneität und der Methode schon kennen gelernt haben?

Das Prinzip der Anschauung ist der konkreteste Ausdruck des Pestalozzischen Grundprinzips. Die »Spontaneität« besagte nur allgemein, daß alle Bildung des Menschen »von ihm selbst ausgehe«; die »Methode« zeigte schon bestimmter den »Gang« – aber immerhin nur das allgemeine Gesetz des Ganges dieser Selbstbildung des Geistes; erst die »Anschauung« bezeichnet den vollen Tatcharakter dieser Selbstbildung. In ihr ist auch die Spontaneität und die Methode erst voll lebendig, weil tätig. Beide sind somit als logische Voraussetzungen in ihr eingeschlossen; sie sind wirklich nur in der Abstraktion von ihr zu trennen; in lebendiger Wirksamkeit existieren sie nur in ihr. Denn: » Im Anfang war die Tat

Es ist nicht ganz selbstverständlich, daß dies neue, wichtige Motiv sich gerade in dem Wort »Anschauung« ausprägt. »Anschauung« ist zunächst Übersetzung von » Intuition«. Dieses bezeichnete den Innenblick des Geistes, der oft genug, ja vielleicht überwiegend als ruhender Anblick, wenn nicht gar als passives (nur in den Innenraum der Seele verlegtes) Wahrnehmen, das heißt bloßes Entgegennehmen gleichsam einer inneren Offenbarung gedacht wurde. Zwar ihre letzte historische Wurzel hat wohl diese »Intuition« in der platonischen » Idee«, in der vielmehr der volle Sinn des aktiven Schauens, ja ursprünglichen Erschauens des Gegenstandes lag. Aber das war in dem » intuitus« des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit fast verloren gegangen; ebenso wie das Wort »Idee« selbst nur in der abgeschwächten Bedeutung der »Vorstellung« (allenfalls der »angeborenen« Vorstellung) fortlebte. Kant hat der »Idee« ihren ursprünglich kräftigen Sinn wiedergegeben; aber die »Anschauung« behält selbst bei ihm (wenigstens als menschliche) den Charakter der »Sinnlichkeit«, das heißt bloßen »Empfänglichkeit« (Rezeptivität). Selbst als »reine Anschauung« bedeutet sie zwar eine dem Anschauenden selbst eigene Art der Empfänglichkeit, aber doch nur der Empfänglichkeit; der Charakter der Spontaneität wird ausdrücklich dem reinen Denken vorbehalten. Indem Pestalozzi in die »Anschauung« den vollen Charakter der Spontaneität wieder einschließt, geht er selbst über Kant hinaus; wenngleich es alle Wahrscheinlichkeit hat, daß er das Wort »Anschauung« zunächst von diesem und dessen Schülern übernommen hatte. Zwar gibt auch er der »Anschauung« öfters das Beiwort »sinnlich«; aber auch Sinnlichkeit bedeutet ihm – in dieser Verbindung – nicht bloße Rezeptivität, sondern volle Lebendigkeit der Aktualisierung.

So versteht es sich, daß gerade in der »sinnlichen« Anschauung jene reine, innere Kraft der Bildung und die aus ihr fließende »Methode« sich schöpferisch beweist: als Kraft der wirklichen Gestaltung des Gegenstandes, als Kraft der Realisierung dessen, was als » Idee« zwar ursprünglich in uns liegend gedacht wird, aber als bloße Idee der Realität zu ermangeln schiene. In der Anschauung wird die Idee zur Tat; sie ist hinschauende Gestaltung des Gegenstandes.

Die Anschauung bedeutet hiernach vor allem keinen Gegensatz zum Begriff und Grundsatz; sie ist vielmehr der Begriff, der Grundsatz der Erkenntnis selbst in seiner Betätigung, seinem Tatwerden; nicht als fertige Gestalt, sondern als lebendige Gestaltung. So entspricht Pestalozzis »Anschauung« sehr nahe der synthetischen Funktion des Denkens nach Kant (die ja auch bei diesem mit der Anschauung nahe zusammenhängt), im Unterschied von der analytischen (der Denkabstraktion), die von ihr abhängt und sie, als die eigentlich schöpferische Kraft der Erkenntnis, zur Voraussetzung hat.

Lange ehe das Wort Anschauung in dieser bestimmten Bedeutung auftritt, finden sich schon manche, obwohl wenig hervortretende Hindeutungen auf das, was es vorzugsweise bezeichnen will: eben den Tatcharakter der Bildung. In den Tagebuchaufzeichnungen von 1774 steht »Sehen, Hören, Tun« gegen voreilendes (analytisches!) »Urteilen«. Das Kind soll selber tun, selber finden, durch tägliche »Tathandlungen« seine Begriffe bilden. Nur wie zufällig steht dann einmal für Sehen auch »Schauen«. – Bestimmter schon spricht die »Abendstunde« von der einfachen, »fest hinsehenden« Geistesrichtung, die »von der ganzen Kraft der in ihren Realverbindungen feststehenden Naturlagen der Gegenstände gebildet« sei; »Kraft und Gefühl und sichere Anwendung ist ihr Ausdruck«; matter dann wieder der Roman von »ruhigem, bedächtlichem Ansehen«, was der späteren »Anschauung« noch ziemlich fernsteht; etwas besser der Aufsatz des Schweizerblatts (1782) »Von der Erziehung« vom »genauen Anschauen«, als Frucht eines »festen, nicht schwankenden und nicht irregeleiteten Beobachtungsgeistes«.

Im Bericht über Stanz dagegen sieht man es fast vor Augen, wie unmittelbar aus der lebendigen »Tat« seiner Erzieherarbeit ihm der neue Begriff hervorwuchs. Zwar steht »Anschauung« mehrmals wie gleichbedeutend neben »Erfahrung«. Wer mit empiristischen Begriffen an Pestalozzi herantritt, wird in solchen Stellen noch nichts ahnen von dem unermeßlich vertieften Sinn, den das Wort jetzt für Pestalozzi gewonnen hat. Aber wie durch einen plötzlichen Lichtstrahl wird das neue Prinzip erhellt durch eine wie beiläufige Bemerkung über die Schwierigkeit, die er fand, seine Gesichtspunkte für den Unterricht und die Führung der Kinder andern verständlich zu machen: »Ich hatte keinen bestimmten und sicheren Faden, den ich einem Gehilfen hätte an die Hand geben, und ebensowenig eine Tatsache, einen Gegenstand der Anschauung, an dem ich meine Idee und meinen Gang hätte versinnlichen können. Ob ich also wollte oder nicht, ich mußte erst eine Tatsache durch mich selbst aufstellen und durch das, was ich tat und vornahm, das Wesen meiner Ansichten klarmachen«. Hier ist es bestimmt ausgesprochen: vorher geht die »Idee«, und die nicht etwa vorgefundene, sondern durch ihn selbst erst aufzustellende Tatsache gibt die »Anschauung«, als die »Versinnlichung« dessen, was er in der Idee voraus schon hatte, nämlich des »Ganges« seiner Methode. Nicht minder deutlich spricht ein weiterer Satz desselben Berichtes: »Nach meinen Erfahrungen hängt alles davon ab, daß jeder Lehrsatz ihnen (den Kindern) durch das Bewußtsein intuitiver, an Realverhältnisse angeketteter Erfahrung sich selber als wahr darstelle«. Hier klärt sich die Gleichsetzung von »Anschauung« und »Erfahrung« vollständig auf. Um »intuitive« Erfahrung handelt es sich, das heißt, um eine Erfahrung, welche eine »Innenschau«, ein inneres Erschauen des Gegenstandes selbst zum Grunde hat. Dadurch aber soll erreicht werden, daß »große, vielumfassende Begriffe«, oder »große, das Ganze unserer Anlagen und unserer Verhältnisse umfassende Sätze«, »mit reiner Psychologie in die Seele des Menschen gelegt«, in ihrem » Erkenntnisvermögen« fest gegründet werden, »wenn sie auch nie dahin kommen, diese Wahrheiten wörtlich auszusprechen«, das heißt, sie sich auch analytisch zu entwickeln. Eine »intuitive« Erfahrung des Inhalts allgemeiner Begriffe und Grundsätze – man sieht, wie weit wir hier entfernt sind von dem Erfahrungsbegriff des landläufigen Empirismus. Ohne Zweifel ist die Anschauung als solche einzeln und nicht allgemein; dennoch soll in diesem Einzelnen sich ein Allgemeines » darstellen«. Das ist nicht anders möglich als so, daß in diesem Einzelnen das Allgemeine schon zugrunde liegt. So muß in der Tat zum Beispiel das Verfahren der Zählung (welches als Verfahren doch allgemein ist) in meinem Bewußtsein zugrunde liegen, wenn ich ein angeschautes Einzelnes als eins, zwei oder sonst eine Zahl erkennen soll. So, und nur so sind Pestalozzis Sätze über die Anschauung mit sich selbst und mit der Sache in klarem Einklang.

Vielleicht das hellste Licht gibt hierüber die Denkschrift von 1800. Hier wird zuerst als Grundsatz aufgestellt: » Die Anschauung der Natur selber ist das eigentliche wahre Fundament des menschlichen Unterrichts, weil sie das einzige Fundament der menschlichen Erkenntnis ist.« Wüßte man nicht schon, was »Natur« für Pestalozzi bedeutet, so könnte man »Anschauung der Natur« etwa mißverstehen als Wahrnehmung der Dinge draußen. Aber gerade das Wort »Natur« weist vielmehr auf die im Begriff »Anschauung« von Haus aus mitgedachte Spontaneität. Diese kommt denn auch eben hier zum bestimmtesten Ausdruck in der uns schon bekannten letzten Zurückführung der Erkenntnis auf den »Mittelpunkt deines ganzen Seins, und dieser Mittelpunkt bist du selber. Vergiß es nicht, Mensch: alles, was du bist, alles, was du willst, alles, was du sollst, geht von dir selber aus. Alles« – heißt es unmittelbar weiter – »muß in deiner physischen Anschauung« – dies entspricht genau dem obigen: »Anschauung der Natur« – »einen Mittelpunkt haben, und dieser bist hinwieder du selbst.« Und wenn er dann weiter den allgemeinen Ursprung aller Elemente der menschlichen Bildung in jener »allgemeinen Grundlage unseres Geistes« findet, »vermöge welcher unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfangen hat, in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist zu einem Begriff auffaßt«, so werden wir, trotz des fast wörtlichen Anklangs an die Kantische »Sinnlichkeit« als Rezeptivität, dies »Empfangen« und diese »Natur« nicht im Sinne passiven Entgegennehmens von den Dingen draußen verstehen dürfen; vielmehr will hier, wie in den vorigen Stellen, das Wort »Natur« gerade den Spontaneitätscharakter der Anschauung in Erinnerung halten. Desgleichen, wenn Pestalozzi »die Formen alles Unterrichts den ewigen Gesetzen unterwerfen« will, »nach welchen der menschliche Geist von sinnlichen Anschauungen sich zu deutlichen Begriffen erhebt«, so kann das jetzt nicht mehr dasselbe bedeuten, wie die altbekannte These des Sensualismus: daß die Sinne die Erkenntnis »geben« und der Verstand nur hinterherkommt, dies Gegebene zu registrieren und zu rubrizieren; sondern vielmehr gerade in die »sinnliche Anschauung« verlegt Pestalozzi die schöpferische Selbsttätigkeit, das ursprüngliche Erschauen des Gegenstandes. Jedes Wort, jede Zahl, jedes Maß ist ihm »ein Resultat des Verstandes, das von gereiften Anschauungen erzeugt wird«. Die schaffende, die den Gegenstand ursprünglich gestaltende Tat des Verstandes gerade bedeutet ihm die Anschauung. Jede Zahl, jedes Maß ist Resultat des Verstandes schon in der ursprünglichen Bildung unserer Anschauungen der Gegenstände. Der Gegenstand hat weder Zahl noch Maß, weder Punkte, noch Linien, noch Figur, ehe wir sie ihm geben, indem wir nach den Gesetzen unseres Anschauens, die dann der Verstand auch abstrahieren und zu gesondertem Bewußtsein bringen kann, sie hervorbringen.

Daß damit die Genesis unserer Erkenntnis wirklich zutreffend bezeichnet ist, läßt sich auf mannigfache Weise klar machen. Was ist eigentlich »eins«? Eins ist der Wald und der Baum und der Ast und der Zweig und das Blatt und die Faser und die Zelle usf., bis zu dem letzten, was nur die Naturwissenschaft als im unteilbar einen Punkt des Raumes Vorhandenes aufstellen mag. Eins ist das Atom und eins die Welt. Was heißt es denn, daß alle diese so verschiedenen Dinge, ja was wir überhaupt nur nennen mögen, dieses selbe, nämlich eins »ist«? Was anders macht es alles zum »einen«, als daß wir es je in eine Betrachtung nehmen, daß, wie Pestalozzi genau richtig sagt, unser Verstand (die Art, wie wir es verstehen) es »in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist zu einem Begriff, auffaßt«? Dasselbe gilt vom Punkt und seiner Bewegung, also von der Linie, mithin von aller Gestalt, und so durchweg. Eben dies bestätigt aber auch jede genauere Ergründung der Prozesse, in denen tatsächlich das Kind erst sehen und überhaupt wahrnehmen lernt. Dies »Lernen« kann nichts anderes sein als ein Festhalten, vielmehr Fest legen von Punkten, Linien usf.; wie es denn auch die Psychologie der Wahrnehmungsprozesse im einzelnen nachweist. Das Neugeborene weiß noch nicht einen Punkt in seinem Blick festzuhalten oder eine bestimmte Linie zu verfolgen; uns aber steht mit jedem Augenaufschlag diese unermeßlich reiche Bilderwelt fertig da, in den feinsten Linien und Linienbeziehungen bis in ihre kaum merklichen Änderungen hinein verfolgbar. Welch ungeheurer Weg des Lernens, und zwar eines ganz und gar spontanen Lernens muß da zurückgelegt sein von jenem Anfangsstadium bis zu dieser Höhe, die doch jedes normale Kind in wenigen Jahren erreicht. So ist freilich hernach nichts im (puren, abstrahierenden) Verstand, das nicht zuvor in der Anschauung der Sinne gewesen wäre; aber nur, indem der Verstand in den Sinnen selbst tätig war; nicht aber, wie jener alte Spruch verstanden zu werden pflegt: als ob erst die Sinne ohne Verstand mit ihrer Verrichtung fertig würden, und dann der Verstand hinterdrein käme, um von diesem, was ohne ihn fertig geworden, nur nachträglich Kenntnis zu nehmen; was, wenn man es sich recht klar zu machen sucht, sich sofort als ganz widersinnig herausstellt: der Verstand soll Begriffe aus der Anschauung herausholen, es sollen aber nur ja keine darin sein; er soll etwas dabei und daraus verstehen, es soll aber nur ja kein Verstand darin sein. Wie aus solchen »Anschauungen« je ein Verstand sich »entwickeln« sollte, hat noch keiner erklärt und wird keiner je erklären.

Nur eins bedarf hier noch einer weiteren Aufhellung. Pestalozzi macht bis dahin keinen Unterschied zwischen reiner und empirischer Anschauung. Alle Anschauung, auch die sinnlichste, ist ihm reine Erzeugung von innen, nicht Entgegennahme von außen. Und das wahrlich mit höchstem Recht. Denn es wäre gänzlich falsch, das Reine vom Empirischen äußerlich zu trennen, beides in gesonderte Akte des Vorstellens zu verlegen. Aber eine Scheidung in der Abstraktion ist allerdings nötig; nämlich das reine Gesetz der Gestaltung muß gesondert werden von der jedesmaligen einzelnen Gestaltung; so das Gesetz der Zahl, das Gesetz der räumlichen Form. Die Zahl besteht gewiß nicht abgesondert vom Zählen, welches notwendig etwas, das gezählt wird, als »Materie« voraussetzt. Aber doch ist es möglich und notwendig, bei diesem unserem Tun, dem Zählen, das immer gleiche Gesetz dieses Tuns besonders zu betrachten, das heißt, es ist die »Form« des Zählens in der Abstraktion rein zu sondern von jeder »Materie«, an der es im gegebenen Fall ausgeübt werden mag. Nicht ohne diese abstraktive Herauslösung der gesetzmäßigen »Form« des Anschauens war der volle Sinn der Anschauung als Erzeugung des Gegenstandes klarzustellen; es war also notwendig für Pestalozzi, auch diese Abstraktion zu vollziehen. Sie ist vollzogen, und es ist damit sein Begriff der Anschauung erst zur Vollendung gebracht in der theoretischen Hauptschrift, der »Gertrud«.

Pestalozzi erzählt dort in seiner naiven Weise, wie im Suchen nach den einfachsten Anfangspunkten des Unterrichts ihm der Gedanke des »ABC der Anschauung« aufging, mit dessen Ausführung ihm »der ganze Umfang einer allgemeinen Unterrichtsmethode, wenn freilich jetzt noch dunkel, vor Augen stand.« Ihm selbst fiel es anfangs schwer, sich über seinen Fund ganz deutlich zu werden; nicht minder seinem Mitarbeiter Buß, den Pestalozzi selbst darüber berichten läßt. Der treuherzige Mann verstand lange nicht, was mit den »Anfangslinien«, die Pestalozzi ihm vormalte, für seinen Zweck zu machen sei; bis er endlich spürte, daß er weniger wissen sollte, als er wirklich wußte, um auf die einfachen Punkte herabzusteigen, von denen er jetzt wohl sah, daß in ihnen gerade die höchste Kraft liege. Nachdem er aber dies einmal erfaßt hatte, war das ABC der Anschauung in ein paar Tagen vollendet. Doch trennten sich anfangs in seiner Vorstellung noch die Umrisse von den Gegenständen. So wie früher nur Gegenstände, sah er jetzt nur Linien. Aber Pestalozzi meinte es anders: es sollte »das Bewußtsein der reinen Form und der Gegenstände, die darin paßten, im Geiste der Kinder sich gegenseitig unterstützen«, ja ganz eins sein. Denn »die Natur«, sagte er, »gibt dem Kind keine Linien, sie gibt ihm nur Sachen, und die Linien müssen ihm nur gegeben werden, damit es die Sachen richtig anschaue, aber die Sachen müssen ihm nicht genommen werden, damit es die Linien allein sehe«. Das hieße »den menschlichen Geist gegen die Anschauung der Natur verhärten«. Hier ist das Verhältnis von Form und Materie ganz klar. Die Form zwar gestaltet erst den Gegenstand, aber ihre ganze Funktion ist auch hierin beschlossen, nicht käme ihr außerhalb der Gestaltung der Gegenstände noch ein eigener Wert zu. Also kann die Form nie von ihrer Materie wirklich getrennt sein.

Weiter unterscheidet Pestalozzi, fein und tief, die » unbestimmte, bloß sinnliche« Vorstellungskraft, auf der die Form, und die » bestimmte, nicht mehr bloß sinnliche«, auf der die Zahl beruhe. In der Tat drückt die Zahl allein (in Hinsicht des anschaulichen Gegenstandes) unmittelbar und ganz rein die Denkfunktion, die Funktion der Bestimmung oder der synthetischen Einheit aus, während die geometrische Form einer reinen Bestimmung nach Maß und Verhältnis nur durch die Zahl fähig ist, ohne sie in der Unbestimmtheit bloß sinnlichen Vorstellens verbleiben würde, übrigens wird man beachten, daß das Beiwort »sinnlich« auch hier nichts weniger als einen Gegensatz zum »Reinen« bedeutet. Sinnlichkeit besagt nur die reine Aktualität der synthetischen Funktion; die Zahl ist daher »sinnlich« so gut wie die Form, nur »nicht mehr bloß« sinnlich, weil in ihr, in einer Reinheit der Absonderung, welche die räumliche Form (ohne die Zahl) nicht erreichen würde, die Denkfunktion als solche sich darstellt.

Mit dieser Herausstellung der Zahl und der Form als der » Fundamentalpunkte« der Erkenntnis ist die Sonderung des Reinen vom Empirischen der Anschauung vollzogen. Zwar steht daneben mit scheinbar gleichen Ansprüchen das Wort der Sprache, das doch bloß als solches auf eine irgend vergleichbare Reinheit und Ursprünglichkeit keinen Anspruch machen dürfte, welches vielmehr gerade jenes in sich Unanschauliche darstellt, von welchem auf die Anschauung zurückzugehen die Forderung Pestalozzis war. Aber Pestalozzi stellt das Wort in der Tat nicht mit Zahl und Form etwa ganz auf eine Linie. Sondern ausdrücklich sollen diese, als die »eigentlichen« Elementareigenheiten der Dinge, die zwei »umfassendsten Allgemeinheitsabstraktionen der physischen Natur« sein; das Wort dient nur, »die Vergegenwärtigung eines Gegenstandes nach Zahl und Form zu verdoppeln und unvergeßlich zu machen«. Indem es wesentlich die » Allgemeinheit des Begriffs« bedeutet, vertritt es eigentlich die analytische Funktion des Denkens gegenüber der synthetischen.

Auch sonst ist der Begriff der Anschauung, obgleich inhaltlich genau genug bestimmt, doch weit weniger dem Umfang nach scharf umrissen. »Im engern Sinn« bezieht sich der Ausdruck auf die räumliche Form allein, so besonders in der Verbindung »ABC der Anschauung«; im weiteren dehnt sich sein Gebrauch aus bis zur »analogischen« Anschauung auch dessen, was »nie eigentlich zu meiner Anschauung gelangt«. In jenem engeren Sinn aber jedenfalls ist die Anschauung streng als »reine« gedacht: alle » möglichen« Gegenstände haben »unbedingt« Zahl und Form; besonders die Formanschauung umfaßt in den streng gesetzmäßigen »Reihenfolgen«, in welche die »Methode« sie entwickelt, » das Ganze aller möglichen Anschauungen«, um es nach einfachen, sicheren und bestimmten Regeln zu »organisieren«. In diesem Kantischen Terminus des »Möglichen« prägt sich der Aprioricharakter der Anschauung nochmals, ja vielleicht am reinsten aus.

Das Weitere darf für die besondere Behandlung der mathematischen Bildung aufgespart bleiben. An der Mathematik eben war Pestalozzi die merkwürdige Tatsache der Möglichkeit eines »reinen Verstandesganges« der Bildung aufgegangen. Durch sie ist es möglich, »die Anschauung selber dem Schwanken ihrer bloßen Sinnlichkeit zu entreißen und sie zum Werk des Verstandes zu machen«. Und indem sie (so heißt es in der Denkschrift von 1802) »die Anschauungskraft unserer Natur« an Formen »wesentlich mathematischen« Charakters kettet und durch sie »das gefährliche Schweifen dieser Kraft mit eiserner Gewalt stillstellt«, sie wie »ewige, unerschütterliche Felsen« ihr in den Weg stellt, legt sie » die Fundamente alles menschlichen Wissens unbedingt und in ihrer ganzen Fassung«. – Außer dieser Schrift genügt es, aus der späteren Zeit noch die uns schon bekannte Stelle aus der letzten Bearbeitung von »Lienhard und Gertrud« nochmals in Erinnerung zu bringen, wonach der Unterricht in der Geometrie, eben wie der in der Arithmetik, durch Anschauungsübungen aller Verhältnisse des Raumes, der Ausdehnung und der Form (wie dort der Zahl) »psychologisch begründet« werden soll, »um die geistige, eigentliche, die Formverhältnisse innerlich fassende und schaffende reine Kraft« oder »die eigentliche reine Urkraft der Geometrie« zu begründen und zu entfalten.

Eine gewisse Abschwächung zeigen dagegen die Schriften des 80 jährigen Greises, der Schwanengesang und die Langenthaler Rede. Hier unterscheidet Pestalozzi als drei aufeinanderfolgende Stufen der Geistesbildung: 1. die Anschauungserkenntnis, 2. die Sprachlehre, und erst 3. die Zahl- und Formlehre, als Mittel der Entwicklung der freien Denkkraft. Hierbei verschwindet ganz, daß doch Zahl und Form die Grundmittel der Entfaltung der Anschauungskraft, und nur indirekt durch diese und in ihr der Denkkraft, sein sollten. Es wird nicht etwa, was am Ende verständlich wäre, bloß eine »sinnliche« Anschauung, die von Zahl und Form noch nicht weiß, sie aber doch darum immanent enthalten könnte, gesondert von der reinen, mathematischen, deren bestimmtes Bewußtsein gewiß später ist; sondern die reine Anschauung verschwindet ganz, da ja Zahl und Form jetzt vielmehr Mittel der Entfaltung der »Denkkraft« im Unterschied von der Anschauungskraft sein sollen. Das erklärt sich nur aus dem Einfluß der verflachenden, unphilosophischen Denkweise Josef Schmids, der sich besonders in den gänzlich wegwerfenden Urteilen über den früheren Standpunkt der »Gertrud« verrät. Gewiß war die Darstellung der älteren Schrift in vielem verbesserlich. Aber sicher nicht darin lag ihr Fehler, daß die Elemente des Mathematischen in der Anschauung, die Elemente der Anschauung im Mathematischen, und zwar in einer gemeinsamen Anschauungsgrundlage der Zahl und der Form gefunden wurden. Das droht jetzt wieder verloren zu gehen, indem Zahl und Form als Mittel der Entfaltung einer hinterherkommenden Denkkraft von der Anschauung geschieden, damit aber die »Anschauung« scheinbar ganz wieder auf die Stufe der bloßen Sinnlichkeit herabgedrückt wird, in dieser Herabdrückung indessen doch Grundlage der Erkenntnis bleiben soll. Die Sinnlichkeit – so scheint es jetzt – gibt die Anschauungsgegenstände; die Sprache schafft sodann den Ausdruck für diese übrigens fertige Anschauungserkenntnis; Zahl und Form aber treten nach dem allen erst hinzu, als Mittel, um diese fertigen Anschauungsgegenstände auch »selbständig in sich zusammenstellen«, voneinander trennen und unter sich vergleichen, das heißt über sie denken (nicht mehr sie ursprünglich erdenken), kurz sie hinterher logisch verarbeiten zu lehren. Sicherlich nicht hat Pestalozzi damit seine frühere, unvergleichlich tiefere Auffassung aufgeben wollen; aber wenigstens kommt sie in dieser neuen Wendung seiner Gedanken nicht klar und rein zum Ausdruck.

Indessen, man hat Pestalozzi zu beurteilen nach dem, was er auf der Höhe seines Wirkens, in dem reinen und großen Aufschwung der Tage von Stanz und Burgdorf, geglaubt und bekannt, und nicht nach dem, was er, ein gebrochener Greis, nach dem Scheitern seiner besten Hoffnungen, aus dem Schiffbruch noch zu retten gesucht hat.

§ 6. (Das Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte.

) Alle naturgemäße Bildung muß den Charakter der Spontaneität, der Methode und der Anschaulichkeit tragen. Die bisher aufgestellten Prinzipien erstrecken sich daher ohne Unterschied auf alle Sonderrichtungen der menschlichen Bildung und auf den Verein ihrer aller. Nur eben dies ist durch sie allein noch nicht bestimmt, welches die unterschiedlichen Seiten oder Richtungen der menschlichen Bildung sind, und wie diese unter sich in Verbindung stehen. Es fehlt also noch ein Prinzip für die Gliederung und zugleich Vereinigung der mannigfachen Richtungen der Bildung.

Als die seelischen »Grundkräfte«, deren richtige und zwar harmonische Entwicklung die Aufgabe der Menschenbildung sei, nennt Pestalozzi von früh an regelmäßig die drei: die geistige, sittliche und physische, letztere auch bezeichnet als Arbeits- oder Kunstbildung. Die »Naturgemäßheit« der Bildung aber in Hinsicht des Verhältnisses dieser drei Grundkräfte besteht darin, daß sie alle gleichmäßig und in genauer Verbindung miteinander, nicht in starrer Sonderung » harmonisch« (das heißt nicht bloß streitlos, sondern in durchgängiger gegenseitiger Unterstützung) oder in vollkommenem » Gleichgewicht« sich entfalten. Naturwidrig ist jedes Übergewicht einer Kraft auf Kosten der andern.

Das innere Verhältnis unter diesen drei Kräften aber ist dies, daß die geistige und sittliche Kraft, unter sich enger verbunden, als »innere«, der physischen als ihrer Betätigung nach außen voranstehen, aber zu ihrer gefunden Entwicklung der letzteren notwendig bedürfen. Das Tun ist nicht bloß die nachträgliche Probe der rechten Einsicht und des rechten Wollens, sondern zugleich der gewiesene Weg ihrer Entwicklung. Denn alle Kräfte des Menschen entwickeln sich nur durch ihre lebendige Betätigung. Von jenen beiden innersten Kräften aber steht wiederum die sittliche voran, weil sie am tiefsten und unmittelbarsten die Spontaneität, als die letzte Wurzelkraft der menschlichen Bildung, ausdrückt. Deutlich entspricht die sittliche oder Willenskraft dem Prinzip der Spontaneität, ebenso deutlich die geistige dem der Methode (die geradezu »reiner Verstandesgang« hieß), die physische dem der Anschauung, die ja das Zurtatwerden der Idee bedeutet. Überall steht die Anschauung bei Pestalozzi in genauer Beziehung zur Tat; in ihr wird die Bildung (wie es im Begriff der Anschauung ja gefordert wird) »Tatsache«, das heißt Sache der Tat, der aktuellen Darstellung.

Nicht nach ihrer vollen Selbständigkeit kommt bei Pestalozzi die ästhetische Richtung des Bewußtseins zur Anerkennung. Wird die physische Bildung oft als »Kunstbildung« bezeichnet, so ist »Kunst« im antiken Sinne der »Techne«, des technischen Könnens (Ausführenkönnens), nicht in Einschränkung auf die ästhetische Gestaltung gemeint. Ein zugleich ästhetischer Charakter der »Kunst«-Übung wird im einzelnen zwar oft vorausgesetzt, aber doch nur mit schwächerer Betonung und nicht in grundsätzlicher Bestimmtheit. (Die selbständigere Stellung der ästhetischen Bildung in der Lenzburger Rede ist wohl auf die Rechnung Niederers zu schreiben.)

Die Unterscheidung der geistigen und sittlichen Kraft (»Verstand« und »Wille«) war der älteren Psychologie überhaupt geläufig; die eigenste Errungenschaft Pestalozzis dagegen ist die Erkenntnis der hohen Bedeutung der physischen oder Arbeitsbildung, die eben deswegen, namentlich in der ersten Periode, bis zur Einseitigkeit betont wird. In »Lienhard und Gertrud« und in dem in dieselbe Zeit fallenden Aufsatz über Erziehung (1782) erscheint wenigstens die geistige Bildung bisweilen der physischen geradezu untergeordnet: »Man muß alles nur wissen um des Tuns willen... Ausüben und Tun ist für alle Menschen immer die Hauptsache; Wissen und Verstehen ist das Mittel, durch welches sie in ihrer Hauptsache wohl fahren. Darum muß sich auch alles Wissen bei einem jeden nach dem richten, was er auszuüben und zu tun hat« usw. Indessen soll doch die Arbeitsbildung immer der allgemeinen Menschenbildung untergeordnet bleiben.

Die sehr oft wiederkehrende Trias der Bildung von » Kopf, Herz und Hand« findet sich bestimmt ausgeprägt zuerst in »Christoph und Else« (1782). Der Stanzer Brief unterscheidet sittliche Elementarbildung, Elementarbildung des Lernens und des Arbeitens, und betont zunächst in Hinsicht der beiden letzteren, daß, ehe von ihrer »Zusammenschmelzung« die Rede sein kann, erst beide »in reiner Sonderung und Selbständigkeit aufgestellt und die besondere Natur und Bedürfnisse eines jeden dieser Fächer klargemacht sein mußten«. Die sittliche Kraft aber wird als die Urkraft vorausgesetzt, entsprechend dem Grundsatz, »erst das Inwendige rein zu machen, damit das Äußere rein werde«. Durch ihre oberste Leitung ist die » Harmonie der Seelenkräfte«, die ausdrücklich hier als Ziel bezeichnet wird, an erster Stelle bedingt.

In der »Gertrud« wird die »Idee der Elementarbildung« zunächst und am eingehendsten auf geistigem Gebiet durchgeführt; wohl weil dies jetzt die große, neue Errungenschaft war. Nur nachträglich überträgt sie sich dann auch auf die physische oder »Fertigkeits«-bildung (im 12. Brief), und erst durch die Mißverständnisse, die sich daran knüpften, ist Pestalozzi darauf aufmerksam geworden, daß hier eine Lücke geblieben war, die nicht unausgefüllt bleiben durfte. In der zum Ersatz der »Gertrud« bestimmten Abhandlung (»Ansichten und Erfahrungen«) ist die Lücke ausgefüllt. »Harmonie« von Kopf- (oder Geistes-), Herzens- und Berufsbildung (»gebildeter Tatkraft«), oder der Bildung des Fühlens, Denkens und Tuns, lautet auch hier die Forderung (3. Brief), Liebe und Tätigkeit für Liebe werden diesmal enger zusammengefaßt; aber beide bedürfen der Ordnung, Leitung, Belebung und Beschränkung durch die Geistestätigkeit (4. Brief). Deutlicher als wohl sonst find hier die beiden Grundkräfte (Wille und Verstand nach gewöhnlicher Benennung) nicht an sich getrennt, um erst dann ihre harmonische Vereinigung zu suchen, sondern von Haus aus in unbedingter Einheit gedacht; sie drücken nur verschiedene Richtungen aus, in welche die »in uns liegende allgemeine Urkraft« gleichsam ausstrahlt. – Ausdrücklich so, als nur drei » Richtungen« der in sich unteilbar einen Elementarbildung werden sie, unter den Benennungen: Wollen, Kennen, Können, in der Lenzburger Rede (bei Mann § 21) bezeichnet. Vortrefflich wird hier der Sinn ihrer »Harmonie« erläutert: »Der Gang der sittlichen Übung setzt auch die Geistes- und Körperkräfte des Kindes, der Gang der geistigen Entfaltung auch die des Herzens und der sinnlichen Organe, und die körperliche Gymnastik die geistige und sittliche Natur desselben, gleich dem Instrument, dessen eine, rein gestimmte Saite zugleich andere harmonisch gestimmte Saiten anklingt, in Bewegung und Tätigkeit« (Mann, § 26). Mag hier das einzelne der wörtlichen Fassung immerhin Niederer zu verdanken sein (deutlich verrät sich der »Philosoph von Iferten«, wenn es § 21 heißt, daß die Scheidung der drei Kräfte nur in der »Eigentümlichkeit der Erscheinung unserer Natur im wirklichen Dasein« ihren Grund habe), so ist doch das Wesentliche der Meinung Pestalozzis in jenem Bilde vortrefflich zum Ausdruck gekommen.

Am eingehendsten aber wird die Harmonie der drei Grundkräfte in der letzten Bearbeitung von »Lienhard und Gertrud« dargestellt und begründet. Jede von diesen, heißt es dort, »entfaltet sich nach eigenen, ihr selbständig einwohnenden Gesetzen, vermöge einer, jeder derselben ebenso selbständig einwohnenden lebendigen Strebkraft nach ihrer Entfaltung«. Es ist »mein eigener Wille, meine in mir selbst wohnende Strebkraft, von welchen das Erwachen meines Herzens zum Fühlen, meines Geistes zum Denken, meiner Augen zum Sehen, meiner Ohren zum Hören, meiner Füße zum Gehen und meiner Hände zum Greifen ausgeht, und dieses Erwachen meiner Strebkraft zur Entfaltung meiner sittlichen, geistigen und physischen Grundkräfte ... ist in seinem Wesen selbständig und nach den eigentümlichen Gesetzen ... dieser Kräfte selbsttätig. Aber diese ewigen, selbständigen Gesetze der Entfaltung jeder einzelnen dieser Urkräfte ... vereinigen sich durch ein hohes, heiliges inneres Band zum Zusammentreffen zu einem gemeinsamen Ziel und wirken vermöge ihrer Natur in keiner einzelnen ihrer Abteilungen hemmend und störend gegen den selbständigen Entfaltungsgang der anderen Grundkräfte ... Diese innere Einheit der Grundkräfte unserer Natur steht deswegen auch durch ihr Wesen in selbständiger Erhabenheit ob aller menschlichen Kunst ... Die Möglichkeit dieser Übereinstimmung aber ergibt sich nur durch die Unterordnung der Ansprüche unserer geistigen und physischen Anlagen und Kräfte unter die höheren Ansprüche unserer sittlichen und durch die Sittlichkeit göttlichen Natur«. Dann nochmals zusammenfassend: »Das zu erzielende Resultat unserer Herzensbildung ist Veredlung und Befriedigung unserer Natur durch Glauben und Liebe. Das zu erzielende Resultat der Bildung unseres Geistes ist Veredlung und Befriedigung unserer Natur durch Wahrheit und Recht. Das zu erzielende Resultat unserer physischen Anlagen und Kräfte ist Veredlung und Befriedigung unserer Natur durch Arbeit und Kunst. Das zu erzielende Resultat der Gemeinbildung aller unserer Kräfte ist Veredlung und Befriedigung unserer Natur durch die Harmonie in der Ausbildung der Gesamtkräfte unserer Natur im Glauben, in der Liebe, in Wahrheit und Recht, in Arbeit und Kunst«, oder es ist »die Menschlichkeit selbst, das ist die Erhebung unserer Natur aus der sinnlichen Selbstsucht unseres tierischen Daseins zu dem Umfang der Segnungen, zu denen die Menschheit sich durch harmonische Bildung des Herzens, des Geistes und der Kunst zu erheben vermag«.

Der »Schwanengesang« endlich stellt (in doppelter Ausführung, XII 293 ff., 370 ff., Mann § 1 ff., § 107 ff.) das Prinzip des » Gleichgewichts der Kräfte« ausdrücklich an die Spitze und definiert in erster Linie dadurch das allgemeine Prinzip der »Naturgemäßheit« der Erziehung. Die Gesetze der Menschenbildung »gehen alle, eben wie die Kräfte, denen sie innewohnen, aus der Einheit der Menschennatur hervor und sind dadurch bei aller ihrer Verschiedenheit innig und wesentlich untereinander verbunden und eigentlich nur durch die Harmonie und das Gleichgewicht, in dem sie in unserem Geschlecht beieinander wohnen, für dasselbe wahrhaft und allgemein naturgemäß und menschlich bildend ... Nur das, was den Menschen in der Gemeinkraft der Menschennatur, das heißt, als Herz, Geist und Hand ergreift, nur das ist für ihn wirklich, wahrhaft und naturgemäß bildend; alles was ihn ... nur einseitig, das ist in einer seiner Kräfte, sei diese jetzt Herzens-, sei sie Geistes- oder Kunstkraft, ergreift, untergräbt und stört das Gleichgewicht unserer Kräfte und führt zur Unnatur in den Mitteln unserer Bildung, deren Folge allgemeine Mißbildung und Verkünstelung unseres Geschlechtes ist«. Das Gleichgewicht der Kräfte, »das die Idee der Elementarbildung so wesentlich fordert«, setzt aber die »naturgemäße Entfaltung einer jeden der einzelnen Grundkräfte unserer Natur« nach deren eigenen Gesetzen voraus. Daß allerdings nicht ein absolutes Gleichgewicht, sondern nur ein Maximum desselben wirklich erreichbar ist, wurde in anderem Zusammenhang schon berührt.

§ 7. (Das Prinzip der Gemeinschaft.)

Die dargelegten vier Prinzipien scheinen bereits alles zu umfassen, was zur theoretischen Begründung des Erziehungswerkes erforderlich ist. Es ist darin in der Tat, dem letzten Quell, dem allgemeinen Wege und der vollen Verwirklichung nach, zugleich auch nach seiner wesentlichen Gliederung und wiederum Einheit, begründet; aber nur erst, sofern es Selbstbildung des Individuums ist. Nun ist zwar die Bildung zum Menschen, eben als Selbstbildung, notwendig individuell. Im letzten Grunde kann der Mensch nur durch eigenen Willen und eigene Kraft gebildet werden, und alle Hilfe des andern dazu kann, wie oft gesagt, nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Versteht man dies unter Individualpädagogik, so gibt es von Sokrates-Plato bis heute überhaupt nur Individualpädagogik. Aber nun liegt es doch als Tatsache vor, daß das Werk der Erziehung stets gemeinsames Werk ist; daß eben die Hilfe zur Selbsthilfe doch nicht entbehrt werden kann. Das isoliert betrachtete Menschenindividuum existiert überhaupt nur in der Abstraktion; wirklich getrennt von menschlicher Gemeinschaft würde das Individuum gar nicht zum Menschen. Soll zumal die sittliche Kraft die Zentralkraft im Menschen sein, so weist doch diese ihn auf die Gemeinschaft der Menschen unmittelbar und zwingend hin. Also ist, ebenso gewiß, wie alle Bildung Sache des Individuums ist, wiederum auch alle Bildung Sache der Gemeinschaft; käme selbst keine andere Gemeinschaft in Frage als die des einzelnen Erziehers und Zöglings. Auch hat keine Pädagogik je diesen Faktor ganz außer acht lassen können; insofern ist wiederum alle Pädagogik »Sozialpädagogik«. Aber doch bestehen weite Verschiedenheiten hinsichtlich des Grades und der grundsätzlichen Klarheit dieser Beachtung. Die Forderung, daß der Anteil der Gemeinschaft an der Erziehung, der Erziehung an der Gemeinschaft nach seinem vollen Umfang und mit radikaler Begründung beachtet werde, ist es eigentlich, welche das Schlagwort »Sozialpädagogik« ausdrücken will. Die Frage aber, ob in diesem Sinne Pestalozzis Pädagogik »Sozialpädagogik« sei, ist bedingungslos zu bejahen.

Den Anstoß auch nach dieser Seite hat Pestalozzi unzweifelhaft von Rousseau empfangen. Dieser gilt zwar immer noch vielfach, in der Sozialphilosophie wie in der Pädagogik, als einseitiger Individualist; aber mit vollem Unrecht. Er gründet seine Sozialphilosophie, sein »Naturrecht«, auf die Idee des Gemeinwillens ( volonté générale), der ausdrücklich nicht eine zufällige, durch wechselndes äußeres Sichvertragen erzielte Übereinkunft unter den Sonderwillen der vielen Einzelnen, sondern das bedeuten soll, worin die Vielen wahrhaft willenseins, worin sie, eben um des Bestandes der Gemeinschaft willen, notwendig alle gleichen Willens sein und also auch sich bewußt sein müssen. Er steigert den Begriff der Gemeinschaft bis zu dem starken Ausdruck eines »gemeinsamen Ich« ( Moi commun). Aber indem er nun die wirklichen, gegebenen sozialen Ordnungen an dieser hohen Forderung der Gemeinschaft maß, fand er sie derselben nicht gemäß; sie also beruhten freilich auf bloßem »Vertrag«; sie waren nicht »Natur«, sondern höchst gebrechliches, nach seiner Überzeugung längst zum Untergang reifes Menschenwerk. Dem entspricht, daß seine Pädagogik grundsätzlich Gemeinschaftserziehung: soziale und nationale Erziehung fordert (so in den Betrachtungen über die Regierung Polens, in der Économie politique und sonst); aber in den gegebenen sozialen Ordnungen vermochte er eine gesunde Grundlage für die Erziehung des Individuums nicht zu erkennen. Es gab keine Nation, kein Vaterland mehr, also konnte es zurzeit auch keine nationale, keine vaterländische Erziehung geben, sondern nur private. Er erkennt ebenso im Grundsatz die Familie als die natürliche Stätte der Erziehung an, betont insbesondere die Erziehungspflicht des Vaters; aber zurzeit (namentlich im gebildeten Frankreich) gab es keine Familie, keine Väter, keine Mütter mehr; darum durfte er den Idealzögling seines »Traumbuchs« (wie Pestalozzi den Émile bezeichnend nennt) nicht der Familie anvertrauen, sondern mußte für ihn einen fremden Erzieher ersinnen – selbst wohl wissend, daß es einen solchen, so wie er ihn sich dachte, gar nicht geben könne. Er entfernt darum seinen Emil aus seiner häuslichen wie sozialen Umgebung: um ihn auf einem Wege, der freilich nicht »Natur« war, zur »Natur« erst wieder zurückzulenken. Pestalozzi sah sich schon durch den Einfluß Bodmers und die auch wieder durch Rousseau genährte Begeisterung für antike Bürgertugend (Plutarch) auf die soziale Bedeutung der Erziehung hingewiesen. Die Beachtung des sozialen Lebens als zugleich eines wesentlich bestimmenden Faktors und eines wesentlichen Zieles der Erziehung, ja auch die Anknüpfung der Erziehung an das schlichte, zunächst ländliche Arbeitsleben des Volkes und damit zugleich an sein häusliches Leben, daher die Betonung der Erziehungspflicht des Vaters und der Mutter, das alles sind Rousseausche Züge in der Pädagogik des jungen Pestalozzi. Es ist demnach nicht gerechtfertigt, Pestalozzi, den Sozialpädagogen, zu Rousseau, dem Individualpädagogen, in grundsätzlichen Gegensatz zu stellen. Was Pestalozzi von Rousseau unterscheidet, ist nur, daß er nicht wie dieser bei der idealen Forderung stehen bleibt, sondern vollen Ernst mit der Tat macht, eben deshalb aber auch, in jenem gesunden Realismus, der gerade aus der Vollkraft des Idealismus fließt, die vorhandenen sozialen Faktoren der Erziehung nach ihrem vollen Werte in Rechnung stellt.

Im engsten Kreis, bei dem eigenen Kinde, setzt Pestalozzi mit seinen erzieherischen Versuchen ein. Aber von Anfang an steht die größere Aufgabe der Erziehung der niedersten Volksschichten im ganzen ihm vor Augen. Sein ländliches Arbeitsleben führte ihn mit dem arbeitenden Volk in enge Berührung; er sah in seiner nächsten Umgebung täglich seine wirtschaftliche, geistige und sittliche Not vor Augen; und da er selbst in harte Bedrängnis geriet, so bekam er sie zu schmecken, wie keiner von denen, die wohl vor ihm mit hochsinnigen Träumen von Volkswohl sich getragen hatten. Aber nicht nur die Not des Volkes lernte er kennen, sondern auch die tiefe in ihm schlummernde, nur der Weckung und Leitung bedürftige Kraft. Als rechter Arzt wollte er da mit seiner Hilfe einsetzen, wo sie am meisten nottat, bei den verwahrlosten, scheinbar verlorenen Kindern der gänzlich Armen. Sein Versuch mißlang, mußte mißlingen. Aber er reichte ihm hin zur Erprobung seiner Grundüberzeugung. Er sucht sie auszusprechen in der »Abendstunde« und in seinem Roman. Dies sind daher die ersten Quellen für seine soziale Pädagogik.

In der »Abendstunde« ist gerade dies das tiefste Problem: wie verhalten sich zueinander die beiden wesentlichen Faktoren der menschlichen Bildung: der Mensch selbst nach seinen Kräften und Anlagen, und die besonderen » Lagen und Umstände«, in denen er sich findet, auf die er mit seinem ganzen Dasein sich hingewiesen sieht, und die wahrlich von mächtigem Einfluß sind auf seine menschliche Bildung – oder Nichtbildung und Verbildung. Zwar liegt an sich in jedem unzerstörbar der Keim des echten Menschentums. Keine noch so elende Lage – davon gerade hat die Erfahrung ihn überzeugt – vermag die »Natur« im Menschen ganz zu entwurzeln. Auch hat die Verschiedenheit der äußeren Lage bloß als solcher auf die Fähigkeit zu einer menschlichen Bildung keinen entscheidenden Einfluß. Einfache, selbst dürftige Umstände machen an sich eine menschliche Bildung nicht unmöglich, sondern bieten nach bestimmten Seiten sogar eher noch eine Hilfe für sie; denn die Elemente aller menschlichen Bildung sind einfach, und eben ihre einfache Elementarkraft entfaltet sich an sich am reinsten in einfachen Umständen, während jede verkünstelte, der »Natur« entfremdete äußere Lage die Tendenz hat, sie nicht oder nur einseitig zur Entfaltung zu bringen. Aber freilich gibt es Lagen und Umstände, welche eine naturgemäße Entfaltung der an sich in jedem schlummernden Kräfte so gut wie unmöglich machen, den Menschen tausendfach herabdrücken, ihn in Elend und Verkommenheit, in Wahnsinn und Verbrechen hineintreiben können. Daher ist dies vielleicht das schwerste Problem der Menschenbildung: wie diese beiden Faktoren, der »Mensch« (seine »Natur« oder sein »Wesen«) und die »Umstände«, die ihn bestimmen, zueinander in das rechte Verhältnis zu bringen sind. Es mußte zwischen beiden eine wesentliche innere Beziehung gefunden werden. Pestalozzi findet sie darin, daß die »Umstände«, die den Menschen bestimmen, doch nicht eine fremde äußere Macht sind, der er widerstandslos unterworfen wäre; daß es vielmehr in seiner Hand liegt, sie so abzuändern, wie er zu seiner gesunden Bildung sie nötig hat; denn sie sind zuletzt sein Werk. Er hat dafür später, in den »Nachforschungen«, die klare Formulierung gefunden: »Soviel sah ich bald: die Umstände machen den Menschen; aber ich sah ebensobald: der Mensch macht die Umstände. Er hat eine Kraft in sich, selbige vielfältig nach seinem Willen zu lenken. So wie er dieses tut, nimmt er selbst Anteil an der Bildung seiner selbst und an dem Einfluß der Umstände, die auf ihn wirken«.

Schon in der »Abendstunde« liegt dieser tiefe Gedanke dem Kerne nach vor, obwohl er in den schwergehaltigen, dunkel gefaßten Aphorismen, in denen er seine nicht logisch erarbeiteten, sondern wie traumhaft geschauten neuen Wahrheiten hier auszusprechen sucht, sich nur mühsam durchringt. »Der Mensch kann auf seiner Laufbahn nicht alle Wahrheit brauchen. Der Kreis des Wissens, durch den der Mensch in seiner Lage gesegnet wird, ist enge, und dieser Kreis fängt nahe um ihn her, um seine nähesten Verhältnisse an, dehnt sich von da aus, und muß bei jeder Ausdehnung sich nach diesem Mittelpunkt aller Segenskraft der Wahrheit richten. – Reiner Wahrheitssinn bildet sich in engen Kreisen, und reine Menschenweisheit ruhet auf dem festen Grund der Kenntnis seiner nähesten Verhältnisse und der ausgebildeten Behandlungsfähigkeit seiner nähesten Angelegenheiten. – Standpunkt des Lebens, Individualbestimmung des Menschen, du bist das Buch der Natur, in dir liegt die Kraft und Ordnung dieser weisen Führerin, und jede Schulbildung, die nicht auf diese Grundlage der Menschenbildung gebaut ist, führt irre.« Was sind diese »Verhältnisse«? Im folgenden wird es klar: »Mensch, du selbst, das innere Gefühl deines Wesens und deiner Kräfte ist der erste Vorwurf der bildenden Natur. Aber du lebst nicht für dich allein auf Erden. Darum bildet dich die Natur auch für äußere Verhältnisse und durch sie.« Also die fraglichen Verhältnisse sind die Verhältnisse zu andern. – »So«, das heißt, in dem Grade, »wie diese Verhältnisse dir nahe sind, sind sie zur Bildung deines Wesens für deine Bestimmung dir wichtig«. Und zwar: »Immer ist die ausgebildete Kraft einer näheren Beziehung Quelle der Weisheit und Kraft des Menschen für entferntere Beziehungen«; wovon unmittelbar die Anwendung gemacht wird: » Vatersinn bildet Regenten, Brudersinn Bürger, beide erzeugen Ordnung im Hause und im Staate. Die häuslichen Verhältnisse der Menschheit sind die ersten und vorzüglichsten Verhältnisse der Natur ... daher bist du, Vaterhaus, Grundlage aller reinen Naturbildung der Menschheit«. Also jene Verhältnisse, die den Menschen bilden helfen, sind keine anderen als die Gemeinschaftsbeziehungen von Mensch zu Mensch; die Familie zunächst und dann die bürgerliche Gemeinschaft. Von diesen aber ist ja ohne weiteres klar, wie sie in der eigenen schaffenden »Natur« des Menschen wurzeln, aus seinen eigenen Grundkräften sich aufbauen. Und so »macht« er in der Tat die »Umstände«, und hat damit selber teil auch an dem Einfluß, den sie dann rückwärts auf ihn üben. Und zwar unterliegt der Aufbau der sozialen Ordnungen einer Stufenfolge, die sich bald entdeckt als dem allgemeinen Gesetz der »Methode« entsprechend, und die zugleich auch die Stufenordnung der sittlichen Bildung des Einzelnen darstellt.

Die Urform der menschlichen Gemeinschaft ist das Haus, die Familie. Die in ihr sich knüpfenden sittlichen Beziehungen sind daher zugleich die Grundformen sittlicher Beziehungen unter Menschen überhaupt. Aus ihr entspringt erst, über ihr baut als nächsthöhere Form der Gemeinschaft der bürgerliche Verein sich auf, der von Pestalozzi oft gedacht wird als Familie von Familien, somit als die natürliche Erweiterung jener einfachsten Grundform menschlicher Gemeinschaft. Die Familie aber ist zugleich die schlichte Grundform der Arbeits- und auch der Bildungsgemeinschaft (welches beides sich ja für Pestalozzi decken muß); und so ist ebenfalls der bürgerliche Verein gedacht als Arbeits- und Bildungsgemeinschaft nur auf höherer Stufe. Über beide endlich erhebt sich als letzte und höchste Form der Gemeinschaft die ideale Gemeinschaft des Menschengeschlechts, in der wir alle Kinder eines Vaters, also unter einander Brüder sind. Diesen Stufengang hat Pestalozzi stets festgehalten; er kehrt unverändert wieder in der zweiten Bearbeitung von »Lienhard und Gertrud«, in den »Nachforschungen« und noch beträchtlich später in den »Ansichten und Erfahrungen«. Die Nähe und Ferne der »Verhältnisse« des Menschen, von der in den angeführten Sätzen die Rede war, ist rein innerlich zu verstehen. Die einfachen Grundverhältnisse des Menschenlebens, das heißt Formen menschlicher Gemeinschaft, sind des Menschen eigene Bildungen; sie selbst spiegeln daher und stellen in ihrem gesetzmäßigen Aufbau unmittelbar dar die eigene innere Bildung des Menschen zum Menschen, nämlich in der Gemeinschaft der Menschen, in der er überhaupt nur Mensch ist. Daraus versteht sich auch der zunächst auffallende Satz: »Gott ist die näheste Beziehung der Menschheit«. Wir wissen schon, daß Gott und Religion für Pestalozzi nur der letzte Ausdruck des reinen, autonomen, sittlichen Wesens des Menschen, als des letzten Kernes seines eigenen Wesens, ist.

Ganz diesen in der »Abendstunde« vorliegenden Grundsätzen entspricht nun auch der Roman »Lienhard und Gertrud«; doch treten sie als Grundsätze erst ganz am Schluß zutage; denn wunderbar hat Pestalozzi es im ganzen verstanden, die Wahrheiten, die er aussprechen will, hier nicht in theoretische Sätze, sondern ganz in Geschichte zu kleiden.

Sucht man übrigens nach einem direkten Ausdruck des Prinzips der sozialen Pädagogik, so fehlt es nicht an einem solchen. Das Erziehen des Menschen, heißt es einmal, sei nichts anderes als »das Ausfeilen des einzelnen Gliedes an der großen Kette, durch welche die ganze Menschheit unter sich verbunden ein Ganzes ausmacht, und die Fehler in der Erziehung und Führung des Menschen bestehen meistens darin, daß man einzelne Glieder wie von der Kette abnehme und an ihnen künsteln wolle, wie wenn sie allein wären und nicht als Ringe an die große Kette gehörten«; während vielmehr alles darauf ankomme, daß das einzelne Glied »ungeschwächt an seine nächsten Nebenglieder wohl angeschlossen zu dem täglichen Schwung der ganzen Kette und zu allen Biegungen derselben stark und gelenkig genug gearbeitet sei«; ein Vergleich, der die Abhängigkeit des Individuums von der Gemeinschaft vielleicht nur zu einseitig ausdrückt. Jedenfalls die Grundüberzeugung, daß »die Umstände den Menschen machen«, geht durch die ganze Erzählung hindurch. Sie spricht sich besonders stark aus in der Pathologie und Therapie der sozialen Erkrankungen, in der Theorie der Ursachen und der Heilung des Verbrechens, die das Hauptthema des zweiten Teils des Romans bildet. Der Einzelne als solcher erscheint hier fast von Verantwortung frei; jeder kann in die gleiche Schlechtigkeit verfallen wie der schlimmste Verbrecher, wenn er in (soziale) »Lagen« gerät, die geeignet sind, den Samen des Bösen in ihm zu entwickeln. Die Gesellschaft ist nicht nur mitschuldig am Verbrechen, sondern sie ist die Hauptschuldige: sie reizt dazu, pflanzt in den Einzelnen die Keime aller Laster, um ihn dann deren schlimmen Folgen hilflos zu überlassen. In positiver Richtung aber ist besonders der Anteil der beruflichen Arbeit an der menschlichen Bildung durch den ganzen Roman hindurch lebendig und eindringlich dargestellt. » Die Lebenspflichten des Menschen sind der einzige echte Lehrmeister ihres wahren Wissens und ihrer besten Erkenntnisse«. Aber die Berufsarbeit, und ebenso (und um ihretwillen) die sozialen Ordnungen, sind zuletzt eben nur Mittel zu dem einzigen letzten Zweck der Menschenbildung. Die gesetzgeberischen Maßnahmen, die Pestalozzi ins Auge faßt, sind auf dies Ziel einzig gerichtet. Darin besonders beweist sich Pestalozzi als »Sozialpädagoge« im vollen Sinn, daß er die Gemeinschaftsordnung streng nur als Mittel der Erhebung des Menschen zu seinem wahren Menschentum ins Auge faßt. So wird zwar die Erziehung zum Mittel einer höheren » Polizei« (Staatskunst), aber nur indem die Staatskunst selbst zur höheren Pädagogik wird. Auch verkennt er nicht, daß die sozialen Ordnungen eben darum wandelbar sind, notwendig sich wandeln müssen mit der Entwicklung des Menschentums und zum Zweck seiner Höherentwicklung. Und er denkt die soziale Entwicklung nicht bloß im Sinne des Liberalismus, sondern in deutlicher Näherung zum Sozialismus. Er faßt nicht nur die Aufhebung des Feudalismus, sondern auch ernstliche Eingriffe in das Eigentumsrecht ins Auge; denn (wie er wiederholt formuliert) das Eigentum ist um des Menschen und nicht der Mensch um des Eigentums willen da. Er will die Ausbeutung des Volks durch die Grundherren nicht etwa bloß beseitigt wissen zugunsten der Ausbeutung durch das Kapital; es soll nicht »der Kaufmann die Brotquellen des Volks in seinem Portefeuille herumtragen wie ehedem der Edelmann in seinem Stiefel«. Er will Befreiung des Volks zur vollen wirtschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit, als der Voraussetzung gesunder »Selbstsorge« auch für seine allseitige, geistig-sittliche Bildung. Die Frage der Staatsform steht ihm immer erst in zweiter Linie. Seine Vorschläge halten zunächst an der Fortexistenz des Regiments der Fürsten und des Adels fest; aber nur in der Voraussetzung, daß sie ihre Pflicht tun werden. Nachdem sich gezeigt hat, daß darauf nicht zu rechnen, stellt er sich rückhaltlos auf die Seite des sein Recht fordernden Volkes; wiewohl mit bestimmter Verwahrung gegen den Aufruhr. Übrigens sieht er in der dann wirklich eingetretenen Revolution von unten nur die unausbleibliche Folge der Revolution von oben, die längst im Gang war, und in ihren Greueln nur die Folgen des Zustands, aus dem man heraustrat, nicht dessen, in den man erst hineintreten wollte. Sein scharf treffendes Urteil über die französische Revolution (besonders in der Schrift »Ja oder Nein«) zeigt namentlich darin einen bemerkenswerten Fortschritt über die früheren Schriften hinaus, daß die Entwicklung des sozialen Lebens entschiedener ins Auge gefaßt und in Rechnung gezogen wird. Er sieht die große Bewegung vom Feudalismus durch die absolute Monarchie zur Revolution in klarem Zusammenhang mit der Wandlung der Wirtschaft vom vorwaltenden Landbau zur Industrie, in Verbindung mit der Entwicklung des Welthandels und des Geldverkehrs. Er erkennt nach einer Stelle in der großen Bewegung seiner Tage geradezu eine »Revolution in Brotangelegenheiten«, die allerdings, wie jede Revolution, im ersten Schlag Zerrüttung wirke, indem sie dem Menschen die Bande seines vorigen Zustands schwäche, entkräfte und auflöse, aber dann auch wieder neue knüpfen werde.

Die umfassendste und zugleich tiefste Darstellung seiner Sozialphilosophie aber, und zwar in genauer Verbindung mit seiner Theorie der Menschenbildung, enthält die Schrift »Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts«. Wir kennen bereits den Grundgedanken der Entwicklung des Menschen vom Naturstand durch den gesellschaftlichen zum sittlichen Stand. Die doppelte Entgegensetzung des mittleren, des gesellschaftlichen Standes sowohl gegen den natürlichen als gegen den sittlichen erscheint in dieser Darstellung fast übertrieben: das soziale Leben des Menschen wird beschrieben einerseits als wahre Verstümmelung seiner »Natur«, andrerseits als ganz und gar außersittlich; es weiß als solches nichts von Sittlichkeit, es will, ja darf davon nichts wissen. So wird dies gesellschaftliche Leben anscheinend zum inneren Widerspruch, zur Lüge gegen Natur und gegen Sittlichkeit. Dennoch soll es hinterher geheiligt werden durch seine Unterordnung als bloßes Mittel unter den Zweck der Sittlichkeit. Das ist etwa, auf die kürzeste Formel gebracht, der Gedankengang der »Nachforschungen«. Er bedarf der Erklärung. Man muß vor allem die Sonderung jener drei »Stände« des Menschen, denen ferner drei Lebensalter der Menschheit wie des einzelnen Menschen entsprechen sollen, nicht als in dieser Schärfe der Gegensätze wirklich bestehend denken. Es handelt sich vielmehr um drei Grundfaktoren des sozialen Lebens, die an sich nicht getrennt von einander existieren noch existieren könnten, wohl aber ihrem Begriff nach, in der Abstraktion gesondert und gleichsam dialektisch gegeneinander geführt werden. Ein reiner Naturstand, wie Pestalozzi ihn beschreibt, hat nicht existiert, noch konnte er je existieren; aber dies wäre der Zustand des Menschen, wenn in ihm nur der einzige Faktor der Sinnlichkeit wirksam wäre, und sein wirklicher Zustand kommt dem nahe in dem Grade wie dieser Faktor in ihm einseitig vorwaltet. Der gesellschaftliche Zustand, wie Pestalozzi ihn zeichnet, existiert ebensowenig, könnte in dieser Einseitigkeit gar nicht existieren; aber dies wäre der Zustand der Menschheit, wenn das Prinzip der gesellschaftlichen Vereinigung, das gesetzmäßige Verhältnis Befehlender und Gehorchender, in reiner Einseitigkeit, ungemildert durch natürliche und sittliche Rücksichten, wirksam wäre, und ihr wirklicher Zustand kommt dem nahe in dem Grade, in dem dieser Faktor einseitig zur Herrschaft kommt und die beiden anderen vergewaltigt. Und ebensowenig existiert in Wirklichkeit der Zustand einer reinen, unbedingten Sittlichkeit, noch könnte er in dieser Welt je existieren; wohl aber ist es unserer »Traumkraft« möglich, das »Bild« (die Idee) eines solchen Zustandes zu entwerfen, um es als Richtmaß an das wirkliche Leben der Menschen zu halten; und alles, was dem Unsinn und der Täuschung des natürlichen wie des gesellschaftlichen Daseins des Menschen bisher von noch so bedingter Wahrheit hat abgerungen werden können, ist nur Näherung zu diesem idealen Zustand. Pestalozzi übt dies Verfahren der Abstraktion nicht anders als es die Philosophie zu aller Zeit geübt hat. Das große Muster hatte Pluto in seinem Staat gegeben; ihm war vor allem Rousseau gefolgt, der auch in dieser methodischen Hinsicht für Pestalozzi maßgebend geworden ist. Nur das läßt sich mit Grund an der Schrift aussetzen, daß der Autor weder irgendwo von diesem Charakter seines Verfahrens dem Leser ausdrücklich Rechenschaft gibt, noch die schließliche Wiedervereinigung der bloß in der Abstraktion zum Behufe der Theorie geschiedenen Faktoren (die im Grundsatz zwar gefordert wird) wirklich durchfühlt. So entsteht für den, der die Absicht nicht durchdringt, der Schein, als sollten jene Gegensätze in ihrer ganzen anstößigen Schroffheit wohl gar dauernd bestehen bleiben. Übrigens ist gerade das wiederum sehr bedeutend, daß jene drei Faktoren nicht bloß als zusammenwirkend, sondern auch wieder, in der Entwicklung des einzelnen Menschen wie des ganzen Geschlechts, zeitlich auseinandertretend gedacht werden; aber nicht so, daß in absoluter Ausschließlichkeit periodenweise nur je eine der drei Grundkräfte wirksam sein sollte. Vielmehr hat Pestalozzi vom ersten Stadium, dem »Naturstand«, ausdrücklich erklärt, daß er keinen Augenblick dauern konnte; denn schon die geringste Rücksicht auf Vergangenheit und Zukunft, das geringste Zusammenwirken mit andern zu gemeinsamem Werk entfernt den Menschen von diesem Zustand, und zwar in steigender Proportion ins Unendliche. Damit ist schon gesagt, daß es einen reinen Naturstand des Menschen nicht gibt, sondern nur Zustände, die ihm mehr oder weniger nahe kommen. Aber der Gegensatz der Richtungen, der mit den Ausdrücken »Naturstand« und »gesellschaftlicher Stand« bezeichnet wird, besteht darum nicht minder. Also nur einen idealen Ausgangspunkt der Entwicklungslinie bezeichnet der reine Naturstand, einen idealen Endpunkt der gesellschaftliche. Mit dieser Entwicklungsrichtung nun aber konkurriert die andere: vom gesellschaftlichen zum sittlichen Stand. Und auch nicht erst in irgendeinem angebbaren Zeitpunkt tritt der Gedanke und die tatsächliche Wirkung des Sittlichen in die Entwicklung der Menschheit nachträglich ein. Es werden vielmehr im Individualleben des Einzelnen wie in der Gesetzesordnung der Gemeinschaft sittliche Motive überall mehr oder weniger mitwirken, so daß wiederum jenes bloße, außersittliche gesellschaftliche Dasein sich nirgends rein darstellen wird. In dieser Einschränkung oder genaueren Bestimmung aber wird man den Gedanken Pestalozzis als unverbrüchlich wahr anerkennen müssen. Nur das tatsächliche Hineinwirken des Sittlichen in das gesellschaftliche Leben macht es begreiflich, daß das letztere fähig wird, sich zu einem Mittel der Erziehung zum Sittlichen zu gestalten. Und dadurch wird der gesellschaftliche Stand, so weit er auch vom rein sittlichen entfernt bleiben mag, doch wiederum gerechtfertigt, nämlich als » Lehrlingsstand« des Menschen. Unter diesem Gesichtspunkte treten die sozialen Ordnungen insgesamt in den Dienst der Menschenbildung.

So die »Nachforschungen«. Von Stanz und Burgdorf an tritt die Untersuchung über die sozialen Bedingungen der Erziehung zwar mehr in den Hintergrund; daß aber Pestalozzi an den in den »Nachforschungen« dargelegten Überzeugungen doch unverrückt festgehalten hat, verrät sich vielfach; am stärksten in der Schrift des Jahres 1815 »An die Unschuld usw.« Er stellt hier den gesellschaftlichen Stand in kaum minder schroffen Gegensatz zum natürlichen und zum sittlichen als in den »Nachforschungen«, aber betont entschiedener, daß doch der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung offenbar Verbesserung und nicht Verschlimmerung des Naturstandes ist, die nur durch die Kultur des Erdbodens wie seiner selbst zu erzielen ist; diese Kultur aber ist nur durch die höhere, nämlich sittliche Begründung des menschlichen Rechts und nicht durch dessen Zernichtung erreichbar; wodurch nun die sozialen Ordnungen schon von selbst ganz unter sittliche Betrachtung fallen. In solchem Sinne fordert er den Kulturstaat, im Unterschied von einem Staat der bloßen, kulturlosen Zivilisation. »Die Kraft der Kultur vereinigt die Menschen als Individuen in Selbständigkeit und Freiheit durch Recht und Kunst; die Kraft der kulturlosen Zivilisation vereinigt sie ohne Rücksicht auf Selbständigkeit, Freiheit, Recht und Kunst als Masse durch Gewalt«. Die »Kultur« geht allerdings von den Individuen aus, aber sie erstreckt sich doch, dem Gesagten zufolge, auf den Staat selbst, nämlich den vermenschlichten Staat. » Laßt uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können!« – Ich habe irgendwo das, was jenes Zeitalter auf dem Gebiete des Rechts und des Staats angestrebt hat, damit ausgedrückt: Man wollte Vermenschlichung des Staats statt Verstaatlichung des Menschen. Wir sehen, wie dies auf Pestalozzi bis zum Buchstaben zutrifft. Überall streitet Pestalozzi dagegen, daß die äußere Organisation der Gesellschaft, daß die »Kollektivexistenz« der Menschen als solche auf die Individuen ein unbedingtes Recht hätte. Es ist vielmehr die ewige Aufgabe, die gesellschaftlichen Organisationen selbst gemäß der Idee des Sittlichen zu gestalten; und dies kann freilich nur von den Individuen ausgehen, so wie es wiederum in diesen sein Ziel hat. Jede weitere Gemeinschaft dient nur den Zwecken der engeren, zuletzt der Individuen; sie ist zuletzt nur Mittel zur Erziehung der Individuen, als solches Mittel aber auch notwendig.

Nach diesem allen ist es in bestimmtem Sinne zwar richtig zu sagen, daß der Schwerpunkt der pädagogischen Betrachtung für Pestalozzi im Individuum liege. Die sozialen Beziehungen werden nur in Berechnung gezogen um der Individuen willen. Aber doch werden die Individuen niemals außerhalb der sozialen Beziehungen oder unter Absehung von diesen betrachtet, sondern unter ihrer vollen und zwar grundsätzlichen Mitberücksichtigung; unter Mitberücksichtigung auch der Wandlungen, denen die sozialen Ordnungen nach ihren eigenen Gesetzen fort und fort unterliegen. Das Wirken in der Gemeinschaft und für sie wird zur gesunden Bildung des Individuums mitgerechnet; ja die rechte Gestaltung der Gemeinschaft selbst fällt, eben weil sie von der einschneidendsten Bedeutung für die Bildung der Individuen ist, mit in den Bereich einer genügend tiefen und umfassenden, einer »größeren« Pädagogik, die damit zugleich höhere » Politik« (Staatslehre) wird. In diesem ganz platonischen Sinne ist, wenn irgendeine, dann Pestalozzis Pädagogik soziale und nicht bloß individuale Pädagogik.

 

Hat man sich diese fünf Prinzipien klar gemacht, so wird der Ausbau der Pestalozzischen Pädagogik, dem wir uns jetzt zuwenden wollen, dem Verständnis keine besonderen Schwierigkeiten mehr bieten; außer da, wo er hinter der in sich klaren und richtigen Absicht mehr oder weniger zurückgeblieben ist. Das ist am meisten im Gebiete der Intellektbildung der Fall, größtenteils weil die genügenden wissenschaftlichen Grundlagen für eine strengere Durchführung der Theorie nach dieser Seite entweder überhaupt noch fehlten oder wenigstens Pestalozzi bei der Beschränkung seiner wissenschaftlichen Vorbildung nicht erreichbar waren. Es wird in solchen Fällen unsere Aufgabe sein, das Richtige vom Verfehlten deutlich zu sondern und, wo es sein kann, auf die mögliche Berichtigung wenigstens hinzudeuten.


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