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VI.
Die Kammerjungfer

Eine Stadtgeschichte.


Es bleibt dabei, ich vermiethe mich! sagte Klärchen zu ihrer Mutter. Eine Schneiderin führt ein trauriges Leben, ein Tag geht so grau und einförmig hin wie der andere, keinen vernünftigen Menschen kriegt man zu sehen, sitzen muß man vom Morgen bis zum Abend, und sitzen bleiben und eine alte Jungfer werden ist das Ende vom Liede.

Du weißt selbst nicht was Du willst, sagte ihre Mutter. Weißt Du noch, was Du sagtest vorigen Martinstag, wie Tante Rieke Dir den Rath gab, Du solltest in einen Dienst gehen? Da hast Du von Sklaverei gesprochen und die Nase gerümpft, und ich wars auch zufrieden: es wäre doch eine Sünde und Schande, wenn eine alte Frau allein wohnen müßte ohne Hilfe und Pflege. Aber ich sage: Du weißt nicht was Du willst. Kannst Dus besser haben, wie Dus jetzt hast? Bist Dein eigner Herr, kannst thun was Du willst, und brauchst Dich nicht von fremden Leuten traktiren zu lassen. Ach, wenn ich an meine Jugend denke!

Ja, ja, Deine Jugend kenne ich, fiel ihr Klärchen schnippisch in das Wort; so dumm wie Du werde ich nicht sein, Du hättest den Rechtsgelehrten nur festhalten sollen. Tante Rieke sagte vorgestern sehr salbungsvoll, wie Deine Schönheit Dein Unglück gewesen; da hätte sie nur aufrichtig sagen sollen: Dein Ungeschick. Ich sage Dir aber, meine Schönheit soll glücklicher sein. – Hierbei lachte sie, hüpfte an den Spiegel und ordnete noch einmal zum Ueberfluß ihren Sonntagsstaat.

So gottvergessen wie Du habe ich nie geredet, entgegnete die Mutter, und das Unglück ist doch über mich gekommen, ich weiß nicht wie.

Das ists eben, fiel ihr Klärchen wieder in die Rede: Du weißt nicht wie. Gerade das nicht Wissen das ist der Fehler, ich werde aber wissen! Und nun um alles in der Welt, höre auf zu jammern. Heute ist Sonntag. Ursach dazu hast Du nicht, und ich sehe nicht ein, warum ich zuhören sollte. Mir steht die ganze Welt offen, und die Welt ist schön, wunderschön! Ich vermiethe mich, oder ich vermiethe mich nicht, es muß immer gehen. Für jetzt ziehe ich zur alten Frau Generalin, da habe ichs gut, und Geld im Ueberfluß.

Und ich hungere, sagte die Mutter in weinerlichem Ton.

Dafür wird Tante Rieke sorgen müssen, die hat das Geld im Kasten liegen. Es ist schändlich genug, daß sie mich hat schneidern und sticheln lassen, damit ich ihre einzige Schwester ernähre. Das hört nun auf. Ich muß für meine Zukunft sorgen, mein Lohn wird gespart; wenn man das Geld in großen Partieen einnimmt, kann mans besser festhalten, die einzelnen Viergroschenstücke trudeln unter den Händen fort. Tante Rieke, die die christliche Barmherzigkeit immerfort im Munde führt, mag sich auch mal mit den Händen regen. Und kurz und gut, wenn kein anderer da ist, ist sie die Nächste. Und Mutterchen (setzte Klärchen schmeichelnd hinzu), Du hast nur den Vortheil davon, wenn die Tante gepreßt wird; denn ich werde auch für Dich sorgen, da kommts von zwei Seiten. Klage nur hübsch, und rühre ihr Herz; aber gegen mich höre auf damit (schloß sie lachend), ich kenne Deine Kniffe und bei mir helfen sie nichts mehr. – Bei diesen Worten zog sie eine schwarze seidene Mantille aus einer Schublade, und einige Geldstücke klapperten daneben. Sie warf der Mutter ein Zweigroschenstück in den Schooß und rief lachend: Hier, kaufe Dir Kuchen und feiere Sonntag; aber schicke Kleists Dortchen, dann denkt der Bäcker, es ist für die Herrn Studenten. Du verstehst mich doch?

Kleiner Tausendsapperloter! sagte die schwache Mutter. Ihr Töchterchen hatte sie völlig beruhigt. Besonders war das letzte ein wirksames Mittel; und auch die Bemerkung über die Tante Rieke war ganz richtig, diese mußte mehr geben, wenn Klärchen den Haushalt nicht unterhielt. Sie konnte es auch, sie war eine reiche Wittwe und hatte nur eine Pflegetochter; und wenn Klärchen dann im Stillen doch noch mit sorgte, wie es sich für eine gute Tochter geziemt, so stand die Mutter sich bei weitem besser.

Frau Krauter war die Wittwe eines Gingham-Webers. Sie war in ihrer Jugend schön und leichtsinnig gewesen, und hatte nach vielen Abenteuern den Mann geheirathet, der schon damals innerlich und äußerlich ziemlich verkommen war. Es ward aber von Jahr zu Jahr schlechter mit ihm, und er starb, nachdem er beinahe zehn Jahr seine Frau in fortwährendem Jammer und in Noth erhalten hatte. Zum Glück blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte sie eine reiche Schwester, die ihr in der Noth eine Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen Einfluß auf Frau Krauter geübt; sie war leichtsinnig geblieben, war faul, unordentlich und genußsüchtig, und wenn sie auch reichlich Thränen über sich und ihre Schicksale vergießen konnte, die Thränen kamen nicht tief aus dem Herzen; bei einer Tasse Kaffee und einem leichtfertigen Geschwätz war bald alles vergessen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur daß sie noch schöner und zugleich schlauer war, und so der Welt und dem Verderben noch mehr preißgegeben.

Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die sehr wohlhabende Wittwe des seligen Seifensiedermeisters Bendler, war ganz das Gegentheil der Schwester. Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, schlichte Bürgersfrau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter und Tochter zu üben gesucht; sie erlangte nur das eine, daß beide sich vor ihr scheuten und sich soviel als möglich von der besten Seite zeigten; und das war freilich schlimmer, als wenn sie sich in ihrer wahren Gestalt gezeigt hätten.

Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitgetheilte Zwiegespräch gehabt, rüstete sie sich singend zu ihrem Sonntagsvergnügen. Die seidene Mantille ward umgethan, und das Geld, das da herausgepoltert, in die Tasche gesteckt. Darauf suchte sie aus einem Wust anderer Sachen ein gesticktes baumwollenes Taschentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn ein langes Ende abgerissener Spitze hing daran. Sie griff nach einem zweiten, da waren einige Risse in der Mitte.

Die infamen baumwollenen Tücher halten für gar nichts! sagte sie ärgerlich.

Gieb her, Kind, ich hefte es gleich ein bißchen zu! tröstete die Mutter, fädelte eine Nadel ein und zog mit langen Stichen die Risse zu. Während dessen suchte Klärchen aus einem Häufchen heller Glaceehandschuh das leidlichste Paar heraus.

Wo in aller Welt nur immer die rechten Handschuh bleiben! klagte Klärchen wieder. Linke habe ich wohl sechs, sieben, und rechte nur drei, und dumm genug habe ich vergessen sie waschen zu lassen, sie sehen aus wie die Mohren. Ach was! setzte sie entschlossen hinzu: ich hole ein Paar neue. Sechs Groschen mehr oder weniger! Zu meinem himmelblauen Musselin-Kleide gehören reine Handschuh.

Tante Rieke sagte am vergangenen Sonntag: Solltest lieber waschlederne Handschuh tragen wie Gretchen. Denke mal an, die hat ihre Confirmationshandschuh noch.

Wahrhaftig? staunte Klärchen; nein, das Mirakel muß ich meinen Freundinnen erzählen, es sieht aber ackurat aus wie Gretchen Bendler. Zur Kirche und höchstens zu einem ehrbaren Spaziergang ins Feld werden die Handschuh angezogen, aber eine Hand hat Gretchen in den waschledernen wie ein Eisbär. Nun gut, ein jeder sehe wie ers treibe, ein jeder sehe wo er bleibe, sagt Göthe. Auch sind die Gaben der Menschen verschieden. – Bei diesen Worten hatte sie die himmelblaue Hutschleife zugebunden, das geflickte Taschentuch geschickt über die schmutzigen Handschuh gelegt, und wollte nun mit einem leichten Adieu zur Thür hinaus.

Warte, Klärchen! rief die Mutter, da kömmt Dein Hemd an der Schulter zum Vorschein, und gerade ein rechter Ratsch darin.

Stopf es nur tief genug unter, sagte Klärchen gleichgiltig, und nachdem das geschehen, ging sie fort.

Alle Schneiderinnen, sagt man, sind unordentlich, weil sie immer mit der Nadel für andere beschäftigt, nie Zeit für ihre eigne Arbeit finden. Klärchen war es aber nicht allein als Schneiderin, sondern noch dazu als unordentliche Tochter einer unordentlichen Mutter, und als über ihren Stand hinaus verwöhnte und verbildete Jungfrau. Daß die Kleider sechs Ellen weit sein mußten und wo möglich den Staub auf der Straße kehren, war ihr von höchster Wichtigkeit; auch durften die Manschetten nicht fehlen, Mantillen, Kragen, gestickte Taschentücher und Unterröcke mit Frisuren. Ob ihr Hemd zerrissen, war ihr gleichgiltig, ja, außerordentlich gleichgiltig! Das sah ja niemand. Unangenehmer war es schon, fehlte der Hacken im Strumpf, oder die Sohle am Schuh, aber auch das machte ihr nicht großes Bedenken, es wurde geschickt verborgen, die langen Kleider waren auch hier von Nutzen. Mit der Muhme Gretchen hatte sie neulich erst einen derben Strauß gehabt; denn war Gretchen auch nicht gebildet, so war sie doch gescheit und derb und kurz angebunden. Sie sah den Unterrock mit den breiten Frisuren, und sagte, das wäre ganz verrückt nun, gar an einem Unterrock den überflüssigen Staat. Klärchen aber erklärte sachverständig, daß eine ordentliche Toilette – bei diesem Worte hob Gretchen etwas höhnend Klärchens Arm in die Höhe und zeigte wie der Aermel halb aus den Nähten war; Klärchen fuhr nach einer kurzen Entschuldigung aber ärgerlich fort: daß zu einer ordentlichen Toilette solch ein Rock nothwendig sei, um die Kleider unten gehörig breit zu erhalten. Besonders, fügte sie schnippisch hinzu, paßt das für schlanke Leute; für Biertonnen ists nun mal nicht nöthig. Gretchen wußte darauf keine verblümte Antwort zu geben, sie sagte aber kurz: Schäme Dich was mit Deinen Grobheiten, dafür setz Dich hin und flicke und stopfe was Noth thut, und verthu Dein Geld nicht unnütz; mit den Frisuren am Rock lockst Du keinen Hund aus dem Ofen, und ich sage Dir, Du wirst es noch mal bitterlich bereuen, daß Du so eine Thörin warest. Du hältst es so sehr mit der Welt, aber ich sage Dir, sie wird Dir noch mal ein X für ein U machen; und Du denkst, da ist Dein Himmelreich, aber ich sage Dir, das ist wo anders. – Ach Gott! jetzt kriegt es Klärchen mit dem Schreck, gewiß wollte Gretchen mit ihrem Herrn und Heilande kommen, denn von dem sprach sie, als ob die Sache ganz ihre Richtigkeit hätte. Gretchen war überhaupt so sehr in der Zeit und Bildung zurück, sie kannte keine Romane, wußte nichts von Eugen Sue, von der George Sand und von keinem Musen- und Liebes-Almanach, kannte nur nothdürftig die Classiker ihres Vaterlandes dem Namen nach, und auch darüber spottete Tante Rieke. Mutter und Tochter lasen nur in der Bibel, in Andachtsbüchern, oder in andern Büchern, die ihnen vom Pastor an der Stephans-Kirche zugestellt wurden. Der Pastor an derselben war nämlich ein Erzpietist, der predigte nichts weiter als vom Heiland und machte den Leuten Himmel und Hölle heiß. Klärchen aber, als sie merkte, wo hinaus ihre Muhme jetzt wollte, schnitt das Gespräch ab und gab gütlich nach. Sie wollte es doch mit Gretchen ebenso wenig als mit Tante Rieke verderben, und beide hingen an einander wie die Kletten. Klärchen dachte hochmüthig: Ein jeder sehe wie ers treibe, und: Eines schickt sich nicht für alle. Gretchen ist nun mal ein hausbackenes Mädchen; sie mag sich drum gern ihre Hemden selber spinnen, dunkelblaue Strümpfe, hohe lederne Schnürschuhe und waschlederne Handschuh tragen, sie macht auch keine Ansprüche für die Zukunft und gehört so recht in den Handwerkerstand hinein. Dagegen Klärchen? Sie seufzt, – ihr Herz schlagt gewaltig, – was wird aus ihr wohl werden? jedenfalls etwas ganz Besonderes. O süße Zukunft: lachende Kleider, lachende Gesichter, Liebe, Lust und Wonne! Jetzt zog sie zur Frau Generalin: Da kam sie in feine Kreise, vornehme Personen gehen aus und ein, es ist so manches in der Welt passirt, es kann auch passiren, daß sie ihr Glück macht. Es kann? nein, es muß, es wird, sie hat eine selige Ahnung davon in ihrem Herzen. Die nächste Seligkeit, die zu erringen, ist ein seidenes Kleid, eine Brosche, ein unächter Shawl und ein Sammethut – dann aber kann es ihr ganz gewiß nicht fehlen; dann kommen die wunderbaren Begebenheiten! Und sie, die einem solchen Geschicke entgegen geht, sollte sich mit Stopfen und Flicken abgeben? ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene Gretchen nicht. Aber Gretchen ist nicht nur hausbacken, sie ist auch ungebildet, denn sie glaubt an einen Herrn und Heiland, und sagt, sie könne keine Stunde ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den Heiland nicht nöthig, sie wüßte wahrlich in aller Welt nicht, wozu sie ihn nöthig hatte. Die Tante Rieke sagt zwar, er müßte uns von unserer Sünde erlösen, und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüsten, in Unverstand, und wie sie weiter sagt; aber das konnte Klärchen nicht fassen, sie wußte nichts von Sünde, von Nacht und Dunkelheit und gar von Unverstand. Eine Christin wollte sie auch sein; sie hatte, was nöthig war, gelernt, aber wozu, das sah sie noch nicht ein, es hatte sich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch davon zu machen. Nur vom Einfachsten und Verständlichsten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war das siebente für sie da: »Du sollst nicht stehlen?« Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: »Du sollst nicht andere Götter haben neben mir?« Sie war doch keine Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder: »Du sollst Vater und Mutter ehren?« Ei, sie that mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht so zu sagen quälte sie sich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, sie hatte gar nichts an sich auszusetzen; um sie herum war alles licht und helle und sie brauchte keinen Erlöser. An den lieben Gott glaubte sie wohl, sie verließ sich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schicksal leiten und lenken könne, – das verlangte sie gar nicht, sie wollte das allein thun; sie war schön und jung und klug und gebildet, ihr Glück verstand sich von selbst. Nur zuweilen kam es wie Furcht über sie. Vor nicht langer Zeit waren die schwarzen Pocken in ihrer Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, sie ließ sich aber schnell impfen und meinte nun wieder ruhig sein zu können. Als bald darauf die Cholera kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte, da ging das Bangen wieder an. So gut wie die sterben, kannst du auch sterben, – das sah sie ein, und sterben war ein schrecklicher Gedanke. Was wird dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte solche Worte nicht gern, sie ward bänger und bänger, und ward doch wieder wie gebannt zu lauschen. Sie konnt es nicht fassen, daß die Tante und Gretchen so ruhig waren und vom Tode redeten als von gar nichts Fürchterlichem; denn wenn sie des Nachts aufwachte und so allein mit ihren Gedanken war, da befiel sie oft eine Angst, daß ihre Glieder bebten. Ob du wohl sterben mußt? dachte sie. Und was dann? Aber Gott sei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben wieder rosenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod und Gericht, und wenn die Tante jetzt von solchen Dingen redete, da hörte sie mit offenen Ohren nicht, sie senkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken gingen mit ihren tollsten Fantasien durch.

Als sie heut das Stübchen ihrer Mutter verlassen, ging sie einige Häuser weiter um eine Freundin abzuholen. Sie klopfte an ein niedriges Fenster par terre Der Briefträger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung dazu. Als er Klärchen sah, machte er das Fenster auf.

Nun Ihr Jüngferchens – wieder schwitisiren? sagte er spaßend.

Ei ja, ist man doch nur einmal jung! entgegnete Klärchen lustig.

Ja Ihr Schelme! versetzte Vogler, ich wollte auch, ich wäre noch jung.

Ach, Sie sind ein Mann in Ihren besten Jahren, sagte Klärchen schmeichelnd.

Ich denke es auch manchmal; aber wenn ich denn meine Alte ansehe, wird mir schwarz vor den Augen, lachte Vogler und sah nach seiner Frau, die ihm gegenüber blaß und elend im Lehnstuhl saß.

Wenn ich todt bin, heirathest Du wieder, entgegnete diese bitter und holte dann schwerfällig Athem.

Und so lange Du lebst, lasse ich Dich keifen, fügte Vogler wieder scherzend hinzu.

Wie ungebildet sind diese Leute, dachte Klärchen; wie kann ein Mann die Frau so roh behandeln! So aber hat es der Vater mit der Mutter auch gemacht. Aber ich, ich werde es einst anders haben, ich nehme mir einen vornehmen Mann, – und nun hinaus in den lachenden Kaffeegarten!

Auguste Vogler hatte sich während der Zeit fertig gemacht und ging nun etwas schwerfällig neben der leichtfüßigen Freundin her. Auguste war weder schön, noch klug, noch fein; sie hatte das plumpe rothe Gesicht ihres Vaters, grobe Manieren und sprach dabei unglaublich albern. Aber das war gerade eine Freundin für Klärchen. Sie war fügsam und folgsam, durchschaute nicht ihre Intriguen, war ganz zufrieden mit der Nebenrolle, und hatte dabei immer als verzogenes Kind ihres Vaters die Börse voll Geld.

Beide Mädchen verließen die Stadt und gingen auf der Chaussee entlang dem Orte ihres Vergnügens zu. Klärchen bemerkte, daß sie ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für Vorübergehende war: aber die Leute waren ihr noch nicht die rechten, es waren meistens Gesellen, oder Soldaten, oder höchstens ein Handlungsdiener; sie gedachte höher hinaus. Bald kam ihnen eine Reihe Studenten entgegen, mitten darunter eine orangegelbe Mütze. Das war der rechte; sie nahm ihr ganzes Wesen zusammen und erwiderte den Gruß mit vieler Holdseligkeit. Auguste machte bald die Entdeckung, daß die Studenten umgekehrt waren und ihnen auf dem Fuße folgten. Klärchen zweifelte nicht, daß es um ihretwillen war, und Auguste gönnte der Freundin den Triumph; sie war zufrieden, an der augenblicklichen Lust theilnehmen zu können; feine Pläne für die Zukunft machte sie nicht. Nach einigen Minuten kam ihnen wieder ein junger Mann entgegen, der sie grüßte, aber sehr bescheidentlich mit nur halb hingewandten Augen. Wer war das nur? fragte Klärchen.

Ei das war ja Fritze Buchstein, der ist seit vorgestern aus der Fremde zurück, den mußt Du doch kennen, er wohnt ja neben Tante Rieke.

Daß es ein Geselle war, sah ich an seinen großen rothen Händen, lachte Klärchen, sonst ists aber ein hübscher Mensch.

Aber in die Stephans-Kirche zu dem Pietisten geht er auch, ich habe ihn selbst heute Morgen herauskommen sehen.

Na, Tante Rieke, freue Dich! sagte Klärchen, das paßt ja wie die Butter aufs Brot, der nimmt die Grete, das ist klipp und klar. Eine Angst hatten sie immer, er möchte auf der Wanderschaft seinem Glauben untreu werden, und wenn er dann einen salbungsvollen Brief geschrieben, kam der alte Buchstein mit der großen Brille und er wurde gemeinschaftlich mit Thränen und Seufzen genossen. Nun, ich gönne ihr den Burschen, obgleich er eigentlich zu hübsch für die Grete ist; die müßte so was Kurzes, Handfestes haben, denn Schönheit hält sie mehr für ein Uebel als ein Glück, nota bene weil sie selber nicht schön ist.

Die Mädchen traten jetzt in den Garten. An einem Tisch fanden sie schon eine Bekannte, eine von den bescheidenen Putzmacherinnen, die in die Häuser der Damen gehen und Hüte und Hauben in Ordnung bringen, – und sie setzten sich zu ihr. Die Studenten nahmen einen Tisch ganz in ihrer Nähe, wurden beim bairischen Bier bald sehr laut, und begannen Blicke und Späße herüber zu senden. Doch der Orangegelbe blieb nicht dabei, er machte es sich bequemer und siedelte ganz und gar zu den Mädchen über. Klärchen wunderte sich nicht darüber, sie hatte schon längst mit ihm auf der Straße kokettirt, sie wußte auch, daß er in einem Hause mit der Frau Generalin, ihrer künftigen Herrin, wohnte, und er war eigentlich die heimliche Veranlassung zu ihrem Entschlusse, sich zu vermiethen, gewesen. Er war ein Mediziner und dazu ein Student von Bedeutung. Er hatte gute Wechsel, hielt sich einen großen Neufundländer Hund, ritt spazieren, oder fuhr auch seine Freunde in einem Zweispänner. Er war Senior seiner Verbindung und überall zu finden, wo es lustig herging, oder wo Spektakel war. Seine Gestalt war groß und klobig, sein gelbes Haar hing schlicht an dem rothen Gesicht herunter, das breit und platt einen gewaltigen rohen Ausdruck hatte. So wie seine Gestalt war auch sein Wesen und waren seine Reden. Er saß jetzt den Mädchen gegenüber; beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die blauen Dampfwolken aus seiner Cigarre blasend, machte er höchst unmanierliche Späße. Klärchen fand das nicht roh, nein, weil er reich und aus angesehener Familie war (sein Vater war Präsident), fand sie es nur pikant, und hielt sich nicht für zu gut, ihn zu amüsiren. Sie ward immer lebendiger und liebenswürdiger, und es war unverkennbar, daß ihre Schönheit auf ihn Eindruck machte, und sie in seinen Augen höher stieg, denn er nahm die Ellenbogen von dem Tisch und nahm sich in Wort und Wesen mehr zusammen. Für Klärchen war das ein neuer Triumph und die beiden Freundinnen bemerkten es mit Verwunderung. Die Putzmacherin kannte den Studenten längst, sie ging bei der Generalin aus und ein, und das war Gelegenheit genug, um eine Studenten-Bekanntschaft zu machen. Sie hätte ihm ihr leichtsinniges Herz gern selbst zu Füßen gelegt und beneidete jetzt die Gefährtin um diese bedeutende Eroberung, und Klärchen ward immer stolzer und glücklicher.

Nur eines störte sie. Ihr gerade gegenüber in einer einsamen Laube saß Fritz Buchstein. Ja, unbegreiflicher Weise war er auch umgekehrt und ihnen in den Kaffeegarten gefolgt. Ob das wohl um ihretwillen war? Sie erinnerte sich aus ihrer Jugend, daß, wenn sie mit Greten in seine Tischlerwerkstatt kam, um Spielsachen zurecht zu leimen, er immer die ihrigen zuerst gemacht hatte und Grete oft darüber böse gewesen war. Also: damals hatte er sie bevorzugt, heute war er erstaunt über ihre Schönheit, – so kalkulirte sie, – und war ihr hierher gefolgt. Obgleich ihre Eitelkeit nicht ganz ungerührt von diesem Gedankengange blieb, so war ihr diesmal die Eroberung doch unangenehm. Erstens war er nicht der Aufmerksamkeit werth, und ihr Herz würde sich nie zu einem so gewöhnlichen Menschen herablassen; und dann fürchtete sie, wenn er einmal ihren Schritten folgte, er möchte den Spion spielen und die Tante Rieke davon benachrichtigen. Sie hatte sich so viel als möglich so gesetzt, daß er ihr nicht in das Gesicht sehen konnte: aber wenn sie unwillkürlich hinsah, begegnete sie jedesmal demselben bekümmerten und theilnehmenden Blicke, der ihr wie ein Stich durch das Herz ging.

Es ist unausstehlich! rief sie endlich und wandte sich heftig nach der anderen Seite. Der Student und die Freundinnen sahen sie verwundert an, und sie erklärte die Ursache ihres Aergers.

Der Mediziner lachte. Er fand es von dem Burschen ganz natürlich, einem hübschen Mädchen in das Gesicht sehen zu wollen, pflanzte aber darauf seine breite Gestalt so dazwischen, daß Klärchen vor den lästigen Blicken sicher war; und kurze Zeit darauf bemerkte Auguste, daß Fritz fortgegangen war. Jetzt fühlte sich Klärchen freier, und das Vergnügen ward immer lebhafter. Die Tanzmusik lockte, alle gingen in den Saal, um in dem wilden Getümmel sich zu erhitzen und zu betäuben.


Fritz Buchstein hatte auf seinem Spaziergange in dem schönen Mädchen das kleine Klärchen Krauter wieder erkannt, und die schönsten und süßesten Jugenderinnerungen gingen an seiner Seele vorüber. Jetzt noch dachte er mit inniger Bewegung daran, wie sie damals zu ihm in die Werkstatt kam, um irgend eine Kleinigkeit machen zu lassen, und wie es ihm, dem achtzehnjährigen Jüngling, ganz wunderbar ward, wenn er dem zwölfjährigen Mädchen in die dunkelblauen Augen sah. Er wollte es sich selbst nicht gestehen, aber es war seine erste Jugendliebe. Ihr Bild begleitete ihn auf der Wanderschaft, er schloß sie in sein Abend- und Morgengebet: der Herr möchte dies Blümlein schön und rein bewahren, es behüten vor dem Schmutze der Welt. Ob dies Blümlein einst für ihn blühen werde? das stand in Gottes Hand. Sein Herz war gesund, er hatte auch nicht Romane gelesen und hing nicht mit kränklicher Sehnsucht an seiner Liebe; frisch und fröhlich ging er durch die schöne Gottes-Welt, er sah Berge und Thäler und Flüsse und Fluren, manch große Stadt, manch lieblich Dörflein, schöne Kirchen und Schlösser und Burgen, schöne Bilder und Kunstwerke, und alles nahm er mit Aufmerksamkeit in sich auf. Das war eine schöne Wanderung, die nicht getrübt wurde durch ungesunde Glieder, durch ein böses Gewissen, durch Armuth und Noth. Er hatte das Gelübde gethan, nie einen Schluck Branntwein zu trinken, hatte es mit Gottes Gnade und der Liebe seines Heilandes gehalten. Das bewahrte ihn vor manchem Elend und manchem Unheil des Wanderlebens. Es führte ihn nie dahin, wo wilde Gelage und Raufereien waren, er suchte nie seine Freunde unter dergleichen Gesellen; so blieb er an Leib und Seele rein, hatte auch immer Geld im Beutel, denn weil er ein braver Geselle war, fand er auch immer gute Meister. Und auch Freunde fand er, die mit ihm dieselbe Straße zogen, die mit ihm den Herrn lieb hatten; selten verließ er eine Stadt, daß er nicht mit Wehmuth darauf zurück sah, weil er Freunde für sein Herz und seine Fürbitte darin gewonnen. Und kam er zu Leuten, die ihn nicht verstanden, die seiner spotteten, ihn zu verführen suchten, so waren auch das heilsame Tage für ihn, Tage des Kummers und der Prüfung, in denen er noch mehr die Nähe des Trösters, seine Liebe und Gnade fühlte. So ward seine Seele immer fester, seine Erfahrung immer reicher, seine Hände immer geschickter.

Und wie war es mit seinem Herzen? Das durfte sich auch zuweilen regen. Wenn er an einem schönen Sommerabend auf der Höhe am Rand des Waldes saß, die Sonne legte ihr Gold über die Gegend hin, Duft zog über Städte und Dörfer, die Abendluft wehte weich in den Zweigen und in den Blumen rund um, am Grasrain dort zog der Schäfer langsam mit der Heerde, und die Schwalben hoch oben am lichtblauen Himmel: – da ward es ihm so wunderbar sehnsuchtsvoll zu Sinne, und durch Abendgold und Duft und Schönheit und Stille schauten ihn die dunkelblauen Augen des kleinen Mädchens aus der Heimath an.

So hatte er noch ganz kürzlich vor einer Höhe am Thüringer Walde gesessen; jetzt war er ja seiner Heimath so nahe, jetzt war aus dem Jüngling ein Mann geworden und er durfte an eine Gestaltung seiner Zukunft denken. Sein Vater war alt, seit vergangenem Winter plagte ihn dazu ein Brustübel, er konnte dem Handwerk nicht mehr vorstehen, es fehlte an allen Enden, und Fritz mußte des Vaters dringenden Aufforderungen zur Rückkehr folgen. Er that es auch gern, er war nun 25 Jahr alt, nach dem langen Umherwandern und heimathlosen Leben sollte es ihm zu Hause wohl behagen. Er sollte nun Meister werden und dem Haus, dem Acker und der Kundschaft allein vorstehen. Dazu gehörte auch nothwendig eine Hausfrau, und der Gedanke war es, der ihm besonders an das Herz ging. Und als er sich diese Hausfrau dachte, so war sie schlank, mit lichtbraunem Haar und dunkelblauen Augen.

Mit so schönen Ahnungen verließ er den Thüringer Wald und wanderte einige Tage später durch die Thore seiner Vaterstadt. Es war spät des Sonnabends Abends; sein Vater saß schwach und krank im Lehnstuhl, aber Dank- und Freudenthränen glänzten in seinen Augen, als der Sohn nach so langer Abwesenheit wieder in die Thür trat, und Fritz mußte ihm am selbigen Abend noch das Buch Hiob und den 136. Psalm vorlesen.

Der alte Vater war trotz der Brustschwäche sehr gesprächig, und in seiner Gesprächigkeit konnte er es nicht lassen, von seiner und der Frau Bendler liebsten Hoffnung zu reden, nämlich daß Gretchen möchte hier im Haus Frau Meisterin werden. Frau Bendler hatte Gretchen ganz und gar adoptirt, und mit Ausnahme einiger Legate sollte sie einst ihre alleinige Erbin sein.

Fritzen ward es gar eng um das Herz als er das hörte, und hatte er schon vorher wenig Muth gehabt, nach Klärchen Krauter zu fragen, so wagte er es jetzt gar nicht.

Am Sonntag nun sollte er hinüber zur Frau Nachbarin gehen. Aber er bat den Vater, gar nicht von der Sache zu reden, da er nicht wisse, wie er dem Gretchen gefallen möchte.

Der Vater schmunzelte. Das sei nicht gefährlich, meinte er, Gretchen habe bei seinen Briefen die schönsten Thränen geweint.

Fritz schmunzelte nicht, sein Herz ward immer schwerer; denn wenn Gretchen auch ein braves Mädchen war, so hatte sie doch nicht dunkelblaue Augen, war nicht seine Jugendliebe, und hatte ihn nicht auf seiner ganzen Wanderschaft begleitet.

Als er am Sonntag Morgen aus der Kirche kam und unter den Kirchgängern Frau Bendler in Begleitung einer jugendlichen Gestalt erkannte, konnte er sie unmöglich anreden; er schlich sich von der Seite, er hatte dem Vater auch nur versprochen, gegen Abend seine Bekanntschaft drüben zu erneuern. Am Nachmittag aber trieb ihn seine Unruhe und Sehnsucht vor Klärchens Fenster vorüber. Er konnte sie nicht entdecken, nur ihre Mutter saß am Fenster, und zum Glück schaute sie nicht auf, sonst hätte sie wohl seine Gedanken auf seiner Stirn lesen müssen. Er ging zum Thore hinaus, und kehrte, nachdem er eine Strecke auf der Chaussee entlang gegangen war, wieder um. Da kam ihm die Ersehnte wirklich entgegen. Es war ja noch dasselbe Kindergesicht, nur die Gestalt war aufgeschossen und hatte sich jungfräulich entfaltet. Er grüßte sie und sein Herz schlug vor Glück, aber nur wenige Augenblicke. Er sah die Schaar Studenten hinter ihr umkehren, er hörte ihre Witze und sah sie den Mädchen nachfolgen. Es würde ihm nie eingefallen sein, ebenfalls umzukehren; aber Spannung und Zorn trieben ihn. Im Nothfall wollte er die Mädchen schützen, er ahnete nicht, daß sie durch das Nachfolgen der Studenten mehr erfreut als geängstigt würden. Doch bald sollte er sich von der Wahrheit überzeugen. Er saß ihnen gegenüber und beobachtete der Mädchen leichtfertiges Spiel. Klärchen spielte die Hauptrolle dabei, bis sie ihn endlich durch ihre verächtlichen und erzürnten Blicke forttrieb.

Mit welchen Gefühlen ging er nun nach Hause! Das Geschehene zerstörte zu hart seines Herzens Pläne. Die Freude an der Heimath, an der Meisterschaft, an Haus und Hof war zertrümmert; er hätte am liebsten den Wanderstab wieder in die Hand genommen. In dieser Stimmung konnte er unmöglich zu Frau Bendler gehen, nicht einmal in die Stube zum Vater; er ging leise an dem Dienstmädchen, das feiernd in der Hausthür saß, vorüber nach dem Garten und setzte sich in die Weinlaube an der Scheunenwand. Der Nachbarsgarten, der nur durch ein Stacket getrennt, war leer. Das war ihm gerade recht, und ungestört konnte er seinen Gedanken nachhängen.

Wie war die Welt heut ganz anders als gestern! Die verwilderten Rosen und Goldveiglein hatten ihn gestern so traulich und heimlich angesehen, er hatte dabei gedacht: wenn erst Frauenhände hier walten, werdet ihr noch schöner blühen. Die düstere Weinlaube erschien ihm gar nicht düster, er dachte: bald wirst du nicht mehr allein hier sitzen. Heut war ihm alles wüst und leer, und es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders sei. Er schaute durch die Weinranken hindurch zum blauen Himmel hinauf. Lieber himmlischer Vater, es wird ja wieder anders werden; jetzt aber erscheint das Kreuz meinem jungen Herzen schwer, und nun bitte ich Dich doch wieder und immer wieder: erlöse sie vom Uebel; wenn ich sie auch für mich aufgeben muß, laß Du sie nicht. – Aufgeben? ja das ist wohl schwer, und daß es ihm so schwer ward, ward ihm auch zum Trost, denn wenn es seinem schwachen, menschlichen Herzen so schwer ward, mußte es ja dem Erlöser droben noch schwerer werden, eine geliebte Seele aufzugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel schaute, je zuversichtlicher ward es ihm, und sein Schmerz lösete sich in feuchten Augen auf.

Da hörte er plötzlich eine Stimme im Nachbarsgarten singen; hell und lieblich, und doch weich und wehmüthig drangen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm herüber:

Will ich nicht, so muß ich weinen,
Wenn ich mir es recht betracht,
Weil verlassen mich die Meinen
G'nommen eine gute Nacht.

Ach, wo ist mein Vater und Mutter?
Ach, sie liegen schon im Grab.
Ach, wo sind mein Brüder und Schwestern?
Keinen Freund ich nirgends hab.

O, mein allerliebster Jesu,
Schau mich armes Waislein an,
Du bist ja mein liebster Vater,
Sonst mir niemand helfen kann.

Weil mein Eltern sein gestorben,
Leben nicht auf dieser Welt,
So hab ich Dich, liebster Jesu,
Für mein'n Vater auserwählt.

Fritz lugte durch die Weinblätter hindurch und sah drüben auf dem alten schrägen Birnbaum Gretchen sitzen. Es war ihm, als ob er nur geträumt hätte von Wandern und Fortsein; als ob er wieder achtzehn Jahr, und Gretchen ein Kind sei. Damals war der alte Birnbaum den lieben Sommer über fast ihr alleiniger Wohnsitz. Des Nachmittags ging sie mit dem Strickzeug hinauf, und jedesmal wenn sie eine Tour herum gestrickt, rief sie es dem alten Benjamin zu. Benjamin aber war ein Flickschuster, der schon fast dreißig Jahr bei Buchsteins im Hinterhäuschen über der Werkstatt wohnte. Er war der Kinderfreund der Nachbarschaft, und Gretchen war sein besonderer Liebling. Für sie war ihm keine Mühe zu groß, und jedesmal, wenn sie ihm die Tour zurief, machte er einen Kreidestrich auf eine schwarze Tafel, und immer zählte er, wie viel noch fehlten an der Zahl; und wenn es so weit war, rief er: Nun Gretchen, mach Schicht! Gretchen wand sich dann an einem Bindfaden ein Körbchen mit dem Vesperbrot in die Höhe, und meinte, da oben stricke und esse es sich besser. Benjamin legte auch den Pfriemen für ein Weilchen aus der Hand, schaute zum Fenster hinaus, sein Staarmatz schnarrte »Gretchen, so recht, so recht!« und sein Dompfaffe sang »Lobe den Herrn, o meine Seele.« Wenn dann Gretchens Kinderstimme einfiel, sagte Benjamin: »Gretchen, so recht,« und der Staarmatz schnarrte: »Gretchen, so recht.«

Auch jetzt sah Benjamins weißer Kopf zum Fenster hinaus; der Staarmatz aber rief: »Jungfer Gretchen,« und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch andere Zeiten seien.

Ei Gretchen, sagte Benjamin, Du singst einem heut ordentlich das Herze weich; was ist Dir denn?

Wenn ich wußte, daß Du heim warst, hätte ich nicht gesungen, sagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herüber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß nicht recht, was ich so mutterseelen-allein mit dem Sonntags-Nachmittag beginnen soll.

Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die einige Krankenbesuche machen wollte, als sie Nachmittags aus der Kirche kamen, allein nach Hause geschickt; und weil sich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwandten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, so war ihr das zu Hause Bleiben gar nicht recht. In der Stube war es ihr einsam, sie nahm mancherlei in die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, – nichts behagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer werden, und sie begriff nicht, warum sie so unruhig war. Sollte es sein, weil Fritz Buchstein sich zum Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem Gedanken. Warum aber sollte sie sich freuen ihn wieder zu sehen? Sie war wenigstens begierig, zu sehen was aus ihm geworden, und ob er so aussähe wie sie sich ihn nach seinen Briefen gedacht. Sie ging in den Garten. Bei Buchsteins war alles still, und ungestört ging sie in dem geraden Stachelbeerwege auf und ab. Hinter den Büschen hatte sie als Kind mit Luischen Buchstein und anderen Freundinnen Schaf und Wolf gespielt; Luischen Buchstein war todt, die anderen Freundinnen zerstreut, und sie mußte zum Sonntag-Nachmittag so allein hier wandeln. Auf der Bank unter dem alten Birnenbaume hatte sie auch oft vergnügt gesessen, noch lieber aber oben auf dem Baum: da konnte sie doch ein bischen weiter in die Welt schauen, in die Nachbarsgärten, einem Böttcher auf den Hof, dem Benjamin in die Stube. Nach der andern Seite hin war der Garten zwar durch eine hohe Mauer begränzt, aber sie sah doch die blühenden Flieder- und Goldregen-Wipfel, auch zuweilen die weiße Spitzenhaube der Frau Stadträthin und die bebänderten Strohhüte der Fräulein. Gretchen konnte nicht widerstehen; sie stieg auf den Baum. Heut war aber gar nichts zu sehen, an den Goldregen hing trockner Samen, die Fliederbüsche sahen dunkel und glanzlos aus, weder Haube noch Strohhüte ließen sich sehen, Stadtraths waren in ein Bad und die Fräulein längst verheirathet. In den anderen Nachbarsgärten war es auch still, nicht einmal Benjamin war am Fenster. Da ward es dem Gretchen immer enger um das Herz, immer sehnsüchtiger schaute sie zum Himmel hinauf. So ists. Wenn der Herr uns die Welt einsam und öde macht, so zieht er uns desto mächtiger zum Himmel hinauf. Und der Himmel war heute so licht, die Wolken daran von der sinkenden Sonne mit Gold umsäumt. Gretchen schaute, wie sie über den dunkelen Dächern am blauen Himmel langsam hinzogen und im Ziehen Gestalt und Farbe wechselten. Da zog ein Schwan, bald eine Rose, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar eines Engels Angesicht. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Brüderlein, deren sie sich noch ganz leise aus frühester Jugend erinnern konnte, und mit sehnsuchtsvollem Herzen sang sie das Lied, das Benjamin an das Fenster lockte.

Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herunter, schwang sich unten an der Scheuer und am alten Hollunderstamm noch ganz rüstig über das Stacket, und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz aus der Laube, er wollte nicht schuldiger Weise den Horcher spielen. Gretchen erschrak, denn er hatte sie ja auf dem Baume gesehen und hatte sie singen hören; er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stacket hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blonden Haar, den Sommerflecken, den runden braunen Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht groß nicht klein, nicht schlank nicht stark, und stand mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenstrich gar sittig vor ihm. Er sprach einige verlegene Worte des Willkommens, sie merkte seine Verlegenheit nicht, sie hörte kaum was er sagte, so gewaltig schlug ihr Herz, aber einsam kam ihr die Welt nicht mehr vor; und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe, nickte sie ein freundliches Ja und machte einen höflichen Knix.

Aber nicht den Weg, den ich gekommen bin, scherzte Benjamin; jungen Burschen muß man solche Schliche nicht zeigen. Du gehst in die Hausthür, wie es sich gehört.

Fritz hatte gar nicht daran gedacht; denn wenn er auch ganz stattlich in der schwarzseidenen Weste, dem seidenen Halstuch und dem Sonntagsrock aussah, so hatte er doch die Mütze und die Handschuh im Hause liegen, und überhaupt mußte der erste Besuch etwas feierlich gemacht werden. Er kam aber nicht so bald als Gretchen gehofft hatte; sie hatte schon einen großen Theil der Bilderbibel mit Benjamin durchgesehen, als es an der Hausthür klopfte. Sie ging zu öffnen und fand außer Fritzen auch noch die Mutter vor der Thür. Diese war beiden jungen Leuten sehr erwünscht. Gretchen hätte gar nicht gewußt wie sie als Wirthin thun sollte, und Fritz mochte mit seinem schweren Herzen dem Gretchen am wenigsten allein gegenüber sein. Frau Bendler übernahm nun das Sprecheramt, aber auch das Frageamt, und Fritz mußte wohl oder übel gesprächig werden. Daß es ihm schwer ward, merkte Frau Bendler nicht, wohl aber Gretchen. Der tiefe Ausdruck der Trauer, der ihm zuweilen unbewußt über die Züge glitt, ging ihr wie ein Schwert durch das Herz. Was mag er nur haben? ist er traurig, wieder daheim zu sein? zieht es ihn zurück in die Ferne? Wenn er nur nicht unglücklich ist! dachte sie bange. Und wie mag es zugehen, da doch sein letzter Brief so fröhlich war?

Als sie spät am Abend allein in ihrem Kämmerlein war, schaute sie hinauf zu den Sternen mit gefalteten Händen; hinein in ihr Abendgebet mischte sich Fritzens trauriges Gesicht, und sie empfahl es Dem, der da Freud und Leid auf die Herzen der Menschen legt.


Die Frau Generalin von Trautstein saß mit einer jüngeren Dame in eifrigem Gespräch.

Ich versichere Sie, sagte die jüngere, das Mädchen passt ganz besonders für Sie, und ich kann sie Ihnen mit vollem Herzen empfehlen. Seit zwei Jahren näht sie mir alle Kindersachen, und sie ist wirklich die Liebe des ganzen Hauses, immer freundlich, gefällig, sehr gewandt und fleißig, und aus einer sehr rechtlichen Familie. Ihre Tante ist die Frau Bendler, die dem Wöchnerinnenverein an der Spitze steht, eine außerordentlich geachtete Frau. Von der ist Klärchen eigentlich erzogen, die hat sie auch das Schneidern lehren lassen, denn Klärchens Mutter ist kränklich.

Warum will sie sich aber vermiethen? fragte die Generalin.

Um einmal unter andern Leuten zu sein, war die Antwort. Ich finde es recht vernünftig. Die Mutter nämlich soll das Mädchen sehr beherrschen und ihr jeden Groschen aus dem Beutel nehmen. Sie deutete es mir neulich mit Thränen an, daß sie sehr schlecht mit der Wäsche bestellt sei, weil sie dazu kein Geld habe erübrigen können und nur immer froh gewesen sei, der Kundschaft wegen für das Aeußere zu sorgen.

Das sind eben meine Bedenken. Die Mutter soll unordentlich sein und gern jeden Groschen durch den Mund spediren; zweitens ist das Mädchen zu jung und wird mir auch wahrscheinlich zu hübsch sein, – entgegnete die Generalin.

Die Jüngere lachte. Gerade darum wünsche ich sie Ihnen, weil sie so liebreizend ist. Bei jedem Unwohlsein wird sie Ihnen die angenehmste Gesellschaft sein; sie kann Ihnen vorlesen, denn sie spricht sehr hübsch; aber vor allen Dingen – Sie müssen sie sehen, theuerste Frau!

Die Sprecherin war die Lieutenant von Reisen, Klärchens besondere Gönnerin. Sie suchte ihr jetzt den Dienst bei der Generalin zu verschaffen und hatte Klärchen deßhalb hinbestellt; vorher aber bemühte sie sich sie in das beste Licht zu stellen. – Es währte nicht lange, so wurde Klärchen gemeldet. Sehr nett angezogen, zugleich aber sehr bescheiden und anspruchslos stand sie vor den Damen. Die Generalin war wirklich erstaunt über die Schönheit des Mädchens, aber die Anmuth in Worten und Wesen machte jedes Bedenken verstummen – und sie schloß den Miethsvertrag. Vierzig Thaler Gehalt, ein Louisdor zu Weihnachten, außerdem Geschenke: das war für Klärchen sehr erfreulich. Aber nicht allein das: der ganze Haushalt der Frau Generalin entzückte sie, ja so sehr, daß der Mediziner fast darüber vergessen ward. Die großen Zimmer, prächtigen Teppiche und Meubeln, Equipage und Dienerschaft, so etwas fand man nicht oft beisammen. In diesem Haus war sie als Kammerjungfer engagirt, so zu sagen als Kammerjungfer, denn eigentlich – redete sie sich vor – sollte sie doch Gesellschafterin der Dame sein, sie sollte ihr des Abends vorlesen und in traulichen Zirkeln den Thee serviren. Sie unterließ auch nicht, ihren Bekanntinnen die Sache so vorzustellen.

Als sie zu Tante Rieken kam, machte die ein ernsthaftes Gesicht. – Du hast nun meinen Wunsch erfüllt und Dich vermiethet, sagte sie, der Herr mag Dir Kraft zu Deinem neuen Berufe geben, den Du Dir nicht zu leicht denken mußt. – Klärchen, die voll der schönsten Hoffnungen und sehr guter Laune war, versprach alles Mögliche, und die Tante war zu gutmüthig, um das nicht glauben zu müssen. Auf die Fragen über den Zustand ihrer Wäsche, hatte sie geschickte Antworten; sie hätte unmöglich die Wahrheit sagen können, und ihre Angst war schon längst gewesen, die Tante möchte sich einmal selbst davon überzeugen wollen. Für das Nöthigste sei gesorgt, sagte sie, und sie freue sich, von dem schönen Lohn ganz besonders Wäsche anzuschaffen. Die Mutter muß sich einschränken lernen, fügte sie hinzu; Du weißt, wenn ich Geld hatte, konnte ich es als Tochter nicht abschlagen; wenn ich keines habe, kann ich keines geben; und bekomme ich meinen Lohn, gebe ich ihr ein Theil, kann aber vom übrigen gleich ordentlich anschaffen. – Das klang vernünftig, und die Tante war damit einverstanden. Gretchen ging vor die Schublade und holte ein halbes Dutzend leinene Taschentücher und zwei Paar Strümpfe.

Das darf ich Dir schenken, sagte sie; zum Stricken hast Du nicht viel Zeit gehabt, und die Taschentücher sind gesäumt und für Dich gezeichnet. Wenn Du zu uns kommst, nimmst Du nun aber auch die leinenen, scherzte Gretchen: Du weißt, wir können die baumwollenen nicht leiden.

Klärchen war gerührt von dieser Güte. Du meinst es doch wirklich gut! sagte sie herzlich.

Das kannst Du glauben, entgegnete Gretchen treuherzig, und beide Cousinen waren jetzt sehr freundlich auf einander gesonnen.

Am Michaelis-Tage zog Klärchen an. In ihrer Stube stand eine Kommode und ein Kleiderschrank, dahinein wurden ihre Sachen so weitläuftig als möglich geordnet. Einige Sommerkleider und dünne wollene Kleider, Mantillen, Mäntelchen, ein Frisuren-Unterrock in den Schrank; in die Kommode, außer der wenigen Wäsche, Bänder, Schleifen, Kragen, Handschuh, Taschentücher; die zwei Paar ganzen Strümpfe von Gretchen bildeten den guten Grund dieser leichten Gesellschaft. Außerdem aber stellte sie einige Blumentöpfe in das Fenster, hing ein Porzelan-Bildchen an die Scheiben, ein anderes Bild unter den Spiegel und eine Blumenvase auf die Kommode. Der Bediente hatte in die Stube gesehen und gegen die Köchin bemerkt: man sähe dem Geschmacke des Mädchens an, daß sie von guter Erziehung und Bildung sei; nur schlimm, daß das Stübchen im Nebenhaus, und der Mediziner gerade hineinsehen könne, da möcht es am Ende eine Liebelei im Hause geben. Die Köchin aber nahm Klärchens Partie. Ihre Küche lag gerade gegenüber im anderen Seitenhaus; sie hatte gesehen wie Klärchen das Rouleau niederließ, als der Mediziner mit der langen Pfeife aus dem Fenster sah. Klärchen aber hatte die Köchin gesehen und gedacht: Du mußt Dich in Respekt setzen, und etwas Sprödigkeit gegen den Mediziner kann nicht schaden.

Es kamen nun für sie unterhaltende Tage. Das Haus der Generalin war vielfach belebt, die verheirathete Tochter mit den Kindern vier Wochen dort, und dies gab Gelegenheit zu mancher Geselligkeit. Außerdem ward Klärchen in die eleganten Läden der Stadt geschickt, um Besorgungen zu machen, und das war ihr besonders unterhaltend. Sie war bald mit allen Commis befreundet und hatte ihre leichte Kommodengesellschaft um manches bereichert. Freilich waren ihre wenigen Groschen, die sie in den Dienst mitgebracht, auch ausgegeben, aber die paar Groschen lohnten kaum der Mühe zum Sparen. Daneben ward das Spiel mit dem Mediziner gar eifrig betrieben. Die Generalin hatte meistens nur Damenverkehr: von der Seite war also für ihre Zukunft nichts zu hoffen. Bald merkte sie, der Mediziner war in Feuer und Flammen und ein recht demüthiger Liebhaber. Wenn sie das Rouleau einen Tag nicht aufzog, sang er die schwermüthigsten Lieder; oder wenn sie sonst spröde gegen ihn war, nahmen seine rohen großen Züge einen gar sanften Ausdruck an. Sie that das mit Wohlbedacht, denn ehe er nicht in die rechte Höhe der Leidenschaft kam, würde er nicht Ernst aus der Sache machen. Sie berechnete freilich nicht, daß sie auch mit der Zeit warm wurde, und ein verliebtes Herz ist ein schwaches Herz, und der Mediziner war nicht ohne Erfahrung, das zu wissen und zu merken.

So war Weihnachten herangekommen, der Besuch der Generalin war abgereist und den unruhigen Tagen waren ruhige gefolgt; aber immer war Klärchen gleich aufmerksam und liebenswürdig, und die Generalin versicherte ihre Freundinnen, eine ausgezeichnete Kammerjungfer zu haben, was ihr gern geglaubt wurde, da Klärchen ja gegen jedermann sich liebenswürdig zeigte. Nur schien es, als ob sie seit einiger Zeit etwas zerstreuter wäre und oft nicht ganz unbefangen aus den Augen sähe; doch tröstete sich die Generalin mit ihrer übertriebenen Angst vor Liebesgeschichten und ließ sich nichts merken, und Weihnachten ward Klärchen außerordentlich reichlich bedacht. Das war aber auch gut, denn Klärchen gebrauchte viel. Sie sah so manches bei den vornehmen Damen, das ihr gefiel und das sie haben mußte. So bemerkte sie mit Erstaunen, als sie ihre Schulden überschlug, daß vom Lohn und vom Louisdor kaum etwas für ihre Mutter übrig blieb. Sie tröstete sich aber bald. Aller Anfang ist schwer, dachte sie, für Wäsche wird ein andermal gesorgt; hatte sie doch den unächten Shawl, die Brosche und den Sammethut sich wirklich angeschafft!

Doch sollte das alte Jahr nicht hingehen, um sie nicht ganz und gar von diesen kleinlichen Sorgen zu befreien. Als sie am Sylvesterabend von einer Besorgung in der Dämmerung zurückkam, sah sie eine wartende Gestalt unten im Hausflur. Sie erkannte bald den Mediziner. Sie hatte hier öfters mit ihm flüchtige Worte gewechselt, seit einiger Zeit hatten sie sich nie allein gefunden, und auch heute waren Schritte auf der Treppe hörbar. Er kam eilig auf sie zu, drückte ihr einen Brief in die Hand und eilte die Treppe voran.

Klärchen konnte nicht schnell genug ihr Lämpchen anstecken, um dies Dokument zu lesen, ein Dokument wie Millionen geschrieben werden, um thörichte Mädchen zu täuschen und noch thörichter zu machen. Nichts ist lächerlicher als diese Art Liebesbriefe, einer ist dem andern wie aus den Augen geschnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen eine Göttin, einen Engel, ein höheres Wesen; die Empfängerin aber meint, das passe nur ganz allein auf sie; ihre Brust hebt sich stolzer, denn sie ist vor vielen Tausenden beglückt. Ferner steht in den Briefen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und ewigen Gefühlen. Das ist alles sehr glaubwürdig, denn man ist ja wirklich so liebenswerth, man müßte aber ein Herz von Stein haben, den Armen so leiden zu sehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder Unglück kann sich nie nahen, denn seine Gefühle sind ewig, und ihr Glück wird auch ewig sein. Daß diese Ewigkeit der Liebesbriefe selten über ein Jahr hinaus reicht, glaubt man nicht; man hat zwar schon oft davon reden hören, aber diese Versicherungen, diese Schilderungen müssen Wahrheit sein.

So glaubte auch Klärchen, als sie ihren Brief gelesen. Ihr Herz hüpfte vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte sie es so weit gebracht, daß er Ernst machte; nun wollte sie ihn auch nicht länger schmachten lassen und ihm ihre Liebe zeigen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber sie war heut Abend zu Tante Rieken eingeladen und hatte versprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und so ein Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Bedacht geschrieben werden. Sie ging also, wenn auch in höchster Unruhe. Den empfangenen Brief trug sie natürlich auf dem Herzen.

Zum Sylvester war sie immer am liebsten zu Tante Rieken gegangen. Da gab es Punsch und Kuchen, und außerdem, daß man wohl ernsthaft sprach und sang, ging es doch auch sehr vergnüglich her, und für die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die Tante war trotz aller Pietisterei doch sehr heiter, konnte selbst recht drollig sein, und hinderte die jungen Leute nicht, es ebenso zu machen. Heute war ihr das freilich ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweigsamkeit bemerkten, that sie etwas erschrocken, schmunzelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter müsse etwas stecken. Fritz Buchstein, der auch unter den Gästen war, sah sie scharf an bei diesen Scherzen, und der Blick war ihr wieder sehr fatal. Doch ward man lebhafter bei einem Gläschen Punsch und bemerkte Klärchens Schweigsamkeit nicht mehr. Selbst Fritz ward ungewöhnlich redselig und erzählte sehr unterhaltend von seiner Wanderschaft. Gretchen hing an jedem Worte, das er sagte; selbst Klärchen mußte gestehen, daß er ein ausgezeichneter Tischlergeselle sei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lippen, seine Augen waren lebendig, seine Wangen geröthet, sie wußte selbst nicht wie, aber es fielen ihr die Helden aus den Ritterromanen ein, wie sie beschrieben werden, so sanft und mild und dabei so edel und männlich. Sie begann fast, ihn dem Gretchen nicht zu gönnen, obgleich sie selbst himmelhoch über ihm stand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann, und solch einen Brief konnte er nicht schreiben, wie sie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte sie Recht, solch einen Brief konnte er nicht schreiben: er war nicht gewissenlos genug und hatte nie gewagt, einem Mädchen den Unverstand zuzutrauen, solchen Unsinn, der in jedem schlechten Romane zu finden ist, für Wahrheit zu nehmen.

Mehrere Stunden waren so schnell vergangen, da erinnerte Vater Buchstein Frau Bendler an ihr Versprechen.

Ei freilich! Heute lassen wir Schiffchen schwimmen, sagte diese scherzend; es liegt mir selber daran, zu wissen, wie es mit der Freundschaft meiner guten Freunde steht. Ich muß aber auch die erste sein, weil ich doch wohl die neugierigste bin.

Die jungen Leute stimmten fröhlich in den Vorschlag ein. Gretchen holte einen großen Napf mit Wasser, Wallnüsse und einen Wachsstock. Fritz theilte sehr geschickt die Nüsse auseinander, machte die Frucht heraus und klebte dafür kleine Wachslichte hinein. Gar niedlich tanzten die brennenden Lichterschiffchen auf dem Wasser, der Tante Schiffchen in der Mitte, die anderen stellten den Vater und Sohn Buchstein, die Frau Organistin und Gretchen und Klärchen vor; so war es von Frau Bendler bestimmt. Der Hauptspaß war nun, wie die anderen sich zur Hauptperson verhielten. Blieben sie fern, so war es mit der Freundschaft schlecht bestellt. Und wirklich drückten sie sich alle ziemlich fern an den Seiten herum. Frau Bendler scherzte und neckte, bis plötzlich Fritzens Schiffchen, durch eine leise Wasserbewegung angeregt, auf die Tante zu schoß und nicht wieder von ihr ließ, was auch am Napfe gerüttelt und geschüttelt ward. Das Schütteln aber hatte zur Folge, daß die anderen vier Schiffe sich zu einem Häufchen gesellten, und nun wie zwei feindliche Parteien sich die Flotte gegenüber stand.

Weil der Fritz es so gut mit mir meint, soll er jetzt der erste sein der die Herzen seiner Freunde prüft, sagte Frau Bendler. Fritz aber war gar nicht begierig danach, er wollte den andern durchaus den Vorrang lassen; doch half es ihm nichts, die Alten übernahmen es, den Schiffchen Namen zu geben, und die Sache ging los. Gretchens Herz klopfte gewaltig, und sie besann sich schon, was für ein Gesicht sie machen wolle, und was sagen, wenn das Schiffchen die Gedanken ihres Herzens verrathen sollte. Zwei andere junge Mädchen, die ganz unbefangen waren, scherzten mit Fritz und meinten: das passe sich gar nicht, wenn er da großartig in der Mitte stehe, und sie sollten sich um ihn bemühen, diese Prüfung sei eigentlich nur für Mädchen. Klärchen aber war ganz erhoben über diesen Spaß, ihre Gedanken waren längst nicht mehr hier; je später es wurde, je größer ward ihre Unruhe und Sehnsucht, den Brief zu beantworten. Doch seltsam genug, ihr Schiffchen nahete sich zuerst der Mitte, Fritz schien ihr auszuweichen, aber sie zog hinter ihm her, vereinigte sich mit ihm und schiffte dann mit ihm zusammen auf dem kleinen Meere umher.

Das gab ein Lachen, aber Klärchen warf die Lippen auf und warf einen verächtlichen Seitenblick auf den Tischlergesellen, so daß allen die Gesinnung ihres Herzens kund werden mußte. Gretchen ward vor Aerger ganz roth und hatte schon ein derbes Wort auf den Lippen, doch scheute sie sich vor Fritzens Gegenwart und wollte es sich lieber aufsparen. Die beiden andern Mädchen stießen sich an, Klärchen hatte ihnen schon den ganzen Abend zu vornehm gethan, und die Frau Organistin sagte spitz:

Ei Klärchen, brauchst den Mund nicht zu verziehen, bist in ganz guter Gesellschaft hier.

Doch die Tante wollte keinen Ernst gemacht haben; sie entgegnete leicht: In der Hinsicht muß ein jedes Mädchen stolz und spröde thun, die jungen Burschen sollten sonst eitel werden.

Dann wurden die Namen der Schiffchen wieder geändert, und die Sache war abgemacht. – Fritz aber behielt den Stachel im Herzen. Wenn er auch längst Klärchens Besitz aufgegeben, so konnte er ihr doch heut nicht ohne innere Bewegung gegenüber sitzen, es war ihm, als ob aus ihrem Wesen bald ein guter bald ein böser Engel schaue; er hätte den guten so gern festhalten und in ihre Nähe bannen mögen. Die dunkelblauen Augen hatten ihn zuweilen so kindlich angeschaut, ganz so wie sie auf seiner Wanderschaft vor seiner Seele schwebten. Er wußte zwar mehr als alle die anderen von ihrem Leben und Treiben – die Augen der Liebe sehen scharf –, auch wußte er, daß der Mediziner im Hause der Generalin wohne, aber immer noch konnte er den guten Engel in ihr nicht aufgeben, und sein theilnehmendes und trauerndes Herz ward von ihrem verächtlichen Wesen schmerzlich berührt.

Die Zeit war mit den Späßen vergangen, es schlug zehn Uhr, man wurde ernsthafter. Die Alten erzählten, die Jungen hörten still zu. Fritzen war das sehr lieb, er war wahrlich nicht zur Freude aufgelegt und er übernahm es auch später gern, etwas aus der Bibel vorzulesen. Er begann mit dem 90. Psalm. Er las langsam und feierlich, seine Stimme ward immer voller, die Worte quollen immer mehr aus seinem Herzen. Als er die Worte las: »Lehre uns bedenken daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden,« – schaute er auf und sah Klärchen an. Niemanden fiel das auf, nur Klärchen konnte den Blick nicht vertragen und es wurden ihr dadurch die Worte erst bedeutsam. Dem Psalm folgte ein Abendgebet, auf den Jahresschluß passend, und dann das schöne Lied:

Jahre gehn und fliehen,
Blumen, die da blühen,
Welken traurig ab!
Was da grünend stehet,
Wandelt und vergehet
In ein düstres Grab!
Bleiben wir wohl ewig hier? –
Was genommen ist von Erden,
Muß zur Erde werden.

Eines unter allen
Kann nicht fliehn und fallen,
Wenn auch alles fällt:
Was aus Gott geboren,
Gehet nicht verloren
In dem Grab der Welt;
Seine Zeit heißt Ewigkeit –
Selig, wer in guten Stunden
Dieses Eine funden.

Der für uns gestorben,
Hat es uns erworben
Einst mit seinem Blut;
Jesus, unser Leben,
Kann dem Sünder geben
Dieses eine Gut;
Seine Kraft bewirkt und schafft,
Daß geweihet sei die Seele
Mit dem Lebensöle.

Weichet, Lust und Sünde!
Einem Gotteskinde
Habt ihr nichts mehr an.
Denn dem Gott der Ehren
Muß mein Herz gehören,
Ihm dem Schmerzensmann.
Ihm erkauft, auf ihn getauft,
Steh ich in dem Grund der Gnaden.
Was kann da mir schaden?

Tage, Jahre, fliehet!
Lust und Glanz, verblühet!
Gräber, öffnet euch!
Wenn die Glieder sterben,
Werd ich ja ererben
Meines Heilands Reich!
Wär sie nah, ach wär sie da,
Jene Zeit, da ich erstritten
Gottes ewge Hütten!

Klärchen bemühte sich so viel als möglich, nicht hinzuhören und sich mit anderen Gedanken zu zerstreuen; es war ihr aber unmöglich. Fritzens Stimme klang wie Glockentöne in ihr Herz, so mächtig, so ernst, sie mußte hören, und je länger er las, desto aufmerksamer hören. Von Sterben – Grab – und Verblühen war die Rede, es ward ihr bange dabei, und ihr abergläubig Herz nahm die Bangigkeit für böse Ahnung. Nur nicht sterben! dachte sie. Der Heiland, von dem sie reden, hilft mir nichts, sein Reich reizt mich nicht und nicht die ewigen Hütten; nein, über den Tod hinaus geht keine Hoffnung. O, so häßliche Gedanken verbittern einem das schöne Leben, und gerade heute das anzuhören ist sehr störend. Die andern sehen dabei so ruhig und freudig aus, als ob sie Recht hätten, und Fritz ist so voll von der Wahrheit, sein Gesicht leuchtet, und wie Gretchen so demüthig zu ihm aufschaut – solche Blicke müssen sein Herz rühren.

Es schlug zwölf. Alle falteten die Hände, beugten sich zum Gebet. Auch Klärchen mußte so thun, aber in ihrem Herzen war es dunkle Nacht, der Teufel hielt seine Hand über sie. Fort, fort von hier! seufzte sie, und der Liebesbrief zog sie gewaltig hinaus aus dem Ernst und dem Frieden in die Lust und Unruhe der Welt.

Beim Heimgehen fand es sich, daß Frau Krauter mit den andern einen Weg hatte, und nur Klärchen allein nach einer ganz entgegengesetzten Seite mußte; es wurde beschlossen, Fritz sollte sie nach Hause führen. Sie aber streubte sich, denn nichts wäre ihr drückender gewesen, als ein einsamer Weg mit diesem sonderbaren Menschen. Aber es half nichts. In der Sylvester-Nacht, wo der Trunkenbolde nicht wenige auf den Straßen zu finden sind, darf kein junges Mädchen allein gehen, hieß es, und Klärchen mußte sich fügen. Fritz war gar nicht verlegen, er hatte sich eben zu sehr in eine Gotteswelt vertieft, als daß ihn die kleinen Bewegungen der irdischen Welt hätten berühren können. Er sah Klärchen ruhig und fest in die Augen und sprach zu ihr mit unbefangener Stimme; doch wehten außen Sturm und Regen so sehr, und Klärchen ging so rasch, daß er schweigen mußte.

Jetzt standen sie vor der Hausthür. Klärchen nahm den Schlüssel und schloß auf. Der Mond brach eben durch Wolken und warf sein helles Licht auf Fritz und Klärchen, sie sah unwillkürlich auf zu ihm: da ruheten seine dunklen Augen so traurig auf ihrem frischen Gesicht, er reichte ihr die Hand, sie mußte ihre hineinlegen.

Klärchen, sagte er mit bewegter Stimme, wir stehen jetzt am Anfang eines neuen Jahres. Der Herr wolle uns segnen, daß wir am Ende desselben mit reinem Herzen und ruhigem Gewissen und unbefleckter Ehre mögen darauf zurückschauen. Der Herr behüte Sie!

Er wandte sich schnell von ihr, sie trat in das Haus, aber mußte erst einige Augenblicke sich vom Schrecken erholen.

Was will er nur? dachte sie. Meine Ehre? da will ich selbst für sorgen. Und das Gewissen? ich werde doch kein Verbrechen begehen? – Sie suchte mit Gewalt den Eindruck von Fritzens Worten abzuschütteln, und das sollte ihr leider nicht schwer werden.

Als sie die erste Treppe hinauf war und eben den Zugang, der zur Etage der Generalin führte, öffnen wollte, kam jemand von oben herunter. Sie zögerte, – ja es war der Mediziner. Er hatte den Sylvester-Abend etwas lauter und wilder gefeiert als Klärchen, sein Gesicht glühte von Wein und Punsch, und seit geraumer Zeit hatte er mit Ungeduld auf Klärchens Rückkehr gewartet. Jetzt flossen ihm die Worte wie Feuer von den Lippen. Diese Liebes- und Treue-Versicherungen, diese Ausdrücke von erhabenen Gefühlen – Klärchen konnte nicht widerstehen. Sie erwiederte flüsternd süße Liebesphrasen, duldete, daß er sie küßte, und als sie sich endlich losriß, mußte sie ihm das Versprechen geben, für eine recht baldige ungestörte Zusammenkunft zu sorgen. Das war gar nicht schwer, bei ihrer Mutter konnte sie das haben; denn die wird dem Glück der Tochter nichts entgegensetzen. Und, fügte Klärchen hinzu, es ist auch nöthig daß wir besprechen, wie es mit unserer Verlobung werden soll, es ist doch da manches zu thun –

Närrchen! unterbrach sie der Mediziner, wer wird denn an so alberne Dinge denken? Wir leben in der Gegenwart, das andere fügen die Götter. – Dann fügte er einige zärtliche Worte hinzu und ging die Treppe hinauf.

Diese letzten Worte gingen Klärchen eisig über die grünen Auen ihres Glückes, doch dachte sie nicht weiter darüber nach, und legte sich in süßer Betäubung zur Ruhe.

Am anderen Morgen wachte sie später auf als gewöhnlich. Ihre gütige Dame hatte sie nicht zur gewöhnlichen Zeit wecken lassen, damit sie den versäumten Schlaf nachholen möge. Und dennoch konnte sie sich nicht zurecht finden. Es war ihr so wüst im Kopfe und so nüchtern im Herzen, sie mußte sich ordentlich erst klar machen, daß sie sehr glücklich sei, und trotz des Vorredens blieb sie unruhig. Wird er Ernst machen? Wird er sich öffentlich verloben? Wird er es seinen Eltern sagen? Solche Fragen war sie thöricht genug sich vorzulegen, und es galt von ihrer Seite immer noch große Vorsicht, das alles zu erreichen. So dumm wie ihre Mutter, der der Rechtsgelehrte unter den Händen entwischt war, wollte sie nicht sein, dachte Klärchen; und so denken alle thörichten Mädchen, die leichtsinnige Liebschaften anknüpfen. Sie sehen zwar rund um sich, wie die Sachen meistens ablaufen, aber sie wollen es schon anders zu Ende bringen, – bis ihnen dann das reine Herz, Ehre, und gutes Gewissen samt dem Liebhaber unter den Händen entschlüpft sind.

Als Klärchen zur Frau Generalin ging, um ihr wie gewöhnlich bei der Toilette behilflich zu sein, fand sie dieselbe schon fertig angekleidet beim Frühstück, und neben ihr saß bei demselben ein junger schöner schlanker Mann in Garde-Uniform. – Klärchen entschuldigte sich wegen des späten Kommens; die Generalin aber war sehr freundlich und sagte nebenbei: Ich habe gestern auch eine große Ueberraschung gehabt, mein Sohn kam unerwartet an.

Der junge Mann war bei Klärchens Eintreten aufgestanden, ihre Schönheit und ihr feines Wesen bestimmten ihn, höflicher zu grüßen, als er es gethan haben würde, hätte er gewußt daß seiner Mutter Kammerjungfer vor ihm stand. Jetzt ward er etwas verlegen, Klärchen merkte alles, – ein kokettes Mädchen ist sehr feinfühlend in solchen Dingen, – und ihr ganzes Benehmen wurde augenblicklich dem jungen Manne angepaßt. Sie ging ordnend im Zimmer hin und her, that, was in der Schlafstube nebenan zu thun war, und ging dann um Sonntagstoilette zu machen. Sie wußte selbst nicht recht wie sie dazu kam, aber sie begann Vergleiche zu machen zwischen dem Gardelieutenant und dem Mediziner. Der Mediziner war wirklich häßlich dagegen zu nennen, und wie plump war seine Sprache und sein ganzes Wesen! Freilich, tröstete sie sich, er ist ein Student, und die meinen, sie müssen burschikos sein; wenn er bei seiner Mutter, der Frau Präsidentin sitzt, wird er auch anders sein. Aber er soll auch gegen mich anders sein, dachte sie weiter, er soll fein und nobel werden wie der Gardelieutenant!

Das Haus war durch die Neujahrs-Glückwünschenden so belebt, daß es dem Mediziner unmöglich ward, Klärchen zu sehen. Auch den Abend war große Gesellschaft, der Flur hell erleuchtet und fast immerfort Bewegung auf der Treppe. Er war sehr ungeduldig und wußte kaum, wie er die Zeit hinbringen sollte. Klärchen ging es nicht so, sie war heut so beschäftigt und hingenommen, daß sie kaum Zeit hatte, an ihre Liebe zu denken. Bis jetzt hatte sie fast nur alten Damen den Thee servirt, heute aber waren junge Herren, die Freunde des Lieutenants, in der Gesellschaft. Klärchen, im hellblauen Musselin-Kleide mit freiem Hals und freien Armen, stand vor der singenden Theemaschine und schwebte dann in den hell erleuchteten und wohl durchdufteten Zimmern hin und her. Ein solcher Triumph war ihr noch nie geworden: die Blicke der jungen Leute folgten ihr, wohin sie ging, bis leider die Generalin sehr ernste Blicke auf sie warf und ihr huldreich sagte, sie möchte sich nicht weiter bemühen, der Bediente solle allein aufwarten.

Sie ging, und trat erhitzt und aufgeregt in ihre Stube. Kaum hatte der Mediziner Licht darinnen gesehen, als er seine Fenster öffnete und leise mit den Händen klappte. Klärchen hatte eigentlich nicht große Lust, ihn jetzt zu sprechen, sie sah aber ihr Bild im Spiegel und fand sich gar zu schön, der Mediziner mußte sie sehen, mußte sich überzeugen, daß sie mit ihrer Erscheinung in die Salons einer Präsidentin passe, ja ihr Hochmuth und ihre Eitelkeit waren heut so sehr gewachsen, daß sie meinte, er müsse sich glücklich schätzen sie zu gewinnen. Man konnte gar nicht wissen, ob ihr nicht noch ein größeres Glück bestimmt gewesen. Der junge Graf, der heut mit in der Gesellschaft war, hatte sie nicht aus den Augen gelassen, und der Generalin Sohn, der außer seinem Lieutenantsgehalt noch ein Gut in Schlesien hatte, dazu adelig war, hatte sich gewiß schon sterblich in sie verliebt. Klärchen hatte viel Romane gelesen, sie wußte, daß nicht selten arme Mädchen vornehme Partien machen, und sie hatte die bestimmte Ahnung einer großen Zukunft.

Mit solchen Gedanken trat sie auf den Flur, der Mediziner stand schon unten an der Treppe. Als er ihr vornehmes, herablassendes Wesen sah, dazu ihre Schönheit, verschluckte er die groben ungeduldigen Liebesvorwürfe, die ihm in der Kehle staken, und beklagte sich nur, daß er sie heut den ganzen Tag nicht gesehen. Klärchen entgegnete, dies sei ein unschicklicher Platz, sich zu sprechen, und beschied ihn zum nächsten Abend zu ihrer Mutter. Daß er sie küßte und zärtlich ward, litt sie wohl; Hochmuth und Eitelkeit schützten nicht vor bösen Herzensgelüsten, nein, es sind gerade sehr verträgliche Schwestern, die sich gegenseitig hegen und pflegen.

Am anderen Morgen saß Klärchen, wie gewöhnlich, nähend im Vorzimmer. Der Lieutenant trat ein und bat sie, einige Maschen an seiner Geldbörse wieder zu befestigen. Während sie es mit den feinen geschickten Händen that, stand er schweigend vor ihr. Auch Klärchen schwieg, aber ihr ganzes Wesen redete. Wie sie den Kopf hielt, wie sie die Finger bewegte, wie sie aufschaute, ihm dann die Börse gab – es mußte das alles das Herz des Lieutenants bestürmen. Klärchen merkte, daß er gern eine Unterhaltung mit ihr angeknüpft hätte, doch die Schritte der Generalin waren im Nebenzimmer hörbar, und er verließ sie mit einem kurzen verbindlichen Danke.

Der Tag verging mit Plänen für heut Abend; und wenn auch das Bild des Lieutenants sich zuweilen dazwischen drängte, so schob sie es mit Gewalt zurück. Der Mediziner muß sich heut Abend feierlich mit dir verloben, wo möglich müssen wir heut Abend noch Brautvisite bei Tante Rieken machen. Was wird die sagen! Und Grete! Nun, sie werden Respekt bekommen vor der Schwiegertochter einer Frau Präsidentin. Der Mediziner mußte morgen früh selbst die Generalin um ihre Entlassung bitten, oder wenigstens ihr eine andere Stellung geben; die Hälfte des Wechsels mußte er ihr gleich überlassen, um für Toilette und Wäsche zu sorgen; sie war nun aus aller Noth, konnte sich die Hemden Dutzendweis fertig kaufen und so alle Sachen. In dieser Weise flogen ihre Gedanken, sie konnte kaum den Abend erwarten, und es war ihr recht unangenehm, daß sie ihrer Herrin noch von 6 bis 7 Uhr vorlesen sollte. Die Frau Generalin aber war ganz allein, erwartete den Sohn erst zum Abend zurück, und Klärchen mußte wie gewöhnlich ihr auf diese Weise die Zeit vertreiben. Sie las heut besonders schlecht, und die Generalin war eben im Begriff, dies zu tadeln, als die Thür sich öffnete und der Sohn eintrat. Er winkte, setzte sich in eine dunkle Ecke, und die Mutter bemerkte: sie wolle nur dies kurze Kapitel auslesen lassen. In Klärchen schien plötzlich eine andere Kraft gefahren, sie las besonders schön und mit ganz anderer, bewegter Stimme. Der Lieutenant wandte keinen Blick von ihr, und die Generalin sah sie bedenklich an. Als sie das Zimmer verlassen, wandte sich diese zu ihrem Sohne.

Lieber Alfred, sagte sie lächelnd, ich glaube, so lange Ihr jungen, leichtfertigen Leute hier bei mir ein- und ausgeht, muß ich das Mädchen aus dem Haus thun.

Und wenn ich mich auch ein wenig verliebte, entgegnete Alfred, Du fürchtest doch nicht –

Nein, ich fürchte nicht, daß Du leichtfertig genug wärest, ein Mädchen thörichter zu machen, als es schon ist, aber Deinen Freunden traue ich nicht.

Alfred lachte. Sie sind alle außer sich über diese Schönheit, und Graf Bründel, glaube ich, früge allerdings nicht viel danach, ob er ein thöricht Mädchen thörichter mache.

So bitte ich Dich, vermeide es, daß er sie sieht, – entgegnete die Mutter besorgt. Und Du, lieber Alfred, bist vorsichtig, – fügte sie zögernd hinzu.

Gewiß, sagte Alfred treuherzig und reichte der Mutter die Hand; und sollte es wirklich gefährlich werden, da bitte ich Dich, mich fortzuschicken, – schloß er scherzend.

Diese Unterredung hatte Klärchen durch das Schlüsselloch mit angehört, denn Horchen war in den zehn Geboten nicht verboten. Sie haben sich alle in dich verliebt, und Alfred ist doch der schönste und edelste. Seinen Spaß würde er nie mit dir treiben: zeigt der dir Liebe, so wäre es Ernst. – Sie seufzte. – Ja, hätte sie mit dem Mediziner noch nicht angefangen, sie hätte es wahrlich jetzt gelassen; aber sie hatte sich küssen lassen, hatte eine Liebschaft an der Treppe gehabt; Frau von Trautstein konnte sie nicht werden. Also nur kühn den Mediziner festgehalten, er ist auch ein Mann von Bedeutung und so sehr verliebt, es läßt sich alles mit ihm machen.

Mit solchen Gedanken machte sie in ihrer Mutter Stube die Vorbereitungen zur Verlobung. Zwei Lichter brannten außer der kleinen Lampe, Tassen und Kuchen standen auf dem Tisch, die Theekanne in der Röhre, die Mutter saß im Lehnstuhl am Ofen, und Klärchen mit der Guitarre am Arm saß im Sopha. Der Student kam, die Thür ward verschlossen, und nun ward geplaudert, gescherzt, gekoset. Die Mutter war ganz glücklich. Der Mediziner hatte schon eine volle Börse deponirt zu Sachen, die für Klärchen nothwendig angeschafft werden sollten. Sie mußte sich gestehen, daß Klärchen es weit klüger angefangen als sie: Klärchen that spröder und vornehmer und kommandirte mehr. Sie bedachte nur nicht, daß das Ende einer klugen Sünderin ein gleiches ist, als das einer dummen. Klärchen kam zuletzt mit Vorschlägen zur Veröffentlichung ihrer Verlobung heraus, die für heute darin bestanden, noch zu Tante Ricken zu gehen. Der Mediziner sah sie erst verblüfft an, und brach dann in ein helles Lachen aus. Er hatte schon viel Liebschaften gehabt, das aber war ihm noch nie passirt.

Närrchen! sagte er, wie kannst Du ein solcher Philister sein! Bei uns ist wohl von Lieben die Rede, aber nicht von Verloben. Wenn die Welt erst zusieht, hört aller Spaß auf.

Klärchen stand auf, sie zitterte an allen Gliedern. Wenn es so gemeint ist, sind wir geschiedene Leute, sagte sie in höchster Erregung.

Der Student war wieder verblüfft, lachte darauf aber nicht. Er merkte, daß er mit dem Mädchen anders verfahren müsse, als er es bisher gewohnt gewesen, und da er unglaublich in sie verliebt war, begann er zu kapituliren. Das aber half ihm nichts, sie war zu klug und durchschaute seine gleißenden Worte. Dazu liebte sie ihn eigentlich gar nicht mehr, sie dachte an den Lieutenant, an den Grafen, sie konnte ja nur zugreifen; ja, mit einem Mal war es ihr, als müsse sie sich von dem Studenten losreißen, um einem höheren Geschicke entgegen zu gehen. Das gab ihr Muth, jetzt die Tugendheldin zu spielen. Sie hielt die schönsten Reden; selbst als er versicherte, Ostern wolle er mit seinen Eltern reden und nur bis dahin müsse die Sache geheim bleiben, blieb sie standhaft, – und als er sie bestürmen wollte mit seiner Liebe und seinem Unglück, verschloß sie sich in die Kammer. Die Mutter spielte eine traurige Rolle dabei, ihr Herz war weicher, als das der Tochter, sie hätte den Unglücklichen gern glücklich gemacht, – dazu die schöne volle Börse auf dem Tisch, – und versuchte ihn zu beruhigen, versprach mit der Tochter zu reden, und entließ ihn so nicht ganz ohne Hoffnung. Klärchen aber that stolz wie eine Königin. Siehst Du, sagte sie zu ihrer Mutter, so muß man es machen, spaßen lasse ich nicht mit mir! Und weil sie doch im Inneren eine große Demüthigung fühlte, daß ihr der Mediziner entschlüpfte, wie der Mutter Rechtsgelehrter, so that sie mit Worten besonders groß, ließ ihr Glück bei den adeligen Herren ahnen, und um die Mutter vollständig mit dem ersten Abenteuer auszusöhnen, duldete sie es, daß diese die volle Geldbörse des Mediziners in Verwahrung nahm.

Auf ihrem Stübchen aber brach sie in Thränen aus, nicht Thränen der Reue über ihren Leichtsinn, nein, sie weinte über ihre Dummheit, sich mit diesem rohen Menschen so weit eingelassen zu haben. Wenn es die Generalin, wenn es der Lieutenant wüßte! Aber sie wissen es nicht und werden es nie erfahren, war ihr Trost; du willst vorsichtiger sein, dich nie mit so rohen Menschen einlassen. Um sich vollständig zu trösten, wiederholte sie sich die Unterredung der Generalin mit ihrem Sohne. Es konnte ihr nicht fehlen, – sie taumelte sich in einen neuen Himmel der Zukunft und schlief beruhigt ein.

Ihr Rouleau kam nun den ganzen Tag nicht mehr in die Höhe, und die Köchin, die schon angefangen, aufmerksame Augen auf sie und den Mediziner zu werfen, ward wieder ganz ruhig.

Die Generalin aber war nicht ruhig, sie sah die Augen ihres Sohnes fortwährend auf Klärchen gerichtet, und diese war ganz besonders sanft und holdselig. Der Graf hatte gesagt: das Mädchen sei ganz verteufelt stolz und spröde, und Alfred hatte das mit Triumph der Mutter erzählt und dabei fallen lassen, daß ihre Bildung eigentlich über die eines Kammermädchens hinausgehe. Klärchen hatte das glücklicherweise wieder erlauscht, denn wenn Mutter und Sohn allein in der Stube waren, kam sie nicht viel vom Schlüsselloch fort. Das waren selige vierzehn Tage, und ihr Kopf war voll der tollsten Pläne und Träumereien.

Aber die Tage vergingen und die Zeit der Trennung kam; ja, der Lieutenant war eines Morgens abgereist, ohne daß Klärchen etwas davon geahnet. Sie war plötzlich eine andere, sie war zerstreut und träge, erst der Generalin ernste Blicke mußten sie wieder etwas zu sich bringen.

Nach einigen Tagen saß die Generalin einen ganzen Morgen am Schreibtisch mit Schreiben beschäftigt; dazwischen ging sie sinnend in der Stube auf und ab. Klärchen kalkulirte richtig: sie schreibt an ihren Sohn. Um alles in der Welt hätte sie den Brief gern gelesen. Wenn er nur heut nicht fortgeschickt wird, so ist's möglich, dachte sie. Und wirklich ward er nicht fortgeschickt; der Nachmittag war unruhig, den Abend war die Generalin in Gesellschaft, sie fand nicht Zeit, ihn zu vollenden.

Mit klopfendem Herzen hörte Klärchen ihre Dame fortfahren, der Bediente hatte sie begleiten müssen, so war jetzt die beste Zeit, ihren Plan auszuführen. Was sie an kleinen Schlüsseln finden konnte, suchte sie zusammen und versuchte das Schloß zu öffnen. Ihre Hände zitterten, und zehnmal wohl lief sie nach dem Vorsaal, um zu hören, ob auch niemand komme. Sie fühlte zum erstenmal eine heftige Gewissensangst, aber zum erstenmal auch ging sie von der Stufe der Thorheit und des Leichtsinns eine weiter hinunter zum Verbrechen. Gleich einem Diebe stand sie zitternd vor dem verschlossenen Tisch, sie war ja wirklich im Begriff zu stehlen.

Doch das Schloß wollte nicht weichen, der Wagen der Generalin kam zurück, Klärchen verließ hastig und scheu das Zimmer.

In ihrem Stübchen überlegte sie sich die Sache ruhiger, ja sie machte sich Vorwürfe über ihre Angst, beredete sich, daß es gar nichts Großes sei, einen fremden Brief zu lesen, und hätte gern gleich ihre Versuche wiederholt. Sie mußte aber warten, bis der Bediente fort fuhr, um seine Dame wiederzuholen. Jetzt ging sie schon getroster daran. Uebung macht bei solchen Dingen bald den Meister, darum heißt es: Hüte dich vor dem ersten Tritte, mit ihm sind bald die anderen Schritte zu einem nahen Fall gethan! Aber auch jetzt bei größerer Ruhe ging das Schloß nicht auf, und Klärchen mußte die aufs höchste angeregte und unbefriedigte Begierde mit zu Bett nehmen.

Am andern Morgen ging sie, wie gewöhnlich, im Schlafzimmer der Generalin einzuheizen. Wie gewöhnlich lag auf dem Tischchen neben der Nachtlampe der Schreibtisch-Schlüssel. Ruhig hatte ihn Klärchen immer dort liegen sehen, heute trieb sie der Teufel an, sie nahm den Schlüssel, verließ das Schlafzimmer, schloß die Thür hinter sich, auch die nach dem Vorsaal, obgleich der Bediente nie um diese Zeit hier etwas zu thun hatte, und nun schloß sie mit Leichtigkeit das Schlößchen auf. Da stand ein volles Geldkastchen, daneben lag der Brief; das Geld reizte sie nicht, wohl aber der Brief. Sie durchflog ihn mit Hast, aber erfuhr genug. Die Mutter warnte den Sohn vor dem eignen Herzen: sie möchte ihn vor einer Liebe bewahren, die ihn, wenn auch nicht für Jahre, doch für Tage unglücklich machen könne. Darauf schilderte sie Klärchens Wesen und Gedanken mit solcher Wahrheit, daß Klärchen feuerroth beim Lesen dieser Worte wurde. Ja, die kluge Frau hatte sie in ihrem koketten Treiben und verdrehten, überbildeten Träumereien durchschaut. »Sie ist ehrlich und treu, geschickt und fleißig,« schloß die Generalin diese Schilderung, »darum werde ich sie jetzt nicht gehen lassen, ich werde es mir aber zur Pflicht machen, sie besser zu überwachen, was mir bei meinem jetzigen stilleren Leben nicht schwer werden soll.«

Klärchen war in großer Aufregung. Sie legte den Brief wieder an dieselbe Stelle, schloß den Kasten und legte den Schlüssel zurück an seinen Platz. Die Sache war herrlich geglückt, und wenn sie auch manches Unangenehme aus dem Briefe erfahren, so doch auch das Erfreuliche: der Lieutenant liebte sie, die Mutter fürchtete.

Ihre größte Begierde war von jetzt an, die Antwort des Sohnes zu lesen; mit höchster Aufmerksamkeit kontrollirte sie die Briefe, die zu ihrer Dame kamen. Acht Tage vergingen, da endlich entdeckte sie das Postzeichen von Berlin und das Familienwappen. Die Generalin nahm den Brief in höchster Spannung aus Klärchens Hand und erbrach ihn schnell. Klärchen aber räumte den Frühstückstisch ab, ordnete hier, wischte dort, und warf dabei manchen forschenden Blick auf die Leserin, deren Züge erst sehr ernst waren, aber immer freundlicher wurden, und sich endlich in ein fröhliches Lächeln auflösten. Dies Lächeln war ein Dolchstoß in Klärchens Herz, und noch nie war ihr ein Tag so lang geworden als dieser, denn vor dem anderen Morgen konnte sie das Kunststück mit der Eröffnung des Tisches nicht wiederholen.

Doch der Morgen kam, Klärchen heizte eine halbe Stunde früher als gewöhnlich ein, die Generalin lag noch im ruhigen Schlummer. Klärchen nahm den Schlüssel, der Brief lag ganz oben in der Mappe, sie öffnete schnell und las:

»Wenn ich Dir, theuerste Mutter, Sorge machte, so thut es mir herzlich leid, ich kann Dir aber mit festem Herzen versichern, daß es unnöthig war. Ich leugne nicht, daß mich im Anfänge das hübsche Mädchen interessirte und ich neugierig war, ob wirklich hinter der schönen Hülle das vorborgen sei, was man wünschen und vermuthen mußte. Ich stimme aber ganz mit Dir im Urtheil über ihren Charakter ein; in den letzten Tagen habe ich Blicke in ihr Wesen gethan, die mich von einem gemeinen und koketten Sinn überzeugten. Ich fürchte fast, es wird Dir schwer werden, sie zu überwachen. Graf Bründel ist ernstlich verliebt, und wird nicht Geld und Mühe sparen, ein Verhältniß anzuknüpfen, «–

Jetzt regte es sich im Nebenzimmer, Klärchen fuhr erschrocken zusammen. Sie lauschte, es schien ihr wieder still; aber ihre Angst war groß und sie sah nur noch nach dem Ende des Briefes:

»Ja, liebe Mutter, mein Herz war schon leise beschäftigt, ehe ich zu Dir kam. Die edle Reinheit meiner Adelheid hat mich von neuem überwältigt, ich hoffe Dir bald eine würdige Tochter« –

Hier regte es sich abermals im Schlafzimmer der Generalin, Klärchen legte den Brief schnell in die Mappe, schob den Geldkasten wieder zurecht und schloß eiligst den Kasten. Welch eine Entdeckung war das!

Schmerz und Zorn bewegten Klärchens Herz. Hier war also nichts zu machen, der Mensch war nicht poetisch, nicht romantisch genug, um etwas Ungewöhnliches der Welt gegenüber zu thun! Alle Qualen unglücklicher Liebe, die sie je in einem Romane beschrieben gefunden, kamen über sie. Zum Glück nicht für sehr lange.


Es war ein sehr kalter Winter. Selbst Mitte Februar begann er noch einmal mit aller Strenge zu regieren. Der Himmel war klar, die Sonne glitzerte hell auf den weißen Dächern, die Leute trippelten an einander vorüber, konnten sich der rothen Ohren und Nasen nicht erwehren, und die Blumen an den Fenstern thauten kaum um Mittag ein wenig ab.

Gretchen verlebte hinter den Eisblumen stille Tage. Sie saß ihrer Mutter gegenüber und spann, und spann und sann, und hauchte sich zuweilen ein Fensterchen in den Eisgrund, schaute, daß der Himmel blau, die Sonne golden war, dachte an den Frühling, an Blüthen, Bäume und Vögelgesang und andere schöne Dinge, und das Herz schlug ihr warm hinter den kalten Eisblumen. Zuweilen entdeckte sie auch durch ihr Fensterlein das rothe Gesicht eines Handwerksburschen, der sie bittend anschaute, da reichte sie ihm eine Gabe; oder ein Vogel hüpfte auf dem Fenstersims, dem streute sie Krümlein hin. Aber auch die Vögel im Garten wurden gefüttert; ein Stückchen Brot war ja immer übrig vom Frühstück und auch vom Mittag, und jedesmal wenn sie hinaus kam, rief Benjamin einen »Guten Tag« aus dem Schiebfensterchen, oder sonst ein gutes fröhliches Wort.

Seit zwei Tagen aber hatte sich das Schiebfensterchen nicht geöffnet, und die Eisblumen regten und rührten sich nicht. Gretchen sagte es der Mutter, es wurde Rath gehalten; Benjamin war jedenfalls krank, man mußte sich nach ihm erkundigen. – Der Verkehr mit dem Nachbarhause war leider diesen Winter sehr eingeschlafen; Frau Bendler empfand es schmerzlich, daß Fritz Buchstein sich ihrem Gretchen gar nicht nähern wollte. Ihr Zartgefühl erlaubte es nicht, von ihrer Seite nur die leiseste Andeutung zu geben; aus dieser Aengstlichkeit erfolgte dann fast das Gegentheil. Der alte Buchstein, der sonst so eifrig die Freundschaft betrieben, war jetzt verlegen. Fritz wich seinen Aufforderungen aus, und sehr zureden wollte er dem Jungen nicht, und wußte nur nicht, was zur Frau Nachbarin sagen, mit der er früher die Sache in allen Einzelheiten besprochen hatte. – Heute aber war von all den Rücksichten nicht die Rede, Benjamin mußte gepflegt werden und Gretchen sich auf den Weg zu ihm machen. Sie that es so gern, und doch hatte sie Scheu zu gehen, denn ihr Weg führte durch die Werkstatt. Während dem sie eine warme Suppe kochte, schaute sie wohl zehnmal auf die Straße, ob sie nicht jemand vom Nachbarhause sähe; und wirklich es glückte, die alte Magd kam daher und Gretchen konnte ihre Erkundigungen einziehen.

Benjamin sei wirklich krank, berichtete die mürrische Magd, er verlange aber gar nichts, er wolle die Sache ausschwitzen. Das hielt Gretchen nicht ab, sich zu rüsten. Das Näpfchen mit der warmen Suppe unter dem Mantel, ging sie hinüber zu dem alten Freunde. Die Sonne schien so hell in die Werkstatt, die Blumen von den Fenstern waren etwas abgethaut, Fritz in weißen Hemdsärmeln und schwarzer Tuchweste stand mit Gesellen und Lehrburschen rüstig bei der Arbeit. Als die Thür sich öffnete und Gretchen mit dem frischen Gesicht und der schwarzen Sammetmütze hineinschaute, erschrak er fast, aber er trat ihr entgegen und reichte ihr freundlich die Hand.

Ich will zum kranken Benjamin, sagte Gretchen etwas scheu.

Zum kranken Benjamin? wiederholte Fritz und seufzte: Ja er ist krank, und es ist recht schlecht von mir, ich habe ihn ganz vergessen. Soll ich das Näpfchen tragen? setzte er mit weicher Stimme hinzu.

Gretchen ließ es sich gefallen und folgte ihm nun die Treppe hinan. Aus der warmen Werkstatt traten sie in eine eiskalte Stube; Benjamin steckte tief in den Federn, der Staarmatz stand auf dem Tisch vor dem Bett mit trauriger Miene, der Dompfaff pickte eben vergebens am zugefrorenen Trinknäpfchen.

»Armer Schuster!« schnarrte der Matz, als die Thür sich öffnete, – » armer Schuster!«

Benjamins Nachtmütze bewegte sich jetzt, und sein freundlich Gesicht kam zum Vorschein. Dacht ichs doch, daß Du kommen würdest, sagte er zu Gretchen, und nun gieb erst den Vögeln Futter. Dorthe ist schlechter Laune und ist seit gestern Abend nicht herauf gekommen.

Gretchen sah sich nach ungefrorenem Wasser um, aber vergebens; Fritz merkte, was sie suchte, und verließ das Zimmer. Eilig kam er wieder mit einem Töpfchen voll warmen Wasser und einer Schippe Kohlen. Schweigend reichte er ihr das Wasser, schweigend machte er Feuer in den Ofen, und sah dann, wie Gretchen die Trinknäpfe der Vögel aufthaute, wie sie ihnen frisches Futter gab, wie sie dem Benjamin die Kissen zurechtlegte, ihm den Tisch vor dem Bette deckte und die Suppe darauf stellte. Fritz sah sinnend und traurig aus, und als Benjamin jetzt das Tischgebet sprach und Gretchen mit gefalteten Händen dabei stand, faltete auch er die Hände und betete mit. Nachdem sie geendet, trat er zu Benjamin, reichte ihm die Hand und sagte mit bewegter Stimme:

Benjamin, verzeihe mir, daß ich Dich so vergessen konnte, ich bin recht traurig darüber.

Benjamin nahm seine Hand in beide Hände und drückte sie herzlich. Dann wandte sich Fritz zu Gretchen:

Verzeihe auch Du mir, Gretchen, ich schäme mich vor Euch und vor Gott, daß ich so lieblos sein konnte und nach dem armen Benjamin nicht einmal fragen.

Eben fiel ein feiner Sonnenblick durch eine thauende Fensterscheibe und auch ein Lichtblick fiel in Fritzens Herz. – Herr, dein Wille geschehe! – Gretchen stand vor ihm so frisch und hold und rein, mit so versöhnlichem Blick. Fritz fühlte seine Zukunft entschieden, er fühlte, wohin der Herr ihn haben wollte und wo er seinen Frieden suchen sollte. Die wilden Ranken seines Herzens mußte er abschneiden. Schade um die Zeit, die er sie hatte wuchern lassen!

Gretchen nahm Abschied von ihrem alten Freunde, mußte aber das Versprechen geben, wieder zu kommen.

Ja, darum bitte ich Dich auch, sagte Fritz, Du sollst nicht kommen, um Benjamin zu pflegen, nein, Du sollst Dich nur überzeugen, daß ich meinen Fehler gut gemacht habe.

Benjamin machte Scherz aus der Sache, Gretchen stimmte ein, und die jungen Leute verließen ihn. Unten in der Werkstatt sagte Fritz noch in aller Eile, um doch etwas zu sagen: Ich habe schon längst einmal zu Euch kommen wollen, – aber das böse Wetter, – man ist so eingeschneit.

Bei uns wird jeden Tag gekehrt, entgegnete Gretchen.

Ja, es ist auch meine Schuld, fuhr Fritz fort; und als nun Gretchen im Vorbeigehen ihre Finger auf einen halb vertrockneten und vernachlässigten Geranientopf legte, ward er noch verlegener. – Den armen Topf habe ich auch vergessen, aber ich will ihn doch begießen. – Gretchens Hand fuhr erschrocken zurück, sie hatte ihn ja nicht von neuem beunruhigen wollen. In diesem Gefühle ließ sie auch ein Bierglas dicht an der Tischkante stehen, obgleich es ihr in den Fingern zuckte, es sicherer zu stellen. Der geringste Anstoß mußte es hinunter stoßen.

Fritz aber, als sie an der Wohnstubenthür vorbei kamen, nöthigte Gretchen, den Vater zu begrüßen. Er machte die Thür auf, der Alte lag im Lehnstuhl mit geschlossenen Augen. Heller Sonnenschein lag auf dem friedlichen Gesichte, er schlug die Augen auf, und als er Gretchen und Fritzen vor sich stehen sah, meinte er, sein Lieblingstraum sei Wirklichkeit geworden; sein Gesicht verklärte sich. Ach Gretchen! rief er aus und streckte ihr beide Hände entgegen. Fritz aber wandte sich zum Fenster. Sein Vater hätte ja schon so glücklich sein können, wer weiß denn, wie viele Tage er noch zu zählen hat! Aber er soll glücklich sein, Gretchens Hand soll seines Lebensabends pflegen. Ja, ja! sprach sein Herz, und sein Auge folgte dem Sonnenstrahle hinan zum blauen Himmel, und alle Qual und Unruhe war aus seinem Herzen verschwunden.

Daß Fritz in den letzten Tagen besonders unruhig, zerstreut und traurig gewesen war, hatte seinen Grund. Eines Nachmittags hatte er in einer der Hauptstraßen neue Möbel abzuliefern. In demselben Hause war unten ein Buchladen, und als Fritz oben sein Geschäft beendet, trat er unten in den Laden. Die Herren darin kannten den jungen Tischlermeister wohl, und sahen es gern, wenn er sich hin und wieder hübsche Bücher ansah, denn nicht selten kaufte er auch davon. Heute hatte er sich besonders festgeblättert und festgelesen, und es war schon tiefe Dämmerung, als er den Laden verließ. Sein Weg führte ihn vor dem Schauspielhause vorbei. Trotz der Kälte war es hier ziemlich belebt, und zu seinem Schrecken erkannte er zwischen den Leuten Klärchen am Arme eines Mannes. Er konnte nicht widerstehen, er mußte erfahren, wer das sei. Nach einigem Hin- und Herwenden gelang es ihm, das Gesicht des Mannes zu sehen, er war jung und schön mit dunkelblondem Haar und einem großen Schnurrbart. Plaudernd ging das Paar in das Haus, Fritz folgte ihnen, er schämte sich, aber er konnt es nicht lassen. Vom Parterre aus entdeckte er bald beide in einer halbdunkeln Parquetloge. O wie vertraulich sie mit einander waren! Er blieb nicht lange, er hatte bald genug gesehen. Im Hinausgehen fragte er einen Zettelträger, wer der blonde Herr mit dem Schnurrbart sei. Graf Bründel, war die Antwort. Graf Bründel! wiederholte sich Fritz. Den Namen hatte er wohl gehört: es war der leichtsinnigste, tollste Offizier der Garnison. – Klärchen seine Geliebte! Diese Gedanken hatten ihn in den Tagen beschäftigt, als Benjamin krank war; darüber hatte er alles um sich her vergessen. Aber sein Herz sollte nun geheilt werden, und er sann nur auf Mittel, wie der Armen wohl noch zu helfen sei.

Klärchen aber fühlte sich nicht arm, nein, unendlich reich, sie liebte und ward wieder geliebt – und von einem vornehmen Manne ward sie geliebt. Wie schön, wie fein und galant war ihr Graf; er hing an ihren Blicken, sie hatte nur über ihn zu bestimmen! – Als der Sohn der Generalin sie damals so plötzlich aufgegeben, war sie – wie schon erzählt – sehr unglücklich, doch nicht lange. Sie sah sich bald nach Trost um, ihr Herz war einmal des leichtfertigen Spiels gewohnt, es konnte jetzt nicht mehr ohne dasselbe bestehen. In dieser Stimmung traf sie der erste Brief des Grafen Bründel. Mit Entzücken ward die Sache angeknüpft, ihr heißes Herz war lange nicht so spröde als mit dem Mediziner, sie meinte es diesmal auf eine andere Weise versuchen zu müssen, und hatte die feste Ueberzeugung, es könne ihr diesmal nicht fehlen.

Vier Wochen waren im süßen Taumel vergangen. Frau Krauter machte sich kein Gewissen daraus, die Zusammenkünfte der jungen Leute zu begünstigen. Der Graf hatte meistens eine volle Börse, und sie führte ein herrliches Leben dabei. Er hatte auch versprochen, sich mit Klärchen trauen zu lassen, und Mutter und Tochter glaubten daran; ja, Klärchens Klugheit war dem Sinnenrausche ganz gewichen. Sie dachte nicht an die Zukunft, sie wollte nicht an die Zukunft denken, die Gegenwart war zu süß. Im Theater war sie öfters gewesen, und in künftiger Woche wollte der Graf sie auf eine Redoute im Theaterlokale führen. Das war der Höhepunkt alles Vergnügens. Seit vierzehn Tagen studirte Klärchen in allen Modeblättern und durchstöberte Läden, wo Maskenanzüge verliehen wurden. Endlich hatte sie sich für eine Diana entschieden, aber unbedingt mußte dazu ein grüner Sammetüberwurf angeschafft werden, der eigens ihrer schlanken Gestalt angemessen war. Woher aber das Geld dazu nehmen? Es war gerade Ebbe in allen Kassen, die Mutter hatte schon einige Male nach neuen Zuschüssen geseufzt, aber der Graf hatte keine Anspielung verstanden, weil er gerade selbst nichts hatte. Borgen konnte Klärchen nicht mehr, denn in allen Läden fast hatte sie Plemperschulden, auch Auguste Vogler bekam beinahe zwei Thaler. Die Schulden machten ihr weiter keine Sorgen, sie hätte es längst bezahlen können und würde auch bald wieder Geld die Fülle haben, es war nur diese augenblickliche Verlegenheit. Den echten Sammetüberwurf hatte sie schon aufgegeben, es brauchte auch nur ein unechter zu sein, und dazu gehörten kaum einige Thaler. Bei diesem Grübeln führte ihr der Teufel immer den vollen Geldkasten im Schreibtisch der Generalin vor. Stehlen? nein! sie entsetzte sich vor dem Gedanken. Vermissen würde freilich die Generalin eine so kleine Summe nicht, denn schon öfter hatte sie mit Klärchen gesonnen, ob sie nicht einige Posten in ihr Haushaltsbuch einzutragen vergessen hätte, und sich bald beruhigt, wenn sie die Summe nicht finden konnte. Der Gedanke kam wieder und immer wieder, je näher die Zeit der Redoute heranrückte. Für einige Tage wenigstens könntest du das Geld nehmen und legst es wieder hinein, flüsterte ihr der Böse zu. Sie widerstand nicht, was hätte auch in ihr widerstehen sollen? Die Klugheit, ihre einzige Waffe, mit der sie sich vor Sünde und Untergang schützen wollte, rieth ihr gerade den Schritt. Du entlehnst es nur, du nimmst es nicht, sagte diese Klugheit; dazu erfährt es niemand; und das grüne Sammetgewand ist nothwendig zu deinem Glücke.

Am anderen Morgen machte sie das bekannte Manöver mit dem Schlüssel. Ihre Hände zitterten, als sie in den Kasten griff, und angstvoll schlug ihr Herz. Doch als sie den Abend bei der Mutter war und vor dem Spiegel den grünen Sammet probirte, zitterte sie nicht mehr. Ja, als sie einige Tage darauf an des Grafen Arm durch die Reihen flog, als ihre Gestalt laut bewundert, ihre Schönheit gepriesen ward, da schwieg das Gewissen ganz und gar. Der Graf gab ihr den Abend noch einiges Geld, denn sie gestand ihm, daß sie Schulden hätte, und Gustchen Vogler war schon ungeduldig geworden. Zuerst sollte aber die Summe in den Schreibtisch der Generalin gelegt werden, so war es ihre Absicht.

Da sie am andern Morgen später als gewöhnlich aufstand, mußte sie es bis zum nächsten verschieben. Den Tag aber überlegte sie sich die Sache noch einmal. Die Generalin hatte nichts gemerkt, sie war gleich freundlich und gütig, von der Seite war Klärchen sicher. Sie nahm sich daher vor: lieber erst die kleinen Schulden in den Kaufläden zu bezahlen, um bei nächster Gelegenheit wieder borgen zu können. Als sie mit dem Rest ihrer Summe im letzten Laden stand, bemerkte sie mit Schrecken, daß diese Summe nicht ausreiche. Noch dazu hatte sie groß gethan, von Bezahlen gesprochen, und der älteste Diener gerade hatte ihr die Summe ausgezogen, mit der höflichen, aber doch ernsten Bemerkung: daß es eigentlich nicht erlaubt sei, Damen in ihrer Stellung solche Vorschüsse zu machen. Klärchens Hochmuth regte sich gewaltig, die Summe mußte um jeden Preis bezahlt sein. Sie, die künftige Gemahlin eines Grafen, durfte sich so etwas nicht gefallen lassen. Sie nahm die Rechnung und versicherte, in einigen Minuten wieder da zu sein. Zu Gustchen Vogler ging ihr Weg. Gustchen mußte das Geld geben. Sie versprach heilig, es ihr am andern Morgen um zehn Uhr wieder zu übergeben. Gustchen war gutmüthig; sie gab das Geld, versicherte aber, wenn sie am anderen Morgen es nicht wieder bekomme, mache sie Lärm bei der Generalin. Mit Triumph bezahlte Klärchen die Rechnung und bemerkte schnippisch: es gäbe Läden, wo Damen ihrer Stellung ganz gern gesehen würden.

Darauf schrieb sie gleich bei der Mutter einen Brief an den Grafen, den diese eiligst besorgen mußte. Es war das erste Mal, daß Klärchen Geld forderte, aber Noth bricht Eisen, und dieser Aufforderung konnte er gewiß nicht widerstehen. Mit klopfendem Herzen wartete sie auf der Mutter Rückkehr; diese aber brachte den traurigen Bescheid: der Graf sei nicht zu Hause. Die Mutter versprach, so oft hinzugehen bis sie ihn spreche, und bis morgen früh um zehn Uhr das Geld anzuschaffen. Der Abend verging, der Morgen verging, die Mutter kam nicht. Endlich brachte sie den Bescheid, der Graf sei gestern spät Abends nach Haus gekommen, aber heut früh verreist.

Klärchen war außer sich, Gustchen kam dazu und wurde mit den heiligsten Versprechungen bis morgen vertröstet. Noth bricht Eisen, dachte Klärchen, morgen früh hole ich Geld aus dem Schreibtisch; hat sie es einmal nicht gemerkt, wird sie es das andere Mal auch nicht merken. Den Abend mußte die Mutter noch einmal nach dem Grafen aussehen. Er war noch nicht zurück, und Klärchen ging am andern Morgen mit großer Bestimmtheit an ihr Werk. Diesmal war sie kühner. Sie nahm nahe an drei Thaler und wollte eben den Kasten wieder schließen, als sich die Thür hinter ihr öffnete, und die Generalin herein trat. Klärchen schrie laut auf. – Also doch! sagte die Generalin. Klärchen hielt beide Hände vor das Gesicht. Ihre Sinne wollten schwinden.

Klärchen! sagte die Generalin, ich habe schon vor acht Tagen gemerkt, daß jemand bei meiner Kasse gewesen; ich war aber meiner Sache nicht gewiß und besonders wollte ich nicht glauben, daß Sie der Dieb seien.

Dieb! schluchzte Klärchen, ich wollte nicht stehlen, ich wollte das Geld wieder hineinlegen.

Thörichte Reden! entgegnete die Generalin bestimmt. Sie haben gestohlen, haben auf ganz abscheuliche Weise mein Vertrauen gemißbraucht; nichts kann Sie jetzt vor einer gerichtlichen Untersuchung retten, als wenn Sie mir ganz der Wahrheit gemäß ihren Frevel gestehen und auch die Beweggründe dazu. Ueberhaupt muß ich jetzt Ihren ganzen Lebenswandel kennen lernen, von dem sich in der letzten Zeit sehr schlimme Gerüchte verbreitet haben.

Klärchen war in einer entsetzlichen Lage. Aller Hochmuth, aller Stolz war dahin. Die Sünde ist feig, Furcht folgt ihr auf den Fersen. Furcht war es, die Klärchens Wesen durchzitterte; sie dachte an ihre Liebe, an den Grafen, freilich ihm zu Liebe war sie ja eine Diebin geworden; sie dachte aber an ihre Freundinnen, an Tante Rieken. Ja sie bekannte, sie schilderte ihre erhabene Liebe zum Grafen. Wenn er nicht verreist war, hätte sie das zweite Geld nicht genommen, ja sie würde das erstgenommene Geld wieder hinzugelegt haben. Seine Liebe war so großmüthig gegen sie. Alles, was ihm gehörte, war auch das ihre; ja er hatte versprochen, sie zu heirathen.

Die Generalin erwiderte ihr, daß sie ein armes getäuschtes Mädchen sei, daß es aber allen Leichtsinnigen so gehe. Wie würde ein achtbares Offiziercorps es je dulden, daß der Graf ein Mädchen heirathe wie sie!

Klärchen sah die Sprecherin groß an bei diesen Worten. Wie ich? fragte sie leise.

Ja wie Sie! wiederholte die Generalin. Sie haben sich des Abends auf der Straße umhergetrieben, Sie gelten in der Stadt als eine leichtfertige Kokette, und der Graf ist nicht Ihre erste Liebe.

Klärchen ward roth. Sollte die Generalin vom Mediziner wissen? Oder wollte sie nur versuchen, die Wahrheit zu erfahren? Zu jeder andern Zeit würde sie geleugnet haben, jetzt aber war sie von der Furcht beherrscht; sie schwieg zu dieser Beschuldigung und begann nur, die Generalin wegen ihres Fehlers, wie sie die Entwendung des Geldes nannte, um Verzeihung zu bitten.

Die Generalin hielt ihr eine lange Rede, stellte ihr die Folgen eines solchen Lebenswandels vor, die allerdings anders ausschauten, als Klärchens Bilder von der Zukunft. Zugleich aber versprach die nachsichtige Dame, von der Sache nicht zu reden und Klärchen bis Ostern ruhig im Dienst zu behalten. Da Sie aber wahrscheinlich zu schwach sind, schloß sie diese Unterredung, das Verhältniß mit dem Grafen aufzulösen, soll das von seiner Seite geschehen; er soll es erfahren, wohin sein Leichtsinn ein armes unglückliches Mädchen gebracht hat, er soll es erfahren, daß er Sie zur Diebin machte.

Dies letzte brachte Klärchen fast zur Verzweiflung. Sie flehte, sie bat, – aber vergebens, die Generalin blieb bei ihrem Vorsatz, und Klärchen mußte endlich das Zimmer verlassen. Ihr erstes war nun, selbst an den Grafen zu schreiben; sie schilderte ihr Unglück, ihre Liebe, ihre Verzweiflung, wenn er sie verließe. Sie benetzte den Brief mit Thränen, daß die Schrift kaum zu lesen war, und gerade als sie ihn gesiegelt hatte, trat ihre Mutter ein.

Du kommst wie ein Engel des Himmels, sagte Klärchen, Du mußt schnell den Brief zum Grafen tragen.

Ist nicht nöthig, schmunzelte die Mutter, ich habe das Geld schon.

O Gott, stammelte Klärchen, so wäre es gar nicht nöthig gewesen! Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und weinte heftig. – Hätte sie doch nur noch eine Stunde gewartet, so wäre das Unglück nicht über sie gekommen!

Die Mutter war außer sich über den Schmerz der Tochter, sie forschte, sie tröstete, sie erzählte, wie sie gestern Abend noch spät zum Grafen gelaufen, wie sie ihn auch da nicht gefunden, wie sie ihn aber heut früh im Bette getroffen, und er das Geld habe herausrücken müssen. Er brummte freilich ein bischen (setzte die Mutter hinzu), und meinte, das ginge über seine Kräfte.

Sagte er das? entgegnete Klärchen heftig. O trage ihm das Geld wieder hin, und meinen Brief dazu; sage ihm: ich wolle nichts weiter, als seine Liebe, und er solle gleich antworten. Aber geh gleich, Mutter, und komm gleich wieder.

Die Mutter verstand von allem nichts, sie schüttelte den Kopf, sie wußte nur: Guste Vogler würde kommen, um das Geld zu holen, und die würde nicht wenig Lärm machen, wenn sie nichts bekäme. Sie redete also der Tochter zu. Ihr Liebesleute, sagte sie, da zankt Ihr Euch nun und macht Euch unnöthig Noth. Nimm ruhig das Geld und bezahle Deine Schulden, ich will ihn heut Abend zu uns bestellen, da könnt Ihr Euch versöhnen. Klärchen, laß Dich die Liebe nicht verblenden! Der Graf entschlüpft Dir noch wie mein Rechtsgelehrter.

Klärchen wollte eben auffahren, als es an der Thür klopfte. Guste! sagte sie leise und sah dabei unwillkürlich auf das Geld in der Mutter Hand.

Soll ich? fragte diese.

Ja, entgegnete Klärchen seufzend, bezahle nur, aber geh vor die Thür, sag, ich sei krank.

Die Mutter ging und die Sache war bald abgemacht. Jetzt aber mußte sie die Besorgung des Briefes an den Grafen übernehmen; sie versprach, gewiß nicht ohne Antwort wieder zu kommen.

Aber sie kam doch ohne Antwort. Der Graf war schon im Dienst gewesen, und Frau Krauter zum Nachmittag wieder hinbestellt. Klärchen verlebte qualvolle Stunden, sie hatte sich zu Bett gelegt, um nur nicht Leuten in das Gesicht sehen zu müssen. Hier lauschte sie jedem Fußtritt auf der Treppe. Sie machte sich wunderliche Phantasien. Wenn er ihren Brief liest, wird sein Herz zerschmelzen, er wird ihr Unglück nicht ertragen können, er wird selbst zu ihr kommen, er wird trotzen der Welt und der Generalin, und wird sie selbst trösten, beruhigen und ihr aus dem Wirrwarr helfen. – Aber wie ward ihr, als die Mutter in der Dämmerung zu ihr eintrat mit dem kalten Bescheid: Der Graf sei sehr verdrießlich gewesen, er habe von einem zweiten Briefe gesprochen, von schrecklicher Unvorsichtigkeit, von kaum zu lösenden Unannehmlichkeiten, er müsse sich die Sache überlegen und wolle morgen Bescheid schicken.

Das war ein Todesstoß für Klärchen. Sie fühlte sich in einer solchen Nacht des Unglücks, daß sie keinen Gedanken fassen konnte, sie fühlte nur, die Sache mit dem Grafen sei aus. Sie blieb auch den folgenden Morgen im Bett liegen, sie konnte nichts anders thun, als weinen und das sollte niemand sehen. Zuweilen kam der Hoffnungsschimmer: die Mutter könne doch noch einen tröstlichen Brief bringen, sie dachte wenige Tage zurück, wie seine Liebe da so heiß, seine Versprechungen so heilig, so für die Ewigkeit gewesen; aber sie bedachte nicht, daß alle solche Betheurungen nur Teufelswerk sind, die wie Seifenblasen verwehen; sie gehörte zu den Tausenden von thörichten Jungfrauen, die solchen Versicherungen trauten.

Doch lange blieb sie nicht in Ungewißheit. Die Mutter kam mit dem Briefe, und der war wie sie bei solchen Gelegenheiten auch zu Tausenden geschrieben werden. Noch Versicherungen heißester Liebe, aber man muß der Nothwendigkeit, der Pflicht, der Ehre weichen, wenn auch das Herz darüber bricht. – Klärchen las und weinte, und weinte und las wieder, und blieb den Tag im Bett liegen. So viel Besinnung nur hatte sie, den größeren Theil der Goldstücke, die der Graf mitgeschickt, für sich zu behalten und der Mutter nur den kleineren zu geben.


Der März war gekommen, der Schnee geschmolzen, und die warme Frühlingssonne schien auf die belebten Straßen. Klärchen hatte unter dem Vorgeben, sie sei krank, das Haus vierzehn Tage lang nicht verlassen; eigentlich aber fürchtete sie sich ihren Bekannten zu begegnen, und besonders der Tante Rieke. Die Mutter hatte vorläufig der Tante vom Dienstwechsel sagen, und als Grund dazu angeben müssen: Klärchen könnte das Sitzen nicht vertragen, sie hätte sich darum nach einem Dienst umgesehen, wo sie mehr Bewegung hätte.

Eines Tages nun ging Klärchen aus, um Besorgungen für die Frau Generalin zu machen. Die Sonne schien so warm, Kinder spielten lustig auf der Straße, vom nahen Exerzierplatz klang laute Musik zu Klärchens Ohren. Klärchen aber war betrübt und verbittert; gerade das fröhliche Treiben überall, das lustige Aussehn der ganzen Welt war ihr unangenehm. Noch unangenehmer aber war es ihr, daß Tante Rieke ihr entgegen kam. Ausweichen konnte sie nicht, sie mußte sich also auf eine ernste Unterredung gefaßt machen. Die Tante war aber nicht so schlimm, als sie gefürchtet.

Du siehst recht blaß aus, sagte sie theilnehmend, mußt doch recht krank gewesen sein.

Klärchen erzählte so gut wie möglich und fügte hinzu, daß der neue Dienst im Hotel Reinhard gewiß passender für sie sein würde.

Aber ein Gasthof! sagte die Tante.

Ich habe mit dem Gasthofsleben gar nichts zu thun, entgegnete Klärchen, ich bin die Mamsell, die allen Kaffee und Zucker unter sich hat, ich habe das Frühstück auf die Zimmer zu schicken, und die Wäsche unter mir. Dazu bekomme ich 60 Thaler Gehalt und viele Geschenke.

Es ward ihr nicht schwer die Tante zu beruhigen. Im Sprechen hatten sie der Tante Haus erreicht. Klärchen mußte mit eintreten. Gretchen stand in der Stube und haspelte. Was ist das langweilige Arbeit, wenn die Sonne so warm in das Fenster schaut und einen immer in das Freie ruft! sagte sie; aber es ist nun das Letzte und wir machen Schicht mit dem Spinnen. – Bei den Worten beugte sie sich über einen Topf mit blühenden Schneeglöckchen, als ob ihr der Anblick neue Kraft zu ihrer Arbeit geben solle.

Wo hast Du denn schon die hübschen Blumen her? fragte Klärchen.

Von Benjamin, entgegnete Gretchen, und ward roth dabei, denn sie wußte, daß Fritz Buchstein die Blumen in den Topf gesetzt hatte, und das war ihr das schönste daran. Benjamin ist wieder gesund, er hat die Blumen in seiner Stube zur Blüthe gebracht und sie mir dann geschenkt. Und sieh nur die weißen Blümchen, wie sie so rein und zart dastehen und ihre Köpfchen so still niederbeugen. Ich mag keine Blumen lieber, als die Schneeglöckchen, und Benjamin hätte mich durch nichts mehr erfreuen können.

Klärchen stimmte mit Worten ein, aber ihr Herz war matt, sie konnte sich nicht über Blumen freuen.

Jetzt bin ich fertig! sagte Gretchen fröhlich, nun hilf mir, Klärchen, Erbsen legen und Salat säen. Ein Hauptspaß ist es, die Sachen alle recht früh zu haben. – Sie setzte einen Nankinghut auf, nahm den bereit stehenden Samen, und ging der Tante und Klärchen voran.

Der Himmel war lichtblau, weiße Frühlingswölkchen zogen daran, der Erdboden war braun und frisch, die Veilchen legten ihre seidenen Blättchen auseinander, die Stachelbeerbüsche hatten einen grünen Schimmer, der Buchfink schlug, Spatzen lärmten, Tauben girrten auf den Dächern, und in den Nachbarsgärten ward gearbeitet, geplaudert und gesungen. Auch Benjamin schaute zum Fenster hinaus, der Matz saß ihm auf der Schulter und rief: »Jungfer Gretchen, so recht.« Gretchen rief: er solle schweigen, seine häßliche Stimme passe nicht zum Frühling. Benjamin aber flüsterte dem Vogel etwas zu, und der schnarrte sein »Racker! Spitzbub!« mit so vielem Eifer, daß selbst Fritz Buchstein das Fenster seiner Werkstatt aufmachte und Ruhe gebot. Doch er trat auch in den Garten und sah über das Stacket hinüber Gretchen bei der Arbeit zu. Daß Klärchen dabei war, zog ihn wohl auch hinaus, aber es machte ihn nicht mehr verlegen, nein, der Herr hatte seine Gebete erhört und seinem Herzen Ruhe gegeben; nur eine Theilnahme für das arme unglückliche Mädchen fühlte er noch. Er wußte ihr Schicksal mit dem Grafen ziemlich genau. Wenn sie doch jetzt noch umkehrte! dachte er, ihre Blässe und ihr Stillsein waren ihm eine Beruhigung.

Doch Gretchen ließ ihn nicht lange bei diesen Gedanken, sie war so frisch und fröhlich, sein Herz freuete sich über sie. Als Benjamin sie neckte wegen der schiefen Reihen auf dem Erbsenbeete, schwang sich Fritz am alten Fliederbaume über das Stacket und übernahm selbst das Amt des Reihenziehens. Frau Bendler stand glücklich dabei, und der alte Buchstein, der am Stocke gestützt, sich von der Frühlingssonne wärmen ließ, schien sich noch mehr zu erwärmen am Anblick seines glücklichen Sohnes und des braven Gretchens.

Klärchen konnte es nicht aushalten zwischen diesen glücklichen Menschen. Fritz Buchstein liebt die Grete, das ist richtig. Gretchen kam ihr heut ordentlich hübsch vor. Und Fritz? Den hatte sie längst zu gut für die Grete gefunden. In dieser Stimmung wandelte sie fast etwas wie Reue an, den Fritz so schnöde behandelt zu haben. Daß er sie erst geliebt, fühlte sie zu bestimmt, und jetzt, wo ihr Glück in der vornehmen Welt gescheitert, konnte sie sich das Leben in einem stattlichen Bürgerhaus an der Seite eines Fritz schon möglich denken. Freilich müßte sie ja dann ein frommes, fleißiges, ordentliches Mädchen wie Gretchen sein, flüsterte eine Stimme in ihrem Innern, und ihr Gewissen regte sich, Thränen liefen ihr über die blassen Wangen.


Wieder einige Monate waren vergangen, der Sommer war herrlich. Gretchen freute sich erst an den Blüthenbäumen, dann an den duftenden Rosen. Fritz hatte auch in seinem Garten Blumen gepflanzt und gesäet, daß alles lustig durch einander blühte. Benjamin hatte seine Freude an dem Paar, er neckte sie aber auch und war kühn in seinen Neckereien, denn nach einem schönen, warmen Sommerregen brach plötzlich ein F und G aus der braunen Erde heraus und war bald in krauser grüner Kresse sehr deutlich zu lesen. Seinen Staarmatz lehrte er heimlich eine neue Rede, und sein Dompfaff sang lieblicher als je: »Lobe den Herrn, o meine Seele.«

Auch Klärchens Thränen waren wieder getrocknet, ihre Wangen wieder aufgeblüht. Das Gasthofsleben gefiel ihr wohl. Sie ward von den Fremden bewundert, man war galant gegen sie, man schmeichelte ihr. Daß dies keinen weiteren Einfluß auf ihr künftiges Leben haben würde, wußte sie, es waren Fremde, die nach ein oder zwei Tagen abreisten, und sich nur amüsiren wollten. Sie war daher sehr zurückhaltend und wollte überhaupt mit vornehmen Leuten nichts zu thun haben. Ihre Phantasien waren aus dem Hochromantischen zur Idylle hinabstiegen. Nur ein fühlendes Herz und Bildung mußte der Mann haben, mit dem sie in einem kleinen Stübchen leben sollte. Und einen solchen Mann hatte sie bald gefunden. Es war der Oberkellner des Hotels; seine Bildung war untadelhaft, er sprach englisch und französisch, ging immer in schwarzem Frack und weißer Halsbinde, und hatte in seinem Wesen etwas überaus Vornehmes. Daß sie gerade mit ihrer Liebe Schiffbruch gelitten, kam Herrn Eduard zu gute, denn bald war er ihrer Liebe gewiß. Natürlich hatte er ihr vorher seine Verhältnisse klar auseinander gesetzt. Eigentlich konnten sie jetzt schon heirathen, er hatte 200 Thaler Zinsen und stand sich beinahe ebenso viel im Dienste; aber sein Streben ging nach einem eigenen Hotel, seine Kenntnisse, seine Bekanntschaften mußten es ihm leicht machen eines zu erhalten, ja, er war schon nach verschiedenen Seiten hin in Unterhandlungen gewesen. Er malte Klärchen die herrlichste Zukunft. Sie, die Dame des Hotels, sollte ein Leben wie eine Prinzessin führen, und schalten und walten nach Wohlgefallen. Klärchen vergaß ganz die Vergangenheit und ward wieder kühn in ihrem Auftreten, und sehr selbstgefällig und mit sich zufrieden. Zum 10. August, Klärchens Geburtstage, hatten sie sich vorgenommen, die Verlobung zu veröffentlichen. Der Bräutigam hatte ihr im Voraus einen rosa Taffethut und eine schwarze Atlasmantille geschenkt. Beides lag auf dem Sopha in ihrem Stübchen, ein ächtes Batisttuch und gelbe Glaceehandschuh daneben. Es war am Vorabend des Geburtstages, schon ganz spät dämmerig, ihre Stubenthür war nur angelehnt, – da hörte sie zwei flüsternde Stimmen auf dem Korridor.

Thee will er haben, so mach doch nur! Er ist besoffen, hat aber noch so viel Verstand, daß er weiß, was ihm noth thut.

Der kann was vertragen! entgegnete die andere Stimme, ein anderer ehrlicher Mensch wäre den ganzen Tag besoffen, wenn er so viel tränke wie der.

Und ein Spitzbube ist er dazu, sagte wieder die erste Stimme; alle Monat hundert Thaler schlägt er gewiß unter, und der alte Esel merkts nicht und hat den Narren an ihm gefressen.

Die Stimmen entfernten sich jetzt, Klärchen war in besonderer Aufregung. Wen meinten sie? Wer war der Spitzbube, der Betrunkene? Eine schreckliche Ahnung ging durch ihre Seele. Sollte es Eduard sein? Schon einigemal hatte er so nach Wein geduftet, daß sie ihn darauf angeredet; er aber hatte gelacht und gemeint, er wäre ein schlechter Kellner, wenn er den Wein nicht probiren wolle, auch wäre es durchaus nothwendig bei seiner anstrengenden Lebensweise, sich zuweilen mit einem guten Schluck zu stärken. Daß der Wein aber auch nur die geringste Wirkung auf ihn geübt, hatte Klärchen noch nie gemerkt. Sie fing an sich zu beruhigen: er ist es doch wohl nicht. Nun gar der Spitzbube! das konnte ja nicht auf ihn gehen, er sah so nobel aus, er sprach so schön. Freilich leichtfertig konnte er auch zuweilen reden, und näher kannte sie ihn nicht, und wußte nicht, wie es mit seiner Moral beschaffen. Dazu schlug ihr eignes Gewissen; ihre eigne Moral war doch eigentlich auch: Wenn es nur die Leute nicht wissen. Dieß, daß es die Leute wußten, daß gewiß zwei Kellner die Redenden gewesen, war das unangenehmste bei der Sache. Sie mußte den Grund dieses Gespräches wissen, sie mußte aus ihrer Ungewißheit kommen, und verließ deshalb ihr Zimmer.

Im Vorbeigehen faßte sie an ihres Bräutigams Thür, die war verschlossen. Darauf sah sie in den Salon. Hier war er nicht. Sie ging in die Küche und erkundigte sich, für wen der Thee bestimmt sei. Für Herrn Eduard, sagte die Köchin unbefangen. Der Laufbursche, der mit dem Brett und der Tasse dabei stand, grinsete bei diesen Worten die Küchenmagd sehr verständlich an.

Klärchen mußte sich sehr zusammen nehmen, um ihre Bewegung nicht merken zu lassen; sie konnte den Abend auf ihrem Lager keine Ruhe finden. Wie entsetzlich, wenn er trinkt! Sie dachte an ihren verstorbenen Vater, wie der die Mutter dadurch so unglücklich gemacht hatte, sie sah um sich noch lebende Beispiele genug. Selbst der alte Vogler, der sonst im Haus alles gehen ließ, wie es wollte, – wenn er betrunken nach Hause kam, war die kranke Frau und die verzogene Tochter nicht vor seinen Schlägen sicher. Und wie mag es vielleicht mit dem Gasthof stehen? Ob die vorgespiegelten Hoffnungen wohl Wahrheit sind? – So allein mit der Nacht und mit ihren Gedanken, ward ihr ganz bange, und – wunderlich genug, – Fritz Buchstein und Tante Rieke standen beide mit ihren ernsten Gesichtern und strafenden Worten vor ihrer Seele. Wenn der Gott, von dem sie so viel reden, dich doch für dein leichtsinniges Leben strafen könnte? Wenn die Tante Recht hätte mit ihrem Sprüchwort: Wie mans treibt, so gehts? – Aber was sollte sie machen? Jetzt wieder zurücktreten – das war unmöglich, ihr Ruf würde darunter noch mehr leiden und ihre Zukunft ganz verloren sein. Auch wird Eduard sie nicht lassen, er liebt sie zu sehr, und sie liebt ihn auch zu sehr. Ja, das ist ihr Trost. Diese Liebe muß ihn, sollte er wirklich Fehler an sich haben, bessern. O, wie erhebend ist der Gedanke! Er ist so weich, so nachgebend, sie kann ihn um den Finger wickeln, er wird ihr alles zu Liebe thun, sie wird einen Engel von Ehemann aus ihm machen. Dieser Gedanke hat schon manche Mädchen zu unglücklichen Frauen gemacht. Sie wollen ihn bessern, ihn ändern, sie trauen ihrer schwachen Kraft gar Großes zu. Solche Liebe hat noch keinen Mann geändert; und je weichlicher und schwächer sie dieser Liebe zu Füßen liegen, je weichlicher und schwächer geben sie sich wieder den alten Sünden hin. Einen Menschen ändern, dazu gehört eine andere Macht, gehört die Kraft von oben.

Klärchen aber hatte sich mit diesen Gedanken beruhigt, und als am anderen Morgen Eduard mit seiner gewöhnlichen Gewandtheit und Liebenswürdigkeit vor ihr stand, war sie wieder frischen Muthes. Aber sagen mußte sie ihm von dem Gespräch – zur heilsamen Warnung, rieth ihre Klugheit. Auch gab es ihr eine Art von Uebergewicht über ihn, wenn sie um seine Fehler wußte. Sie erzählte es zwar in dem Sinne, als ob sie nicht an die Möglichkeit solcher Dinge glaubte; aber er mußte jedes von den erlauschten Worten hören. Eduard ward feuerroth und sichtbar verlegen, aber Zornesworte mußten die Verlegenheit verbergen; er wollte die Schurken verklagen, er wollte ihnen den gottlosen Mund stopfen, es sei Neid, und so weiter. Im Grunde aber war er recht froh, daß ihm Klärchen die Personen nicht nennen konnte. Eine genaue Untersuchung wäre ihm doch nicht gelegen gewesen. – Die Anschuldigung des Betrinkens erklärte er damit, daß er gestern Wein abgezogen habe, und daß die kalte Kellerluft, nach der Schwüle oben im Haus, ihm nicht wohl gethan, sodaß er schwindlich und ohnmächtig geworden. O, er that so erzürnt und erboßt, daß ihm Klärchen die schönsten Worte geben mußte, um ihn wieder zu beruhigen. Er ließ sich auch beruhigen, und beide unterdrückten durch süße Worte ihre gegenseitigen beängstigenden Gefühle.

Gegen Mittag wanderten beide zu Tante Rieken. Klärchen hatte die Freude, daß man ihnen überall nachsah, – wirklich ein schönes Paar! Er sah wenigstens aus wie ein Baron, und sie nicht minder vornehm. Was wird die hausbackene Grete, was Fritz Buchstein sagen? Grete wird gewiß verlegen dem vornehmen Manne gegenüber, und Tante Rieke macht einen etwas tieferen Knix.

Aber sie irrte sich. Tante Rieke war allerdings verwundert, Klärchen am Arme eines fremden Mannes zu sehen; und als diese den Namen nannte und ihn als ihren Bräutigam vorstellte, machte sie ein sehr ernsthaftes Gesicht. Gretchen aber sah dem Bräutigam erst forschend und dann ganz erzürnt in die Augen. Dieser ward sichtlich verlegen dadurch und wandte sich ab. Klärchen bemerkte das, und wußte gar nicht, woran sie war. Die Tante unterbrach zuerst die peinliche Pause.

Klärchen, ich hätte geglaubt, Du hättest uns nicht so sehr überrascht mit einer so wichtigen Sache, sagte sie mit einem leisen Vorwurf im Tone.

Klärchen entschuldigte sich damit, daß es so schnell gekommen, und mit Aehnlichem. Der Bräutigam hatte während dessen seine Fassung vollständig wieder gewonnen und spielte den Beleidigten.

Ich hoffe, daß Sie gegen meine Person nichts einzuwenden haben, – sagte er gereizt, – und daß ich Ihnen ein willkommener Neffe bin. Meine Verhältnisse sind von der Art, daß ich mich Ihnen getrost als solcher nahen darf.

Verzeihen Sie, Herr Günther, entgegnete die Tante sanft, ich wünschte nur, Klärchen hätte mehr Zutrauen zu mir gehabt. Gegen Sie bin ich ganz unparteiisch, denn ich versichere Sie, daß Sie uns ganz unbekannt sind; weder ich noch meine Tochter haben je Ihren Namen gehört.

Ich kenne den Herrn wohl, – sagte Gretchen jetzt leise, aber mit unverkennbarem scharfem Ausdruck.

Ich wüßte nicht, stotterte Eduard; vielleicht so vorübergehend, vielleicht im Theater oder in einem Kaffeegarten.

Gretchen schüttelte den Kopf und schwieg, und Eduard ging leicht darüber hin und knüpfte eine lebhafte Unterhaltung an. Tante Rieke aber blieb ziemlich schweigsam, und Gretchen und Klärchen schwiegen auch, bis zu aller Erleichterung der Besuch ein Ende hatte.

Auf der Straße konnte Eduard seinen Zorn nicht verhalten. Das mußt Du versprechen, sagte er eifrig, mit diesen rohen, ungebildeten Leuten darfst Du keinen Verkehr haben. Sie haben mich unter aller Würde behandelt, und was dieser Stockfisch, dies Gretchen von mir wollte, begreife ich nicht.

Klärchen war auch ganz außer sich. Wo waren die Triumphe, die sie erwartet hatte? Von Gretchen ward sie nicht beneidet, das fühlte sie, – eher bemitleidet; und dahinter mußte etwas stecken. Und daß auch die Tante so wenig Freude über den vornehm aussehenden Bräutigam gezeigt, war ihr entsetzlich, ja das Weinen war ihr nahe; und doch mußte sie sich vor dem zornigen Bräutigam jetzt zusammen nehmen.

Es war den Tag sehr unruhig im Hotel, so daß Beide wenig Gelegenheit fanden, sich zu sprechen. Klärchen war sehr damit zufrieden. Sie wartete nur auf eine passende Zeit, um zur Tante schlüpfen zu können und den Grund von Gretchens sonderbarem Wesen zu erforschen. Als Eduard bei der sehr zahlreichen Abendtafel beschäftigt war, führte sie ihr Vorhaben aus. Sie fand die Tante und Gretchen in der dämmernden Stube. Erst wußte sie nicht recht, wie sie beginnen sollte, aber es half ja nichts, und sie bat mit etwas stockender Stimme, ihr zu sagen, ob sie etwas Unrechtes von ihrem Bräutigam wüßten. Gretchen sah verlegen vor sich nieder.

Klärchen! begann die Tante, vor allen Dingen möchten wir es Dir recht begreiflich machen, daß wir es gut mit Dir meinen. – Bei diesen Worten nahm sie Klärchens Hand und sah sie mit den sanften braunen Augen recht herzlich an.

Klärchens Herz war leichtfertig, aber für die Stimme der Wahrheit hatte sie doch noch Gefühl. Ich glaube es, entgegnete sie und erwiderte der Tante Händedruck. Diese fuhr fort:

Kennst Du Deinen Bräutigam genau?

Ich kenne ihn seitdem ich im Hotel bin, versetzte Klärchen. Ich weiß, daß er dem Herrn des Hauses Ein und alles ist, daß er eigentlich das ganze Geschäft führt, und in Kurzem selbst einen Gasthof übernehmen wird. Er hat Konnexionen, Vermögen, dazu ist er gebildet und von allen, die im Gasthofe aus und eingehen, geachtet und geliebt.

Das ist wohl gut, sagte die Tante; aber es sind nur äußere Dinge, und Du könntest bei alle dem kreuzunglücklich werden. Weißt Du, ob er ein rechtschaffener Mann ist, ob er ein braver Mann ist, der Gott mehr fürchtet, als die Menschen?

Freilich hoffe ich, daß er ein rechtschaffener Mann ist, und habe keine Ursache, das Gegentheil zu glauben. Und wißt Ihr etwas von ihm, so ists Eure Pflicht und Schuldigkeit, es mir zu sagen.

Der Tante gefielen diese Worte wohl, sie meinte, Klärchen liege ihres Bräutigams Rechtschaffenheit gar sehr an der Seele; aber von der war es nur die brennende Begierde, etwas zu wissen, zu hören; ihr Stolz war gedemüthigt, sie war innerlich erboßt, sie hätte mit der ganzen Welt hadern mögen.

Ich will Dir nun erzählen, was wir von Deinem Bräutigam wissen, begann die Tante, Du kannst dann überlegen, was Du zu thun hast. Im vorletzten Winter, als ich am gastrischen Fieber lag, mußte Gretchen für mich manche Krankenbesuche übernehmen. Unsere schwerste Kranke war damals ein Mädchen, die ein Vierteljahr vorher ein Kind gehabt hatte und jetzt an der Auszehrung elend darnieder lag, so arm und verlassen, daß es ihr am Allernothwendigsten fehlte, und unser Verein kaum anschaffen konnte, was sie gebrauchte. Bei ihrer äußeren Noth hatte sie aber auch innerlichen Jammer, sie sprach viel von dem Vater ihres Kindes, was der ihr vorgespiegelt und versprochen, und wie er sie jetzt in Hunger und Kummer umkommen lasse. Oft hat Gretchen ihre Klagen über den Menschen mit anhören müssen, und die Urtheile und Schilderungen von ihm waren nicht fein. Als das Mädchen immer elender ward und ihren Tod vor Augen sah, war ihr größtes Verlangen, ihren Geliebten, wie sie ihn denn doch in manchen Stunden noch nannte, nur einmal noch zu sehen. Eine Frau, die schon früher die Unterhändlerin des Liebespaares gewesen, ward zu wiederholten Malen abgeschickt, aber immer vergebens. Als nun Gretchen eines Tages hinkömmt und die Kranke besonders schwach findet und ihr Trost und Theilnahme zuspricht, ist diese untröstlich und sagt nur immer, sie müsse Günthern noch einmal sehen. Gretchen hatte den Namen des Mannes nie gehört und auch nie viel von der Geschichte wissen wollen. Als sie ihr nun vorstellt, wie ihr Herz an einem Menschen hängen könnte, der sie so schmählich verlassen und verstoßen habe, wie sie sich lieber dem Himmel zuwenden solle und dem Heilande, der sie nicht verstoßen und verschmähen würde, und so Aehnliches, um ihren Sinn zu bewegen, da kömmt die Frau herein, die immer an Günther abgeschickt war, und ruft: Er kommt, er kommt! Gretchen will schnell gehen, aber der Mann steht in der Thür, ehe sie sich dessen versieht. Er geht an das Bett, die Kranke hat sich zu ihm gewendet und sagt: Ich sterbe nun, – und dazu weint sie bitterlich. – Das ist meine Schuld nicht! entgegnet er barsch, und ich bin heute gekommen, damit die Lauferei endlich ein Ende hat. Was willst Du denn? ich habe nicht viel Zeit hier zu stehen. – Du hast mich so elend umkommen lassen, schluchzt die Kranke wieder. – Ich? ruft er da und setzt ihr auseinander, was er alles gegeben; seine Schuld sei es nicht, daß sie krank geworden, und sie habe Verwandte, die mehr hätten als er, die sollten sich nur um sie bekümmern. – Die Kranke kann vor Weinen nicht sprechen, sie will seine Hand nehmen, er aber zieht sich zurück. Da kann sich Gretchen nicht mehr halten, tritt zu ihm, nimmt seine Hand und legt sie in die der Kranken und sagt: Das sind alles unnütze Reden, die Arme wird nicht lange mehr leben, und wollte nur Trostworte und nicht so harte Worte von Ihnen hören. – Er ist ganz erschrocken, denn er hat Gretchen im ersten Eifer nicht gesehen, und führt nun eine andere Sprache und läßt auch einiges Geld dort. Nach zwei Tagen war das Mädchen todt.

Die Tante schwieg. Klärchen war in höchster Aufregung. Sprechen konnte sie nicht; sie reichte der Tante die Hand und stürzte zum Zimmer hinaus. Die Tante wollte ihr nachrufen, aber sie hörte nicht, sie lief mit eilenden Schritten über die Straße und verschloß sich dann in ihrem Zimmer. Hier brach sie in Thränen aus. Ein abscheulicher Mensch! solch ein Verhältniß vorher zu haben! Sie wollte augenblicklich mit ihm brechen, sie wollte einen Mann haben, der geachtet und geehrt ward von der ganzen Welt, und der besonders weit über Tante Rieken und Greten stand. – So gingen ihre Gedanken anfänglich durcheinander. – Als sie aber eine halbe Stunde geweint, und ihre Thränen versiegten, ward sie ruhiger. Und wenn die ganze Geschichte wahr wäre, dachte sie, was hat er eigentlich verbrochen? Daß ich seine erste Liebe nicht bin, konnt ich mir vorher denken. Er ist ja auch deine erste Liebe nicht, entgegnete ihr Gewissen, und du hast ihm auch von allen Abenteuern nichts gesagt. Das ist eben der Fluch der Sünde: um die eigene zu beschönigen, mußte sie auch die des andern entschuldigen und so die Last beider tragen. Daß das Mädchen so dumm war, sich verführen zu lassen, fuhr sie fort, ist traurig, und es ist schändlich von ihm, die Arme so im Stich zu lassen; aber gewiß war sie ein ganz unbedeutendes Wesen, die ihn nicht fesseln konnte, dir hätte so etwas nie passiren können. Das einzige Unglück dabei ist nur, daß es nicht verborgen blieb, und daß gerade ihre Verwandten so tief hinein blicken mußten. Ihrem Glücke konnte die Sache nicht mehr hinderlich sein, Mutter und Kind sind todt. Wenn sie einst Herrin eines großen Hotels ist, es bequem wie eine Prinzessin hat, dazu von dem Manne geliebt und angebetet wird, was sie alles nicht bezweifelte, so fehlte ihrem Glücke nichts. Die Sache mit dem Aufgeben mußte doch überlegt werden, und wer konnte denn wissen, ob in Wahrheit die Begebenheit so schwarz war, wie die Tante sie vorgetragen? Die Tante sieht alles mit so strengen Blicken an; in den Stücken war ihr nicht zu trauen. Aber beichten sollte ihr Bräutigam, erfahren, daß sie alles wisse, und um so demüthiger werden und ergebener.

Als er wie gewöhnlich nach den beendigten Geschäften zu ihr kam, fand er sie so getröstet, aber die Thränen flossen von neuem bei seinem Anblick. Er, mit dem bösen Gewissen, war besonders weichherzig, forschte nach den Thränen und erfuhr nun die ganze Geschichte. Da schien sein Zorn keine Grenzen zu haben, er nannte alles die abscheulichste Verleumdung, und Gretchen samt der Tante maliziöse Personen, die absichtlich eine Sache so verdreht hätten, um ihm Klärchen abspenstig zu machen. Wer weiß, in welchen Winkel sie sie stecken möchten; sie ärgern sich, sie vornehmer und schöner zu sehen, und so mehr. Von der Kranken erzählte er: sie sei Hausmädchen hier gewesen, und er habe allerdings ein kleines Liebesverhältniß mit ihr gehabt, später sei sie fortgekommen, sei liederlich geworden und so herab gekommen. In ihrer Noth habe sie sich zu ihm gewandt, und er habe sie hin und wieder unterstützt, ja, er habe sich durch seine Gutmüthigkeit verleiten lassen, einmal hinzugehen, weil die Person ihm keine Ruhe gelassen. – Und das ist die Geschichte, die Deine vortreffliche Cousine so verdreht hat! schloß der Erzürnte. Du mußt mir jetzt aber heilig versprechen, mit den abscheulichen Menschen ganz und gar zu brechen, denn bei ihrer Schlechtigkeit sind sie auch roh und ungebildet und passen für uns nicht. Es ist mir eigentlich recht lieb, daß sie die Veranlassung zu diesem Bruche gegeben haben. Nun sind wir sie los. Nach dem, wie sie mich behandelt haben, können sie nicht verlangen, daß ich je wieder einen Fuß über ihre Schwelle setze.

Hierauf begann er seine Pläne für die nächste Zukunft zu entwickeln. Die malte er so glänzend, so herrlich, daß Klärchen sich völlig befriedigt fühlte und in alle seine Vorschläge einging. Um allen ferneren Intriguen zu entgehen, wollten sie noch vor dem Winter heirathen und die Annahme eines eigenen Hotels gar nicht abwarten. Günther hatte sich eine kleine neue Wohnung gerade gegenüber schon angesehen, die sollte mit Mahagoni-Möbeln und allen möglichen Luxussachen ausgestattet werden, und Klärchen sollte da allein ihre Wirthschaft haben. Vierhundert Thaler sollte sie jährlich bekommen, außer den Sachen, die hin und wieder aus der Gastwirthschaft abfielen. Als Klärchen erwähnte, daß die Tante ihr, im Falle sie sich mit deren Genehmigung verheirathe, eine Ausstattung versprochen, brausete Günther von neuem auf. Wir brauchen Deiner Tante Ausstattung nicht, ich werde ihr schreiben: ich bedankte mich sowohl für ihre Verleumdungen, als für ihre Hochzeitsgeschenke, ich könnte ganz und gar ohne sie bestehen, ich würde sie nie wieder belästigen, würde aber auch meiner Frau nicht erlauben ein Haus zu betreten, das so hinterlistig meine Ehre angegriffen. – Klärchen machte einige Einwendungen dagegen. Wenn sie die Tante auch immer mehr gefürchtet als geliebt hatte: auf diese Weise wollte sie sie doch nicht beleidigen, weil die Tante es immer gut mit ihr gemeint. Günther versprach den Brief nicht ganz so arg zu machen, aber, setzte er hinzu, wenn wir sie bei dieser Gelegenheit nicht los werden, wird sie uns das ganze Leben plagen. In dem Sinn sprach er noch mancherlei. Klärchen ließ sich bereden, und die Sache schien abgemacht.

Am anderen Abend kam Frau Krauter mit sehr bedenklichem Gesichte. Tante Rieke hatte sie zu sich kommen lassen, ihr das Vorgefallene erzählt und ihr den Brief mitgegeben, den Günther heut Morgen an die Tante geschickt. Klärchen ward heiß und kalt beim Lesen dieses Briefes; der war wenigstens so grob, als Günther gestern Abend sich vorgenommen hatte zu schreiben. Frau Krauter trug den Mantel auf beiden Schultern; bei Tante Rieken hatte sie geklagt über das Unglück und über den Leichtsinn der Welt; hier redete sie anders, weil ihr im Grunde diese Verheirathung der Tochter sehr erwünscht kam. Schon jetzt kam mancher Bissen aus dem Hotel zu ihr hin, schon jetzt hatte sie zeitweise ein herrliches Leben geführt, sie erwartete nun den Himmel von Klärchens eigenem Hotel. Als sie die Tochter böse auf den Bräutigam sah, redete sie gütlich zu. Jeder Mann hat seine schwache Seite, und die Tante wird nicht ohne Schuld sein. Wenn Du auch einen andern genommen hättest, sie wäre doch nicht zufrieden gewesen; denn ihr Geschmack ist nicht Dein Geschmack, und Du mußt es mit Deinem Manne halten. – Klärchen seufzte, und mußte der Mutter doch theilweise Recht geben. Entweder! oder! hieß es jetzt, und da sie den Bräutigam nicht fallen lassen wollte, mußte sie von der Tante lassen. Die Mutter mußte ihr aber versprechen, zur Tante zu gehen und ihr zu sagen, wie unglücklich sie über ihres Bräutigams Brief gewesen; aber da sie ihn zu sehr liebe und auch das Beste von der Zukunft hoffe, müsse sie sich in seinen Willen fügen und den Umgang mit der Tante jetzt abbrechen, – doch nicht für lange, denn er werde gewiß bald seinen Fehler einsehen und die Tante um Verzeihung bitten.


Es war der 25. September. Klärchen stand vor dem Spiegel und legte die rosa Schürze um den weißen Mullrock, setzte ein rosa Häubchen auf und war nun bereit, die Gäste zum Chokoladenfrühstück zu empfangen. Gestern hatte sie Hochzeit gehabt, war stolz im weißen Atlaskleide zur Kirche gefahren, und war als schöne Braut bewundert. Herr Reinhard hatte darauf seinem Oberkellner ein Diner gegeben, und die Nachfeier dieses Diners war eine Abendgesellschaft in der Wohnung der Neuvermählten. Ein Privatsekretär mit seiner Frau, ein Detailhändler mit seiner Frau, ein Rendant, Gustchen Vogler, einige Handlungsdiener und Mutter Krauter waren die Mitglieder der Gesellschaft. Klärchen mußte sich gestehen, daß diese Leute nicht zu ihren eleganten Zimmern paßten, aber auch Günther war in dieser Gesellschaft ein anderer, als gegen die vornehmen Leute im Hotel. Er lachte anders, er sprach anders, und ließ sich in seinem ganzen Wesen auf eine unangenehme Weise gehen. Freilich hatte er den Tag ungewöhnlich viel getrunken, und das ist bei so seltenen festlichen Gelegenheiten nicht zu umgehen, tröstete sie sich. Dieselbe Gesellschaft sollte heut Morgen ein Chokoladenfrühstück nehmen. Klärchen hatte alles aufs schönste vorbereitet, die feinen Tassen standen bereit, auf gemalten Tellern war Kuchen und Torte servirt, und sie selbst ruhte jetzt wie eine vornehme Dame im Sopha und erwartete ihre Gäste.

Die Mutter war die erste, die kam; sie sah schmunzelnd auf Kuchen und Chokolade, setzte sich wohlgefällig in die andere Sophaecke und sagte: Hätt ich doch im Leben nicht geglaubt, daß es Dir noch so glücken würde, Du kleiner Brausekopf. Immer wenn ich dachte, es war so weit, dann ging Dein heißes Blut wieder durch. Gott sei Dank, daß wir nun eingelaufen sind in den Hafen!

Klärchen lächelte. So hatte sie doch wenigstens die Mutter, die ihrem Schicksal Weihrauch streute, da selbst das eigne Herz sich nicht recht dazu bequemen wollte.

Günther trat etwas bleicher als gewöhnlich, aber guter Laune ein. Die Gäste folgten bald, es ward Chokolade getrunken, Frau Krauter ließ es sich von allen am besten schmecken; dagegen verschmähte der Schwiegersohn ganz und gar dies süße Getränk. Mir ist heut mehr wie Weintrinken, sagte er scherzend, verließ das Zimmer und kam bald mit einem Arm voll Flaschen wieder. Die Herren schmunzelten, die Frauen neckten auf nicht sehr feine Weise, und Klärchen sah ängstlich auf ihren Mann. Jedenfalls war er schon im angeregten Zustande herüber gekommen, denn sie sah, daß beim Einschenken der Chokolade ihm die Hände zitterten. Sie hätte gern Einspruch gethan gegen das neue Trinkgelage, aber erstens scheute sie sich, als Wirthin etwas zu sagen, und dann wußte sie, daß Günther in solchen Dingen sich nichts sagen ließ.

Die Herrengesellschaft ward immer lauter, die Frauen sahen sich bedenklich an. Klärchen klagte, daß ihr Mann schon seit einigen Tagen unwohl sei und daß ihm der Wein sehr schlecht bekommen würde. Er ward auch immer bleicher, seine Hände zitterten auffallend, seine Zunge lallte. Doch war er nicht der Schlimmste. In der Ecke des Mahagonisophas schlummerte der Rendant, und einer von den jungen Kaufmannsdienern hatte sich schon entfernt. Die Frauen drangen jetzt auf die Auflösung der Gesellschaft. Das war mit den angetrunkenen Männern nicht leicht zu bewerkstelligen, aber es gelang ihnen endlich, und Klärchen war mit dem Mann und der Mutter allein.

Günther hatte sich nicht besinnungslos getrunken, weil er viel vertragen konnte; er wußte, daß ihm Schlafen jetzt das beste sei und legte sich zu Bett. Die Mutter ging nach Haus, weil sie nicht Lust hatte, Tassen und Gläser zu waschen und aufzuräumen, und Klärchen saß nun in der eleganten Stube allein. Sie hatte aber auch nicht Lust zum Aufräumen, sie mußte sich erst besinnen von der vielen Unruhe, setzte sich auf den Sitz im Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Der blaue Himmel und helle Sonnenschein lockte Spaziergänger in das Freie, auch vor dem Hotel war es sehr lebendig, Wagen fuhren, Wagen kamen, und es war ganz unterhaltend, das anzusehen. Ja unterhaltend, aber nicht für Klärchen. Ihr Herz war schwer, ohne daß sie recht wußte, was sie wollte. Sie war nun am Ziel ihrer Wünsche, sie konnte herrlich leben und die vornehme Dame spielen. Die Mahagoni-Möbel, der Sopha-Teppich, die gewirkte Tischdecke, die Blumenvasen, die goldgerahmten Bilder, sie hätte sich nie eine schönere Wohnung träumen können, – und doch war sie nicht befriedigt, und das war ihr so unerträglich, sie hätte weinen können. In dieser Unlust an der ganzen Welt griff sie zu einem Roman, der auf dem Arbeitstisch lag und aus ihrer Stube im Hotel mit herüber gewandert war, und suchte sich wenigstens zu zerstreuen.

Als Günther nach einigen Stunden wieder zum Vorschein kam, murrete er etwas, noch alles so in Unordnung zu finden. In seinem Kellner-Eifer räumte er selbst gleich Flaschen und Gläser bei Seite. Klärchen versicherte, im höchsten Grade angegriffen zu sein, und sein böses Gewissen hieß ihn schweigen, aber der eheliche Himmel hing nicht ganz voller Geigen.


Fritz Buchstein ging im Garten auf und ab. Die Sonne warf ihre letzten Strahlen nur noch an das blaue Schieferdach des Kirchthurmes, aber herrliches Abendroth, wie es den Herbstabenden eigen, flammte über der Scheuer hinauf. Zwischen gelbem Laub und verkommenen Zweigen blühten noch allerhand liebliche Blumen, die Pflaumen hingen blau an den Bäumen, Aepfel- und Birnenbäume senkten die schweren Zweige und sahen der Ernte entgegen, auf dem Nachbarshofe ward ein Fuder Kartoffeln in den Keller geladen, und Kinder hockten im Garten um ein Häufchen Kartoffelstroh, dessen blauer Rauch über die Nachbarsgärten hinzog. Fritz schaute das alles mit den Augen seiner Seele an, und Freude und Friede durchzitterten sein Herz. Hier war seine traute Heimath und hier sollt es ihm vergönnt sein, seinen Heerd zu bauen und dem Herrn zu Ehr und Liebe Bürger und Hausvater zu sein.

Gestern hatte er Klärchen trauen sehen. Klärchen im weißen Kleide, grünen Kranze, mit den schönen, blauen, kindlichen Augen hatte sein Herz noch einmal in Erinnerung und Theilnahme bewegt. Der schwarze, bleiche Mann neben ihr schien ihm der Böse zu sein, dem sie sich übergab, und sein Herz konnte es nicht lassen, wiederum zu bitten: Herr, verlasse sie dennoch nicht, führe sie, halte sie; Weg hast Du aller Wege, an Mitteln fehlts Dir nicht.

Auf dem Heimwege war er mit Frau Bendler und Gretchen zusammen getroffen, und als er Gretchen sah, war Glück und Friede in seine Brust gezogen. Gretchen hatte ihn angeschaut mit den treuherzigen Augen und der vielen Liebe darin, und auch seine Augen sprachen seine Gedanken aus. Ehen werden im Himmel geschlossen. Gretchen, das fühlte er, war ihm vom Himmel bestimmt, mit ihr wollte er wallen den Weg hinan, seine Liebe sollte sie führen, trösten, ihr dienen auf dem beschwerlichen Weg, und ihr treues, starkes Herz sollte ihn tragen mit allen seinen Fehlern. Ja, ihr wollte er auch die Schmerzen seiner Jugend sagen, jetzt wo er sie überwunden, wo Liebe und Freudigkeit zu Gretchen sein Herz beseelten. In Sehnsucht schaute er hinüber in den Nachbarsgarten, da trat Gretchen singend drüben aus der Thür. Sie grüßte hinüber und schüttelte dann an einem Pflaumenbaum, daß die blauen Früchte über sie herfielen. Fritz schwang sich über das Stacket. Soll ich Dir helfen? fragte er. Gretchen nickte, und er suchte die Pflaumen mit in ihre Schürze. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, nahm Fritz Gretchens Hand, sah ihr bewegt in die Augen und sagte:

Gretchen, Du weißt schon längst die Gedanken meines Herzens.

Gretchen nickte.

Ich liebe Dich von ganzem Herzen, fuhr er fort, und der Herr wird mir Kraft geben, Dich so glücklich zu machen, wie Du es verdienst und wie ich es so gern möchte.

Gretchen neigte den Kopf und dachte: Ich bin ja nicht werth solches Glückes.

Jetzt wollen wir zur Tante gehen, sprach er weiter, legte Gretchens Arm in den seinen, nahm ihre Hand mit beiden Händen; so gingen sie durch den Garten. Da öffnete sich oben ein Fensterlein, der Staarmatz hupfte auf das Brett und schnarrte: »Jungfer Braut!« – Ja, Du alter Benjamin steckst Deine Nase immer zuerst in alle Dinge. – Diesmal zankte sich Gretchen nicht mit dem Matz; sie lächelte hinauf und beide blieben stehen, denn die weiße Mütze mit dem fröhlichen Angesicht schaute auch zum Fenster hinaus.

Der Herr segne Euch! rief er herunter, dann neigte er den Kopf hin und her vor dem Dompfaffen, und der begann sogleich: »Lobe den Herrn, o meine Seele« – ja da konnten es Fritz und Gretchen nicht lassen, mit heller Stimme stimmten sie ein und Benjamin ebenfalls:

Ich will ihn loben bis in Tod!
Weil ich noch Stunden auf Erden zähle.
Will ich lobsingen meinem Gott;
Der Leib und Seel gegeben hat,
Werde gepriesen früh und spat.
Halleluja, Halleluja.

Selig, ja selig ist der zu nennen,
Deß Hilfe der Gott Jakob ist,
Welcher vom Glauben sich nicht läßt trennen
Und hofft getrost auf Jesum Christ.
Wer diesen Herrn zum Beistand hat,
Findet am besten Rath und That.
Halleluja, Halleluja.

Die Tante kam gerade zur rechten Zeit heraus, um die letzten Strofen mit zu singen, dann aber mußte ihr weiches Herz erst einige Freudenthränen weinen. Und als nun Vater Buchstein drüben in seiner Hausthür erschien, ward beschlossen, augenblicklich einige Latten vom Stacket zu nehmen und eine Oeffnung zur Thür zwischen beiden Gärten zu machen. Benjamin kam flugs herunter und brachte dem Fritz das Handwerkszeug entgegen, und mit fröhlichen Worten und Mienen half die ganze Gesellschaft bei der Arbeit. Während der alte Buchstein am Krückstock langsam herangeschlichen kam, um den sonderbaren Lärm zu untersuchen, war die Oeffnung schon fertig, und Fritz führte Braut und Schwiegermutter dem Vater entgegen.


Klärchen verlebte ihre Flitterwochen in ungetrübtem Vergnügen. Günther suchte ihr den ersten Tag vergessen zu machen. Er führte sie in Kaffeegärten, in Conzerte, in das Theater. Im Hause hatte sie fast gar nichts zu thun, nur Kaffee und Thee mußte sie kochen, und dies, so wie die übrige wenige Hausarbeit, that die Mutter gern, weil sie dafür mittrinken und mitessen konnte. Das Mittagsessen bekam Klärchen aus dem Hotel mit Erlaubniß des Herrn Reinhard, dem es auf eine Person mehr oder weniger nicht ankam, und Günther schien dafür nur um so dienstfertiger und seinem Herrn um so mehr zugethan. Klärchen hätte jetzt schöne Zeit zum Flicken und Nähen gehabt, aber es fehlte ihr an Lust dazu. An ihren alten Sachen, meinte sie, wäre nichts mehr zu flicken, und die wenigen neuen, die sie zum kleinen Haushalt angeschafft, waren neu in einem Laden gekauft. Später, sagte Günther, würde er doch das ganze Inventar eines Hotels annehmen, jetzt könnten sie sich behelfen.

Daß er gegen Weihnachten hin öfters als gewöhnlich nicht nach Hause kam, wunderte sie nicht, da jetzt mehr Besuch als gewöhnlich drüben, und Günther sehr beschäftigt war. Auch daß er zuweilen sehr hohläugig aussah und ihm die Hände leise zitterten, schob Klärchen auf die großen Anstrengungen. Ueberdem hatte ihr Mann sich so sehr in seiner Gewalt, daß, so wie er sich beobachtet glaubte, eine Lebendigkeit und Festigkeit in sein ganzes Wesen fuhr, die Klärchen wieder beruhigte.

Eines Abends kam sie gegen zehn Uhr von der Mutter zurück, die seit einigen Tagen krank war. Im Vorbeigehen wollte sie sich etwas Geld vom Manne holen, den sie schwerlich heut zu Hause erwarten konnte. Im Hotel war es noch ziemlich lebendig, auf dem Flur traf sie den kleinen Laufburschen, der im Sommer ihrem Manne den Thee besorgen mußte, und der auch jedenfalls damals das Zwiegespräch mit einem Kameraden gehalten.

Wo ist mein Mann? fragte Klärchen.

In seiner Stube, ich muß ihm wieder Thee kochen, sagte der Junge spöttisch.

Erschrocken lief Klärchen dahin und fand ihren Mann in einem Zustande, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Er saß vor dem Tisch, schlug mit beiden Fäusten darauf und lallte: Zehn tausend Thaler, – fünf tausend Thaler, – das soll gehen, – das muß gehen! – Klärchen schloß schnell die Thür hinter sich. Um Gottes Willen, Günther! rief sie: Du bist betrunken!

Betrunken? wiederholte Günther erschrocken und wollte sich in gewohnter Weise zusammennehmen, aber es ging nicht, er fiel zusammen und lallte wieder unverständliche Worte. Jetzt klopfte es an der Thür. Klärchen fragte, wer da sei.

Ich bringe den Thee, rief der Laufbursche, und Herr Reinhard will den Herrn Eduard sprechen.

Klärchen verließ die Stube, nahm dem Burschen den Thee ab und wechselte mit Herrn Reinhard einige Worte. Der schien die Fabel von dem Unwohlsein zu glauben und entfernte sich. Klärchen aber warf ihrem Mann einen Paletot um, setzte ihm den Hut auf und führte ihn, nachdem sie gelauscht, ob niemand auf der Treppe und auf dem Flur sei, zum Hause hinaus.

In ihrer Wohnung aber brachen ihre Angst und ihr Zorn in heftige Worte aus. Er glotzte sie mit starren Augen an und sagte kein Wort. Sie ward immer heftiger und verlangte, er solle sich zu Bett legen. Sie faßte ihn an, um ihn dahin zu führen, da machte er sich mit einem Mal los, gab ihr einen tüchtigen Stoß und sagte grimmig: Sei ruhig und mach nicht solchen Lärm! Wer heißt Dich räsonniren? Hier, zieh meine Stiefeln aus! – Klärchen stand erschrocken, aber unmöglich hätte sie sich zu solchem erniedrigenden Dienst hergeben können. – Willst Du bald! rief er noch grimmiger, oder soll ich Dich gehorchen lehren? Dabei trat er dicht vor sie, starrte sie an und schüttelte mit seiner schweren Hand ihr Kinn gar unsanft. Klärchen schrie laut auf. – Allons, sagte er, warf sich auf einen Stuhl nieder und streckte ihr die Füße entgegen. Klärchen sah, daß mit dem betrunkenen Menschen nicht zu spaßen sei, daß sie Mißhandlungen erwarten könne, und entschloß sich zu der Arbeit, aber mit lautem Weinen. Er gab ihr noch einen Tritt mit dem Fuß, und schlug dann wieder mit beiden Fäusten auf den Tisch. Zehntausend Thaler! lallte seine Zunge, – zehntausend Thaler – und dann links um kehrt! – Klärchen hatte sich in eine dunkle Ecke gesetzt; er hielt noch ein langes Selbstgespräch, aber seine Worte wurden immer unverständlicher, bis er sein Haupt senkte und laut schnarchte.

Klärchen legte sich mit den Kleidern auf das Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie fürchtete sich vor ihrem Mann, es war ihr grausig mit ihm allein zu sein, in ihrer Hilfslosigkeit waren Thränen ihr einziger Trost. Sie weinte und weinte, bis sie vor Ermüdung einschlief.

Gegen Morgen wachte sie auf. Als sie die Thür nach der Wohnstube öffnete, regte es sich auch, ihr Mann tappte in der dunkeln, eiskalten Stube umher. Sie machte Licht; Günther sah sie scheu an, zugleich aber flogen seine Glieder vor Schwäche und Frost, er sah wirklich jämmerlich aus, und Klärchen hätte fast Mitleiden mit ihm gehabt; aber Zorn und Kummer überwogen jedes andere Gefühl. Auch war sie selbst von der entsetzlichen Nacht matt und elend. Gewiß wird er sich entschuldigen und wieder süße Worte machen, dachte Klärchen; aber das vergebe und vergesse ich nicht; ich werde es ihm sagen, wenn noch einmal Aehnliches passirt, gehe ich von ihm. – Als sie schweigend nach dem Ofen ging, um Feuer zu machen, begann er zu reden.

Warum hast Du mich gestern hier in der Stube sitzen lassen?

Klärchen sah ihn verwundert an. Weißt Du, was gestern Abend passirt ist? fragte sie mit zitternder Stimme.

Freilich weiß ich das, und es ist schlecht genug von einer Frau, wenn der Mann krank und aufgeregt nach Hause kommt, ihn wie eine Xantippe zu behandeln. Du hast gelärmt und getobt, anstatt mich sanft zu beruhigen, wie es einer ordentlichen Frau zukommt.

Weißt Du denn, daß ich Dich herüber geholt habe? fragte Klärchen mit von Thränen erstickter Stimme, daß Herr Reinhard Dich sprechen wollte, daß die Kellner Dich höhnten wegen Deiner Betrunkenheit, und daß ich Dich nur heimlich fortgebracht habe?

Das weiß ich alles! entgegnete Günther kalt. Das war sehr weise von Dir, Du hättest nur hier so fortfahren sollen.

Klärchen konnte nicht weiter reden, der Kummer schnürte ihr die Kehle zu. Er bereuete also nicht einmal seine Unthaten, er klagte sie an. Das war das erste Mal, daß er im nüchternen Zustande unfreundlich war; jetzt mußte sie jede Hoffnung, ihn je anders zu sehen, aufgeben. Er legte sich zu Bett, sie mußte ihn bedienen, sie mußte die abgesandten Boten des Hotels abfertigen, und als später die Mutter kam, dieser ihre Stimmung verbergen. Sie hätte sich geschämt, ihr Unglück merken zu lassen; trotz ihrer Klugheit, trotz ihres Hochmuthes war sie jetzt eben so weit als die Mutter.

Nachdem das Ehepaar acht Tage nicht mit einander gesprochen, Günther sich fast gar nicht oder nur mürrisch gezeigt hatte, und Klärchens Augen fast nicht trocken geworden waren, schien er endlich wieder besserer Laune zu werden. Er brachte mehr Geld, denn auch das hatte sie in den letzten acht Tagen fast gar nicht gehabt. Er fing an zu schmeicheln, ja, sein Unrecht einzusehen, und Klärchen hielt es für das beste, nicht zu unversöhnlich zu sein. So war äußerlich das Verhältniß wieder hergestellt, aber der Stachel saß in Klärchens Herzen, unmöglich konnte sie sich über ihr Schicksal noch leichtfertige Phantasien machen, die Wirklichkeit war zu sprechend.

Weihnachten kam, und Günther schien es darauf abgesehen zu haben, Klärchens leicht bewegliches Herz wieder ganz zu gewinnen. Der Weihnachtstisch prangte von schönen Sachen. Ein seidener Mantel, ein Sammethut, wie ihn nur die vornehmste Dame wünschen konnte, lagen darauf, und außer andern Kleinigkeiten auch ein Zwanzig-Thaler-Schein, um Kinderwäsche zu kaufen. Klärchen war guter Hoffnung. Auch Frau Krauter hatte Günther mit manchen hübschen Sachen bedacht, – so gab es nur fröhliche Gesichter.

Am Weihnachtsmorgen mußte Klärchen in die Kirche gehen, um ihren Staat zu zeigen. Dieser Triumf sollte nach den vielen trüben Tagen eine Erquickung sein. Aber hauptsächlich lag ihr daran, sich der Tante und Gretchen zu zeigen. Die hatten gegen die Mutter so manche bedenkliche Worte, auch wegen ihrer äußeren Lage, fallen lassen; darüber sollten sie beruhigt werden. Sie mußte freilich zu dem Pietisten in die Stephani-Kirche gehen, aber das war ihr gleich; des Wortes Gottes wegen ging sie doch nicht hin. Ja, in der letzten Zeit hatte sie sich noch mehr als je gescheut, an den Herrn zu denken; es überfiel sie zuweilen eine Ahnung, als ob die Worte der Tante Wahrheit werden und der Himmel ihren Leichtsinn strafen könnte. Heute war sie aber zu vergnügt, um so ernste Gedanken haben zu können.

Sie hatte eigentlich die Absicht gehabt, sich so in der Kirche zu setzen, daß sie von allen Seiten gesehen ward, aber im Hineintreten gewann ihr besseres Gefühl die Oberhand, sie schämte sich und setzte sich in eine entfernte Ecke. Als nun die Orgel in vollen Tönen die Kirche erfüllte, als viele hundert Stimmen sich damit vereinten, und »Vom Himmel hoch da komm ich her« laut daher schallte, da ward es ihr wunderbar zu Muthe. Sie vergaß Mantel und Hut, und konnte es nicht lassen, die Worte aufmerksam mit zu lesen und zu singen:

Es ist der Herr Christ unser Gott,
Der will euch führn aus aller Noth,
Er will eur Heiland selber sein,
Von allen Sünden machen rein.

Er bringt euch alle Seligkeit,
Die Gott der Vater hat bereit,
Daß ihr mit uns im Himmelreich
Sollt leben nun und ewiglich.

Einen Führer aus aller Noth! ob du den auch noch nöthig haben wirst? dachte Klärchen. – O wie glücklich war ich unverheirathet! ein Tag immer heller und lustiger als der andere, die Welt so lachend, – warum bin ich nur in mein Unglück gelaufen? Wer weiß, wie es mir noch gehen wird? und ich habe keinen Helfer aus der Noth. Der Heiland, den Tante Rieke und Gretchen haben, ist nicht dein Heiland, du kennst ihn nicht und magst ihn auch nicht kennen, setzte sie muthlos hinzu. – Die Stimme des Predigers zog sie wieder von ihren Gedanken ab.

»Dies ist der Tag, den der Herr machet, lasset uns freuen und fröhlich darinnen sein,« so begann er die Rede. Das Evangelium folgte, dann redete er so warm und eindringlich vom Christkindlein, warum es herab gekommen von seinem hohen Himmel, was es uns gebracht, was es wieder von uns verlange, daß Klärchen unwiderstehlich seinen Worten folgen mußte. – »Wie groß und unaussprechlich ist die Gnade für uns arme Sünder, die wir so elend und so bloß, die wir im Dunkel des Todes sitzen und bangen vor dem ewigen Gericht, – unser Gewissen sagt es uns, daß das Gesetz den Stab über uns gebrochen, daß wir dem Zorne der Verdammung zugehören. Da erscheint ein Licht in der Finsterniß, ein Trost in der Angst, der liebe Heiland kommt, verkündigt uns Freiheit von allen Sünden, Erlösung von Tod und Hölle, giebt uns die Hoffnung der ewigen Seligkeit. O wie ist doch die Liebe so groß, o wie müssen wir ihr entgegen jauchzen! O Du liebliches Kind in der Krippe, Du kömmst in unsere armselige Welt, nimmst auf Dich alle unsere Schmerzen, stirbst für uns den bittern Tod, den Tod am Kreuze. Du kommst, Du suchst mich, Du kannst es nicht lassen, mich armen elenden Sünder an Dein Herz zu nehmen. O so nimm mich denn hin, umfasse mich, halte mich, ich will Dein sein auf ewig!« –

Klärchen war ergriffen, so etwas hatte sie noch nie gehört. Oder hatte sie nicht hören wollen? war ihr Herz hart gewesen, und hatte der Herr es jetzt weich gemacht? Ja, der Herr kann Gnade geben, wie es ihm beliebt, und aus Gnaden sollen wir selig werden. – Doch bestürmten heut auch heiße Fürbitten seinen Thron. Fritz Buchstein hatte oben vom Chor Klärchen erkannt, und hatte Segen für sie, für diesen Gang vom Himmel herab gefleht. Gretchen und ihre Mutter saßen auch nicht fern und mit brünstigem Gebet flehten sie des Herrn Geist auf das verlassene Klärchen.

Als diese zur Kirche hinaus ging, kam sie mit der Tante zusammen. Sie schämte sich fast ihres Weihnachtsstaates, und mit einem sanften und demüthigen Ausdruck, wie ihn niemand an ihr gewohnt war, bot sie den Verwandten einen guten Morgen und ein fröhliches Fest. Die Tante und Gretchen reichten ihr beide freundlich die Hand. Klärchen ging im Gespräche, aber sehr verlegen, neben ihnen her, bis vor Bendlers Haus. Beim Abschied sagte sie: Ich habe Euch längst besuchen wollen, und wenn Ihr es erlaubt, komme ich bald. – Bei den letzten Worten traten ihr die Thränen in die Augen und sie eilte hinweg.


Am Sylvester-Abend ließ man bei Frau Bendler wieder Schiffchen schwimmen, Gretchen aber war ohne Angst, daß sich ihr Schiffchen mit Fritzens vereinigen möchte; sie war fröhlich und guter Dinge, es ward erzählt und gescherzt, und auch ernsthaft gesprochen und gelesen und gesungen und gebetet, bis der Wächter das neue Jahr verkündete.

Bei Günthers sah es anders aus. Seit Weihnachten schon war er in ganz besonders fröhlicher Aufregung, und am Sylvester-Morgen sagte er zu Klärchen: Heut muß es hoch bei uns hergehen, es wird der letzte Sylvester sein, den wir hier verleben, wer weiß, wo wir im künftigen Jahre sind! Wohl in weitläuftigeren Räumen, und Du hast Kuchen und Zucker nicht selbst zu holen. Aber heut hole ihn nur! – Dabei legte er einen Fünfthalerschein auf den Tisch. – Hole nur alles, was zu einem feinen kalten Abendbrot nöthig ist, und dann sei eine vernünftige Frau. Ich sehe nicht ein, – wenn ich mich alle Tage vom Morgen bis Abend quälen muß, will ich auch mein Vergnügen haben. Ist denn das was so Schlimmes, wenn es mal ein Paar Stunden drunter und drüber geht? Sieh die Frau Rendantin an, die lacht, wenn ihr Mann ein bischen angetrunken ist, läßt ihn den Rausch ausschlafen und dann geht das Leben wieder seinen gewöhnlichen Gang. Man ist darum kein Trinker, aber bei besonderen Gelegenheiten sich an einem Gläschen Wein erfreuen, ist wohl erlaubt.

Klärchen sah ein, wenn sie allen Zank und Streit vermeiden wollte, müßte sie sich in diese Theorien fügen, und wollte es einmal in Güte versuchen. Auch hatte die Mutter das Gespräch mit angehört, und war ganz auf des Schwiegersohnes Seite. Klärchen hat zu viel Romane gelesen, sagte sie weise, sie hat sich vom Leben sonderbare Bilder gemacht, denkt alle Menschen sollen Engel sein, und sie ist doch selbst kein Engel. – Günther stimmte lachend ein, und es war sehr gute Stimmung im Hause.

Die Gäste kamen; erst ging es scheinbar sehr fein und anständig her, doch Frauen und Männer wurden gemüthlicher, dann lebhafter und lebhafter, und das neue Jahr ward mit tollem Lärmen begrüßt.

Nur Klärchen war schweigsam, so viel sie auch von den andern geneckt und gereizt ward. Sie gab Unwohlsein vor, was in ihrem Zustande sehr glaublich schien. Im Grunde aber ekelte sie dies rohe Wesen an, ihre Natur war zu edel, um sich in solcher Gemeinheit wohl zu fühlen. Ihr leichtfertiger Sinn hatte wohl nach Lust und Vergnügen, nach vornehmen und hohen Dingen gestrebt, hatte sich auch schlechter Mittel dazu bedient; aber die Gesellschaft, in der sie sich jetzt befand, diese Art und Weise zu leben, konnte ihr durch kein Schlaraffenleben angenehm gemacht werden. Auch war sie in der letzten Woche sehr nachdenklich gewesen. Der Kirchgang am Weihnachtsmorgen, die Gefühle, die er angeregt, hatten ihre Weihe ausgegossen auch noch über die nächsten Tage; eine Unruhe hatte sie erfaßt, daß sie selbst nicht wußte, wie ihr war; aber das fühlte sie, in Essen und Trinken, in schönen Kleidern fand sie die Befriedigung dieser Unruhe nicht.

Als der Rendant sein Maaß getrunken hatte, und die anderen Männer auf dem Höhepunkte der Ausgelassenheit waren, da verfügte die Frau Rendantin die Auflösung des Gelages und niemand hatte etwas dagegen. Günther legte sich ohne Weiteres zu Bette, schlief seinen Rausch aus, und als er am anderen Morgen bleich und mit zitternden Händen kaum die Kaffeetasse halten konnte, demonstrirte er seiner Frau, wie unschuldig ein solches Vergnügen wäre, und wie es nur auf die Frauen ankäme, daß die Männer vernünftig blieben, und so mehr. – Klärchen schwieg, die Erinnerung an den gestrigen Abend und der zitternde Mann vor ihr waren ihr schrecklich, und immer und immer wieder mußte sie an den verlebten Sylvesterabend bei Tante Rieken denken, an Fritz Buchstein – welch ein Mann er war gegen die Männer, die jetzt in ihre Nähe kamen, wie getrost und ruhig Gretchen sein konnte, das hausbackene Gretchen, und wie sie selbst trotz des seidenen Mantels und des Sammethutes in Angst und Schrecken lebte. Daß die Zukunft ihr nichts Besseres bringen könne, war sie sicher. Ja, ihr bangte vor dieser Zukunft, und das bitterste Gefühl dabei war, daß sie ihr Schicksal selbst verschuldet. Wie sie jetzt noch sich retten könne, wußte sie nicht; an den Helfer und Retter dort oben sich zu wenden, fehlte ihr Glauben und Muth; ihr Leben war nun einmal so, sie mußte sehen, wie es abliefe.

Der Januar ging Klärchen mit Nähen von Kindersachen sehr schnell dahin, sie lernte da einen Genuß kennen, der ihr ganz neu war, den Genuß des Stilllebens und des Fleißes. Ihre Gedanken waren bei dem Kindchen, das einst in diesen Kleidern stecken sollte, und süße Freude durchströmte ihr Herz.

Diese Freude des Stilllebens aber sollte ihr nicht lange bleiben. Günther, der in der freudigen Aufregung, in der er sich seit Wochen befand, öfter als je eine Flasche guten Weines trank, that das in seiner eigenen Wohnung, um ungestört und sicher seinen Rausch auskuriren zu können. Oft ging das ganz still ab, oft aber tobte er und lärmte, und Klärchen hatte Mühe und Noth, ihn zur Ruhe zu bringen. So war es Anfangs Februars geworden. Seit acht Tagen war Klärchen unwohl und die Mutter Tag und Nacht bei ihr, um die Hausarbeit zu verrichten, daneben aber auch um den oft angetrunkenen Schwiegersohn zu bedienen. Sie verstand das besser als die Tochter, sie hatte Erfahrung darin von ihrem verstorbenen Manne her, und ihr Gefühl war abgestumpft. Er dagegen war erkenntlich auf jede Weise gegen sie, und darum redete sie immer gegen die Tochter das Wort für ihn, entschuldigte ihn und beschönigte sein Laster, wo sie nur konnte.

Zur Fastnacht bestimmte Günther, trotzdem Klärchen erst wieder einige Tage aus dem Bett war, eine Gesellschaft, und zwar wollte er für diesmal nur die Herren haben. Klärchen war es zufrieden, sie konnte mit der Mutter in der Schlafstube bleiben, und der Anblick von den betrunkenen Männern wurde ihr erspart. Daß es wild hergehen würde, war vorauszusehen.

Und es ging wild her, wilder als da die Frauen dabei gewesen. Klärchen ward angst und bange, wenn sie das Toben und Brausen im Nebenzimmer hörte, und die Mutter hatte genug zu beruhigen. Aber selbst diese machte bald ein bedenkliches Gesicht, denn Teller und Gläser klirrten durch einander, und das Geschrei war nicht mehr das des Uebermuthes, sondern das des Zornes. Beide Frauen stürzten heraus, zwei Männer gingen eben zur Thür hinaus, der Rendant lag an der Erde, und Günther schlug mit beiden Fäusten auf ihn los. Klärchen versuchte es seine Arme fest zu halten, denn schon floß Blut über des Rendanten Stirn, die Mutter war dem Blutenden behilflich sich aufzurichten, und mit Hilfe beider Frauen kam er zur Thür hinaus. Jetzt aber richtete sich die Wuth des Betrunkenen auf Frau und Schwiegermutter; blindlings schlug er zu, und beide konnten sich nicht schnell genug in die Schlafstube flüchten. Dem Riegel waren seine Kräfte nicht gewachsen und er begnügte sich jetzt, seine Tobsucht an Gegenständen in der Stube auszulassen.

Klärchen saß weinend und mit blutender Nase, – dahin gerade war ein Faustschlag gefallen. Die Mutter hielt ihr schweigend das Waschbecken vor. Diese Mißhandlungen wußte sie freilich nicht zu entschuldigen. Ja sie mußte es jetzt geduldig hören, wie Klärchen sie mit Vorwürfen überschüttete, das Laster ihres Mannes so beschönigt zu haben. Klärchen machte in ihrer Heftigkeit viele Pläne. Jedenfalls wollte sie von dem Manne, vor dessen Mißhandlungen sie keine Minute sicher sei. Sie wollte wieder Schneiderin werden, wollte lieber Salz und Brot essen, und so weiter. Sie ließ sich endlich von der Mutter bereden, sich zur Ruhe zu legen, und da Günther nebenan laut schnarchte, konnten sie für jetzt ruhig sein.

Am andern Morgen selbst konnte Klärchen den Mann nicht sehen, die Mutter aber wollte neutral bleiben und wenigstens für eine warme Stube und für Kaffee sorgen. Günther sah sie mit bösem Gewissen an; er hatte wohl eine Ahnung von dem, was er gestern gethan, aber Worte der Versöhnung wollte er nicht sprechen. Er fand es viel bequemer, die Schuld auf beide Frauen zu schieben. Künftig sollten sie ihre Nase nicht in Sachen stecken, die sie nichts angingen, der Rendant hätte ihn schändlich beleidigt und seine Prügel verdient. So ungefähr sprach er. Die Mutter konnte es doch nicht lassen, ihn an Klärchens Zustand zu erinnern, und außerdem, daß sie solche Behandlung nicht gewohnt sei. Günther aber ließ sich auf nichts ein, er war grob und wegwerfend und wollte sein Betragen als ganz gerecht hinstellen.

Klärchen hörte durch die offene Thüre jedes Wort, und ihr Herz wollte brechen. Mit dem Mann konnte sie nicht zusammen bleiben. Aber wie von ihm los kommen? Sie hatte ja niemanden in der Welt, der ihr rathen und helfen konnte. An Tante Rieken dachte sie; aber hatte die sie nicht gewarnt und ihr Unglück vorhergesagt? Zu der wagte sie sich nicht. Aus Furcht auch hatte sie den am Weihnachtsmorgen versprochenen Besuch von Woche zu Woche aufgeschoben, und da sie die Entschuldigung gehabt, daß ihr Mann es verboten, sich dabei beruhigt.

Jetzt kamen für Klärchen trübe Tage. Daß Günther sich fast gar nicht bei ihr sehen ließ, war ihr ganz recht, aber sie war doch zu verlassen, selbst die Frau Rendantin und die anderen Frauen hatten sich seit dem Fastnachtsabend zurück gezogen. An Gelde fehlte es ihr oft, aber zum Glück war die Mutter immer bereit, Günthern etwas abzubetteln; so waren sie wenigstens nie in äußerer Noth. Dies letzte hob die Mutter immer besonders als Trost hervor. Dein Mann ist wohlhabend und darum hat er seine Eigenheiten, die Du tragen mußt. Dein Vater hat mich weit schlechter behandelt, und dabei wußt ich nicht, wovon ich uns satt machen sollte. Du kannst in allen Stücken ohne Sorgen leben und brauchst die Hände nicht zu rühren. – Klärchen entgegnete, sie wollte lieber Salz und Brot essen, ja verhungern, als solche Behandlung dulden und überhaupt solch ein Leben führen. – Du wohl! sagte dann die Mutter wieder, aber Dein Kind? Ich kenne das, ich habe auch so gesprochen; wie ich Dich aber erst hatte, und wie ich schwach und elend wurde, da kriegt ich andere Gedanken. – Ja, das Kind! seufzte Klärchen. – Und das war es auch, was sie geduldig machte. Wohin sollte sie mit dem Würmchen? Sie hätte kaum sich allein ernähren können, wie sollte sie dazu das Kind noch pflegen und ernähren? Sie verschluckte darum manchen Aerger, sie gewöhnte sich sogar, freundlich zu scheinen, weil sie merkte, daß so mit Günthern noch am besten fertig werden war. Daß er oft schimpfte, sie auch wohl in der Betrunkenheit stieß, mußte sie sich gefallen lassen.

In der Kirche war sie einmal wieder gewesen, in der trübsten Zeit, bald nach Fastnacht. Und zwar in die Stephani-Kirche zog es sie. Der wunderbare Eindruck von Weihnachten war ihr wieder vor die Seele getreten. – Aber der Prediger sprach diesmal sehr ernst. Er schilderte die Leiden unseres Herrn und Heilandes, die er erduldet, um uns arme elende Sünder zu erlösen vom ewigen Tode. Dann sprach er vom Zustande eines unbekehrten Sünders, von seiner Angst und Unruhe in der Gegenwart, von der Strafe und dem Gerichte der Zukunft. – Klärchen ward durch diese Predigt so ergriffen, daß sie sich mehrere Tage nicht beruhigen konnte und froh war, als die Zeit den Eindruck zu verwischen schien. Sie war seitdem nie wieder in der Kirche gewesen.

Der Winter verging, der Frühling kam mit seinen schönen Tagen, wo die Luft lau, wo die Veilchen blühen, die Lerchen singen und die Saaten grünen. Klärchen sah von alle dem nicht viel. Um die Freuden der schönen Natur zu genießen, war sie nie gewohnt spazieren zu gehen, und in Kaffeegärten führte sie Günther nicht mehr; er schämte sich ihrer Schwerfälligkeit und ging lieber allein seinem Vergnügen nach. Das war freilich auch anders, als sich Klärchen in romantischen Phantasien die Liebe ihres Mannes gedacht hatte; gerade in diesen Zuständen wollte sie mehr als je auf Händen getragen und vergöttert werden. Aber die gewöhnliche Flitterliebe ohne den wahren festen Grund im Herzen hält nicht weiter hinaus.

Eines Sonnabends Abends – es war Anfangs Mai, – da saß Klärchen am offnen Fenster und schaute auf die rein gekehrte Straße und sah dem fröhlichen Spiel der Kinder zu. Eine Nachbarin drüben kam eben mit zweien von einem Spaziergange zurück. Sie waren ganz mit Blumen beladen. Weißdorn, Primeln und Tulpen blühten lieblich in den kleinen Händen. Klärchen ward bewegt von diesem lieblichen Anblick. Wenn du erst ein Kind hast, dachte sie, gehst du auch mit ihm spazieren, pflückst ihm Blumen, machst ihm Kränze. Ihr Herz schlug froh bei diesen Bildern, und überhaupt hing das Glück ihrer Zukunft jetzt eben so leidenschaftlich an dem Kinde, das sie unter ihrem Herzen trug, als früher an anderen Phantasiegebilden. – Doch spazieren gehen könntest du zuweilen auch ohne Kind und dir so schöne Blumen holen! Ja, heute war es zu schön! sie nahm Hut und Umschlagetuch und wanderte zum Thore hinaus.

Ihr Weg führte sie zu einem Gärtner, einem weitläufigen Verwandten, den sie in ihrer Jugend, ehe sie in Kaffeegärten und Conzerte ging, oft mit der Mutter, mit Tante Rieken und mit Gretchen besucht hatte. Es war ihr wohl, wie lange nicht, zu Sinne, als sie den Grasrain entlang der blühenden Weißdornhecke entgegen ging. O wie die Lerchen dem blauen Himmel entgegen jubelten, und Duft und Lieblichkeit überall und tiefer Frieden! – Sie trat in den Garten. Lichtblaue Iris-Streifen begrenzten die Rabatten, vor dem Haus blühten Tulpen, blaue Männertreue, Ranunkeln und Hyazinthen. In den blühenden Bäumen, dem jungen Grün der Spiräen und Flieder hüpften und sangen Vöglein, und hoch drüber in einem knospenden Kastanienbaume schlug eine Nachtigall in langen, weichen, gehaltenen Tönen. O wie schön ist des lieben Gottes Welt! mußte Klärchen sagen und seufzend hinzusetzen: Wenn er doch auch dein lieber Gott wäre!

Sie wollte in einen Seitenweg einbiegen, trat aber erschrocken zurück, – in einer Fliederlaube saßen Fritz und Gretchen traulich neben einander. Fritz hatte seinen Arm um Gretchen geschlungen und schaute ihr warm in die Augen, diese hatte einen weiß blühenden Spiräenzweig um das Haar geschlungen und sah ganz wie eine Braut aus.

Jetzt erst dachte Klärchen daran, daß morgen Gretchens Hochzeitstag war. Das bewegte sie sehr. Sie suchte sich in dem Bosquet einen einsamen Platz und ließ den Thränen freien Lauf. Nicht aus Neid weinte sie, nein, aus Reue und Kummer über das eigene Unglück. Wie glücklich mußte Gretchen sein, zur Seite solch eines rechtschaffenen Mannes! Ja, Rechtschaffenheit geht über alle Galanterie, dachte sie jetzt. Wenn ich auch rechtschaffen und fromm sein könnte, vielleicht ginge es mir dann besser. Wie fange ich es aber an? Ich weiß es nicht. Und ob mir der liebe Gott helfen kann? Ich weiß es auch nicht. Wer soll mir rathen? Wenn ich an die Fastenpredigt denke, wird mir angst, ich kann sie immer nicht vergessen, und kann mir doch auch nicht helfen. – Sie schlich sich aus dem Garten; brach sich einige Weißdornzweige von der Hecke und ging mit weichem Herzen und feuchten Augen durch den dämmernden Abend. Morgen früh wollte sie in die Stephani-Kirche gehen; und wenn sie auch morgen keine Lust dazu haben sollte –, denn sie kannte den Wechsel ihrer Stimmungen –, sie wollte doch gehen und wenigstens dem lieben Gott dies Versprechen halten.

Und sie hielt Wort und nahm ihren alten Platz in der Stephani-Kirche ein. Der Prediger hielt diesmal eine Frühlingspredigt, er schilderte so warm die Liebe und Freundlichkeit des Herrn und die Schönheit des Frühlings, und knüpfte daran den Frühling einer Seele, die auch dem Herrn entgegenblüht und sprosst und nur von seinem Segen und Gnadenschein Gedeihen erwartet. Klärchen ward durch diese Predigt viel getröstet und gestärkt. Der Herr ist sehr freundlich und gütig gegen die Menschen, vielleicht erbarmt er sich auch deiner und wendet noch das selbstverschuldete Unglück von deinem Leben ab. Er ladet alle Sünder ein, er wird auch dich nicht zurückstoßen! Aber wie sollst du es anfangen, zu ihm zu kommen? Und wie soll er dir helfen? – Klärchen meinte, wenn sie an Hilfe dachte, immer nur die äußere, sie fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging, in den er sie mit hinein ziehen würde. Angst in der Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieben sie Hilfe zu suchen, und da sie recht gut wußte, daß ihr Menschen nicht helfen konnten, wollte sie es mit dem Himmel versuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen Muth dazu, und der Prediger, der so mild und liebreich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm näher zu kommen und sich ihm anzuvertrauen, war ihr höchster Wunsch. Menschen wußte sie außerdem nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke ernste Reden und Ermahnungen hatte sie stets mit Gleichgiltigkeit, Widerspruch und Lachen aufgenommen; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu gestehen, fühlte sie eine unüberwindliche Scheu.

Als der letzte Vers gesungen war, leerte sich die volle Kirche, nur im Chor sammelte sich eine kleinere Anzahl, um das Brautpaar trauen zu sehen. Auch Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gretchens Schicksal veranlaßte sie dazu. – Freilich kamen ihrem Herzen gar sonderbare Gedanken. Wo Gretchen steht, könntest du auch stehen, und was ist das für ein Mann! Sie hatte ihn immer schon bewundert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer eignen Thorheit war sie verblendet und hatte seines Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt stand er da, so schön und männlich, mit so mildem, liebevollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die Augen und ihr Herz war so bewegt. Als der Prediger die Versammlung aufforderte, für das junge Paar mit zu beten, faltete sie die Hände und brachte zum ersten Mal in ihrem Leben etwas wie ein ernstliches Gebet vor den Herrn. Als beim Hinausgehen Fritzens Augen ihrem weichen, theilnehmenden Blicke begegneten, fuhr ein freudiger Schreck in sein Herz, und wenn er dies Herz auch ganz und gar seinem Gretchen geschenkt, so war es doch immer, als ob er Klärchens Seele mit auf seiner Seele tragen müsse. Die heißen Gebete seiner Jugend konnte er nicht verloren geben.

Klärchen dachte darauf, wie sie Bekanntschaft mit dem Prediger machen könne. So geradezu hinzugehen war ihr unmöglich, es mußte sich eine Gelegenheit darbieten, und diese hoffte sie am leichtesten in der Taufe ihres Kindes zu finden. Zu Günther sprach sie noch nicht davon, obgleich sie fühlte, ein jeder Prediger würde ihm gleich sein. Sie fürchtete doch seinen Widerspruch und wollte eine gelegenere Zeit abwarten. Aber mit trostvollen Hoffnungen und Planen beschäftigte sie sich in den stillen Wochen bis zur Geburt ihres Kindes.

Ende Juni genas sie glücklich eines kleinen Mädchens. Günther war sehr erfreut und sehr aufmerksam gegen Mutter und Kind. Klärchen hatte zwar schon in den Wochen vorher eine freudige, wenn auch oft unruhige und zerstreute Stimmung an ihm bemerkt, jetzt kam aber unzweifelhaft die Freude an ihr und dem Kinde dazu. Sie war schöner erblüht als je, und das Kind hatte die großen, blauen Augen und feinen Züge der Mutter. Günther war aufmerksam wie in den ersten Tagen seiner Liebe, schöne Geschenke brachten seine Hände und schmeichlerische Worte entglitten seinem Munde, ja, in einer einsamen Stunde bat er sie sogar um Verzeihung wegen der Vergangenheit und versprach ihr eine goldene Zukunft. Er deutete dabei an, daß sie bald ihren Wohnsitz ändern würden, und forschte dann, wie alt wohl ihr Kindchen sein müsse, um mit ihm eine weitere Reise zu unternehmen.

Klärchen hätte sich jetzt ganz glücklich träumen können, aber die gemachten Erfahrungen ließen sich nicht aus ihrem Gedächtniß verwischen; auch waren Günthers Augen zuweilen so unstet, seine Worte so geheimnißvoll, daß sie Angst vor seiner Nähe hatte.

Als das Kind fünf Wochen alt war, ward es in der Stephani-Kirche getauft, Günther hatte nichts dagegen, er hörte kaum hin, als ihm Klärchen den Vorschlag machte. Aber daß Gretchen Gevatter stehen sollte, schlug er rund ab, er wollte mit den Leuten nichts zu thun haben. Nur das setzte sie durch, daß die Kleine Gretchens Namen bekam.

Zu Klärchens Geburtstag war das kleine Gretchen sechs Wochen alt, und lag süß schlummernd neben der Mutter in der Wiege. Vor dem Sopha stand der Geburtstagstisch, den Günther am Morgen mit Kuchen und Blumen geschmückt. Außerdem hatte er ihr 30 Thaler in Scheinen geschenkt mit dem geheimnißvollen Bemerken: sie sorgsam zu bewahren; sie würde bald Gebrauch davon machen müssen. Klärchen hatte schon zu oft solche Bemerkungen gehört, und hatte das Geld, ohne weiter darüber zu forschen, in ihr Nähkästchen geschlossen. Jetzt war es bald Abend, sie saß am offnen Fenster, die Luft in der Stube war ihr zu eng geworden, aber auch außen war es nicht besser, es war ein schwüler Tag gewesen. Klärchen hatte ernsthafte Gedanken, sie war plötzlich so weit glücklicher als früher, Günther wie umgewandelt, – sollte der liebe Gott wirklich ihre Gebete erhört haben? Ihr Herz war dankbar gestimmt, und sie machte sich das Gelübde, fromm und rechtschaffen zu werden, knüpfte daran aber unwillkürlich die Bedingung des Glücklichseins, und dies Glücklichsein suchte sie immer noch in äußeren Dingen.

Verwundert sah sie mit einem Mal Herrn Reinhard mit noch zwei Männern aus dem Hotel und eilig zu ihr hinüber kommen. Erstaunt ging sie ihnen entgegen. Herr Reinhard fragte ernsthaft nach ihrem Manne.

Ich meine, er ist drüben, sagte Klärchen unbefangen, und erwarte ihn jeden Augenblick. Es ist heut mein Geburtstag, fügte sie, indem sie auf den Festtisch zeigte, hinzu, und er wollte noch mit mir spazieren gehen.

Der Schurke! murmelte Reinhard, und Klärchen fuhr erschrocken zusammen. Sie müssen erlauben, daß wir den Sekretär öffnen, fuhr Reinhard fort, und sogleich machte er sich mit Hauptschlüsseln an das Werk.

Klärchen bat den Herrn Reinhard mit Thränen, ihr zu sagen, was vorgefallen, und Herr Reinhard erzählte nicht mit den feinsten Worten, wie Günther ihn wenigstens um zehntausend Thaler betrogen, wie er schändlicher Weise sein Vertrauen gemißbraucht, seine Handschrift nachgemacht, sein Siegel benutzt, falsche Wechsel ausgestellt, und jetzt wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei. Klärchen, überwältigt von diesen Nachrichten, saß laut jammernd neben der Wiege, Frau Krauter kam dazu, jammerte mit und vermehrte die Verwirrung.

Im Schranke fand man nichts. Klärchen erzählte, daß Günther vor kurzer Zeit viele unnütze Papiere, wie er sie genannt, verbrannt habe.

Während sich zu den genannten Personen noch Wirthsleute und Mitbewohner des Hauses eingefunden hatten, und das kleine Gretchen, vom Lärmen aufgeweckt, laut dazwischen schrie, kam der Postbote und brachte einen Brief für Klärchen. Hastig erbrach sie ihn und las:

»Liebes Klärchen! Ich schreibe in großer Eile. Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich bald in Hamburg und besteige gleich nach meiner Ankunft ein Dampfschiff, das mich nach London und dann weiter nach Amerika bringt. Packe schnell Deine Sachen, Deine Ausstattung kann Dir niemand streitig machen, und komm nach Hamburg mit unserem kleinen Gretchen. In der Vorstadt St. Pauli Nr. 10. wirst Du, wenn Du Deinen Namen sagst, freundlich aufgenommen, wirst alles Uebrige erfahren und eine bequeme Ueberfahrt nach Amerika haben. Ich beschwöre Dich, laß mich nicht im Stich, ich kann nicht leben ohne Dich und ohne unser liebes Kind, ich werde Dich mit offenen Armen empfangen und in unser Hotel führen, da sollst Du fürstlich leben und die Bettelwirthschaft, die Dich jetzt drückte, bald vergessen. – Du kommst! ich zweifle nicht, und bin ewig Dein Eduard Günther.«

Klärchen ließ es willenlos geschehen, daß auch Herr Reinhard den Brief nahm und las. Er ward noch zorniger, als er erfuhr, daß der Betrüger ihm entgangen sei, und fragte Klärchen mit beißenden Worten, was sie zu dem Vorschlag sage. – Diese erklärte, sie wolle lieber mit ihrem Kinde verhungern, als dem Manne folgen. – Als Herr Reinhard merkte, daß Klärchen ganz unwissend in der Sache sei, als er ihren Schmerz darüber sah, ward er etwas milder gegen sie gestimmt, aber die Wohnung mußte sie räumen und die ganze Einrichtung ihres Haushaltes zurücklassen, denn sie konnte nicht leugnen, daß Günther alles angeschafft hatte; nur ihre eigenen Kleidungsstücke und Leibwäsche, das Bettchen und Zeug des Kindes nebst einigen Kleinigkeiten wurden ihr mitzunehmen erlaubt.


Klärchen saß wieder in der kleinen Stube ihrer Mutter. Die zwei Jahre ihrer Abwesenheit waren ihr wie ein Traum, ein Traum, der in Lust und Herrlichkeit begonnen und geendet in Jammer und Noth. Dem schwülen Tage war ein Gewitter gefolgt, das jetzt in einen leisen Landregen endete. Die Mutter war trotz des Regens ausgegangen, um Einkäufe zu machen, denn ihr Haus war ganz leer; und seitdem ihr Klärchen die 30 Thaler im Nähkästchen gezeigt, war sie guten Muthes. Sie lebte nur in der Gegenwart und sagte, wenn es ihr gut ging: Der liebe Gott wird weiter sorgen. Denn sie führte den lieben Gott wenigstens im Munde, wenn sie ihn auch nicht im Herzen hatte.

Klärchen war nicht guten Muthes, sie saß in der dämmernden Stube am Fenster, sah auf die grauen, naßgewaschenen Häuser und auf die fallenden Tropfen, und ihre Augen tropften ebenfalls. Was werden die Nachbarn sagen, dachte sie, wenn sie dich hier wieder sehen, und nun in Schande und Noth; was Gustchen Vogler, die sie manchmal in ihrer vornehmen Wohnung besucht und ihr Loos gepriesen und beneidet hatte? Was wird Tante Rieke sagen, die ihr das alles vorher gesagt? Aber Mitleiden wird sie doch mit dir haben. Hat sie doch neulich ganz freundlich zur Mutter von Klärchen gesprochen, hat sich gefreut, daß sie ihr kleines Mädchen Gretchen genannt hat, und daß sie Klärchen einigemal in der Stephani-Kirche gesehen.

Ja, die Stephani-Kirche! – dachte Klärchen weiter, es hat dir auch nichts geholfen; der liebe Gott hat deine Gebete nicht erhört, er hat dir die Strafe für dein früheres Leben bald geschickt, er ist ein strafender Gott. Klärchen konnte nicht zu ihm aufsehen, aber ihr vergangenes Leben ging jetzt vor ihrer Seele vorüber, die zwei letzten Jahre kamen ihr wie ein langes Leben vor.

Es war jetzt Jahreszeit, als Fritz Buchstein zurückkam, als sie mit Geringschätzung auf ihn schaute und um den Studenten buhlte. Was hätte sie denn gehabt, wenn sie den errungen? O sie wußte jetzt, daß rohe, gottlose Männer eben so gegen ihre Frauen sind, wenn sie auch in den Liebesmonaten eine sanfte Sprache führen. Sie hatte es erfahren, daß schöne Kleider und ein vornehmes, bequemes Leben keine Freude sind, wenn das Herz an Kummer und Verdruß zehren muß. Sie dachte weiter an ihr Leben bei der Generalin, wohin der Leichtsinn sie dort geführt, und hielt beide Hände vor das Gesicht vor innerer Schaam. Wie ganz anders dachte sie jetzt über den Grafen, diesen leichtfertigen, wortbrüchigen Menschen, der sie beinahe in den Abgrund getaumelt. Ja, sie fühlte so etwas wie Fügung Gottes, daß sie vor noch tieferem Fall und äußerster Schande bewahrt geblieben. Mit welchem Leichtsinn aber hatte sie sich ihrem Manne in die Arme geworfen! Sie hatte gewußt, daß er leichtfertig, ja sie zweifelte eigentlich nicht an der Tante Aussage, daß er schlecht und herzlos sei; aber sie meinte damals, wenn es ihr äußerlich wohl ginge, wäre sie glücklich. Und wie unglücklich und trostlos hatte sie sich an seiner Seite gefühlt, wie war jetzt ihre ganze Zukunft zerstört! Ob dir der liebe Gott dennoch helfen könnte? kam ihr ein heller Gedanke in der Nacht ihres Herzens. Die Tante hatte oft gesagt: Aeußere Noth ist kein Unglück, der Herr kann uns dabei doch Frieden und Freude schenken. Sie schaute auf ihr Gretchen, das so sanft in der Wiege schlief, und fühlte eine Ahnung höherer Freude, als alle irdischen Genüsse ihr bis jetzt geboten. Für das Kind leben, arbeiten, das soll mein Trost sein! O wie süß es jetzt seine Aermchen streckte und dehnte und seine Aeuglein aufthat! Klärchen nahm das Kind an ihre Brust und vergaß allen Kummer. Sie nahm sich vor, alle Schaam zu überwinden und morgen gleich neue Kundschaft als Schneiderin zu suchen, die 30 Thaler wollte sie sparen und für Nothfälle aufheben, damit es ihrem Kinde nie am Nöthigsten gebräche.

Aber es sollte anders sein. Klärchens noch zarte Gesundheit war von den letzten Stürmen so erschüttert, daß sie am anderen Morgen ihr Bett nicht verlassen konnte; ja, nach einigen Tagen hatte sich ein so heftiges Nervenfieber entwickelt, daß sie besinnungslos dalag. So vergingen vierzehn Tage, sie wußte nichts davon, wenn man ihr das Kind an die Brust legte, sie wußte nicht, daß Tante Rieke und Gretchen oft pflegend an ihrem Bette saßen, sie hörte nichts von den Todesbefürchtungen, die der Arzt in ihrer Nahe aussprach. Endlich kam die glückliche Krisis, Klärchen erlangte ihr Bewußtsein wieder, die Tante und Gretchen nahten sich ihr vorsichtig; Klärchen konnte vor Schwäche nicht reden, aber lächelte dankbar. Man mußte ihr das Kind zeigen, sie nahm es an ihr Herz, sie war so glücklich und fühlte einen Himmel in diesen Umgebungen. Von Tage zu Tage ward sie kräftiger und fühlte sich bald wie neugeboren.

Aber auch für ihre Seele begann ein neues Leben. Eine Genesungszeit ist oft eine segensreiche, da ist der Boden locker und der Same findet eine gute Statt. Frau Bendler wußte das, und benutzte es. Sie sprach ihr Trost und Muth zu; Klärchen hörte gern, denn kein Vorwurf, kein hartes Wort traf ihre Vergangenheit, nur der Gegenwart, der Zukunft sollte sie jetzt leben. Auch der Stephani-Prediger kam, sie hatte der Tante von ihrer früheren Sehnsucht nach ihm gesagt. Warm und eindringlich sprach er von der Liebe und Gnade unseres Herrn, und seine Worte machten immer tieferen Eindruck auf Klärchens Herz. Ja, der Herr gab dem Samen, der hier gesäet wurde, ein gnädiges Gedeihen. Klärchen lernte ihren Heiland kennen, sie fühlte, daß sie trotz ihrer vielen Sünden sich ihm doch nahen dürfe, sie fühlte, daß alle Lust und Herrlichkeit der Welt nichts ist gegen den Frieden, den er uns beut. Dieser Frieden ward nur gestört durch die Erinnerung an die Vergangenheit. Ihre Schuld kam ihr oft gar groß vor, aber wenn sie sah, wie die Tante und Gretchen, schwache Menschen wie sie selbst, ihr nur mit Liebe und Theilnahme ihren Leichtsinn, ihre Lieblosigkeit und Verspottung vergalten, wie vielmehr mußte sie bei dem Herrn Verzeihung finden.

Ja, der Herr nimmt an ihr reuevolles Herz. Aber auch allen Menschen, denen sie Unrecht gethan, möchte sie ihre Reue sagen. Vor allen zogen ihre stillen Gedanken sie zu Fritz Buchstein hin; sie hätte wissen mögen, ob er sie nicht gar sehr verachte und gering schätze, ob sie Gretchens Worten trauen und je sein Haus besuchen dürfe, sie hätte ihm gern ihr demüthiges Herz gezeigt und ihn um Verzeihung für ihr liebloses Betragen gegen ihn gebeten. Doch nach ihm zu fragen wagte sie nicht, und als Gretchen einst erwähnte: Fritz warte nur auf Erlaubniß, seinen Krankenbesuch zu machen, konnte sie kaum vor innerer Bewegung diese Erlaubniß geben.

Bald darauf, – Klärchen war allein mit ihrem Kinde im Zimmer, – öffnete sich die Thür und Fritz trat ein. Klärchen hatte eben sinnend in den letzten Abendschein geschaut und gedacht, ob Fritz wirklich kommen würde, als er plötzlich vor ihr stand. Sie erhob sich erschrocken vom Stuhl, er aber nöthigte sie zum Sitzen und bot ihr einen freundlichen guten Abend. Als er ihr so mild und theilnehmend in die Augen sah, ging ihr das Herz über, sie konnte keine Worte finden, nahm seine Hand mit beiden Händen und weinte bitterlich. Das war zu viel für Fritz, er machte sich los und trat schweigend an das Fenster. Die Hand, die sie mit Thränen benetzt, legte er auf sein klopfendes Herz und flehte um Kraft. Fest und ernst setzte er sich dann zu ihr, sprach tröstliche Worte zu ihr, aber berührte mehr ihr äußeres Leben. Klärchen, die da meinte, sie hätte zu heftig ihre innere Bewegung kund gethan und ihn dadurch verletzt, nahm sich zusammen und versuchte, ruhig und gelassen zu sprechen. Das kleine Gretchen ward der Gegenstand der Unterhaltung. Fritz sagte, wie er und Gretchen auch solcher Freude entgegen sähen, wie dann die Kinder zusammen spielen und groß werden könnten. Die Tante und Gretchen kamen jetzt hinzu, und Klärchen athmete leichter, die Unterhaltung ward ganz unbefangen. Die Tante sprach zu Fritz von Klärchens Wunsch, die Scheidung von Günther so schnell als möglich gerichtlich zu machen, was bei den vorliegenden Umständen nicht schwer sein konnte. Klärchen sprach dann von ihren Lebensplänen, daß sie wieder nähen wolle und mit Gottes Hilfe ihr Kind ernähren und erziehen. Sie drückte bei diesen Worten ihr Gretchen innig und zärtlich an das Herz und bemerkte nicht, wie der Tante Blicke wehmüthig auf dem Kinde ruhten, dessen Augen so groß aus dem kleinen weißen Gesichtchen herausschauten. Der Mutter schwere Krankheit hatte natürlich auch das Kind halb verkommen lassen; alle Sachverständige fürchteten für sein Leben, und nur Klärchen ahnete nichts von dem gefährlichen Zustande.

Am nächsten Sonntag ging sie zuerst in die Stephani-Kirche. Ihr Herz war voll seliger Dankbarkeit und voll heißen Gebetes. Das war ein segensreicher Morgen. Sie konnte getrost dem Herrn nahen und erwartete ihren Frieden nicht mehr von äußerem Wohlergehen, sondern nur in der Gnade und Liebe des treuen Herrn.

Nach der Kirche rüstete sie sich zu ihrem ersten Gang in die Stadt. Es war ein schwerer Gang. Sie sagte niemanden wohin, sie ging zur Generalin. Diese Frau, gegen die sie sich am schwersten vergangen, deren Güte und Freundlichkeit sie mit schmählichem Undank belohnt hatte, mußte sie um Verzeihung bitten. Mit klopfendem Herzen stieg sie die Treppe hinauf, zog sie die Klingel. Der alte Bediente, der ihr eigentlich immer gut Freund gewesen, machte ihr jetzt durch seinen freundlichen Gruß den besten Muth. Als er ging, sie zu melden, stand sie allein in dem ihr wohlbekannten Vorzimmerchen. Der Nähtisch, vor dem sie so oft gesessen, stand noch an demselben Platz, der wohlbekannte Arbeitskorb darauf. Sie sah sich dort im Geiste sitzen mit all ihrer Eitelkeit, mit ihren tollen Gedanken und wunderlichen Plänen für die Zukunft. Ein schnelles Roth flog über ihre Wangen. Wie schämte sie sich der Vergangenheit, wie schnell hatte sich die Zukunft strafend für sie enthüllt, wie bangte ihr vor den ernsten Worten der Generalin, und wie trieb es sie doch wieder, ihr Herz zu erleichtern!

Die Generalin war indessen sehr schwankend, ob sie Klärchen annehmen sollte oder nicht. Sie hatte von ihrem Schicksale gehört, fand es wohl verdient und glaubte, daß jetzt nur äußere Noth und Bitte um Unterstützung Klärchen hergetrieben. Sie schämte sich aber fast vor dem Bedienten, der hatte so theilnehmend Klärchen genannt, der schien gar nicht zu zweifeln, daß sie vorgelassen würde, und sie gab die Erlaubniß.

Klärchen konnte vor Bangigkeit erst nicht reden, sie nahm nur der Generalin Hand und küßte sie. Diese sagte mit etwas kaltem Tone: Ich habe von Ihrem Unglück gehört und bedaure Sie.

Ich bin jetzt nicht unglücklich, gnädige Frau, unterbrach sie Klärchen schüchtern, nicht so unglücklich, als da ich bei Ihnen war. – Die Generalin machte ein verwundertes Gesicht, und Klärchen fuhr fort: Ich bereue meinen Leichtsinn, und hoffe, ich werde mit Gottes Hilfe anders werden, ich konnte es nur nicht lassen (bei diesen Worten wurde ihre Stimme zitternd und Thränen traten in ihre Augen), ich konnt es nur nicht lassen, vor allem erst Ihre Verzeihung zu erbitten; ich wage es kaum, es war zu schlecht, o Gott! ich habe sie ja bestohlen. –

Klärchen konnte nicht weiter reden, und die gutmüthige Frau Generalin war so bewegt von dieser unerwarteten Scene, daß sich ihre Gefühle plötzlich wandten, und sie die bleiche, junge Frau in den herzlichsten Worten ihrer Verzeihung versicherte. Sie unterhielt sich noch weiter mit ihr, fragte nach ihren Plänen für die Zukunft, und als sie hörte, daß Klärchen wieder schneidern wolle, erbot sie sich, ihr selbst Arbeit zu geben und ihr auch Kundschaft zu verschaffen.

Klärchen war gerührt von dieser Güte. Sie pries es als eine Gnade Gottes und als die Erhörung ihres Gebetes von heut Morgen in der Kirche, wo sie zum Herrn so dringend gefleht, ihr doch die Theilnahme und Liebe guter Menschen wieder zuzuwenden, weil sie doch noch ein gar zu schwankendes Rohr sei und leicht muthlos werden könne: aber die Freude, bei der Frau Generalin im Hause arbeiten zu dürfen, müsse sie erst mit der Zeit verdienen, sie müsse sich jetzt noch zu sehr schämen und fürchten, ihre Wohlthäterin könne ihr noch nicht trauen.

Diese aufrichtige Reue machte die Generalin immer gütiger, und Klärchen schied von ihr das Herz voller Trost und froher Hoffnungen. Aber der Herr wollte sie lehren, gar keinen Trost bei Menschen, sondern bei ihm allein zu suchen, und führte sie noch schwere Wege.

Als sie nach Hause kam, hatte ihre Mutter das kleine Gretchen auf dem Arm, und Klärchen bemerkte zum ersten Mal, daß ihr Kindchen nicht so aussah wie andere Kinder dieses Alters. Ein jäher Schreck fuhr durch ihre Seele, sie nahm es, sah ihm in die großen, blauen Augen, faßte die welken Hände und sah flehend zum Himmel auf. Nein, das kann der Herr nicht thun, das könntest du auch nicht ertragen! dachte sie. Vielleicht will er nur deinen Glauben prüfen, und du willst nicht aufhören zu bitten.

Sie forschte bei der Mutter und bei der Tante und anderen Bekannten nach deren Meinungen über das Kind, und es war ihr Balsam, zu hören, wie schwächliche Kinder oft leichter über die ersten Jahre hinkämen, als starke und vollsäftige. Ach, dachte sie, du willst es sorgsam pflegen und hüten, und der liebe Gott wird das segnen.

Daß sie, als sie wieder zum Nähen ausging, Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlassen mußte, wurde ihr sehr schwer; doch die 30 Thaler waren zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Menschen erwarteten, daß sie ihre hergestellten Kräfte zur Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht schwer, sich einen Wirkungskreis zu verschaffen; ja bald ward er so groß, daß sie nicht allen Anforderungen genügen konnte. Frau Krauter war sehr glücklich darüber; zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in den Mund, sie war aber gewohnt, nicht weiter zu denken.

Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der Woche nähte sie in den Häusern, jeden Sonntag ging sie in die Stephani-Kirche, die Feierstunden, die ihr blieben, widmete sie der Pflege ihres Kindes. Von einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Scheidung von ihrem Manne, hatte sie der Herr selbst befreit. Das Schiff, auf welchem Günther sich eingeschifft, war im Kanal gescheitert, und er selbst hatte den Tod und das Ende seiner Pläne in den Wellen gefunden. So hätte sie sich in ihrem Stillleben ungestört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können, wenn nur ihr Kind frisch und gesund gewesen; aber die bange Sorge saß ihr wie ein Stachel im Herzen, und ihr Glaube war noch zu jung und schwach, um willig ihr Liebstes zu opfern und wie Abraham zu rufen: »Herr, hier bin ich.«

Es war am ersten Adventssonntag. Klärchen war früh in der Kirche gewesen und noch erfüllt von der herrlichen Predigt, erquickte sie sich an der sonntäglichen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Rieken gegangen, sie saß allein in der Stube, ihr schlummerndes Gretchen auf dem Schooße. Schneeflocken fielen leise nieder, Klärchen schaute still hinein, es war ihr, als ob sie durch die weiße Decke doch die ganze Herrlichkeit des Himmels sähe; sie fühlte eine Glückseligkeit von da oben sich in ihr Herz hinabsenken, wie sie nie gefühlt. Sie faltete die Hände: O Du lieber himmlischer Vater, halte mich so wie Du mich in diesem Augenblicke hältst, ich fühle mich an Deinem Herzen, ich könnte Dir alles geben, ja auch das Liebste hier. Sie sah auf ihr bleiches Kind, aber fühlte eine selige Verklärung im Herzen. Da schlug das kleine Gretchen die matten Augen auf, die Mutter drückte es heiß an ihr Herz und schluchzte: O Herr, aber gieb Du Kraft! ich bin schwach, sehr schwach! Sie fühlte die Verheißung vom Tode ihres Kindes, und ihr Herz konnte sich beugen.

Aber dieser seligen Stunde folgten viele bange, sie fing wieder an zu zagen, zu ringen, zu hoffen, auf Mittel zu sinnen, wie dem Kinde zu helfen sei. Besonders glaubte sie, daß ihre eigne Pflege nöthig sei, und ging deswegen nicht zum Nähen aus, wie auch Frau Krauter darüber böse war; denn wenn Klärchen meinte, im Hause eben so viel verdienen zu können, merkten sie bald an der Kasse, daß dem nicht so war. Stundenlang trug sich Klärchen mit dem Kinde, oder saß von Kummer und Wachen ermattet mit müßigen Händen.

Bis vierzehn Tage vor Weihnachten ging es leidlich, der Hausstand hatte noch nicht Mangel gelitten, da trat aber statt des bisherigen milden Wetters strenge Kälte ein, und Holzmangel machte sich bitter fühlbar. Tante Rieken wagte Klärchen nicht anzusprechen, weil sie ja durch eigne Schuld in diese Verlegenheit gekommen war, und auch die Mutter hatte nicht Muth dazu, weil Tante Rieke ihr Weihnachten schon die Miethe geben mußte. So ward denn für jetzt beschlossen, Klärchens Flitterstaat zu verkaufen, den sie um alles in der Welt doch nicht wieder getragen haben würde. Frau Krauter war sehr zufrieden damit. Wir helfen uns noch einige Wochen hin, dachte sie, länger kann das Würmchen nicht mehr leben, und dann ist Klärchen doppelt fleißig und die Noth hat ein Ende. Der schwarze seidene Mantel und der Sammethut machten den Anfang, dann folgten allerhand Kleinigkeiten, für die aber sehr wenig eingenommen wurde, und da Tag und Nacht geheizt werden mußte, auch außer Essen und Trinken noch Medizin und allerlei andere Dinge zu beschaffen waren, so war bald die Kasse wieder so leer wie zuvor, und Klärchen stand am dritten Weihnachtstage trostlos vor den leeren Kommodenkasten. Noch fand sich einiges Unbedeutende, das sie sich eigentlich schämte auszubieten, aber die Mutter brachte einen Thaler dafür. Das Schlimme bei diesem Verkaufen war nur, daß Klärchen für den Flitterstaat nichts Derbes und Festes in der Stelle hatte. Ein Deckentuch war ihr einziges warmes Kleidungsstück und hatte auch bei dem milden Wetter ausgereicht; jetzt hatte sie weder einen Mantel, noch ein warmes Kleid, und konnte kaum die warme Stube verlassen.

Aber auch diese Stube war nicht mehr warm zu machen; am Sylvester-Morgen blieb Frau Krauter im Bett liegen, um nicht zu frieren, und Klärchen ging in den Holzstall, um noch einmal Nachlese zu halten, obgleich sie gestern Abend schon sehr genau eingesammelt hatte. Sie fand einige Splitterchen, kochte noch einmal Kaffee und für Gretchen einen Brei. Die Stube ward kaum warm. Klärchen fragte nichts nach der Kälte, aber Hilfe mußte nun geschafft werden, das Kind durfte nicht frieren. Vor allen Dingen zog sie selbst ihren einzigen wollenen Unterrock aus, machte eine Kappe davon, hüllte das Kind da warm hinein und trug es so im Deckentuch in der kalten Stube. Um noch etwas unter dem dünnen wollenen Musselin-Kleide zu haben, hatte sie den weißen Unterrock mit der Frisur angezogen, der aus ihrer Mädchenzeit, jetzt aber dünn und verwaschen, kaum noch zu Futter nutzbar, in einer Ecke lag. Sie kämpfte lange, ob sie zu Tante Rieken gehen sollte, oder vielmehr zu Buchsteins; denn schon seit acht Tagen war die Tante dort, weil Gretchen an einer bösen Grippe niederlag. Sie entschied sich zum Gehen, die Noth war zu groß, ihre Stube ward immer kälter, die Mutter jammerte nach Essen, und sie selbst und ihr Kind waren hungrig. O wenn sie nur Kraft zum Beten gehabt hätte! Aber sie war matt und schwach, konnte sich nicht erheben, und trug all dies Elend als eine wohlverdiente Schuld.

Der Nordwind pfiff durch ihre dünnen Kleider, an allen Gliedern bebend trat sie zu Buchsteins in das Haus. Fritz nahm eben dem Lehrjungen einen Korb mit Spähnen und Holzabfällen ab, die er in der Werkstatt aufgeräumt. Klärchens Blicke sahen unwillkürlich verlangend darauf. Fritz, der für Klärchens Augensprache immer noch ein feinfühlendes Verständniß hatte, verstand auch diesen Blick. Ein heißes Weh ging durch sein Herz. Sie ist in Noth, dachte er, sie sieht bleich und kümmerlich aus, und ihr habt sie vergessen.

Er führte sie in die Stube. Gretchen hatte zum erstenmal das Bett verlassen und saß in Betten und Mäntel gehüllt im Lehnstuhl, Vater Buchstein und die Tante saßen neben ihr, freueten sich ihrer Genesung, der sie mit einiger Besorgniß entgegen sahen, weil der sehr heftige Husten in Gretchens Zustande was Angstvolles hatte. Die Tante erschrak, als Klärchen als ein so sprechendes Bild des Jammers und des Elendes in die Stube trat. Fritz stellte ihr einen Stuhl an den Ofen, sie setzte sich, aber immer noch flogen ihre Glieder vor Frost.

Wie gehts Euch denn? fragte die Tante besorgt.

Die Mutter liegt im Bett, und mein Gretchen – hier stockte Klärchens Stimme.

Warum hast Du keinen Mantel um? – fuhr die Tante fort – was hast Du denn an? Sie hob unwillkürlich das dünne Kleid und den wohlbekannten Frisurenrock auf. Ach Gott! nichts weiter? sagte die Tante erschrocken, warum denn keinen wollenen Rock?

Klärchen legte beide Hände vor die Augen. Ich habe keinen, schluchzte sie, und habe nichts, nichts!

Fritz trat an das Fenster, er konnte seinen Augen nicht gebieten. Gretchen bat die Tante, welche Kleidungsstücke sie für Klärchen holen sollte; aber Klärchen sagte leise weinend:

O nichts für mich, nur etwas Holz und Essen für meine Mutter und mein Kind.

Fritz eilte hinaus. Der Korb mit dem Holze stand noch dort, alles mögliche aus der Speisekammer packte er hinzu und eilte nun voran in Klärchens Wohnung. Wie fand er es hier! öde und kalt, das Kind weinend, die Großmutter klagend. Mit zitternden Händen machte er selbst Feuer, stellte Wasser dabei, und als Tante Rieke mit dem eingekleideten Klärchen in die Stube trat, hörte diese wenigstens das tröstliche Knistern im Ofen. Sie sah ihn so demüthig und dankbar an, er konnte den Blick nicht vertragen, sein Gewissen machte ihm Vorwürfe, daß er sie darben ließ; freilich war sein Gretchen in den Tagen schwer krank gewesen, und seine Zeit durch die Pflege hingenommen, aber daran dachte er jetzt nicht, sondern nur an seine Schuld.

Als er darauf den Abend allein saß und dem neuen Jahr entgegen wachte, – denn sein alter Vater war jetzt sehr kränklich und auch die Tante von den vorhergegangenen Nachtwachen angegriffen, – da gingen seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Es waren zwei Jahr, daß er zu Klärchen die warnenden Worte gesprochen, – wie hatte sich seitdem alles geändert! Er fühlte dankbar, daß der Herr seine Gebete erhört, an der Seite seines treuen Gretchens war er von aller Unruhe des Herzens geheilt, und wenn auch die Jugenderinnerung zuweilen wunderlich durch seine Seele klang, so hatte das nichts Schmerzliches mehr. Klärchen war der Welt entfremdet und dem Himmel gewonnen; Fritz flehte zum Herrn, daß er alle ihre Herzen verklären möge, daß er sie einen Weg führe zum himmlischen Jerusalem und dort oben ewig selig vereinigt halte.

Während Fritz so mit seinen Gedanken allein war, saß Klärchen ebenso an der Wiege ihres hinwelkenden Kindes. Sie war matt und krank, ihre Glaubenswelt schwach und ohne Halt, das Leben war ihr trüb und der Himmel fern, ihr einziger Trost war das Kind, ihr einziger Gedanke: So grausam kann Gott nicht sein, dir dies zu nehmen. Und doch kann er es, dachte sie angstvoll, und du hast es verdient! – Das Leben lag wie eine schwere Schuld hinter ihr, und der erlösenden Liebe wagte sie sich nicht zu nahen. In die Kirche war sie nicht gekommen, die Tante und Buchsteins hatte sie lange nicht gesprochen, so fehlte es ihr an jedem stärkenden Zuspruch, und innerlich und äußerlich welkte sie dahin.

Am anderen Morgen stand Frau Krauter trotz der warmen Stube nicht auf, sie fühlte sich wirklich krank, und als es in den nächsten Tagen zunahm, schickte die Tante einen Arzt. Der erklärte es für eine nervöse Grippe. Klärchen hatte nun doppelt zu pflegen, und da die Tante immer wieder an Gretchens Krankenbette gebunden war, stand sie ganz allein. Nur Fritz kam zuweilen; aber ernst und schweigsam war er, Klärchen hielt das für eine verdiente Nichtachtung, wagte ihn kaum anzusehen und zu danken für alles, was er ihr zur Erleichterung that und schickte.

So gingen ihr die Tage wie im dumpfen Traume hin. Nach drei Wochen erklärte der Arzt den Zustand der Mutter für besser, zugleich aber ward sein Gesicht beim Anschauen des Kindes immer bedenklicher. Klärchen empfand große Qualen; je mehr sie das Kind hegte und pflegte, je furchtbarer ward ihr der Gedanke seines Todes. Eines Abends wollte es die Brust nicht mehr nehmen und hing matt das Köpfchen; wie ein Schwert fuhr der Schmerz durch Klärchens Brust. Sie wußte in der Angst nicht was beginnen; der liebe Gott will nicht helfen, vielleicht können es Menschen. Sie stürzte zur Tante, aber bei Buchsteins war Angst und Verwirrung, der alte Benjamin stand mit gefalteten Händen im Hause, Gretchen lag in schweren Kindesnöthen. Klärchen lief zu Gustchen Vogler, lief zum Arzt; der fand das Kind freilich sehr krank, er hatte es aber nicht anders erwartet. Gustchen blieb die Nacht, machte Thee, wärmte Tücher, und hörte Klärchens Klagen an. Die Nacht war so lang, dichte Schneeflocken hielten die Dämmerung am Morgen noch länger auf. Endlich ward es Tag. Klärchen hielt laut jammernd das sterbende Kind auf dem Schooße, als die Thür sich öffnete und Tante Rieke eintrat.

Eben stirbt mein Kind! rief Klärchen verzweiflungsvoll.

Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, sein Name sei gelobt ewiglich! – sagte die Tante bewegt.

Nein, nein, rief Klärchen und küßte den letzten Athemzug von des Kindes Lippen.

Ja, ja, sagte die Tante. Klärchen, laß uns beten, wir sind jetzt beide kinderlos, – Thränen erstickten ihre Stimme, – auch mein Gretchen ist hinübergegangen.

Klärchen starrte sie an. Ja, fuhr die Tante fort, laß uns den lieben Herrn im Himmel bitten, daß er uns Kraft giebt, daß er uns tröstet.

Der liebe Herr im Himmel? stöhnte Klärchen; aber ihre Hände falteten sich, die seligen Stunden die sie mit diesem Herrn schon verlebt hatte, nahten sich ihr plötzlich wie Trostes-Engel. Am ersten Advent hatte ja ihr Kind eben so bleich auf ihrem Schooße geruht; damals hatte sie Kraft, es dem Herrn willig hinzugeben. O Herr, hilf mir! flehte sie, und der Herr half. Ja wunderbar, schnell, augenblicklich! eine selige Erhebung fühlte sie im Herzen, der düstere Traum, die Angst war vorüber. Sie konnte mit der Tante beten, sie konnte mit ergebenem Herzen heiße Thränen weinen.

Und diese Thränen flossen noch oft, aber sie lösten die Last ihres Gewissens und machten sie zum Kinde Gottes.


Klärchens äußeres Leben war bald wieder im alten Geleise. Sie ging aus zum Nähen; weil sie gesund war, und nichts sie mehr ans Haus fesselte, wollte sie auch wieder arbeiten. So still und einförmig ihre Tage aber auch äußerlich hingingen, so warm und lebendig war es ihr im Herzen: ihre Gedanken zogen immer mehr dem Himmel zu, dahin, wo ihr Kindchen mit den Engeln spielt, und der Himmel kam zu ihr hernieder mit seinem Frieden, seiner Seligkeit. Sie verlangte und hoffte von diesem Leben nichts weiter, ja, wenn sie des Abends oder des Sonntags bei der Tante war, diese sie mit Liebe und Vertrauen überhäufte, und wenn gar Fritz dazu kam, mit ihnen sprach, ihnen vorlas, und sie einen theilnehmenden Blick von ihm erhaschte, da meinte sie, so glückliche Tage nicht verdient zu haben, und bat Gott, sie ihr bis zum Lebensende so zu erhalten.


Der Sommer ging vorüber, auch der halbe Winter. Am Sylvester-Abend saßen Klärchen, Fritz und die Tante beisammen, es wurde nicht gescherzt und fröhlich geplaudert, aber alle drei waren im Herrn selig vergnügt. Fritz, obgleich er es nicht wagte, die Wünsche seines Herzens in die Wirklichkeit hinaus zu denken, ahnete doch, was der Herr mit ihm vorhätte. Unter schweren Kämpfen hatte er ihm einst sein thörichtes Herz und seine Jugendliebe übergeben, verklärt sollte er diese Liebe aus seiner Hand zurück erhalten. Als er Klärchen gute Nacht wünschte und den Segen des Herrn zum neuen Jahr, da konnte er seiner Stimme nicht gebieten, und Klärchen fühlte den Ton in ihrer Seele. O Gott! sie wagte es ja kaum, in seine reinen, lichten Augen zu schauen, sie hatte ihn nur in ihr Gebet eingeschlossen und ersehnt, er möchte ihr nicht länger zürnen.

Frau Krauter, die seit der schweren Krankheit sich nie wieder ganz erholt und immer gekränkelt hatte, mußte sich nach Neujahr legen, und Klärchen durfte sie nicht verlassen. Doch ward ihr eine lange Krankenpflege diesmal erspart, ein Lungenschlag machte der Mutter Leben schnell ein Ende.

Klärchen war nun eine Waise. Und doch nicht, – die Tante nahm sie nicht allein an ihr Herz, auch in ihr Haus, und ward ihr eine wahrhafte Mutter. Als der Frühling draußen sproßte, saß Klärchen in Gretchens Fenster neben blühenden Schneeglöckchen. Der alte Benjamin hatte sie ihr gebracht; ja, seine Liebe zu Gretchen war auf Klärchen übergegangen, und Klärchen hatte mit ihm wieder scherzen und plaudern und fröhlich singen gelernt. Der Staarmatz rief: »Klärchen, so recht!« und mit dem Dompfaffen sang sie: »Lobe den Herrn, o meine Seele!« – Fritz arbeitete rüstig in der Werkstatt, lauschte zum Fenster hinaus, und sein Herz schlug hoch auf, wenn er Klärchens blaue Augen sah, so rein, so kindlich und verklärt, wie sie ihm auf seinen Wanderungen vorgeschwebt. Als aber der Frühling immer schöner hervorbrach, Blüthen und Blumen sich entfalteten, konnte sich auch Fritz nicht länger halten, und Klärchen durfte den ganzen Himmel seiner Liebe schauen.

Sie ist jetzt Frau Meisterin, sie ist stolz auf ihren Stand und trägt nur dunkle Strümpfe, feste Lederschuh und ein einfaches Kleid. Sie ist neu und schöner erblüht, ist die Freude ihres Mannes und der Segen ihres Hausstandes. Der alte Buchstein sitzt im Lehnstuhl und wiegt sein jüngstes Enkelchen auf den Knieen, Benjamin führt ein kleines blondes Gretchen zur Tante hinüber, Klärchen sitzt unter dem offenen Fenster der Werkstatt und singt mit schöner Stimme:

Lobe den Herrn, o meine Seele,
Ich will ihn loben bis in Tod!
Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,
Will ich lobsingen meinem Gott;
Der Leib und Seel gegeben hat,
Werde gepriesen früh und spat.
Halleluja, Halleluja.

Selig, ja selig ist der zu nennen,
Deß Hilfe der Gott Jakob ist,
Welcher vom Glauben sich nicht läßt trennen
Und hofft getrost auf Jesum Christ.
Wer diesen Herrn zum Beistand hat,
Findet am besten Rath und That.
Halleluja, Halleluja.


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