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Erstes Kapitel.

Pestalozzis Lebensgang und Entwicklungsgeschichte seiner Ideen.

§ 1. (Jugendgeschichte.)

Johann Heinrich Pestalozzi, aus ursprünglich italienischem, aber schon seit der Reformationszeit in Zürich ansässigem und eingebürgertem Geschlecht, war daselbst am 12. Januar 1746 geboren. Sein Vater, Johann Baptist, ein Wund- und Augenarzt, starb im Alter von nur 33 Jahren 1751; so wurde der Knabe mit zwei Geschwistern in bescheidenen, fast dürftigen Verhältnissen hauptsächlich von der Mutter (Susanna, geb. Hotz) und einer treuen Dienstmagd (Barbara Schmid, »das Babeli«) erzogen. Seine große, von Gewandteren leicht auszubeutende Treuherzigkeit und sein scheinbarer Leichtsinn – in Wahrheit vielmehr eine große Unbekümmertheit um äußere und kleine Dinge, die aus früher intensiver innerer Beschäftigung sich erklärt – trug schon dem Schuljungen den Spottnamen »Heiri Wunderli von Thorliken« ein. Obgleich keineswegs ein Musterschüler, pflegte er die Hauptsachen im Unterricht schnell und warm zu erfassen und zählte daher im ganzen wenigstens zu den besseren Schülern. Er machte, wohl nach mehrjährigem Besuch einer deutschen Elementarschule, 1754-1761 die Lateinschule, 1761-1763 das Collegium humanitatis durch und besuchte darauf das hauptsächlich der Ausbildung von Theologen gewidmete, mehr dem Charakter einer Akademie sich nähernde Collegium Carolinum, in welchem er bis Herbst 1765 die beiden unteren Kurse, den philologischen und philosophischen, nicht aber den dritten, theologischen durchlief. Von seinen Lehrern gewann auf ihn den stärksten Einfluß Bodmer, ein Mann, der sich nicht auf Mitteilung des vorgeschriebenen Lehrstoffes beschränkte, sondern persönlich auf die einzelnen Schüler einzuwirken und namentlich sie zu tüchtigen Bürgern ihres Vaterlandes in antik freiheitlichem Geiste zu erziehen strebte. In gleicher Absicht taten viele ernstgesinnte, aus Bodmers Schule hervorgegangene junge Züricher sich zusammen zu einem Verein, der »Helvetischen Gesellschaft zur Gerwe«, so benannt nach dem Zunfthaus der Gerber, wo die Zusammenkünfte stattfanden. Diesem Verein trat, gleich seinen Freunden Lavater, Füßli, Bluntschli u.a. auch Pestalozzi bei. Man kam allwöchentlich zusammen, um Aufsätze der Mitglieder über Gegenstände aus der Geschichte, Politik, Moral und Pädagogik gemeinsam zu lesen und zu besprechen. Als dieser Verein, der wegen seiner entschieden demokratischen Richtung bei den Regierenden der Stadt von Anfang an nicht wohl gelitten war, im Jahre 1767 im Zusammenhang mit politischen Unruhen aufgelöst wurde, kam auch der junge Pestalozzi in ernsten Verdacht gefährlicher Umtriebe; er wurde in Arrest genommen, aber als unschuldig erkannt und mit scharfer Verwarnung entlassen. Eine von den Vereinsgenossen herausgegebene periodische Schrift »Der Erinnerer« brachte auch einige Aphorismen, »Wünsche« betitelt, aus Pestalozzis Feder, worin er unter anderen gemeinnützigen Dingen eine schlichte Erziehungslehre für den einfachen Bürger und Bauern fordert. Bedeutender und sehr bezeichnend für seine damalige politische Richtung ist ein Aufsatz »Agis«, der nebst dem Bruchstück einer Übersetzung der dritten Olynthischen Rede des Demosthenes im »Lindauer Journal« 1766 ohne Nennung des Verfassers erschien. Dieser Aufsatz legt nicht nur Zeugnis ab von Pestalozzis ernster Beschäftigung mit Geschichte und Politik der Alten (Demosthenes, Plutarch), sondern verrät eine geradezu revolutionäre Stimmung. Diese erklärt sich aus dem starken Eindruck der Schriften Rousseaus, die damals erst kürzlich erschienen waren und, wie in aller Welt, so besonders in der Schweiz eine tiefe Gärung hervorgerufen hatten.

Rousseaus Ideen waren auch nicht ohne Einfluß auf Pestalozzis Berufswahl. Nachdem er seine anfängliche Absicht des Theologiestudiums frühzeitig aufgegeben, hatte er eine Zeitlang ernstlich daran gedacht, sich durch das Studium der Rechte zu einer politischen Laufbahn als eine Art Volksanwalt auszurüsten. Sein Freund Bluntschli brachte ihn davon ab, indem er ihn überzeugte, daß ihm dazu die ruhige, kaltblütige Menschen- und Sachkenntnis allzusehr mangle. Aber auch, als er sich dann für den bescheidenen Beruf des Landwirts entschied, waren »sittliche Absichten und Liebe zum Vaterland« (wie er 1771 an Hirzel schreibt) von seiner Entschließung »nicht getrennt«; er gedachte nämlich durch vorteilhafte Bewirtschaftung seines Gutes sich den Weg zu bahnen, um zur Hebung der Volksbildung und Volksökonomie in seiner Umgebung etwas beitragen zu können. Bestärkt wurde er in seinem Entschluß durch die Sehnsucht, ein geliebtes Mädchen, Anna Schultheß (»Nannette«), mit der die gemeinsame Trauer um den früh verstorbenen Bluntschli, der auch ihr hochgesinnter Freund gewesen war, ihn zusammengeführt und deren Liebe er gewonnen hatte, in nicht zu ferner Zeit heimführen zu können. Denn er durfte nicht hoffen, die Hand der wohlhabenden, schönen und gebildeten Kaufmannstochter zu erlangen, wenn es ihm nicht gelang, es in kurzem zu sicherem Wohlstand zu bringen; das hoffte er als Landwirt am ehesten zu erreichen. Die nötigen Fachkenntnisse brachte der angesehene Berner Rudolf Tschiffeli, der in Kirchberg bei Burgdorf ein großes Gut bewirtschaftete, ihm bei; bei ihm verlebte Pestalozzi eine sehr glückliche Zeit (Herbst 1767 bis Frühjahr 1768) in eifrigem Studium. Dann nach Zürich zurückgekehrt, kaufte er größtenteils mit geliehenem Geld ein für seine Absicht sonst nicht ungeschicktes, nur viel zu großes und daher für seine Verhältnisse zu kostspieliges, bisher fast unbebautes Grundstück in der Nähe von Brugg, auf Berner Gebiet, im späteren Kanton Aargau, unweit der Habsburg, und begann es zu bewirtschaften. Nach schweren Kämpfen durfte er (Herbst 1769) seine Braut heimführen. Sein Wohnsitz war, bis das auf seinem Grundstück neuerrichtete Haus »Neuhof« (Frühjahr 1771) bewohnbar war, in Müligen. Der erhaltene, von Seyffarth herausgegebene Briefwechsel der beiden Liebenden gewährt tiefe Einblicke in Pestalozzis Gemütsart und in sein ganzes Treiben während dieser Lehrjahre. Er erscheint in diesen Briefen durchaus nicht als der empfindsame Träumer, als den man nach seinen späten Selbstschilderungen ihn sich vorzustellen pflegt; er zeigt vielmehr eine für seine Jugend erstaunliche Kenntnis von Menschen und Sachen, ein entschlossenes, oft nur zu jähes Handeln, allerdings auch ein heißes, bisweilen zu heftiger Erregung gesteigertes Empfinden. Seine Schreibart ist höchst lebendig und warm, bald stürmend, bald erhaben und wieder anmutig scherzend; kurz, von einer Jugendlichkeit, die ihn in den besten Momenten dem jungen Goethe nahe stellt. Kaum von geringerem Wert sind die Briefe der Anna Schultheß. Ihre beiderseitige Liebe ist von der höchsten und reinsten Art, und ist durch ihr ganzes schweres Leben hindurch so geblieben.

§ 2. (Die Armenanstalt auf Neuhof.)

An dem 1770 geborenen Söhnchen Hans Jakob (»Jacqueli«) konnte Pestalozzi die ersten eigenen Erziehungsstudien machen. Die wertvollen Tagebuchaufzeichnungen über seine Beobachtungen und Versuche an dem vierjährigen Knaben (1774) lassen den Einfluß Rousseaus auch auf seine Erziehungsgrundsätze deutlich erkennen. Sachbildung geht vor Wortbildung; das Sehen, Hören und Tun muß weit vorhergehen dem Urteilen und Schließen. Stetiger, lückenloser Fortschritt der Bildung; »Ordnung, Genauheit, Vollendung, Vollkommenheit« in allem; selber finden, was irgend selber zu finden ist; an der Hand der »Natur« lernen, der der Lehrer nur »leise und still mit der folgenden Kunst fast nebenher schleicht«: das gibt Mut und Freude, ohne die alles Lernen keinen Heller wert ist. Gehorsam muß sein (gegen Rousseau!), aber er muß in freiem Zutrauen, in der Erfahrung der Liebe und überlegenen Einsicht des Erziehers gegründet sein.

Zu einer bedeutenden Erweiterung und Vertiefung seiner pädagogischen Erfahrung führte ihn indirekt das baldige Scheitern seiner landwirtschaftlichen Unternehmung. Sein Plan war an sich zwar nicht unverständig. Aber schon beim Landkauf wurde er durch einen gewissen Merki, der sich durch einige wirkliche Dienste, die er ihm dabei leistete, in sein Vertrauen geschlichen hatte, hinterher betrogen. Überhaupt war Pestalozzi nie ein genauer Rechner. Mißwuchs und sonstige unvorhergesehene Schwierigkeiten kamen hinzu; so begreift es sich, daß das Bankhaus, das den größten Teil der Kosten vorgeschossen hatte und nun den erhofften Nutzen nicht absah, seine Gelder endlich zurückzog. Pestalozzi allein aber konnte unter der drückenden Schuldenlast das ohnehin schwierige Unternehmen auf die Länge unmöglich weiterführen. Dieser Mißerfolg mußte ihn doppelt niederschlagen, weil er so auch jede Hoffnung schwinden sah, zur Linderung des Volkselends, das er jetzt täglich in nächster Umgebung vor Augen sah und das ihm näher ging als die eigne Not, auch nur irgend etwas beitragen zu können. In solcher Bedrängnis kam ihm der Gedanke, es könne ihm zugleich und dem armen Volke um ihn her geholfen werden, wenn er sein Gut in eine Anstalt zur Auferziehung von Armenkindern umwandelte. Die Kinder sollten unter seiner Anleitung vor allem arbeiten lernen; durch die gemeinsame Arbeit des Hauses – Baumwollspinnerei und -weberei, kombiniert mit einfacher Feldarbeit, besonders Gemüsebau – würde die Anstalt, einmal in Gang gebracht, sich bald selber erhalten können, während ihre Zöglinge zugleich die Segnungen eines schlichten, aber liebewarmen Hauslebens genössen und so zu eben der Lebensführung gebildet würden, auf die ihre Lage sie hinwies. Der Plan war nicht bloß in der Absicht vortrefflich, sondern an sich auch sehr wohl ausführbar. Pestalozzi fand in seiner Nähe vielfache Aufmunterung und anfangs auch tätige Hilfe. So konnte die Anstalt im Jahre 1774 ins Leben treten. Indessen wuchs ihm die Sache nur zu bald über den Kopf. Es hätte mehr als menschliche Kräfte gefordert, neben seinem Hauptzweck der Erziehung Feldbau, Fabrikation, Handel und ein ganzes großes Hauswesen mit bis zu 50 Bettlerkindern zu bewältigen. Er hätte allerwenigstens für die äußere Verwaltung und Rechnungsführung geeignete Hilfskräfte zur Seite haben müssen. Ganz besonders nachteilig erwies sich, daß es ohne obrigkeitlichen Schutz, den er vergebens nachsuchte, nicht möglich war, die Kinder zum Bleiben in der Anstalt zu bewegen; die meisten gingen, nachdem sie sich eine Zeitlang in ihr hatten verköstigen und verpflegen lassen, ohne Dank davon. So konnte die Absicht, daß die Anstalt sich durch die Arbeit der Zöglinge selbst erhalte, natürlich nicht erreicht werden. Aus allen diesen Gründen war das Scheitern des Versuchs unvermeidlich. Mit der äußersten Anstrengung vermochte er ihn eine Reihe von Jahren hindurch fortzuführen; endlich aber, im Jahre 1780, mußte er blutenden Herzens die Anstalt auflösen und stand nun da als ein gänzlich Gescheiterter.

In mehreren kleinen Aufsätzen, die der warm für ihn interessierte Iselin in Basel in seiner Zeitschrift »Ephemeriden der Menschheit« 1777 und 1778 zum Abdruck brachte, hat Pestalozzi seinen Plan ausführlich dargelegt und über die Ausführung berichtet. Als Kerngedanke tritt deutlich hervor: Der Arme muß für seine Lage erzogen werden. Seine Auferziehungsstube muß seiner künftigen Wohnstube soviel als möglich gleich sein, während die meisten öffentlichen Stiftungen hiervon gerade das Gegenteil zeigen. Die entscheidenden Fragen sind: 1. Kann die Arbeit der Armenkinder zu so hohem Ertrag gebracht werden, daß dadurch eine solche Anstalt sich selber zu erhalten imstande ist? und 2. Ist es ratsam, die Auferziehung des Armen dem Geiste der Industrie zu unterwerfen? Was wird die Verbindung von Gewerbsamkeit mit Erziehungsanstalten für einen Einfluß auf den späteren häuslichen Zustand der so erzogenen Armen, auf ihr Sittlichkeit, auf ihre körperliche Stärke und auf den Feldbau haben? Beide Fragen glaubt Pestalozzi schon auf Grund seiner unvollkommenen Versuche im günstigen Sinne beantworten zu können. Besonders erkennt er die Erziehung zur Industriearbeit als unumgänglich notwendig. Die Entwicklung zur Industrie ist einmal da und nicht mehr rückgängig zu machen. Der Arme trägt schon jetzt allen Schaden des Fabrikwesens, es gilt ihm jetzt auch den größten möglichen Gewinn davon zu verschaffen, nicht indem man ihn in die nächste beste Fabrik schickt, wo sie »in einer ungesunden Luft zu Maschinen gebraucht werden, wo sie von Pflicht und Sitten nichts hören, wo ihr Kopf, ihr Herz und ihr Körper gleich erdrückt oder wenigstens unentwickelt und ungebaut bleibt«, sondern indem man »den in der Fabrikindustrie liegenden größeren Abtrag der Verdienstfähigkeit des Menschen als Mittel zur Erzielung wahrer wirklicher Erziehungsanstalten, die den ganzen Bedürfnissen der Menschheit genügen«, benützt. Denn an sich ist der Mensch »unter allen Umständen und bei allen Arbeiten der Leitung zum Guten gleich fähig... Mit dem Herzen allein wird das Herz geleitet... Spinnen oder Grasen, Weben oder Pflügen, das wird an sich weder sittlich noch unsittlich machen...« Die wesentliche Voraussetzung ist nur, daß der Gewinn nicht der einzige Endzweck der Industrie, sondern nur das Mittel zu dem wahren Endzweck der Erziehung ist. – Es ist fast derselbe Gedankengang, durch den ein Menschenalter später der hochsinnige Sozialist Robert Owen zu einem auf solideren wirtschaftlichen Grundlagen unternommenen Versuch in ähnlicher Richtung geführt wurde. Im Unterricht der Pestalozzischen Anstalt stand ihrer ganzen Absicht gemäß die Handarbeit weit voran; Lesen, Schreiben, Rechnen wurde auch getrieben, doch glaubte er die Unterweisung darin wenigstens bis zum neunten Jahre hinausschieben zu dürfen. Die Art der sittlichen Unterweisung war »meistens nicht Unterricht des Lehrers«, sondern »teilnehmender Unterricht des Hausvaters, Ergreifung der immer vorfallenden Gelegenheiten, an denen er mit ihnen, sie mit ihm Anteil nahmen«. Rührend ist es, in den Berichten zu lesen, wie Pestalozzi auf die Individualität jedes einzelnen seiner Pflegebefohlenen eingeht, wie er an die verkommensten, elendesten, unbegabtesten bis zu den blödsinnigen herab unermüdliche Sorgfalt wendet und überglücklich ist, wenn er nur eine Spur von Fortschritt bemerkt. »Ich lebte«, sagt er später über diese Zeit, »jahrelang im Kreise von mehr als fünfzig Bettlerkindern, teilte in Armut mit ihnen mein Brot, lebte selbst wie ein Bettler, um zu lernen, Bettler wie Menschen leben zu machen«.

Das Scheitern des hochsinnig geplanten Unternehmens mußte ihn noch ungleich schwerer treffen als sein erster, bloß persönlicher Mißerfolg. Zwar sein Glaube an das, was er gewollt, hat keinen Augenblick gewankt. Aber bei der Welt fand er keinen Glauben mehr. »Andern will er helfen und kann sich selber nicht helfen«: diesen ewigen Spott der Weltklugheit über die selbstvergessene Liebe bekam er wie oft zu hören. Auch seine besten Freunde glaubten, ihm sei einmal nicht zu helfen; sie hielten für ausgemacht, er werde seine Tage im Spital oder gar im Narrenhause beschließen müssen. Der einzige Iselin hielt treu zu ihm und überzeugte ihn, daß »in wichtigen Dingen mutvolle Efforts, auch wenn sie für einmal nicht zum Ziele führen, dennoch entferntere gute Folgen ihrer Natur nach haben müssen«. Auch find die »entfernteren guten Folgen« nicht ausgeblieben; es sind namentlich die sogenannten Wehrlischulen in der Schweiz indirekt aus Pestalozzis Anregung hervorgegangen, welche eben das zu verwirklichen suchen, was er mit seiner Anstalt gewollt hatte.

Seinen Landsitz vermochte er nur dadurch sich zu erhalten, daß er den größeren Teil des Gutes an Verwandte verkaufte, um von dem Erlös seine Gläubiger wenigstens teilweise zu befriedigen. Den ihm verbliebenen Rest gab er in Pacht, bis sein Sohn die Bewirtschaftung übernehmen konnte. Sein zerrüttetes Hauswesen wieder in Ordnung zu bringen, war ein ausgezeichnetes Mädchen, Elisabeth Näf (»die Lisabeth«) ihm behilflich, das um diese Zeit aus freien Stücken als einfache Magd in sein Haus kam und allmählich ganz mit der Pestalozzischen Familie verwuchs. Sie ist das Urbild der »Gertrud« des Pestalozzischen Romans. Später nahm sich ein anderer Baseler Freund, Felix Battier, seiner wirtschaftlichen Lage sachkundig an. Seitdem war wenigstens die eigentliche Not überwunden, und so konnte Pestalozzi sich während der 18 Jahre seiner unfreiwilligen Muße (1780–1798) schriftstellerischen Arbeiten ungestört widmen.

§ 3. (Die »Abendstunde.«)

Er hatte bei seinem verunglückten Versuch Unermeßliches gelernt. Vor allem war eine gründliche Kenntnis des Volkes in seinem Elend und seiner nur tief vergrabenen Kraft, aber auch der Mittel und Wege, wie ihm geholfen werden könnte, ihm wie von selbst zugefallen. Das alles mußte sich aussprechen, und sobald er nur die Feder ansetzte, strömte ihm der Stoff von selbst zu. So entstanden in kurzer Frist (von Nebenarbeiten abgesehen) zwei hochbedeutende Schriften: Die »Abendstunde« und das Volksbuch »Lienhard und Gertrud«.

Die »Abendstunde eines Einsiedlers« erschien in den Ephemeriden, Mai 1780; eine Art Monolog in gedankentiefen, schwer gefaßten Aphorismen, in denen er sich über die Bestimmung des Menschen und die Grundgesetze seiner Bildung klar zu werden sucht. In voller Bestimmtheit tritt schon hier der Kerngedanke hervor, daß allein »im Innern der Natur« des Menschen der Grund derjenigen Wahrheit liegt, die er braucht, die zu seiner rechten Bildung ihm not ist. Aus dieser ersten Voraussetzung folgt die Allgemeinheit der Bildung in dem doppelten Sinne: daß die Grundkraft der Bildung an sich in allen dieselbe ist, und daß sie nach Möglichkeit in allen zu ihrer gesunden Entwicklung gebracht werden muß. Daraus folgt weiter – was schon Rousseau betont hatte – die notwendige Unterordnung der Berufsbildung unter die allgemeine Menschenbildung. Diese ist schon in der »Abendstunde« und überhaupt in allen Dokumenten aus dieser Zeit so klar ausgesprochen, daß es als ein vollständiger Irrtum bezeichnet werden muß, Pestalozzi habe in seiner ersten Periode überhaupt nur an die Berufsbildung der untersten Klasse, und erst seit Stanz und Burgdorf an allgemeine, »humane« Bildung gedacht. – Der zweite Hauptfaktor der menschlichen Bildung ist die »Lage« des Menschen, die »Verhältnisse« oder »Umstände«, in denen er sich findet. Sie sind das vorzüglichste Mittel der Entfaltung der im Menschen selbst schlummernden Kräfte. Zwar erweist sich die äußere Lage des Menschen, so wie er sie vorfindet, der gesunden Entwicklung seiner Anlagen mindestens ebenso oft hinderlich als förderlich; aber es steht an sich in seiner Macht, sie sich so zu gestalten, daß sie zu seiner Bildung förderlich wird. Die Not selbst wird ihm zum Lehrmeister; sie ruft ihn auf, seine Kräfte zu gebrauchen und durch den Gebrauch zu entwickeln; so wird er dann allmählich seiner Lage Herr. Wie der Mensch überhaupt der eigene Gestalter seines höheren, besonders seines sittlichen Lebens, insofern (nach späterem Ausdruck) »Werk seiner selbst« ist, so sind auch die äußeren Lebensformen, in denen und durch die er sich bildet, im letzten Grunde sein eigenes Werk. Es sind die mannigfachen Formen menschlicher Gemeinschaft, von der engsten zu weiteren und weiteren hinauf bis zur höchsten, der des Menschengeschlechtes unter dem himmlischen Vater. Diese Stufenordnung der Gemeinschaftsformen – eine der tiefsten und weittragendsten Voraussetzungen der Pestalozzischen Pädagogik, durch die besonders sie als »soziale« und nicht bloß individuale Pädagogik charakterisiert wird – tritt ebenfalls schon in der »Abendstunde« klar zutage. Und zwar von der engsten Gemeinschaft, der des Hauses, der Familie geht die Bildung des Menschen notwendig aus; denn »immer ist tue ausgebildete Kraft einer näheren Beziehung Quelle der Weisheit und Kraft des Menschen für entferntere Beziehungen... Die häuslichen Verhältnisse der Menschheit sind die ersten und vorzüglichsten Verhältnisse der Natur«, eben weil die engsten und nächsten und damit kraftvollsten, daher gerade der ersten, überhaupt entscheidenden Entwicklung der menschlichen Kräfte günstigsten. Nur ihr vergrößertes Abbild ist der bürgerliche Verein, gleichsam eine Familie von Familien: »Vatersinn bildet Regenten, Brudersinn Bürger; beide erzeugen Ordnung im Hause und im Staat.« Die bürgerliche Gemeinschaft stellt also gleich der häuslichen, nur auf höherer Stufe, eine Arbeits- und damit Bildungsgemeinschaft dar. Über ihr erhebt sich endlich als höchste Form der Gemeinschaft jene ideelle Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechtes, in der wir alle Kinder eines Vaters und damit untereinander Brüder sind. Auch die tiefe, rein moralische Deutung der Religion aus diesem Gesichtspunkt, wie sie in der »Abendstunde« bereits vorliegt, kehrt von da ab in immer neuen und schöneren Wendungen durch alle Lebensperioden Pestalozzis wieder.

§ 4. (»Lienhard und Gertrud«.)

War die »Abendstunde« nur für wenige geschrieben, so wandte sich die zweite Hauptschrift dieser Zeit, der Roman »Lienhard und Gertrud«, als »Volksbuch« an die weitesten Kreise und besonders an das niedere, arbeitende Volk. Er erschien, zunächst in einem Bändchen, zur Ostermesse 1781 und fand sofort lebhaften Anklang. Literarisch angesehen, ist es ein erster, sehr gelungener Versuch in reiner »Heimatkunst«. Das Leben des Volkes ist dargestellt ganz in der eigenen Denk-, Empfindungs- und Sprechweise des Volkes selbst, nicht wie von einem fremden, äußeren Beobachter. Hatte doch Pestalozzi in und mit dem Volke gelebt und alle seine Nöte an eigener Haut erfahren wie selten einer. Und zwar ist dieser erste Teil fast rein darstellend. Auf Volksbelehrung zwar geht die letzte Absicht, aber die Lehre verbirgt sich weise in reine, höchst lebendige und packende Geschichte; allenfalls daß sie hier und da wie unversehens im Gespräch – denn die ganze Fassung ist fast noch mehr dramatisch als erzählend – sich auch einmal direkt äußert. So tritt das Leben des unter schwachem Regiment hauptsächlich durch den schlimmen »Vogt« (Schulzen) Hummel tief gesunkenen Schweizerdorfes Bonnal greifbar, in regster Bewegung dem Leser vor Augen. Man blickt fast in jede seiner ärmlichen Hütten hinein; das Dorfvolk zeigt sich im Alltags- und Sonntagskleid, bei der Arbeit und beim Geschwätz, daheim und auf der Gasse, im Wirtshaus und in der Kirche, in der Barbierstube, in der Gemeindeversammlung, am Totenbett usf. An grellen Lichtern und tiefen Schatten ist nicht gespart; neben den gemütvollen, etwas zu rührsamen Szenen in den Stuben der Gertrud und des Rudi stehen in oft hartem Kontrast die abgefeimten Schurkereien des Vogts und die Jämmerlichkeiten seiner prachtvoll gezeichneten Mitlumpen, der unheimlich komische Auftritt, wie der Vogt aus Rache in mitternächtiger Stunde dem Schloßherrn im tiefen Walde einen Markstein versetzen will und der gerade des Weges kommende Hühnerträger mit dem Windlicht als Teufel in Person den Entsetzten den Berg hinabjagt. Der frische Realismus der Darstellung begreift sich zum Teil daraus, daß Pestalozzi vielfach Gestalten aus dem Leben, natürlich mit Freiheit, nachgezeichnet hat; zum Vogt hat der oben erwähnte Merki Modell gesessen, zur Gertrud die Lisabeth usf. So wirkt alles wie unmittelbar aus dem Leben gegriffen; die Vorgänge, die ganze Milieuschilderung sind zugleich ein derart typischer Ausdruck damals weit verbreiteter Zustände, daß beinahe jedes Dorf seine Leute in den Figuren des Romans wiederzuerkennen meinte.

Indessen ihm war es nicht genug, bloß den gegebenen, oft traurigen Zustand wahrheitsgetreu dargestellt zu haben; es galt, zu den Quellen der Übel aufzusteigen. Es war gezeigt: so ist es; aber nun fragte es sich: Warum ist es so? Und wie kann man machen, daß es anders werde? Diese weitere Absicht führte zu den ursprünglich wohl nicht geplanten Fortsetzungen des Romans und dann zu dem zweiten Volksbuch »Christoph und Else«, das ganz eigentlich einen Kommentar zum ersten Teil von »Lienhard und Gertrud« darstellt, nämlich zur Erzählung die direkte Lehre hinzufügt.

Zunächst enthält der zweite Teil des Romans (1783) in der Hauptsache die Vorführung, wie es zu den im ersten gezeichneten schlimmen Zuständen hatte kommen können, besonders in Gestalt der eingehenden Lebensbeschreibung des Vogts Hummel, in dem das Verderben des ganzen Dorfes sich gewissermaßen zusammenfaßt. Diese Geschichte beleuchtet vor allem die harte Wahrheit, daß jeder in die gleiche Schlechtigkeit versinken kann, wenn er in Lagen gerät, die geeignet sind, »den Samen des Bösen in ihm so zu entwickeln, wie aus einer einzigen Kornähre ein ganzes Viertel Frucht werden kann«. »Die Umstände machen den Menschen.« Eine schneidende Kritik der üblichen Justiz liegt in der ganzen Vorführung eingeschlossen. Pestalozzi arbeitete in derselben Zeit an der hochbedeutenden Studie über » Gesetzgebung und Kindermord«; da war ihm jene grause Wahrheit und die Ohnmacht der bisherigen Justiz gegen sie in erschütternder Stärke entgegengetreten. Es ist auffallend, wie Pestalozzi hier die wesentlichsten Gedanken der modernen Kriminologie erreicht: daß der Gesellschaft am Verbrechen nicht nur die Mitschuld, sondern geradezu die Hauptschuld zufällt, und daß die Behandlung des Verbrechers einzig darauf gerichtet sein muß, ihn zum sozialen Leben wieder tauglich zu machen, daß sie nichts anderes sein soll als »rückführende Schule des verirrten Menschen in die Bahn und den Zustand, in welchem er gewesen wäre ohne seine Verirrung«.

Kein Wunder, daß eine so harte Rede niemand gerne hören mochte. Schon der zweite Teil des Romans fand weit geringeren Anklang als der erste. Im dritten (1785) geht es endlich an die Heilung der Schäden. Er ist daher für den Pädagogen eigentlich der wichtigste. Es ist gewissermaßen ein Handbuch der sozialen Pädagogik, nicht in trockenen Lehrsätzen, sondern in anschaulicher Vorführung am typischen Fall des durch weise Maßnahmen einer gerechten und wohlwollenden Regierung, hauptsächlich aber durch die eigenen, noch nicht ganz zugrunde gerichteten Kräfte des Volkes selbst, durch das stille und sichere Wirken einer kleinen Zahl treu verbundener Männer und Frauen in ihm aus tiefstem Elend sich langsam wieder emporarbeitenden Spinnerdorfs. Die sozialen Bedingungen der Erziehung rücken hier besonders in helles Licht, und auf diesem sozialen Hintergrunde baut dann die Hauserziehung der Gertrud und die ihr treulich nachgebildete Schulerziehung des Glülphi sich um so wirksamer auf; beide greifen so ganz unmittelbar ein in das Leben, in das Arbeitsleben des ganzen Dorfes.

Zuerst kommt es darauf an, die äußere Lage der unteren Volksschichten zu bessern, die notwendigsten wirtschaftlichen Vorbedingungen für ihre geistige und sittliche Hebung zu schaffen, denn »im Sumpf des Elends wird der Mensch kein Mensch«. Aber dazu muß vor allem die eigene Tätigkeit des Volkes aufgerufen und kräftig in Anspruch genommen werden; alle Hilfe, die man ihm bietet, darf nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Einer solchen Hilfe bedurfte es allerdings bei der gegebenen Lage. In einem stabilen Zustand, bei überwiegend ländlicher Arbeit gibt es eine ständige Fortpflanzung der sehr einfachen und stetigen, diesem Zustand genügenden Bildung des Landvolkes. Erst die große, damals bereits allenthalben sich ankündigende Umwälzung der Wirtschaft vom Landbau zur Industrie war es, die eine ernste Krise auch in der Erziehung des arbeitenden Volkes heraufgeführt hatte. Das unvermittelte, unvorbereitete Eindringen der Industriearbeit und des Industrieverdienstes in eine bloß auf den Feldbau innerlich eingerichtete und gerüstete Bevölkerung, das war der Nährboden, in dem alle sozialen Übel wuchern konnten. Da also mußten Gesetzgebung und Erziehung mit genau ineinandergreifenden Maßregeln einsetzen. Aus diesem Zusammenhang begreift es sich, weshalb Pestalozzi in dieser Zeit auf die Bildung zur gewerblichen Arbeit ein so starkes Gewicht legt und die ganze häusliche und Schulbildung ihr schlechthin unterordnen will. Er war nicht der Rousseauschen Überzeugung von der notwendigen Unterordnung der Berufsbildung unter die humane Bildung etwa untreu geworden. Die Unterordnung der Schulbildung, des Wortwissens unter die Berufsbildung steht vielmehr in bestem Einklang mit der Unterordnung der Berufsbildung selbst unter den schließlichen Zweck der Menschenbildung. Die Berufsbildung ist nur das erstwesentliche Mittel, auf Grund dessen allein hernach die höhere Schule des Lebens den Menschen zur »ganzen Befriedigung seiner Menschheit« führen kann. Denn »die Lebenspflichten des Menschen sind der einzige echte Lehrmeister ihres Wissens und ihrer besten Erkenntnisse«. So läßt er denn, nach dem Vorbild der Hauserziehung der Gertrud, seinen Schulmeister die berufliche Arbeit geradezu in die Schule einführen. Die Kopfarbeit kommt dabei übrigens nicht zu kurz, und es wird, namentlich im Rechenunterricht, über dem unmittelbaren Zweck der beruflichen doch auch der höhere der menschlichen Bildung nicht vergessen. Vollends die Bildung des »Herzens«, d. h. die sittliche Bildung im Gewande der religiösen, tritt in nicht bloß gleichberechtigter, sondern überragender Stellung neben die des »Kopfes« und der »Hand« (eine von da ab ständig wiederkehrende Dreiteilung). Denn »Erziehung und nichts anderes ist das Ziel der Schule; nichts geringeres als das Erziehen der Kinder, und was immer ihr ganzes Erziehen erfordert, liegt im Kreise ihrer Aufgabe«. – Zur Erziehung hilft aber die Schule nur als ein wichtiger Faktor, in genauem Zusammenwirken mit allen übrigen: den wirtschaftlichen Ordnungen, der bürgerlichen Verfassung, Zivil- und Strafgesetzgebung, der Ordnung der gemeinen Zucht und Sitte, endlich der Religion. Und indem nun diese alle als Faktoren einer »höheren Polizei« (Staatskunst) in einen einzigen Zusammenhang gebracht, auf ein und dasselbe letzte Ziel der Bildung des Menschen zum Menschen, des wilden Triebwesens zum Vernunftwesen, gelenkt werden sollen, so finden wir uns hier recht im Mittelpunkt jener Totalansicht des sozialen Lebens und der sozialen Erziehung, der Erziehung als Gemeinschaft und der Gemeinschaft als Erziehung, welche wir heute mit dem Schlagwort »Sozialpädagogik« zu bezeichnen pflegen.

Im vierten Teil des Romans (1787) endlich erweitert sich die Betrachtung vom einzelnen Dorf auf ein ganzes Land. Zugleich wagt Pestalozzi am Schluß des Werkes den Versuch einer eigentlichen Theorie, einer »Philosophie« seines Buches. Diese erfährt noch eine weitere Vertiefung in der (sonst geringeren) zweiten Bearbeitung des Romans (1790-1792). Die soziale Erziehung baut sich danach in drei wesentlichen Stufen auf: 1. »Erziehung« im engeren Sinne; diese soll wesentlich Hauserziehung sein, die zugleich das Vorbild für die Schulerziehung abgibt. Sie ist aus dem schon angegebenen Grunde vorzugsweise Erziehung zur wirtschaftlichen Arbeit. 2. »Regierung«, die in voller Konsequenz gleichfalls dem letzten Zweck der sittlichen Bildung untergeordnet wird. Sie ist hier als Aristokratie vorausgesetzt, aber dies ausdrücklich nur im Hinblick auf die gegebene Lage und mehr im Sinne einer ernsten Warnung: wollte der Adel sich noch in letzter Stunde auf seine wahre Aufgabe besinnen, so würde es seine Rettung sein; da er sich wirklich nicht darauf besann, so mußte er freilich fallen. Das Dritte ist die »Religion«, die hier ganz nur als »Schlußstein« jener »höheren Polizei«, des Staates im umfassenden und höchsten Sinne als einziger großer Anstalt zur sozialen Erziehung, gedacht ist.

§ 5. (Pestalozzi und die Revolution.)

Wie in seinem Roman, so sieht Pestalozzi durchweg in dieser Zeit die Fragen der Erziehung im engsten Zusammenhang mit denen der Wirtschaft und der Politik. Die schon genannten Schriften: »Über Gesetzgebung und Kindermord« (gedr. 1783), dann das zweite Volksbuch » Christoph und Else« (1782), ferner eine Reihe von Aufsätzen der im Jahre 1782 herausgegebenen (nicht weiter fortgesetzten) Zeitschrift » Ein Schweizerblatt«, kurz alle die zahlreichen Arbeiten aus dieser Zeit zeigen einstimmig diese Richtung und liefern noch viele und wertvolle Beiträge zu dem großen Thema der »sozialen Pädagogik«.

Unablässig, aber vergeblich bemüht sich dabei Pestalozzi um eine erneute praktische Wirksamkeit. An den Illuminatenorden wendet er sich, durch diesen an den österreichischen Staatsmann Grafen von Zinzendorf; dem Großherzog von Toskana, nachmaligen Kaiser Leopold II., legt er verschiedene Denkschriften über sozialpolitische Fragen in derselben Absicht vor. Die Eindrücke der französischen Revolution konnten ihn in der allgemeinen Richtung seiner Forschung auf soziale und politische Fragen nur bestärken, obgleich der Gesichtspunkt der Menschenbildung für ihn stets der beherrschende blieb. Die Briefe an Fellenberg aus dem Anfang der neunziger Jahre geben Kunde von seiner starken Anteilnahme an den Ereignissen in Frankreich. Sehr ernstlich faßt er dann – nachdem er 1792 neben Schiller und Klopstock Ehrenbürger der französischen Republik geworden ist – das Problem der französischen Revolution ins Auge in der werkwürdigen (damals übrigens nicht zur Veröffentlichung gelangten) Schrift » Ja oder Nein« (geschrieben »im Hornung 1793«). Den bedeutendsten Anlauf aber zu einer »Philosophie seiner Politik« nimmt er in dem um dieselbe Zeit entworfenen, 1797 gedruckten Buche » Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts«, welches von Herder, der es rezensierte, mit vollem Recht eine »Geburt des deutschen philosophischen Genius« genannt wird. Von Rousseau nimmt Pestalozzi auch hier seinen Ausgang; gleich ihm stellt er den »gesellschaftlichen« Zustand des Menschen in schroffen Gegensatz zum »natürlichen«; auch die Erklärung des ersteren durch den Grundbegriff des »Vertrags« (d. h. der gegenseitigen Bindung) teilt er mit ihm. Aber er schreitet dann über Rousseau wesentlich hinaus, indem er jenen beiden, dem natürlichen und gesellschaftlichen Stande, als dritten, gänzlich heterogenen, den sittlichen Stand entgegengestellt, der beide überwinden, aber nicht etwa zunichte machen, sondern in seinen Dienst nehmen, die »Natur« und die bürgerliche Verfassung des Menschen als bloße Mittel dem einzigen Endzweck seiner reinen sittlichen Bildung unterwerfen soll; worin man sofort den Grundgedanken der »Abendstunde« wie des Romans in nur vertiefter und geklärter Gestalt wiedererkennt. In dem Gedanken der Autonomie des Sittlichen, auch in der hier wieder besonders tiefen und großartigen Aufhellung der Religion aus dem Gesichtspunkte der Sittlichkeit, begegnet sich Pestalozzi offenbar mit Kant. Auch ist dies Zusammentreffen nicht mehr ganz ein unbewußtes. Gerade während der Abfassung dieses Buches hatte Pestalozzi in eingehenden Unterredungen mit dem jungen Fichte sich überzeugt, »sein Erfahrungsgang habe ihn im wesentlichen den Resultaten der Kantischen Philosophie nahe gebracht« (an Fellenberg, 16. Januar 1794). – Ein weiteres interessantes Denkmal aus dieser bewegten Zeit sind die » Figuren zu meinem Abcbuch« (1797), später » Fabeln« betitelt, geistreiche politische Satiren in Form von Tierfabeln oder richtiger Parabeln.

An den Streitigkeiten, die um diese Zeit zwischen den Regierenden der Stadt Zürich und der Landbevölkerung am See ausbrachen (den »Stäfner Unruhen«), war Pestalozzi, der sich damals viel im Hause seines Oheims Hotz in Richtersweil aufhielt, persönlich beteiligt; er hat Hand in Hand mit dem alten Freunde Lavater die größten Anstrengungen gemacht, nach beiden Seiten versöhnend, aber soviel möglich im Sinne der freiheitlichen Grundsätze zu wirken. Inzwischen griff die revolutionäre Bewegung von Frankreich nach der Schweiz hinüber. Im März 1798 erfolgte die Proklamation der einen unteilbaren Helvetischen Republik durch die Franzosen. Pestalozzi hatte den Sieg der Freiheit nicht von dieser Seite und nicht in dieser Form herbeigewünscht; aber es galt jetzt aus der einmal geschehenen Umwälzung das Beste zu machen, was sich daraus machen ließ. Und wenigstens entfachte der politische Sturm ein neues Bestreben auf Hebung der Volkserziehung. Das war der Augenblick, wo der bereits 52jährige, den man überall »unbrauchbar« befunden hatte, hoffen durfte, wieder für brauchbar erkannt zu werden. Er stellte sich der Regierung zur Verfügung zu einem neuen Versuch der Erziehungsarbeit am niederen Volk. Nie damals leitenden Männer, besonders der hochgesinnte Minister der Künste und Wissenschaften, Stapfer, brachten ihm Verständnis und Wohlwollen entgegen. Einstweilen beschäftigte man ihn, durch Flugschriften das Volk über die Absichten und Maßnahmen der neuen Regierung aufzuklären und in vorsichtiger Weise für diese zu gewinnen. Seit September 1798 gab Pestalozzi, der in dieser Zeit in Aarau wohnte, mit Regierungsunterstützung das » Helvetische Volksblatt« heraus, für welches er wieder eine Reihe von Aufsätzen selbst verfaßte. Die wichtigsten politischen Arbeiten aus dieser Zeit sind die zwei Blätter über den Zehnten (nur das erste damals erschienen), in welchen er nicht ohne Schärfe für gänzliche Abschaffung des Zehnten, für Staatssteuern streng nach dem Maße der Leistungsfähigkeit (progressive Einkommensteuer, mit Steuerfreiheit für ein reichlich bemessenes Existenzminimum) kämpfte.

§ 6. (Das Wirken in Stanz.)

Inzwischen trat ein Ereignis ein, das, obgleich erschütternd für sein patriotisches Gemüt, doch dadurch für ihn hochbedeutsam wurde, daß es seinem heißen Verlangen nach einem unmittelbar praktischen Wirken als Volkserzieher endlich die Erfüllung brachte. Nach der Niederwerfung des gegen die neue Verfassung aufsässigen Stanz im September 1798 gab es dort über 400 Kinder, deren Eltern im Krieg umgekommen oder ganz verarmt waren. Pestalozzi bat nun, ihn dorthin, wo Hilfe so not tat, zu entsenden, um sich dieser verlassenen Kinder anzunehmen. Die Bitte wurde gewährt; noch im Dezember 1798 begab sich Pestalozzi nach Stanz, wo er nach notdürftiger Herrichtung der erforderlichen Baulichkeiten beim dortigen Frauenkloster 1799 seine Arbeit mit Feuereifer begann. Man war erstaunt, wieviel er in kurzer Frist mit den gänzlich verwahrlosten Kindern erreichte. Der sichtliche Erfolg hob seinen Mut. Zwar erschien sein Tun noch gänzlich planlos; der Plan sollte ihm aus seinen Erfahrungen erst erwachsen, und da sollte ihm niemand dreinreden. Irgendeine Hilfe hätte er vorerst gar nicht annehmen können, da er noch nicht so weit war, von dem, was zu tun sei, sich selbst, geschweige anderen bestimmte Rechenschaft geben zu können. Auch diesmal war ihm leider nicht vergönnt, seinen Versuch ruhig zu Ende zu führen. Die Kriegswirren störten herein, die Räumlichkeiten der Anstalt wurden für ein Lazarett in Anspruch genommen; gleichzeitig war Pestalozzi von der ungeheuren Anstrengung bis zum Blutspeien erschöpft und mußte auf dem Gurnigel Erholung suchen. Als dann der Waffenlärm sich wieder verzogen hatte und er die nur aus Not auf Zeit verlassene Arbeit wieder aufnehmen wollte, hieß es, er sei als Protestant in dem ganz katholischen Ländchen für einen solchen Posten nicht geeignet, und dergleichen mehr; kurz er wurde, trotz warmer Fürsprache Stapfers, nicht wieder nach Stanz zurückgelassen. Mit Mühe erwirkte ihm der Minister statt dessen die Erlaubnis, an den geringsten Winkelschulen des Städtchens Burgdorf seine Versuche einstweilen fortsetzen zu dürfen.

Das kurze Wirken in Stanz, über das er in einem damals verfaßten, später (1807) durch Niederer veröffentlichten Aufsatz (» Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz«) höchst lebendigen Bericht gibt, wurde für das Innere seiner Absichten hochbedeutsam. Denn hier entstand ihm zuerst die Idee, die sein ganzes ferneres Wirken bestimmt und die er fortan stets als die Grundidee seiner gesamten Erziehungsforschung und Erziehungsarbeit betont: die » Idee der Elementarbildung«. Zwar ist es nicht (wie Niederer meinte und dann diesem oft nachgesprochen worden ist) etwas absolut Neues, was er von jetzt ab erstrebt. Namentlich ist seine frühere Absicht, die kindliche Unterweisung streng an die Bildung zur wirtschaftlichen Arbeit anzuknüpfen und der Wohnstubenerziehung genau nachzubilden, keineswegs aufgegeben. Aber es wird ungleich bestimmter als bisher erkannt und durchgeführt, daß die Bildung des Kopfes wie des Herzens und der Hand von den ersten, einfachsten »Elementen« ausgehen und von da in »lückenlosem Fortschritt« zu allen höheren Stufen erst emporsteigen muß; und die Forschung nach diesen Elementen und diesem geregelten Fortschritt ist es, die von diesem Zeitpunkt an beherrschend in die Mitte seiner praktisch-pädagogischen Versuche wie seiner theoretischen Erwägungen tritt. Eben da seine Erzieherarbeit sich an die Kleinsten der Kleinen, an die Geringsten der Geringen wandte, so war es notwendig, bis zu den denkbar schlichtesten Anfängen zurückzugehen; in diesen elementaren Anfängen aber – das erkennt er jetzt – liegt gerade die höchste Kraft; denn sie enthalten als Keime die ganze fernere Entwicklung in sich. Diese Anfänge sind in Wahrheit Ursprünge, und darum nicht bloß für den Beginn der Erziehung, sondern für ihren ganzen Verlauf vor allem anderen wichtig.

Mit dem Begriff der »Elementarbildung« aber entsteht ihm zugleich sein neuer Begriff der » Anschauung«, der in den früheren Schriften nur hier und da von fern anklingt, von jetzt ab aber als unterscheidender Grundbegriff der Pestalozzischen Erziehungslehre bestimmt und sicher hervortritt. Ganz falsch nimmt man Pestalozzis »Anschauung« für ein und dasselbe mit der sinnlichen Wahrnehmung. Daß von der Erfahrung, das heißt, von den Wahrnehmungen der Sinne, alle menschliche Erkenntnis, also alle menschliche Bildung anfangen müsse, diese Einsicht war nichts weniger als neu; das hatten von Aristoteles an nicht bloß die Mehrzahl der Philosophen, sondern auch alle denkenden Pädagogen angenommen; Comenius hatte es nachdrücklich betont, und seit Rousseau und den Philanthropinisten war es sozusagen die allgemeine Losung des Zeitalters geworden. Aber für Pestalozzi bedeutet die »Anschauung« von Anfang an mehr; sie bedeutet die Betätigung, das Zurtatwerden der Idee; diese geht nicht bloß im Lehrenden voran, als solle er sie nun in den Lernenden von außen hineinbringen, sondern sie liegt der Anlage nach ursprünglich im Lernenden selbst zugrunde, und die sinnliche »Anschauung« ist bloß ihre Betätigung im Konkreten, an der nur darum die Idee ihm bewußt werden kann, weil sie von Anfang an als gestaltende Kraft in ihr wirkt und lebt. Diese Auffassung der »Anschauung«, die im Briefe über Stanz zum erstenmal klar zutage tritt, versteht sich allein aus dem Zusammenhange einer idealistischen Ansicht von der Erkenntnis etwa im Sinne Kants, dessen Gedanken Pestalozzi, ohne je dem Buchstaben nach Kantianer zu sein, doch der allgemeinen Richtung nach in sich aufgenommen und als mit der uranfänglichen Tendenz seines eigenen Bestrebens einig erkannt hatte. War es doch nur die klare Konsequenz der seit der »Abendstunde« von ihm bekannten Überzeugung, daß im »Innern der Natur« des Menschen – jedes Menschen – von Anfang an der Keim der ganzen menschlichen Entwicklung liege, daß er hinsichtlich dieser wesentlich »Werk seiner selbst«, nicht einer ihm äußeren »Natur« oder gar der Gesellschaft sei; daß zwar ihn die Umstände »machen« helfen, aber nur indem zuerst er die Umstände so gemacht hat, wie sie zu seiner Bildung (die immer wesentlich Selbstbildung bleibt) ihm dienlich sind. Dieser autonomistische und damit idealistische Grundzug der Pestalozzischen Pädagogik darf nicht verwischt werden.

§ 7. (Das Wirken in Burgdorf. »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt.«)

Pestalozzi brannte auf die vollständigere Durchführung der in Stanz nur erst begonnenen Erfahrungen. Er ging in Burgdorf sofort mit ungestümem Eifer wieder ans Werk und in immer erneuten, anfangs zwar noch unsicher tastenden Versuchen gestaltete sich seine » Methode« allmählich fester und fester. Schon bestimmter formuliert er jetzt jene beiden Grundforderungen: das Ausgehen von den »Elementen« und das lückenlose, stetige Fortschreiten von diesen zu allen höheren Stufen des Unterrichts; das Prinzip des » physischen Mechanismus«, wie er in einem freilich mißverständlichen und tatsächlich vielfach mißverstandenen Ausdruck es nennt. Solche bestimmte »Reihenfolgen« für die einzelnen Hauptfächer des Unterrichts festzustellen, das war jetzt das Nächste, worauf seine Forschung sich richtete, und was nach manchen vergeblichen Versuchen immer sicherer gelang. Seit dem Frühjahr 1800 half ihm dabei mit ausgezeichnetem Verständnis der treffliche Krüsi, dann Tobler und Buß, und im Oktober desselben Jahres durfte er mit diesen Gehilfen auf dem Burgdorfer Schloß, das ihm von der Regierung für seinen Zweck zur Verfügung gestellt wurde, eine eigene Anstalt eröffnen. Sein Tun erregte sofort Aufmerksamkeit nicht bloß in der Schweiz, sondern weit darüber hinaus, namentlich in Deutschland; Zöglinge kamen in Fülle, Besucher drängten sich heran, die Augenzeugen seiner Versuche sein wollten und oft begeisterte Berichte über ihre Beobachtungen in die Öffentlichkeit brachten.

Die wichtige Denkschrift » Die Methode«, datiert 27. Juni 1800, gibt zuerst von den neuen Grundsätzen seines Verfahrens Rechenschaft. Was aber hier nur erst in knappem Entwurf vorliegt, wurde dann ausführlich entwickelt in der in den ersten Monaten des neuen Jahrhunderts niedergeschriebenen, im Oktober 1801 erschienenen größeren Schrift » Wie Gertrud ihre Kinder lehrt«. Sie galt und gilt allgemein und mit Grund als Hauptdokument für das, was Pestalozzi seine »Methode« nennt. Sie stützt sich ganz auf seine Erfahrungen und Versuche, aber sucht sich über diese doch in einigem Maße auch theoretisch klar zu werden. Das wurde ihm, dem das Theoretisieren stets ein ungewohntes Geschäft war und blieb, freilich etwas schwer, und es ist zumal bei der Eigenheit seiner Darstellung, die sehr oft den gebrauchten Kunstwörtern einen vom üblichen abweichenden Sinn beilegt, leicht begreiflich, daß über die Bedeutung seiner Prinzipien vielfach hat gestritten werden können. Doch darf jetzt so viel als ausgemacht gelten, daß seine Grundüberzeugung hinsichtlich des Entwicklungsganges der Erkenntnis die idealistische und daher wesentlich einig ist mit der Kants, die ihm auf mancherlei Wegen bekannt werden konnte und nachweislich bekannt geworden ist, die er aber schließlich weder aus Büchern noch aus persönlichen Anregungen philosophisch geschulter Freunde geschöpft, sondern, nachdem er sie sich in der Hauptsache selbständig errungen hatte, erst hinterher durch einige von Kant herrührende, übrigens nicht in buchstäblicher Fassung von ihm übernommene Formulierungen sich deutlicher zu machen versucht. Die »Form« des Unterrichts, die er sucht, hat ihren Grund in der allgemeinen »Form« der Erkenntnis; diese entwickelt sich zwar in und an der »Anschauung«, aber erwächst nicht aus dem Sinnlichen dieser Anschauung, sondern liegt von Anfang an in der »allgemeinen Einrichtung« oder »Grundlage« unseres Geistes, »vermöge welcher unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfängt, in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist zu einem Begriff auffaßt« (eine ziemlich genaue Wiedergabe des Kantschen Grundprinzips der »synthetischen Einheit«), und erst dann, durch nachfolgende Analyse, sich auch »deutlich macht«. Auf diese Weise ist jede Linie, jedes Maß, jede Zahl, jedes Wort »Resultat des Verstandes« aus »gereiften Anschauungen«, und somit die Grundsätze des Unterrichts von der »unwandelbaren Urform der menschlichen Geistesentwicklung« zu abstrahieren. So wird der Unterrichtsgang »reiner Verstandesgang«; durch ihn wird die »Anschauung selber dem Schwanken ihrer bloßen Sinnlichkeit entrissen und zum Werk« (zur eigenen Schöpfung) ... »des Verstandes gemacht«; eine geradezu schroff idealistische Beschreibung des Ganges der Erkenntnisgewinnung, die mit irgendeiner sensualistischen Ansicht nicht sollte verwechselt werden können. Genaueres darüber in meiner Biographie, Kap. 5, in den Gesammelten Abhandlungen, VI, und im nächsten Kapitel.

Großes Gewicht legt Pestalozzi sodann auf die Festlegung der » Elementarpunkte« der menschlichen (Verstandes-)Bildung; als solche gelten ihm genau die drei: die Zahl, die Form (i. e. S.: die Raumform) und das Wort der Sprache. Irrtümlich hat man diese drei als gleichwertig nebeneinanderstehend aufgefaßt und sich dann über die Zusammenstellung so ungleichartiger Dinge nicht ohne Grund gewundert. Aber die ursprüngliche Gestaltung des Gegenstandes in der Erkenntnis soll offenbar die durch Zahl und Form allein sein; erst eine wiederholende Nachschöpfung (und dann auch Weiterfühlung) dieser ersten Schöpfung, von dieser durchaus abhängig, ist die Leistung der Sprache, wobei in erster Linie an die Begriffsfassung, ja geradezu an die kategoriale Bestimmung des Gegenstandes gedacht ist. In der näheren Ausführung freilich legt Pestalozzi – zum Teil in auffallendem Maße sich selbst mißverstehend – auf das Lautliche bei der Sprache und dann auf die Nomenklatur ein übertriebenes Gewicht, überhaupt steht die Bearbeitung der Sprachlehre in dieser Hauptschrift und auch in den weiteren, mit Ausdauer durch sein ganzes ferneres Leben fortgesetzten Versuchen entschieden zurück gegen die des mathematischen Unterrichts, die fast überall in die Tiefe der Sache führt und auch in der Einzelausführung sich fast in jedem Punkte probehaltig erweist. In Pestalozzis » Abc der Anschauung« liegt der tiefe und wahre Gedanke, daß alle »möglichen« Form- und Zahlverhältnisse sich aus wenigen einfachsten Grundelementen in zwingender Folgerichtigkeit aufbauen müssen, und zwar in engster Wechselbeziehung die Grundverhältnisse der Form zugleich mit denen der Zahl und umgekehrt; so zwar, daß die Zahl die Denkfunktion selbst in ihrer Reinheit, die Form deren zugleich anschaulich konkrete Darstellung vertritt, welches beides, ganz wie Kant es verstanden hatte, nur in enger wechselseitiger Beziehung zueinander zu seiner gesetzlichen Gestaltung und Entfaltung gebracht werden könne. So ist die Idee der Elementarbildung, wenigstens was die Ausbildung des Verstandes betrifft, bis zu einem gewissen Punkte richtig durchgeführt. Die entsprechende Durchführung in Hinsicht der technischen und namentlich der sittlichen Bildung wird als Forderung aufgestellt, und wenigstens die letztere in den Grundlinien auch angedeutet. In der Praxis der Pestalozzischen Anstalt freilich trat gegen die Pflege der Mathematik und des mathematischen Zeichnens, die schon früh eine hohe Vollendung erreichte, einstweilen fast alles andere in den Hintergrund, so daß sogar der falsche Schein aufkommen konnte, als werde das, was doch stets für Pestalozzi die große Hauptsache gewesen war, die sittliche Bildung und zwar auf der Grundlage der Arbeitsbildung, jetzt von ihm vernachlässigt und hintangesetzt. Doch müßte man nicht nur den ganzen früheren und späteren Pestalozzi, sondern auch die letzten Abschnitte der Hauptschrift selbst völlig übersehen oder nicht verstanden haben, um diesen Vorwurf irgend als begründet gelten lassen zu können.

Ganz den Grundsätzen der Hauptschrift entsprechen die in dieser bereits angekündigten, 1803 und 1804 erschienenen » Elementarbücher«: das » Buch der Mütter« und die beiden » Anschauungslehren« der Maß- und Zahlverhältnisse. An ihrer Ausarbeitung waren die Mitarbeiter Pestalozzis stark beteiligt, doch rühren die Einleitungen von Pestalozzi selbst her und ist auch das übrige wenigstens seinen damaligen Überzeugungen sicher entsprechend. Nicht von ihm, sondern von Krüsi stammt der auffällig verfehlte, gleichwohl von ihm selbst aufgenommene Gedanke, die früheste Bildung der kindlichen Begriffe an das Studium des eigenen Körpers des Kindes zu knüpfen. Übrigens ist der Gehalt des »Buches der Mütter« in diesem Fehlgedanken keineswegs erschöpft; namentlich sollten die (von Pestalozzi selbst herrührenden) vortrefflichen Ausführungen über die frühe Bildung der Sinne nicht übersehen werden.

Seit dem Erscheinen des bei allen sachlichen und formalen Mängeln hochbedeutenden, auch durch die Wärme und Persönlichkeit der Darstellung fesselnden Buches (»Wie Gertrud usw.«, von den Zeitgenossen kurz » Gertrud« zitiert) wuchs der Ruf der Pestalozzischen Anstalt zusehends. Auf die allgemeine Würdigung Pestalozzis übten wohl den stärksten Einfluß der Bericht des Dekans Ith von Bern (1802, Neudruck 1902) und Anton Gruners » Briefe aus Burgdorf« (1804). Beide Männer, bis dahin eifrige Anhänger der herrschenden rationalistischen Pädagogik, waren höchst mißtrauisch nach Burgdorf gekommen, beide gingen als überzeugte Anhänger Pestalozzis und eifrige Fürsprecher seiner Sache. Gruner besonders hat die Formeln geprägt, in denen man den Unterschied der Lehrart Pestalozzis von der gemeinhin herrschenden auszudrücken liebte: er strebe intensive Bildung an, nicht bloß extensive, formale statt materialer; er gehe aus auf die Entwicklung der Denk- und Erkenntnis kraft und lege nicht den Schwerpunkt in das zu erkennende Objekt. Auch darüber sind alle Urteilsfähigen in jener Zeit einig, daß unter Pestalozzis »Anschauung« etwas wie Kants »reine« Anschauung und nicht empirische Wahrnehmung zu verstehen sei. Pestalozzi selbst hat dies wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht in der im Dezember 1802 für einige Pariser Freunde aufgesetzten Denkschrift » Wesen und Zweck der Methode«.

§ 8. (Buchsee und Iferten. Die Glanzzeit

.) Die Tage von Burgdorf – wohl die glücklichsten seines Lebens – näherten sich indessen schon ihrem Ende. Im Winter 1802/03 war Pestalozzi als Abgeordneter in Paris, um über die Verfassung Helvetiens mitzuberaten. Aber bereits im März 1803 zerfiel die Helvetische Republik; an die Stelle der Zentralregierung, die für Pestalozzi stets mit Wärme eingetreten war, trat wieder die alte Kantonalverfassung; und da Pestalozzis Anstalt auf Berner Gebiet lag, war er auf das Wohlwollen der dortigen Regierung nunmehr angewiesen. Sie räumte ihm, da das Schloß Burgdorf anderweitig gebraucht wurde, statt dessen das Schloß Münchenbuchsee für seine Anstalt ein, die im Sommer 1804 dorthin übersiedelte. Sie kam dadurch in nächste Nähe des von Fellenberg in Hofwyl soeben neu gegründeten, hochangesehenen Instituts. Fellenberg war von Pestalozzis Ideen ursprünglich ausgegangen und verfolgte mit seiner Anstalt zum Teil ähnliche Absichten wie dieser; daher entstand in einigen der Mitarbeiter Pestalozzis (besonders Tobler und v. Muralt, der Pestalozzi in Paris kennen gelernt und sich mit Begeisterung ihm angeschlossen hatte) begreiflich der Gedanke, durch eine äußere Vereinigung beider Anstalten, wobei der dafür ausgezeichnet begabte Fellenberg die Verwaltungssorgen ganz auf sich nehmen sollte, Pestalozzi von den beständig auf ihm lastenden wirtschaftlichen Nöten des Instituts ein für allemal zu befreien, damit er sich ungestört seiner eigentlichen Aufgabe der weiteren Erforschung der Methode und des erhebenden persönlichen Einflusses auf Lehrer und Zöglinge widmen könne. Es wurde darüber während Pestalozzis Abwesenheit ein vorläufiges Abkommen mit Fellenberg getroffen, welchem dann Pestalozzi nach seiner Rückkunft beitrat. Indessen fühlte er sich durch diese nicht ganz freiwillige Änderung einigermaßen auf die Seite geschoben; denn Fellenbergs Einfluß auf seine Anstalt blieb in der Tat keineswegs auf die äußere Verwaltung beschränkt. So konnte Pestalozzi in Buchsee nicht warm werden; er verreiste viel und überließ Fellenberg bald alles. Auch seine alten Mitarbeiter vertrugen sich mit diesem auf die Länge nicht, und so konnte die Vereinigung nicht von Bestand sein. Inzwischen war aber schon, als bekannt wurde, daß Pestalozzi Burgdorf werde räumen müssen» in verschiedenen Städten des Waadtlandes der Wunsch entstanden, die Anstalt dorthin zu ziehen; und da besonders in Iferten (Yverdon) die Behörden sich entgegenkommend zeigten, entschloß sich Pestalozzi, dort eine Anstalt zunächst neben der alten, in Buchsee noch fortbestehenden zu errichten. Begreiflich zogen dann aber seine Mitarbeiter, nachdem sie mit Fellenberg mehr und mehr uneins geworden waren, es vor, sich mit Pestalozzi wieder zu vereinigen. So wurde 1805 die Anstalt in Münchenbuchsee aufgelöst, und fortan blieb der alleinige Sitz der Pestalozzischen Anstalt in Iferten, wo das alte Schloß Karls des Kühnen ihm von der Stadt zur Verfügung gestellt wurde.

Pestalozzi stand jetzt auf der Höhe seines Ruhmes. In seiner Anstalt wurde eifrig und begeistert gearbeitet. In schönem Wetteifer spannte jeder seine Kräfte aufs höchste an. Unter den Mitarbeitern treten seit dieser Zeit die zwei Männer mehr und mehr hervor, die auf die weiteren Schicksale der Anstalt den größten – leider nicht dauernd heilsamen Einfluß üben sollten: Schmid und Niederer. Der Vorarlberger Joseph Schmid war 1801 mit 14 Jahren als Zögling in die Burgdorfer Anstalt eingetreten. Er bewies besondere Anlagen namentlich für die methodische Bearbeitung der Mathematik und wurde bereits nach zwei Jahren als Unterlehrer in diesem Fach beschäftigt. Johannes Niederer aus Bretten im Kanton Appenzell (geboren 1779) hatte ernste theologische und philosophische Studien gemacht und bekleidete bereits seine zweite Pfarrstelle, als er 1800 durch seinen Freund Tobler mit Pestalozzi bekannt wurde; im Jahre 1803 trat er unter Verzicht auf sein Amt in das Institut ein. Ihm fiel hauptsachlich der theoretische Ausbau der »Methode« und die schriftstellerische Vertretung der Anstalt als Aufgabe zu, während Schmid der besonderen Anwendung der Methode auf die Mathematik eine neue, geschicktere Form gab. Daß beide Männer hierbei sehr selbständig zu Werke gingen, war nur in der Ordnung; bedenklicher schon, daß ihre Arbeiten durch Pestalozzis Namen gedeckt wurden. Aber Niederer hat dann vielfach auch eigene Schriften Pestalozzis nicht bloß stilistisch überarbeitet, sondern mehr und mehr auch inhaltlich von seinem Eigenen hinzugetan und dadurch Pestalozzis Lehre mehr oder minder verschoben oder wenigstens verdunkelt, namentlich ihr eine eigentümliche philosophische Wendung gegeben, die Pestalozzis eigner Denk- und Ausdrucksweise fremd war und später von ihm gänzlich verworfen wurde; eine Wendung, die überdies nicht mehr dem schlichten, rein methodischen Kritizismus Kants, sondern der absolutistischen Umdeutung entsprach, welche inzwischen Fichte und Schelling dem Kantischen »Idealismus« gegeben hatten. Es gilt dies noch nicht von den im einzigen erschienenen Heft des » Journals für Erziehung« oder » Ansichten und Erfahrungen die Idee der Elementarbildung betreffend« (1807) unter dem Titel » Ein Blick auf meine Erziehungszwecke« vereinigten Pestalozzischen Fragmenten, die, wie die Vergleichung mit den erhaltenen Manuskripten ergibt, zwar in der Disposition und hin und wieder im Ausdruck, aber nicht im Inhalt von Niederer wesentlich geändert sind; wohl aber gilt das Gesagte von einigen in der » Wochenschrift für Menschenbildung« (1807-1811) durch Niederer unter Pestalozzis Namen herausgegebenen Schriften, neben denen übrigens manches sich auch dort findet, was echt Pestalozzisch oder wenigstens ganz in Pestalozzis Geiste ist.

Über den weiteren Ausbau der Methode in den einzelnen Unterrichtsfächern ist in meiner Biographie (Kap. 6, §§ 3-8) ausführlich berichtet worden und wird zum Teil unten im dritten Kapitel zu berichten sein. Am besten gelang die volle Durchführung in den mathematischen Fächern, im mathematischen Zeichnen, in der Heimatkunde und in der Gesanglehre; auch die Anwendung auf die Körperbildung ist hochbedeutend und schlägt in der Hauptsache die richtige Bahn ein. Dagegen blieb die Bearbeitung des Sprach-, Geschichts- und Religionsunterrichts eingestandenermaßen unbefriedigend. So Tiefes und Wertvolles Pestalozzi zum Verständnis der Menschheitsentwicklung nach wirtschaftlicher, politischer und ethisch-religiöser Seite beigetragen hat, eine überzeugende Anwendung davon auf die Methode des Unterrichts in diesen Gebieten ist trotz unermüdlichen Bemühens weder ihm noch seinen Mitarbeitern geglückt; während, was in der Mathematik und in der Geographie geleistet wurde, die höchste Anerkennung auch so genialer, schöpferischer Forscher in diesen Gebieten wie Karl Ritter und Jakob Steiner fand, von denen der erste, obwohl aus der Schule der Philanthropinisten erwachsen, sich eng und mit tiefem Verständnis an Pestalozzi anschloß, der letztere direkt aus Pestalozzis Schule hervorging. Beide bekennen, geradezu die entscheidende Anregung zu ihren großen Forschungen Pestalozzi und seinen Ideen zu verdanken. Auch viele andere, auf den höchsten Stufen wissenschaftlicher und humaner Bildung stehende Besucher der Anstalt empfingen mächtige und nachhaltige Eindrücke von dem, was sie dort sahen und erlebten, vor allem freilich von der großen und dabei rührenden Persönlichkeit ihres Leiters; so Clausewitz, Benzenberg, Schwarz, Willemer, Mad. de Stael, Jullien u. v. a. Auch die besonneneren und fortgeschritteneren Pädagogen der älteren, philanthropinischen Schule, wie besonders Trapp, wandten sich mehr und mehr Pestalozzi zu. Zurückhaltender urteilte A. H. Niemeyer, der indessen doch auch bemüht ist, dem Verdienste des Mannes auf seine Weise gerecht zu werden. Von Jüngeren empfingen Herbart und Fröbel tiefgehende Einwirkungen von Pestalozzi, ohne sich in ihrer Selbständigkeit dadurch beschränken zu lassen; sie waren für sich zu bedeutend, um bloß Pestalozzianer sein zu wollen oder zu können.

So breitete sich der Einfluß des Pestalozzianismus besonders nach Deutschland mehr und mehr aus; er wurde heimisch in Frankfurt (durch Ritter, Mieg u. a.), in Wiesbaden (wo de Laspee eine Pestalozzische Anstalt begründete), in Bremen und sonst; namentlich aber konnte das tief erniedrigte Preußen, seit Fichte in den »Reden an die deutsche Nation« (1808) auf Pestalozzis einzige Bedeutung hingewiesen und die Königin Luise in schwerer Trübsal in Pestalozzis Schriften Trost gefunden hatte, in dem edlen Bestreben seiner inneren Erneuerung nur bei ihm Heil suchen. Die leitenden Minister Frh. vom Stein und W. v. Humboldt, wie deren Räte, Nicolovius, der schon seit einem Besuche in der Schweiz 1791 Pestalozzis begeisterter Verehrer und Freund war, und der tiefdenkende Süvern, alle waren einmütig für Pestalozzi erwärmt. So wurde seit 1809 eine Anzahl angehender Lehrer (»Eleven«) seitens der preußischen Regierung nach Iferten entsandt, um sich dort mit dem Geiste der Pestalozzischen Erziehungs- und Lehrart zu erfüllen und ihn dann in die Schulen Preußens zu verpflanzen; die tüchtigsten unter diesen, wie Kawerau, Henning und Dreist (die später vereint als Seminarlehrer in Bunzlau wirken durften), ebenso Ramsauer, Blochmann u.a. haben in jenen Jahren an den Arbeiten in Iferten tätig und erfolgreich teilgenommen. Gleichzeitig wurde der eifrige Pestalozzianer August Zeller nach Preußen (Königsberg) berufen, der freilich – wie Pestalozzi vorausgesehen hatte – die großen auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllte, vielmehr durch törichtes Mechanisieren und dabei schroffes, allzu selbstbewußtes Auftreten die Sache Pestalozzis auch bei Besonneneren unverdienterweise unbeliebt machte. Mehr entsprach dem wahren Geiste Pestalozzis das von Plamann in Berlin begründete Institut. Aus ihm gingen Männer wie Jahn, Friesen und Harnisch hervor, die übrigens, ebenso wie die meisten der in Iferten selbst ausgebildeten Männer, und auch einige aus der älteren Schule, wie Ludwig Natorp, dem preußischen Pestalozzianismus eine freiere Wendung zu geben bemüht waren.

Noch einmal ergab sich für Pestalozzi ein Anlaß, das Ganze seiner Ideen und Hoffnungen zusammenzufassen in der 1809 zu Lenzburg vor der »Schweizerischen Gesellschaft der Erziehung« gehaltenen großen Rede »Über die Idee der Elementarbildung«. Es ist sehr zu bedauern, daß gerade diese bedeutende Schrift nur in Niedereis Überarbeitung vorliegt; doch heben sich dessen Zutaten meist schon durch den Stil ziemlich kenntlich heraus (s. darüber m. Biogr., Anm. 89 zu Kap. VI). Die Schrift gibt volle Klarheit über die Zentralstellung des Sittlichen in der gesamten menschlichen Bildung. In dem Satze, daß »die intellektuelle Bildung an sich schon den Menschen sittlich in Anspruch nimmt«, ist der Begriff des »erziehenden Unterrichts« klar erreicht. Was die Schrift sonst, namentlich über die sittliche und religiöse Bildung beibringt, dient, ebenso wie die Ausführungen über denselben Gegenstand in den »Ansichten und Erfahrungen«, zu wesentlicher Ergänzung des in den letzten Abschnitten der »Gertrud« Gesagten.

§ 9. (Der Verfall.)

Während so die innere Wirksamkeit Pestalozzis und seiner Ideen mächtig wuchs und sich noch fortwährend vertiefte, ging das Institut schweren äußeren Stürmen entgegen. Mißhelligkeiten in der Anstalt selbst wirkten unter der Oberfläche schon seit den Anfängen in Iferten. Niederer und Schmid, beide in ihrer Art bedeutend, beide aber auch ihres Wertes sich allzu bewußt und gleich unfähig, sich der genialen Größe Pestalozzis selbstlos unterzuordnen, waren zugleich einander an Charakter und Gesinnungen so entgegengesetzt, daß sie auf die Länge nur zersetzend auf den in seinen höchsten Momenten so idealen Verein wirken konnten. Doch wurde der innere Zwist einstweilen zurückgedrängt durch äußere Fehden. Eine von Pestalozzi selbst veranlaßte Prüfung der Anstalt durch eine eidgenössische Kommission hatte ein nicht durchaus günstiges Ergebnis; besonders gegen Niederer enthielt der von der Kommission erstattete Bericht einige scharfe Spitzen. Eine Flut von Streitschriften hin- und herüber entstand daraus; indessen ging das Institut aus dieser durch mehrere Jahre fortgesetzten Fehde, wenn auch nicht als Sieger, doch unbesiegt hervor. Urteilsfähige wenigstens ließen sich dadurch in ihrer Schätzung Pestalozzis und seines Wirkens nicht beirren.

Schädlicher wirkte der nun erst voll zum Ausbruch kommende innere Krieg. Zunächst arbeitete Schmid offenkundig gegen Niederer, und da es ihm nicht gelang, diesen auf die Seite zu drängen, sah er selbst sich (1810) zum Abgang genötigt. Er zog nun in einer törichten Schrift gegen Erziehungsinstitute überhaupt und das Ifertner insbesondere zu Felde. Niederer hatte nun wohl freie Bahn; aber der ökonomischen Schwierigkeiten, die um diese Zeit durch die Kriegswirren und sonstige Umstände sich steigerten, vermochte er so wenig wie Pestalozzi selbst Herr zu werden, und so schien die Anstalt ihrem Zerfall entgegenzugehen. Daher kam es 1815 zur Zurückberufung Schmids. Dieser wußte die äußere Ordnung herzustellen, und für einige Zeit schien Eintracht und treues Zusammenarbeiten wiedergekehrt.

Inzwischen gab es mancherlei sonstiges Ungemach; so hatte Pestalozzi im Jahre 1812 eine ernste Krankheit durchzumachen, die ihm ein Stoß mit einer Nadel durchs Ohr in das Innere des Kopfes zugezogen hatte, von der er indessen vollständig genas. Auch von den Kriegsstürmen blieb Iferten nicht ganz unberührt. Beim Durchzug der verbündeten Heere 1814 hatte Pestalozzi eine merkwürdige Begegnung mit dem Kaiser von Rußland, und in demselben Jahre traf er mit dem Könige von Preußen, der sein wiedergewonnenes Fürstentum Neuenburg besuchte, zusammen, wobei es zu einer wirklichen Aussprache sei es mit dem Könige oder mit dem auch anwesenden Staatsrat Süvern zwar leider nicht kam. Die Schrift vom Jahre 1815 »An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« gehört trotz einiger Weitschweifigkeit, die der Schreibart des alternden Pestalozzi überhaupt eigen ist, sachlich zu seinen bedeutendsten Arbeiten; sie nimmt die Ideen der »Nachforschungen« wieder auf und führt sie in ernsten Rückblicken auf die Zeitereignisse auf sehr interessante Weise weiter durch. Namentlich verdiente die große Zeichnung Napoleons allgemeiner bekannt zu sein. Erwähnt seien an dieser Stelle auch die »Reden an mein Haus«, merkwürdige Zeugnisse, der persönlichen Eigenart des Mannes, rückhaltlose, oft erschütternde Bekenntnisse auch über die keineswegs gesunden inneren Zustände des Instituts. An Gedankengehalt ragt unter ihnen weit hervor die tiefe Neujahrsrede des Jahres 1811 über die Unsterblichkeit. Sehr ergriff den nun schon alternden Mann der Verlust seiner Gattin am 16. Dezember 1815, die unter allen wechselvollen Schicksalen in unveränderter Treue und festem Glauben an seine Sache ihm zur Seite geblieben war.

Von da begann es um ihn mehr und mehr zu nachten. Schon im Jahre 1816 brach der Zwist zwischen Niederer und Schmid in erneuter Heftigkeit los. Nach wiederholten Beschwichtigungsversuchen erklärte Niederer bei der Konfirmationsfeier Pfingsten 1817 feierlich und öffentlich seinen Austritt. Die Schuld lag nicht an Einem allein. Niederers Benehmen gegen Pestalozzi zeigt schon lange vor dem Bruch, und dann mehr und mehr, ein Maß von Selbstüberhebung, Rechthaberei und fühlloser Härte, ja von triumphierendem Hochmut gegen den Mann, dem er doch nicht viel weniger als alles verdankte, was er war und bedeutete, daß Pestalozzi mehr als ein Mensch hätte sein müssen, wenn er nicht von ihm, dessen Fähigkeiten er fort und fort sehr hoch einschätzte, sein Herz endlich ganz abgewandt hätte. Daß er sich nun Schmid ganz in die Arme warf, der ein enger und ziemlich skrupelloser Egoist war und in der Niedrigkeit seiner Gesichtspunkte neben dem hochfahrenden, aber in seiner Weise auch hochgesinnten Niederer sicher eine schlechte Figur macht, ist gewiß zu bedauern, aber daraus schließlich begreiflich, daß der vielgeprüfte Greis einer Stütze endlich bedurfte und diese naturgemäß da suchte, wo er wenigstens treue Anhänglichkeit und festen Halt zu erkennen glaubte. Aus dem unbesieglichen Bedürfnis, doch Einem in seiner Umgebung ganz zu glauben, machte er sich fast wie mit Willen blind gegen Schmids Fehler, die für andere freilich sehr sichtbar waren. Und so nahm er in dem immer wütenderen Kriege zwischen beiden Männern, gewiß nicht nach unbefangener Prüfung, sondern aus dem instinktiven Zug, der ihn von Niederer weg und eben darum Schmid in die Arme trieb, für diesen zu unbedingt Partei, womit er dann notwendig gegen Niederer ungerecht wurde.

Mit dem Austritt Niedereis war der böse Zwist leider nicht zu Ende, sondern es knüpfte sich daran noch ein elender Rechtsstreit um das Mein und Dein, der nur zu immer weitergehender gegenseitiger Verbitterung führen konnte und so noch die letzten Lebensjahre des schwer Geprüften trüben mußte. Langst hätte sein Alter ihm das Recht gegeben, sich zur Ruhe zu setzen. Aber er meinte, ohne sein Werk nicht leben zu können. Zwar mußte er wohl empfinden, daß seine Anstalt schon lange nicht das mehr war, was sie nach seiner Absicht hatte sein sollen. So kam er noch einmal auf den alten, überhaupt nie aufgegebenen Plan einer Armenanstalt zurück. Er bestimmte für eine solche in der Geburtstagsrede 1818 den Ertrag, den er sich von der Subskription auf seine Sämtlichen Werke versprach. Die Herausgabe der Werke, deren Verlag Cotta in Stuttgart übernahm, wurde durch Schmid leider unglaublich nachlässig besorgt; nicht nur fehlen einige der wichtigsten älteren Schriften, sondern es sind solche, die nicht von Pestalozzi, sondern von seinen Mitarbeitern herrühren, ohne Unterscheidung aufgenommen. Seine eigenen älteren Arbeiten aber hat Pestalozzi selbst aus der trüben Stimmung dieser Zeit und unter Schmids Einfluß durch Änderungen und Zusätze oft geradezu entstellt; er scheint manchmal gänzlich preiszugeben, was er früher selbst als sein Bestes angesehen und gegen äußere Angreifer eifrig verfochten hatte. Unter solchen Umständen war es kein Wunder, daß die öffentliche Meinung sich mehr und mehr von ihm abkehrte und so auch der von der Subskription erhoffte Ertrag keineswegs einkam.

Die Armenanstalt zwar konnte im Herbst 1818 zu Clindy, wenige Minuten von Iserten, eröffnet werden; aber bereits im folgenden Jahr mußte sie mit der Hauptanstalt vereinigt werden, die dadurch einen zwiespältigen Charakter erhielt. Die Anstalt hielt sich unter wachsenden Schwierigkeiten noch bis 1825, wo sie ein unrühmliches Ende nahm, indem Schmid wegen ernsten sittlichen Verdachtes des Landes verwiesen wurde. Pestalozzi zog sich als ein Schwerverletzter zu seinem Enkel auf den Neuhof zurück; der Abschied von seinem Werk kam ihn wie Selbstmord an.

§ 10. (Pestalozzis letzte Lebenstage.)

Inzwischen arbeitete er noch immer mit fast verzweifelter Anstrengung. Noch gelang ihm die Neuherausgabe des Romans » Lienhard und Gertrud« (als Bd. 1-4 der sämtlichen Werke, 1818-1820), die im 3. und 4. Teil fast ein neues Werk darstellt, an dichterischer Kraft gegen die erste Fassung zwar merklich zurückstehend, aber um so reicher an pädagogisch wertvollem Gehalt. Ein ganz neuer 5. und 6. Teil sollten folgen; der fünfte ist noch fast fertig geworden, aber später in Verlust gekommen. Nicht minder wertvoll ist die (von Heubaum mit Recht wieder aus der Vergessenheit gezogene) neue, warme Darstellung, welche Pestalozzi der Erziehung der frühen Kindheit widmet in den Briefen an den Engländer Greaves (in englischer Sprache erschienen 1827; die deutsche Urschrift ist verloren). In großer Klarheit und Einfachheit, in vielen Punkten eingehender als irgendwo sonst, und mit großer Eindringlichkeit wird hier die natürliche Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren und die Erziehungsarbeit der Mutter vorgeführt. Noch mehrere neue Schriften brachte die Cottaausgabe, darunter als wichtigste den »Schwanengesang« (Bd. 13, 1826). Noch einmal entwickelt hier Pestalozzi seine Grundsätze in teilweise veränderter, aber nicht verbesserter Gestalt. Die zweite Hälfte der Schrift enthält eine interessante und wichtige Skizze seines Lebensganges, die zwar in den tatsächlichen Angaben einer genauen historischen Kritik nicht durchweg standhält, aber wenigstens ein innerlich wahres Gesamtbild seiner Person und seines Strebens gibt. Natürlich konnten dabei die Zwistigkeiten der letzten Zeit nicht mit Stillschweigen übergangen werden; der Verleger aber verweigerte die Aufnahme des darauf bezüglichen Teiles der Schrift in die Sammlung der Werke; daher ließ Pestalozzi diesen Teil als gesonderte Schrift unter dem Titel »Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und Iserten« in Leipzig 1826 erscheinen. Die Empfindung des Verlegers der "Werke" war begründet: das Erscheinen dieser Schrift konnten auch die besten Freunde Pestalozzis und seiner Sache nur bedauern. In blinder Überschätzung Schmids wird hier Pestalozzi nicht nur ungerecht gegen Niederer, sondern scheint oft sein eigenes Lebenswerk gänzlich preiszugeben, Er hat das, nachdem der treue Mieg es ihm sehr ernstlich vorgehalten hatte, auch selber eingesehen und bekannt. Alles begreift sich aus der umdüsterten Stimmung, in der der gänzliche Zusammenbruch seiner heißgeliebten Unternehmung ihn zurückgelassen, und aus dem an Suggestion grenzenden Einfluß, den Schmid auf den gebrochenen Greis mehr und mehr erlangt hatte. Doch darf man sagen, daß der Quell der Liebe in ihm nie versiegt ist; stets nimmt er die Hauptlast der Schuld auf sich und ist zur Versöhnung auch mit dem bittersten Gegner bereit.

Dagegen glaubte Niederer, gegen den die Schrift allerdings ungerechte und damals bereits zur Genüge widerlegte Anschuldigungen wiederholte, sich nun auch alles gegen den unglücklichen Greis erlauben zu dürfen. Es war sein gutes Recht, die tatsächlichen Irrtümer und für ihn kränkenden Beschuldigungen, die in der Schrift enthalten waren, durch Vorlegung der Dokumente zu berichtigen. Aber für ihn war der, der ihn angriff, ein Verworfener, ein Lügner zugleich und ein Wahnsinniger, wobei er nicht einmal den offenen Widerspruch dieser beiden Urteile unter sich empfand. Und er scheute sich nicht, dies in einer giftigen Schmähschrift (»Beitrag zur Biographie Pestalozzis und zur Beleuchtung seiner neuesten Schrift: Meine Lebensschicksale«, St. Gallen 1826) zwar nicht selbst auszusprechen, aber, was im Grunde nur schlimmer war, durch einen andern, G. Biber, einen jungen Autor, der für Pestalozzi nichts empfand und von ihm nichts verstand, in aller Härte aussprechen zu lassen.

Es war kein Heldenstück, dem gebrochen am Boden Liegenden auf solche Art den Rest zu geben. Aber für ihn war es Erlösung. Daß die Gemütserschütterung über Bibers Schrift ihn aufs letzte Krankenlager warf, daß kein sonstiges Leiden, welches damals tödlich hätte sein müssen, vorlag, ist selbst ärztlich bezeugt. Indessen fand sein Gemüt noch den Frieden wieder; er verzieh allen. Seine letzte Willenserklärung schließt mit den Worten: »Möge meine Asche die grenzenlose Leidenschaftlichkeit meiner Feinde zum Schweigen bringen und mein letzter Ruf sie bewegen, zu tun, was rechtens ist, und mit Ruhe, Würde und Anstand, wie es Männern geziemt! Möge der Friede, zu dem ich eingehe, auch meine Feinde zum Frieden führen! Auf jeden Fall verzeihe ich ihnen; meine Freunde segne ich und hoffe, daß sie in Liebe des Vollendeten gedenken und seine Lebenszwecke auch nach seinem Tode noch nach ihren besten Kräften fördern werden.«

Er schied am 17. Februar 1827 gegen 7 Uhr abends, nicht auf Neuhof, sondern im nahen Städtchen Brugg, wohin man ihn der ärztlichen Behandlung wegen zwei Tage vorher gebracht hatte. Das Antlitz des Entschlafenen zeigte (nach Nabholz) den Ausdruck »eines aus einem tiefen Schlaf Erwachenden, der mit sanftem Lächeln den Mund öffnen will, um seinen Kindern einen angenehmen Traum zu erzählen. Nie sah ich ihn im Leben mit einer so heiteren, kindlich fröhlichen Miene«. Am 19. Februar wurde er seinem Wunsche gemäß auf dem Friedhof zu Birr bestattet. Sein Grab schmückte viele Jahre ein herrlicher Rosenbusch, den die Seinen ihm gepflanzt hatten, sonst kein Denkmal; zur Säkularfeier seines Geburtstages 1846 aber grub man den Sarg aus und übertrug ihn in ein anderes Grab an der Giebelseite des neuen Schulhauses; in deren Mitte wurde eine Nische mit seinem Brustbild und einer Inschrift angebracht, die sein Wirken und sein Wesen treffend und kurz mit den Worten bezeichnet:

 

RETTER DER ARMEN IM NEUHOF,
PREDIGER DES VOLKES
IN LIENHARD UND GERTRUD,
ZU STANZ VATER DER WAISEN,
ZU BURGDORF UND MÜNCHNBUCHSEE
GRÜNDER DER VOLKSSCHULE,
ZU IFERTEN ERZIEHER
DER MENSCHHEIT.
MENSCH, CHRIST, BÜRGER.
ALLES FÜR ANDERE,
FÜR SICH NICHTS.
SEGEN SEINEM NAMEN!

 


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