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Photographie nach einem im Pestalozzianum in Zürich befindlichen Original.

Photographie nach einem im Pestalozzianum in Zürich befindlichen Original.

Einleitung

Daß die Wirkung Pestalozzis auf unser Zeitalter nicht etwa erschöpft, sondern erst im Aufsteigen begriffen ist, wird gegenwärtig von vielen empfunden. In der pädagogischen Welt konnte er überhaupt nie in Vergessenheit geraten; und wohl jedem tiefer gebildeten Deutschen ist seine rührende Gestalt irgendeinmal entgegengetreten; besonders hat die Geschichte der Erhebung Preußens und Deutschlands vor hundert Jahren nie umhin gekonnt, sich dessen zu erinnern, was sein Name damals unseren Altvordern bedeutet hat. Aber für die weiteren Kreise der Gebildeten blieb er bis vor kurzem fast eine mythische Figur; man nannte ihn stets mit Ehrfurcht, man gedachte seiner mit dem Gefühl, mit dem man jedes echten Menschen gedenkt; aber man las ihn kaum noch. Den Glauben an seine geniale Größe durch eindringendes Studium in sicheres Wissen zu wandeln, scheinen nur wenige den Trieb verspürt zu haben; sonst wäre es nicht zu verstehen, daß seiner bis heute weder in der Literaturgeschichte noch in der Geschichte der Philosophie, weder in der politischen Geschichte noch in der historischen Soziologie so gedacht wird, wie es seiner Bedeutung entspräche.

Jetzt aber scheint sich hierin allmählich eine Wandlung anzubahnen. Es ist zu seiner Erforschung in den letzten Dezennien so viel geschehen, daß es nachgerade nicht mehr angeht, darüber gänzlich hinwegzusehen. Die Schriften Pestalozzis sind dank dem unermüdlichen Eifer des trefflichen Seyffarth in nahezu erschöpfender Vollständigkeit (wenn auch nicht philologisch musterhaft) herausgegeben; die Bibliographie, besonders die Nachweisung der bis dahin bekannten Briefe, ist durch den nicht minder rühmlichen Sammelfleiß Israels sehr gefördert. Und eine kaum zu bewältigende Fülle auf Pestalozzi bezüglichen zeitgeschichtlichen Materials ist in Hunzikers Pestalozziblättern und Seyffarths Pestalozzistudien zusammengetragen. Dadurch ist zur Ergänzung und vielfach auch Berichtigung der vierbändigen Morfschen Biographie (die selbst fast nur Materialsammlung war) außerordentlich viel beigetragen worden. Durch so vielfältige Vorarbeit war es dem Verfasser dieses Büchleins erleichtert, nun auch zum allgemeineren Verständnis und zur tieferen Würdigung des Mannes, seiner Persönlichkeit, seiner Leistungen und seiner Ideen das seinige beizusteuern. Man findet die Ausbeute meiner mannigfachen Entdeckungsfahrten in diese Terra incognita jetzt bequem zusammen in der Biographie Pestalozzis und Auswahl aus dessen Schriften (in Greßlers Klassikern der Pädagogik), und in den »Gesammelten Abhandlungen zur Sozialpädagogik«; in knappster Zusammenfassung in einem größeren Artikel von Reins Enzyklopädischem Handbuch der Pädagogik (»Pestalozzis Pädagogik«). Von wertvollen Einzelarbeiten seien ferner genannt: Wigets ausgezeichnete Studie im Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik (Band 23 und 24); Walsemanns Buch über Pestalozzis Rechenmethode (1901); Israels Arbeit über Pestalozzis Institut in Iferten nach Papieren Blochmanns (1900); Seyffarths neu bearbeitete Pestalozzidarstellung von 1904; K. Muthesius' feine Studie über Goethe und Pestalozzi (1908); Lesers Schrift: J. H. Pestalozzi, seine Ideen in systematischer Würdigung (1908), eine Arbeit, die mir besonders willkommen sein mußte als unabhängige Bestätigung meiner Grundauffassung des Mannes und seiner Ideen; besonders aber Heubaums Biographie (in der Sammlung »Die großen Erzieher«, 1910), welche nicht ganz mit innerem Grunde eine ablehnende Haltung gegen meine Pestalozzidarstellung einzunehmen scheint; wenigstens urteilt Rudolf Lehmann (in den Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte, XIX/XX, Seite 608 f.), daß Heubaum trotzdem mit seiner allgemeinen Würdigung des Pestalozzischen Denkens an meine (und Lesers) Auffassung »ganz nahe herankomme«; daß somit »die wissenschaftliche Erforschung des Gedankenkreises Pestalozzis in den letzten Jahren zu einem einheitlichen und für die Erziehungsgeschichte höchst wichtigen Ergebnis geführt und eine weit tiefere und zugleich geschichtlichere Auffassung dieses Gedankenkreises begründet hat, als noch bis vor kurzem herrschte –«, was nur die nicht zugeben, welche von dieser »bis vor kurzem herrschenden« Auffassung eben von ihrer pädagogischen Vorbildung her beherrscht geblieben sind. Diese Bemerkung scheint, manchen Beurteilungen der 1. Auflage dieses Büchleins gegenüber, nicht überflüssig zu sein. Es darf gesagt werden, daß alle, die im letzten Jahrzehnt über Pestalozzi selbständig geforscht und dem mühsamen und umfänglichen Studium der Quellen sich ernstlich unterzogen haben, bei manchen Abweichungen in untergeordneten Fragen doch in den Hauptpunkten zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt sind. – Neben diesen gründlichen Untersuchungen ist eine Auswahl aus Pestalozzis Schriften für weitere Leserkreise in Diederichs Verlag, eine andere bei Teubner erschienen. Auch die ergreifenden Liebesbriefe, gewechselt zwischen Pestalozzi und seiner Braut, haben endlich die ihnen gebührende Beachtung gefunden (P.s Liebesfrühling, v. K. Engelhard, 1911). Dagegen vermißte man lange eine zugleich kurz orientierende, von gelehrtem Ballast nach Möglichkeit befreite, und doch tief genug in den Kern der Sache dringende Darstellung der Ideen Pestalozzis. Eine solche wird hier gegeben. Wenn dabei nach der Natur der Sache manches früher Gesagte zu wiederholen war, so tritt doch in dem neuen Zusammenhang vieles unter neue Beleuchtung, und war im einzelnen manches früher Übergangene hinzuzunehmen.

Freilich muß der ganze Versuch einer Systematisierung der Pestalozzischen Gedankenwelt auf harten Widerstand noch immer gefaßt sein. Ich selbst hatte im Eingang der Darstellung in Reins Handbuch des näheren begründet, weshalb Pestalozzis Gedankenwelt eigentlich keine systematische, sondern nur eine historische, am biographischen Faden fortgehende Darstellung zu vertragen scheint. Der Reichtum und die Lebensfülle seiner stets unmittelbar aus den Erfahrungen seines Wirkens und Schaffens erwachsenen Ideen will sich den Fesseln eines Systems nicht gutwillig fügen; und sie mit Gewalt in diese Fesseln schlagen, heißt vielleicht sie ihres besten Vorzugs – eben der Freiheit, in der sie aus dem Leben quellen – berauben. Indessen hat Pestalozzi nach zusammenhängender Theorie doch ernstlich gestrebt und sie als unabweisbare Aufgabe anerkannt, ihren Mangel eben doch als Mangel empfunden. Und, was wichtiger, sein Denken war innerlich derart zentral geeint, daß, wer ihn wirklich aus dem Grunde verstehen will, dem Unternehmen einer Rekonstruktion seiner Ideen aus ihrem wahren Zentrum sich nicht wird entziehen dürfen. Aus dieser Erwägung hatte ich bereits in der genannten Darstellung der eingehenden »entwicklungsgeschichtlichen Vorführung« der Pestalozzischen Ideen wenigstens den knappen »Entwurf eines Systems« derselben folgen lassen. Und ich habe mich seitdem in wiederholter Erwägung der Frage in der Überzeugung nur befestigt, daß neben und nach der historischen eine systematische Darstellung, wie sie dort nur in den allgemeinsten Umrissen versucht war, nicht bloß möglich, sondern unerläßlich gefordert blieb, wenn man einmal sich in den vollen Besitz dieser reichen Schatzkammer fruchtbarer Gedanken sollte setzen können. Es bildet daher die Systematik der Pestalozzischen Ideen, so wie ich sie als Ertrag meiner ganzen bisherigen Forschung zu geben mir getraue, in gegenwärtiger Darstellung die Hauptsache, während die Entwicklungsgeschichte nur im Umriß als erstes Kapitel vorangeschickt wird. Es dürfte damit besonders dem Bedürfnis pädagogisch interessierter Leser entsprochen sein, überhaupt aber aller, die Pestalozzi nicht bloß als ein merkwürdiges Phänomen der Ideengeschichte der Menschheit kennen lernen, sondern so viel als möglich zum eignen Gebrauch aus ihm entnehmen möchten. Denn dazu bedarf es einer Rechenschaft, die nach dem logischen Zusammenhang zu fragen nicht unterlassen kann. Auch dem Soziologen und Historiker, überhaupt jedem, dem es weniger um die Form als um den Gehalt der Pestalozzischen Ideen zu tun ist, schließlich selbst dem, der die schriftstellerische Form des Studiums wert erachtet (die doch nur Form ihres Inhalts sein will und anders gar nicht zu verstehen ist), wird eine solche Vorführung, mag sie immerhin dem Verdacht einer »Konstruktion« unterliegen, zum wenigsten im Sinne der leichteren Übersicht willkommen sein. Wie ganz aber diese Systematik aus der historischen und biographischen Forschung mir erwachsen ist, davon wird, wer es der Mühe wert hält, durch Vergleichung mit der entwicklungsgeschichtlichen Darstellung in Reins Handbuch, wie ich hoffe, überzeugt werden.


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