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I.
Die beiden Pfarrhäuser


Gott grüß Dich, Alter! Schmeckt das Pfeifchen?« So trat mit fröhlichem Angesicht Ludwig zu seinem Freunde Andreas in das Zimmer. Ich sage Dir aber, der Himmel ist blitze blau, nun mache Dich flott:

Der Mann muß hinaus!

Dabei machte er die Bewegung des Kegelschiebens und schloß: Die andern sind schon fort und bestellen bei Gustchen den nöthigen Kaffee und Kuchen, Taback et caetera.

Ludwig, führe mich nicht in Versuchung, entgegnete Andreas ärgerlich. Ich habe heut schon den zweiten Mahnbrief von meinem Bruder erhalten, meinen Onkel den Pfarrer in Auen aufzusuchen.

Der Pfarrer Grün in Auen ist Dein Onkel? rief Ludwig verwundert. Und der Amtmann dort ist ja mein Onkel. Ich sage Dir, ein Amtmann und ein Pastor, wie sie im Buche stehn. Eine Hauptkomödie ist es, wenn sie zusammen sind. Mein Onkel ist ein ehrlicher biederer Kerl, ein ungeschliffener Edelstein, der Pastor ein Erzpietist: ich glaube, der liebe Gott hat die beiden den andern Leuten zur Kurzweil da nebeneinander gebracht, die kostbarsten Anecdoten könnt ich Dir von ihnen erzählen.

So etwas ist mir nicht lächerlich, fiel ihm Andreas ins Wort; nein ärgerlich. Die Briefe dieses Onkels haben mich oft in einen innerlichen Grimm versetzt, mir ist das pietistische Wesen in den Tod zuwider, und ich sehe nicht ein, warum ein Mensch, mit dem ich im Herzen nichts zu schaffen habe, mich was angehen soll, bloß weil er meiner Mutter Bruder ist.

Laß ihn laufen! sagte Ludwig.

Wenn ich hingehe, fuhr Andreas fort, thue ich es nur meinem Bruder zu Liebe, der in seiner großen Pflichttreue nicht gern sieht, wenn irgend etwas der Art versäumt wird. Also Punktum! ich gehe heute hin.

Ludwig wollte ihn schwankend machen, und erzählte von Pastor Grün, was er eben wußte. Daß er die Bauern tyrannisire, die armen Leute ihr bischen Kartoffeln nicht am Sonntag roden lassen wolle, keinen Tanz und keine Musik im Dorfe leide, niemand zum Abendmahl annähme, der sich nicht selbst bei ihm gemeldet habe, und ähnliche Dinge. Seine Frau und seine erwachsene Tochter zögen wie Betschwestern im Dorfe umher, wären überall zu finden, wo sie die Heiligen spielen könnten, trügen immer altes Leinen und Quacksalbereien in den Taschen um sich vor den Leuten hilfreich zu zeigen. Seine Magd und sein Knecht müßten mit ihnen singen und beten u. s. w. Dann kamen eine Menge von Streitigkeiten, die der Pastor mit seinem Onkel gehabt, bis sie jetzt ganz mit einander zerfallen wären.

Andreas blieb zwar bei seinem Entschlusse fest, aber war es ihm vorher widerwärtig gewesen, zu den Leuten gehn zu müssen, so wars ihm jetzt noch mehr, und er rüstete sich nur mit dem Gedanken, kräftig unter ihnen aufzutreten, offen seine Meinung zu sagen, und auf eine ganz ehrliche Art mit ihnen abzubrechen.

Andreas war seit sechs Wochen in der Universitäts-Stadt, in welcher er das letzte Jahr seiner theologischen Studienzeit zu verleben hatte. Er hatte diesen Beruf nicht aus innerer Neigung, sondern weil es die äußern Umstände eben so mit sich brachten, ergriffen. Sein seliger Vater war von der Glückseligkeit des Predigtamtes, in welchem er selbst stand, so erfüllt, daß er immer nichts sehnlicher gewünscht hatte, als daß ihm seine beiden Söhne darin nachfolgen möchten. Er erlebte noch die Freude, den aus erster Ehe, Christian, der fünfzehn Jahre älter als Andreas war, auf der Kanzel und im Amte zu sehen, und als er kurze Zeit darauf starb, und Andreas Mutter ihm nach wenigen Jahren folgte, konnte Christian Vaterstelle an dem jungen Andreas vertreten. Er nahm sich mit großer Treue seiner an, schickte ihn in Pension auf Schulen und verwaltete sein kleines mütterliches Vermögen mit Umsicht, so daß es bis ans Ende der Studienzeit ausreichte.

Andreas hatte eine glückliche Natur, offen und herzlich, gewann er sich überall Liebe und auch hier in seinem neuen Aufenthaltsorte war er bald von vielen jungen Freunden geliebt. Nachdem er sich aber heut von dem nächsten unter ihnen losgemacht, um dem Bruder zu genügen, wanderte er mit schwerem Herzen zum Thore hinaus gen Auen.

Es war ein schöner Frühlingstag. Nach einigen Stunden erreichte er einen Hügel, dort unter den Zweigen einer alten Eiche setzte er sich nieder. Er dachte an seine Freunde, wie sie jetzt auf der Kegelbahn ihren Spaß und ihr Vergnügen hätten. Zu seiner eigenen Verwunderung aber sehnte er sich nicht nach ihnen, der einsame Weg durch die liebliche Gegend, der Duft und die Blüthen des Maimonds thaten ihm so wohl, daß in den drei Wochen seines Hierseins ihm noch nie so wohl gewesen war als gerade jetzt. Die Sonne war tiefer gesunken, ihr goldenes Licht lag auf den Wipfeln der Eichen und Buchen, welche abwechselnd in größeren und kleineren Gruppen den Fluß begrenzten, der sich zu seinen Füßen in leichten Windungen durch das Wiesenthal zog. Eine blühende Kirschallee führte durch grüne Wiesen nach einem Dorfe, das vielleicht eine Viertelstunde von ihm entfernt, mit seinem spitzen Schieferthurm, seinen rothen Dächern und blühenden Obstgärten zu ihm herübergrüßte. Der Beschreibung nach mußte das Auen sein.

Wie schön! dachte Andreas: und an diesem lieblichen Orte, der da in Licht und Freude schimmert, sollte der finstere Pietismus seinen Sitz aufgeschlagen haben? diese alle Freiheit und alles Leben zerstörende Macht? Wie ist es nur möglich, daß der Mensch in so wunderliche Anschauungen verfallen kann? Gott hat die Welt so schön geschmückt, er ladet uns überall zur Freude und zum Vergnügen ein, und wir sollten uns trübsinnig abwenden? ja uns selbst, das Meisterstück der Schöpfung, herabsetzen, uns zu erbärmlichen nichtsnutzigen Wesen machen und dadurch den Schöpfer anklagen? Nein, ich fühle mich in Gott frei und stark, er hat mich ausgestattet mit so edlen Gaben, ich habe Freude und Lust am Guten, und ich danke ihm, daß er mich gewürdigt hat, ein ihm gleiches Wesen zu sein, und bezeuge ihm meinen Dank, indem ich frisch und fröhlich meinen Weg wandere und genieße was er mir Schönes zu genießen beut.

Er lehnte seinen Kopf an den Eichenstamm. Durch das sprossende Gold der jungen Blätter schaute ihn der tief blaue Himmel sinnend an, ein Schlehenbusch dicht neben ihm streckte seine blühenden Arme in den weichen Frühlingsabend hinaus und störte nicht durch das leiseste Säuseln den trunkenen Rausch der Bienen und Käferchen, die auf seinen weißen Blüthensternen hin und wieder schwebten, zu seinen Füßen blühten Veronika und Bienensaug und gelbe und weiße Sternblumen, sie hatten ihre milden Augensterne so still nach oben gerichtet und Blühen und Schauen war so ganz eins.

Gott wie schön! dachte Andreas: so ein Maienabend, was sollte mich jetzt wohl hindern, den mit ungestörten Entzücken zu genießen? Das wäre undankbar. – Aber sind wir denn noch im Mai? Er rechnete. Drei Wochen war er schon hier, es war heute der 31ste. Wie schade, sagte er bei sich, daß der Monat vorüber und daß dies der erste Tag ist, den du so genießest. Er hatte freilich jeden Tag mit seinen Kameraden die Stadt verlassen, war auf vielerlei Weise mit ihnen vergnügt gewesen, und mit lautem Singen des Abends durch die Straßen heim gezogen. Aber war er je mit innerer Zufriedenheit wieder heimgekommen? Nein das war er nicht, jede Nachstimmung eines lauten geistlosen Vergnügens ist nüchtern und unbehaglich, und wer noch nicht ganz gesunken, in wem noch die mahnende Stimme der Wahrheit ihr Recht hat, der kann sich auch nicht losmachen von den üblen Folgen eines jeden sinnlichen Rausches. Frisch und fröhlich und dankbar seinen Weg gehen, das klingt recht gut und die eine Hälfte unseres Ichs wäre damit schon zufrieden, wenn nur die andere nicht den Spaß verdürbe und durch Unruhe und Anklagen den Frieden störte. Gerade dies andere Ich machte sein Recht einmal jetzt geltend und Andreas schwankte in seinen sicheren Selbstbetrachtungen. So in der Einsamkeit hatte er sich lange nicht mit sich zusammen gefunden und sich geprüft, er hörte hier so wundersame Stimmen, das Himmelsblau sah ihn wehmüthig an und sprach: Du schaust so selten zu mir hinauf, und ich bin doch so mild und treu gesinnt; die Blumen drangen mit ihren beschaulichen Blicken bis in seine innerste Seele. Wie sie doch so erfüllt sind vom Odem des Herrn, wie sie in seine Gedanken hineinblühen und sprossen, und die jungen Blättchen ruhen andächtig in einander und warten was der Herr aus ihnen gestalten werde. Die ganze Natur ist eins mit dem Geiste Gottes, und der Mensch geht neben her mit offnem Auge und sieht doch nichts. – Andreas konnte die mahnende Stimme, ob er nicht auf eine andere Weise, als durch dies frische fröhliche Jugendleben, seine Dankbarkeit gegen Gott beweisen könne, nicht unterdrücken. Seine Liebe zum Guten, worauf er sich so viel zu Gute that, sein edles Streben hatte er doch sehr oft aus dem Auge gelassen. Er mußte sich Vorwürfe machen, er fühlte sich in seinem stolzen Selbstbewußtsein erschüttert, aber zugleich scheute er sich tiefer in sich einzudringen, und stand auf um sich durch Weitergehen zu zerstreuen.

Doch die mahnende Stimme schweigt nicht, du mußt vorwärts oder rückwärts, entweder durch oberflächliche Verstandes-Phrasen zuletzt in eine gänzliche Geistesarmuth hinein, oder in die bewegende Geisteswelt, die dir wohl Kämpfe bringt, aber nicht ruht bis sie dir die unendliche Tiefe ihres Reichthums eröffnet hat.

Bald hatte er das Dorf erreicht. Die Kirche und das Predigerhaus lagen an dieser Seite, und ein Fußsteig führte ihn gerade nach dem Pfarrgarten hin. Die Pforte stand offen, noch schwankte er hineinzugehen. Was zögerst du? sagte er sich ärgerlich, hob das Haupt kühn empor und suchte seine gedrückte Stimmung durch einigen Trotz zu erheben. Er trat hinein, doch verwundert von der Lieblichkeit des Bildes, das sich ihm darbot, stand er noch einmal still. Blühende Gänge, Beete und Lauben füllten den kleinen Raum, hier auf grünem Rasen eine weiße Bank unter einem rothblühenden Kreuzdorn, dort an der Mauer ein kleiner Hügel, den braune Stakete und hängende Schlingpflanzen zieren, ein Häuschen von Jasmin umrankt, und an der Scheunenwand dem Eintretenden gerade gegenüber eine große Familienlaube. Eine schöne, noch ziemlich junge Frau von ihren Kindern umgeben saß darin. Ihr lichtbraunes Haar war schlicht von der Stirn gescheitelt, ihre großen Augen, von langen Wimpern umschattet, ruhten abwechselnd auf einer Näharbeit und auf dem kleinsten Mädchen, das spielend an ihren Knien lehnte; dazu lächelte ihr Mund eben so kindlich und hold, als der des kleinen Mädchens. Neben ihr saß die älteste Tochter, nicht so schön als die Mutter; ihre Züge waren schärfer und unregelmäßig, sie war beschäftigt Blumen in ein Porzellankörbchen zu legen, die ihr zwei Knaben zureichten. Die zweite halberwachsene Tochter, eine schlanke Blondine, stand an einem Maienrosenbusch und pflückte ein paar sich eben entfaltende Knospen. Die Kinder scherzten fröhlich mit einander; wurden die Knaben zu laut, traf sie ein strenger Blick der ältesten Schwester, die zugleich nach dem Vater zeigte, welcher zwischen Spalierbäumen, die Predigt in der Hand, dort an der Mauer auf und ab ging.

Andreas stand unbemerkt und unbeweglich, es war ihm beinahe unangenehm hier alles anders zu finden als er es sich gedacht hatte. Besonders war er durch das sanfte stille Antlitz der Pfarrerin wie durch einen Zauber gebannt. Jetzt richteten sich aller Blicke nach dem Kirchhof, der neben dem Pfarrgarten an einem kleinen Hügel sich hinzog. Ein Greis mit weißem Kopfe, von mehreren Knaben gefolgt, grüßte einen freundlichen guten Abend hinüber und ging in den Thurm. Nach einigen Minuten klang in tiefen vollen Tönen das Abendgeläute in den stillen Abend hinaus. Die Mutter legte jetzt ihr Arbeitszeug aus der Hand, nahm das jüngste Kind auf den Schooß, die älteste Tochter legte die Hände über einander, die Knaben und das jüngere Mädchen und alle schauten nach dem Kirchhof, auf dem jetzt die tiefen Sonnenstrahlen ruhten und weiße und schwarze Kreuze und Grün und Blumen mit Gold umwoben.

Andreas ward so bewegt, er wußte nicht wie ihm geschah. Da plötzlich unterbrach eine laute Stimme diese tiefe Ruhe. Du Himmelsakermenter infamer! ich will dich hier schneiden lehren! Diese Worte waren mit Schlägen und mit lautem Geschrei des Geschlagenen begleitet.

Andreas wandte sich zur Thür hinaus, und ganz in seiner Nähe erblickte er einen Mann im grauen Filzhut und grauen Sommerrock, mit derben Schlägen einen zerlumpten Jungen züchtigend.

Herr Amtmann, es sind nur Disteln! rief der Junge.

Ja ihr Diebsgesindel, vor den Augen Disteln und hinter dem Rücken etwas Besseres!

Im Augenblick erschien der Kopf des Pastors über der Mauer. Mit seinen großen Augen über der Adlernase sah er scharf auf den grauen Mann.

Guten Abend Herr Amtmann, sagte er mit entschiedenem aber freundlichem Ton.

Guten Abend Herr Pastor, entgegnete dieser etwas verlegen.

Ich habe dem Knaben erlaubt hier zu schneiden, fuhr der Pastor fort.

Schön, schön! entgegnete dieser, so kann er meine Hiebe für etwas anderes rechnen, denn daß solch ein Schubejack täglich seine Tracht verdient, ist ausgemacht. – Mit diesen Worten entfernte er sich.

Das ist also der Amtmann, dachte Andreas. – Er benutzte die Gelegenheit seinen Onkel zu begrüßen, der sogleich den Hügel an der Mauer verließ und dem jungen Fremden in der Gartenthür entgegentrat.

Er war freudig bewegt, als er Andreas Namen hörte. Wie gleichst Du meiner seligen Schwester! sagte er gerührt und zeigte eine so treuherzige Freude, daß Andreas kaum wußte, wie er solchen Empfang erwidern sollte. Der Oheim führte ihn zur großen Laube und ein ähnlicher Empfang ward ihm von der ganzen Familie:

Wir wußten daß Du in unserer Nähe warest und haben Dich recht sehnlichst erwartet, sagte die Mutter.

Andreas stotterte einige Entschuldigungen, die Knaben faßten ihn vertraulich bei der Hand und bestürmten ihn mit Fragen, und Sofie, die zweite Tochter, stand scheu lächelnd, aber die herzlichste Theilnahme in den Zügen, ihm zur Seite. Nur Anna, die ältere, war zurückhaltender und forschend ruhten zuweilen ihre Augen auf dem neuen Vetter.

Nachdem die erste Befangenheit vorüber war, fühlte sich dieser, so sehr er sich streubte, ganz vertraulich in diesem Kreise. Der große Tisch in der Laube wurde gedeckt, man setzte sich zum Abendessen nieder. Der Vater obenan hielt ein kurzes Tischgebet. Andreas, der nicht gewohnt war bei Tische zu beten, fühlte sich dadurch unangenehm berührt. Annas forschende Blicke, die jeden seiner Gedanken zu errathen schienen, erhöhten dies Gefühl. Er konnte sich nicht entschließen die Hände zu falten, und nur wenig senkte er den Kopf, als aber die Kinder das Haupt erhoben und mit kindlichen andächtigen Zügen aufschauten, da fuhr es ihm durch das Herz, es war ihm als ob er alle die Blumenaugen oben am Hügel wieder vor sich sähe, die ihn auch mit so frommen beschaulichen Blicken angesehen.

Eltern und Kinder ließen sich nun die Milch, die in den reinlichen Tubben aufgetragen wurde, sehr wohl schmecken und waren herzlich vergnügt dabei, selbst der Vater legte seine ernste Miene ab und nahm Theil an den harmlosen und übermüthigen Scherzen der Kinder. Mit Butter und Brot schloß die Mahlzeit, und als auf der Mutter Frage: Seid ihr alle satt? ein allgemeines Ja erscholl, faltete man die Hände wieder zum Gebet und die Mutter sprach einige Worte. Andreas mußte unwillkürlich die Hände falten und das Gesagte mit empfinden. Wie ein dankbares glückliches Kind, das seine Liebe nicht zurückhalten kann, zu seinem Vater spricht, so sprach die Pfarrerin zum lieben Gott, und Andreas fühlte in ihrem ganzen Wesen die Nothwendigkeit, beten zu müssen, denn weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über. – Nachdem sie geendet, überschaute sie noch einmal mit warmem Blick ihre Lieben und alle wünschten sich eine gesegnete Mahlzeit. Andreas konnte es nicht lassen der Tante herzlich die Hand zu drücken, sie sah ihm treuherzig in die Augen und ahndete nichts von seinen innern Kämpfen.

Der Oheim zog sich nach Tische wieder in seinen einsamen Laubengang zurück. Er sprach sein Bedauern aus, Andreas heut nicht genießen zu können, und tröstete sich auf den kommenden Nachmittag. Die Kinder hatten indeß einen Spaziergang nach einer schönen Aussicht vorgeschlagen, und während Mutter und Kinder sich bereit machten, stand Andreas, die Mütze in der Hand, in Gedanken vertieft an der Gartenpforte. Es war ihm als hätte er noch nie so zu Abend gegessen, und doch hatte er schon bei manchen vortrefflichen Leuten gegessen. Die Doctoren an den Schulen, wo er in Pension war, wenn auch nicht bei ihnen gebetet wurde, es war ihnen nichts vorzuwerfen. Sein Bruder war der bravste Mensch, seine Schwägerin eine wohlmeinende treuherzige Frau. Aber alle hatten eine entschiedene Abneigung gegen den Pietismus und dem ähnliches Wesen. Seine Schwägerin, die außer einer guten auch eine kluge und scharfdenkende Frau war, hatte öfters mit ihm über solche Dinge, besonders in Rücksicht auf den Oheim in Auen, der als ein echter Pietist verschrien war, geredet. Das Beten, sagte sie, ist recht gut, aber allein in Deinem Kämmerlein thue es. Ich würde nie die Kinder bei Tische beten lassen, denn es wird ihnen bald eine Form, aus der sie sich gar nichts machen, und einmal ohne Andacht gebetet, finde ich schlimmer als zehn mal gar nicht beten; man erzieht nur Heuchler, wenn man an äußeren Formen hängt. – Andreas war ganz mit solchen Ansichten einverstanden und er forschte jetzt, warum ihm das Beten heute keinen unangenehmen Eindruck machte. Sollte das von der Mutter ausgehen? Ja, der Frau ihr Leben ist, glaube ich, ganz und gar ein Gebet, darum ist es nichts Besonderes, wenn sie gerade bei Tische betet. Sollte es wohl möglich sein, daß unser ganzes Leben so ein Gebet würde? Der Gedanke drängte sich ihm plötzlich in seiner ganzen Größe und Wahrheit auf. Von dieser Seite das Leben aufgefaßt, wie großartig und schön ist es, und die oberflächlichen Reden seiner Schwägerin wie verschwinden sie dagegen. Ja das ganze Leben ein mächtiges Streben dem Himmel zu. Sollte es wohl möglich sein, Kinder in demselben Sinne zu erziehen? Er dachte an die Blumen des Feldes, wie sie ihr ganzes Wesen und Blühen der Sonne zugewendet haben: so könnten ja wohl auch Kinder dem göttlichen Sinne zugewandt werden, daß sie harmlos und freudig zu ihm aufschauen, und wie sie den geliebten Eltern einen guten Morgen und guten Abend wünschen und ihnen für freundliche Gaben danken, so thun sie auch dem Vater im Himmel.

Andreas mußte sich gestehen, daß es mit der Mutter und den jüngsten vier Kindern so war, sie waren bei ihrer Frömmigkeit zu natürlich und fröhlich; aber dem Oheim und Anna war dies Wesen nicht zur Natur geworden, wollte er behaupten. Der Oheim war ihm zu förmlich und ernsthaft, und Anna hatte ihren Worten entgegen oft ein scharfes liebloses Wesen.

Die ankommenden Spaziergänger unterbrachen solche Betrachtungen. Anna und Sofie, das Strickzeug in der Hand, gingen voran, die Knaben und die kleine Marie sprangen hin und her, und die Tante ging plaudernd neben Andreas. Er mußte ihr von seiner Jugend und Heimath erzählen, an allem nahm sie lebhaften Antheil. Freilich wurde diese Unterhaltung oft unterbrochen, denn der Weg nach der schönen Aussicht führte um das halbe Dorf herum, und alle Leute, denen man begegnete, wurden begrüßt, ja mit den meisten eine Unterhaltung angeknüpft. – In einem grünen Heckengang begegnete ihnen eine alte Frau.

Nun wie gehts, Frau Bruns? sagte die Tante nach dem gewöhnlichen Abendgruß und reichte der Alten die Hand.

Wie soll es gehn? entgegnete diese: schlecht genug; aber was will man machen? Wir müssen doch geduldig warten, bis der Herr Feierabend macht, und ich denke er will es bald.

Recht von Herzen wünsche ich es Euch, entgegnete die Tante warm. Wer weiß wie nahe Euch diese Freude ist.

Ja es wäre wohl das beste. Nun des Herrn Wege sind unerforschlich, aber ich wüßte doch wahrlich nicht, was ich noch hier zu thun hätte.

Ein Grund ließe sich wohl finden, sagte lächelnd die Pfarrerin.

Du liebe meine Zeit! stöhnte die Alte. Ein Krüppel an Leib und Seele, Schmerzen Tag und Nacht: nein ich wüßte doch nicht.

Wenn nun andere Leute sich an Eurer Geduld und an Eurem Glauben stärken sollten, wäre das nicht Grund genug? sagte die Pfarrerin und sah die Alte mit tröstlicher Miene an.

Ja, Herr, wenn das wäre! Nun er wolle mich stark dazu machen, sein Wille geschehe.

Man trennte sich. Nach einiger Zeit schaute ein hübscher Frauenkopf über einen Zaun. – Guten Abend, Frau Pastorin.

Guten Abend Frau Oelzen: nun wie gehts? was macht der Kleine?

Er schreit noch viel und sein Hälschen ist noch recht wund.

Pinseln Sie ihn denn mit dem Quittenschleim?

Ja und es ist auch als ob es helfen wollte, ich bedanke mich recht schön.

Schon gut, sagte die Pfarrerin, morgen sehe ich selbst vor. Die junge Frau bezeugte ihre Freude über den versprochenen Besuch und man ging weiter.

So hatte die Gesellschaft nun das Dorf hinter sich, als ihnen auf der Wiese ein kleines Mädchen mit verbundenem Arm entgegen kam. Dortchen, was hast Du gemacht? fragten die voraneilenden Kinder. – Verbrannt, war die Antwort. Mutter und Töchter lösten das Kattuntuch vom Arme und sahen eine große offene Brandwunde. Alle waren von Mitleiden bewegt, Dortchen weinte, und Anna entschloß sich nach Hause zu eilen um einen Verband zu holen. Die Knaben tummelten sich während dessen mit der kleinen Marie auf dem Anger, und Andreas blieb mit der Tante und Sofien bei dem kranken Kinde sitzen. Nach kurzer Zeit kehrte Anna zurück, legte in Oel geweichte weiße Lilienblätter auf die Wunde und verband sie dann mit weißem Leinen. Sie war noch nicht ganz fertig, als der Amtmann, eine Dame am Arm, mit einem kalten »Guten Abend« an ihnen vorüberging. Andreas mußte an Ludwig und dessen Erzählungen von den Frauen des Pfarrhauses denken, und es that ihm fast leid, daß der Amtmann den Liebesdienst auf offener Straße mit ansehen mußte, um vielleicht wieder einen schlechten Spaß daraus zu machen. – Bis dahin war ihm das Thun und Treiben der Frauen gar nicht aufgefallen, es machte sich jede Unterhaltung ungezwungen und das hilfreiche theilnehmende Wesen war allen so natürlich. Nein, wenn es so aus dem Herzen kommt, ist es doch ein schönes Bild, die Pastorfrau gleich einem theilnehmenden helfenden Engel durch das Dorf wandeln zu sehen.

Indessen hatte die Gesellschaft ihr Ziel erreicht. Auf einer Bank, die unter jungen Buchen stand, ließen sich Mutter und Töchter nieder, die jüngeren Kinder und Andreas nahmen den Platz daneben auf dem Rasen ein. Die Knaben erklärten nun dem neuen Vetter jeden fernen und nahen Gegenstand und kramten dabei nicht geringe Weisheit aus. Sofie ließ sinnige Geschichten und Sagen einfließen, und Anna war wie immer die scharf beobachtende und schnell richtende. Andreas konnte es nicht lassen ihr zu widersprechen und begann dabei mit seinen Ansichten herauszurücken. Anna flammte ihn mit großer Entschiedenheit an, und nur die mahnenden Blicke und Worte der Mutter konnten sie etwas im Zaume halten; aber ihre Gereiztheit zeigte sich von nun an in jedem Worte, das sie zu Andreas sprach.

Andreas fühlte sich ordentlich leichter beim Heimgange, daß er angefangen sich doch auszusprechen, und daß seine Verschiedenheit mit den Ansichten der Familie sich herausgestellt hatte. Auf der Wiese hinter dem Pfarrgarten kam ihnen der Vater entgegen, er hatte nun sein Tagewerk vollbracht und wollte den Rest des Abends der Familie widmen. Im Garten zu bleiben schien es allen zu spät, man ging ins Wohnzimmer, und Andreas, der ermüdet schien, ward von der Tante beinahe gezwungen, sein eigenes aufzusuchen. Wenn dies auch in höchster Liebe geschah, that es ihm doch leid, er wäre gern noch mit ihnen zusammen gewesen! Aber freilich konnte er es ihnen nicht verdenken: besonders nach der letzten Unterhaltung mußte er allen ein störend Element in ihrem Kreise erscheinen.

Als die Tante ihn verlassen hatte, sah er sich in seinem Zimmer um. Es war nur weiß getüncht, aber sehr nett und reinlich. Bett und Fenster mit weißen Gardinen umhangen, an den Wänden hingen kleine Bilder, hin und wieder mit welken Blumenkränzen geschmückt, und auf einem Tische stand ein kleines Bücherrück mit mehreren Büchern. Er sah hinein und fand Kinderschriften, Erzählungen von Schubert, eine Bibel, Jung Stillings Leben und ähnliche Sachen. Weder zum Lesen noch zum Schlafen hatte er Lust, er stellte sich an das offene Fenster. Da hörte er mit einmal Orgelklang, zu dem von mehreren Stimmen ein Choral gesungen wurde. Feierlich klang es in die stille Nacht hinein und so geheimnißvoll, es drängte ihn zu wissen was es sei. Leise verließ er seine Stube und trat in den Hofraum, der mit grünem Rasen und Obstbäumen bepflanzt auch einem Garten gleich. Das Wohnzimmer war erleuchtet, die Fenster standen offen, er konnte alles übersehen. Fast schämte er sich so heimlich hier zu lauschen, aber rechtschaffen wollte er ja forschen, was an den Leuten sei, um ihnen nicht Unrecht zu thun: so entschuldigte er sich.

Die ganze Familie so wie der Knecht und die Magd waren im Zimmer versammelt. Die Mutter, ihren Kopf an des Vaters Schulter gelehnt, saß mit diesem auf dem Sofa, die drei jüngsten Kinder lehnten schlaftrunken in ihrer nächsten Nähe. Anna saß am Positiv, Sofie, das aufgeschlagene Buch in der Hand, stand neben ihr, an der Thür saß die Magd, der Knecht stand dabei. Mehrstimmig sangen sie den Choral.

Andreas wagte kaum zu athmen. Was sollte er dazu sagen? Nichts weiter als daß er noch nie einen Choral so hatte singen hören. Die Familie hier in Liebe vereint bringt dem Herrn ein Dank- und Liebesopfer.

Nachdem sie geendet, griff der Pastor nach der Bibel und las im Evangelium Johannis das 15. Kapitel. Andreas hörte aufmerksam zu. »Das gebiete ich euch, daß ihr euch unter einander liebet. So euch die Welt hasset, so wisset daß sie mich vor euch gehasset hat.« Und wiederum: »Aber das alles werden sie euch um meines Namens willen thun, denn sie kennen den nicht, der mich gesandt hat. Wenn ich nicht gekommen wäre, und hätte es ihnen nicht gesagt, so hätten sie keine Sünde, nun aber können sie nichts vorwenden, ihre Sünde zu entschuldigen. Wer mich hasset der hasset auch meinen Vater.«

Als Andreas diese Worte hörte, ward es ihm bedenklich zu Sinne. »So euch die Welt hasset, so wisset daß sie mich vor euch gehasset hat.« »Wer mich hasset der hasset auch meinen Vater!« Er fühlte sich getroffen. Hatte er nicht mit feindseligen Gefühlen dies Haus betreten? Hatte er sich nicht mit stolzem Selbstgefühl von diesen Leuten gewandt? Und warum? Weil sie eines andern Glaubens lebten, und weil Leute wie der Amtmann gehässige Dinge von ihnen geredet. Und was war ihm zum Dank für seine lieblosen Gesinnungen geworden? Die herzlichste Liebe, die treuherzigste Offenheit. Er hatte noch viel zu ringen und streben, um den Geist der Liebe zu erreichen, der diese Familie bewegte, und wie auch seine Ansichten abwichen, ihr Wesen und Leben mußte er anerkennen.

Er kam in sein Zimmer zurück und griff nach der Bibel. Er schlug auf Johannes 17., wo Christus für die Seinen bittet, und las das Capitel durch. Diese Worte der rührendsten Liebe konnten ihn nicht unbewegt lassen. Was war es nur, das ihn so erfüllte? Thränen standen in seinem Auge, er faltete die Hände. O Herr, ich gelobe, mich zu prüfen! sprach seine Seele.

Am andern Morgen weckten ihn Kinderstimmen unter seinem Fenster. Er stand auf. Von seinem Fenster konnte er die große Laube übersehen. Die Tante in einem sonntäglichen Kleide saß darin, ein Buch in der Hand. Die Kinder liefen fröhlich auf und nieder, Sofie war am Frühstückstisch beschäftigt, und Anna wandelte, nur zuweilen vor einer Blume stillstehend, den Hauptweg entlang. Wenn er es nicht gewußt, daß es heut Sonntag sei, an dem Bilde da unten hätte er es fühlen müssen. Dazu war der Himmel so blau und die Felder und Wiesen lagen im stillen Sommerglanze.

Die Knaben erblickten ihn jetzt am offnen Fenster. Langeschläfer! neckten sie ihn und forderten ihn auf herabzukommen. Er ging und ward von den Kindern und von der Tante herzlich begrüßt, nur Anna und Sophie schienen sich ihm noch mehr entfremdet zu haben.

Bist Du eben erst aufgestanden? fragte Paul, der älteste Knabe.

Eben erst, antwortete Andreas scherzend.

Der liebe Vetter soll nun gleich Kaffee trinken, sagte die Tante.

Und Kuchen ist für Dich gebacken, entgegnete Martin, der jüngere Knabe.

Hast Du aber schon gebetet? fragte Paul.

Annas forschende Blicke ruhten wieder bei dieser Frage auf Andreas. Er war verlegen, bückte sich und nickte mit dem Kopfe. – Das war ja eine Lüge. Warum hatte er denn nicht den Muth zu sagen: Nein, ich habe noch nicht gebetet? – Die Tante reichte ihm Kaffee, und man sprach von andern Dingen. Nach dem Frühstück gab sie ihm ein Buch und wies ihm die Bank unter dem rothblühenden Kreuzdorn an; sie meinte er würde wohl gern einmal ein Stündchen allein sein. Da saß er nun bis es zur Kirche ging. Lesen mochte er nicht, er hörte dem Summen der Bienen, dem Gesänge der Vögel, und dem wiederholten Lauten der Glocken zu, und schaute dem stillen Frühlingsmorgen in das schimmernde Angesicht.

Zur Kirche gingen nur die Mutter, Sofie und die Magd. Anna mußte abwechselnd des Sonntags die Küche versehen. Andreas hörte des Onkels Predigt aufmerksam zu. Allerdings war er nicht einverstanden mit dem was jener verkündete, aber die Wahrheit, die Wärme und der Eifer, aus dem es geschah, ließen ihn nicht unberührt. Er hatte ja gelobt, sich jedem Eindruck hinzugeben und zu prüfen was daran sei.

Nach der Kirche erwartete die Mutter den Vater im Garten. Als er kam, reichte sie ihm die Hand und sagte: Du lieber Andreas, wie danke ich Dir für die Rede! Liebe und Verehrung strahlten bei diesen Worten in ihren Zügen. – Er führt deinen Namen, erinnerte sich plötzlich Andreas. O wenn du auch einst von einer solchen Frau geliebt würdest und wenn du würdig wärest von ihr so hoch geschätzt zu sein! – Das Ehepaar ging langsam im Garten auf und ab, und er hörte, wie sie von der Predigt und ähnlichen Dingen sprachen, oder auch abwechselnd sich über Blumen freuten. Des Oheims Züge waren dabei so kindlich und fröhlich als die der Tante, und Andreas konnte nicht lassen ihn anzuschauen.

Zu Mittag ward in der Stube gegessen, es ging dabei her wie beim Abendbrot, und als bald darauf die Glocken zum Nachmittags-Gottesdienst läuteten, wanderten Anna und Sofie mit den beiden Knaben zur Kirche. Andreas blieb mit der Tante zu Haus. Sie setzten sich zusammen und während Orgel und Gesang von oben herabklangen, unterhielten sie sich traulich mit einander.

Erinnerst Du Dich wohl noch Deiner Mutter? fragte die Tante.

Ganz genau; ihr blasses freundliches Gesicht habe ich nie vergessen.

Nein, man kann es auch nicht vergessen, fuhr die Tante fort. Lieber Andreas, ich habe Dich im voraus so lieb, weil ich Deine Mutter so geliebt habe, und weil Du ihr so ähnlich siehst.

Bei diesen Worten holte sie ein Bild aus einem Körbchen und reichte es ihm. Ja, das war seine Mutter, dieselben milden Augen, nur jugendlicher und frischer sah sie hier aus, als er sie gekannt hatte. Es fiel ihm zugleich ein, daß diese Tante im Hause seiner Mutter gewesen war, und daß der Oheim sie dort kennen gelernt hatte. Er bat sie, ihm recht viel von der Verstorbenen zu erzählen. Sie that das gern.

Ich habe ihr alles zu verdanken, sagte sie gerührt, es war unmöglich in ihrer Nähe zu sein, ohne von ihrem Wesen berührt zu werden. Ihre Tugenden kann ich weiter nicht aufzählen, und Fehler wüßt ich kaum, daß sie gehabt hätte. Sie war eine Frau ganz erfüllt vom Geiste des Herrn, schien nur für den Himmel zu leben, dabei aber war sie fröhlich und konnte sich freuen wie ein Kind. – Die Tante erzählte viele Züge aus dem Leben der Verstorbenen, die Andreas zu Thränen bewegten. Aber, sagte sie unter anderem, wie sie den kleinen Andreas liebte, wie sie mit ihm lebte, das war doch das rührendste. Sie spielte mit ihm, sie machte ihn aufmerksam auf alles Schöne in der Natur, was wohl ein Kind freuen kann, sie lehrte ihn kleine Gebete und Sprüche, und als ich einmal vorlaut sagte: das Kind verstände wohl davon noch nichts, entgegnete sie: Wenn es auch nichts davon versteht, ich weihe es dadurch dem Herrn, und Seine Kraft kann auch auf den Unmündigen ruhen; auch kömmt in die kleine Seele nach und nach eine Ahnung von dem, das ihn einst ganz erfüllen soll. Bald gingest Du, lieber Andreas, keinen Abend zu Bett, daß Du nicht mit der Mutter zu beten verlangtest.

Andreas fuhr es wie ein Blitz durch das Herz. Ja, sagte er, so war es, und hieß das Gebet nicht so?

Leg ich Abends mich zur Ruh,
Deckt der liebe Gott mich zu.
Seine reinen Engelein
Wollen meine Hüter sein.

Die Tante nickte freudig. Und des Morgens, fuhr er fort:

Lieb Jesuskind, ich lad dich ein.
Zieh doch in mein Herz hinein.
Daß ich auch so fromm und rein
Wie du selber möchte sein.

Wie schön, daß Du sie noch weißt, Andreas, sagte die Tante und drückte ihm die Hand.

O, wenn ich doch meine Mutter nicht so früh verloren hätte! seufzte er.

Hast Du sie denn verloren? fragte die Tante; meinst Du denn, daß eine Mutter durch den Tod von ihrem Kinde getrennt sein könnte? Blieb sie leben und Du mußtest auf Schulen und in die Welt, so wäre sie Dir wohl ferner gewesen als jetzt. O glaube nur, ihr Geist und ihr Gebet waren immer mit Dir, und das Gebet einer Mutter vermag viel beim lieben Gott, ja gewiß, er kann ihm nicht widerstehen, und darum, lieber Andreas, habe ich nie um Dich gesorgt, weil ich Dich in so hohem Schutze wußte.

Ich habe aber nicht gebetet, sagte Andreas.

Du hast ja Zeit, es nachzuholen, sagte sanft die Tante.

Ja ich will. O verzeih mir, Mutter, daß ich Dich so ganz vergessen konnte. O ich will es wieder gut machen, ich will Dich doppelt lieben, will in Deinem Geiste leben, will beten, wie Du mich gelehrt hast.

Andreas! sagte die Tante, Deine Mutter wird heute die glücklichste von allen Müttern sein. – Andreas wandte sich von ihr, und suchte sich ein einsames Plätzchen, seine Bewegung war zu groß.

Als die Kirche aus war, versammelte sich die Familie um den großen Kaffeetisch, und bald waren alle in frohester Laune. Der Vater obenan. Wie war er liebenswürdig mit den Kindern, sie hockten an ihm herum, er scherzte mit ihnen und neckte sie, und er that, als ob er nur ein fröhlicher Spielgefährte von ihnen sei. Nach dem Kaffee ging die ganze Familie in den größeren Grasgarten, wo für die Kinder ein Wurfspiel und eine Turnanstalt eingerichtet war. Es wurde geturnt und mit den Kugeln geworfen, ja die älteren Schwestern und Vater und Mutter warfen zuweilen mit, und unendlich war die Lust der Kinder, wenn die Mutter es gar zu ungeschickt machte, und sie Gelegenheit hatten, sie darüber auszulachen.

Andreas konnte wenig Theil an allem nehmen, er war still. Vater und Kinder merkten es in ihrer Freude nicht, aber die Mutter, die den Grund seiner Stimmung wußte, war desto liebevoller und aufmerksamer gegen ihn.

So ging der Nachmittag schnell hin. Zwischen dem Kindervergnügen kamen Leute aus dem Dorfe, um sich Rath zu holen, oder auch nur um dem Pfarrhaus freundlich zuzusprechen; junge Mädchen kamen zu den Töchtern, die so ganz befreundet mit ihnen waren, und Andreas mußte sich wundern, welche innerliche Bildung diese Leute alle zeigten, und wie tief und schön die Gemeinschaft zwischen den Gemeindemitgliedern und den Pastorsleuten war.

Die Sonne war hinabgesunken, und da Andreas Tags zuvor bestimmt ausgesprochen hatte, den Abend wieder fortgehen zu müssen, ward er nicht weiter genöthigt, und trat mit widerstrebendem Herzen den Rückweg an. Als er vom Oheim Abschied nahm, sagte dieser: Du weißt nun, lieber Andreas, wie es bei uns ist: hat es Dir gefallen, so werden wir uns herzlich freuen, wenn Du bald wiederkommst. – Die Tante sagte ihm gar nichts, aber ihre Augen und ihr Lächeln luden ihn mehr als alle Worte zum Wiederkommen ein, und die Knaben nahmen es für gewiß an, sie wollten sogar Tag und Stunde genau bestimmt wissen.

So wanderte Andreas fort. Auf der Höhe, von wo er Auen zum erstenmal erblickt hatte, ruhte er auch jetzt, aber mit andern Gefühlen als gestern Abend. War denn das der Pietismus, jene alles Leben und alle Freiheit raubende Macht? Er schämte sich, dem Urtheil anderer so blindlings gefolgt zu sein, er war still und demüthig, dachte an seine Mutter, und konnte mit voller Andacht, gleich den Frühlingsblumen und Blüthen, die um ihn her, zum tiefen Blau des Himmels aufblicken.

Mit dem Sternenschein erreichte er die Stadt. Mit ihm zugleich zogen seine lustigen singenden Gesellen ein, die eben von dem Sonntagsvergnügen heimkehrten. Er wurde sogleich begrüßt und mit Fragen bestürmt, besonders von Ludwig. Andreas faßte sich kurz, erzählte was er äußerlich erlebt, auch die Prügel-Geschichte vom Amtmann, und weil er diese sehr komisch vortrug, hatten seine Freunde Stoff zum Lachen und er wurde für heute in Ruhe gelassen. Am folgenden Tag zur gewöhnlichen Zeit kam Ludwig ihn abzuholen. Er fürchtete die Neckereien seiner Freunde und ging mit. Seinen stillen Vorwürfen wußte er Entschuldigungen entgegen zu setzen. War es denn ein Unrecht, das schöne Wetter im Freien zu genießen und Kegel zu schieben? War dies mehr als ein fröhliches Spiel, und hatte nicht gestern der Onkel selbst die Kugeln auf dem Rasen geworfen? Aber lange war er nicht zwischen den übermüthigen Freunden, als eine andere Stimme in ihm laut ward. Nein, das Kegelschieben wäre an sich kein Unrecht; aber das rohe und wüste Wesen dieser jungen Leute, die zu sagen wagen sie seien auf der Universität um sich zum Dienst des Herrn vorzubereiten: das ist ein Unrecht, und wer an diesem Wesen Theil nimmt, theilt das Unrecht. – Andreas fühlte eine Last auf seinem Herzen, er dachte an seine Mutter, an die Tante, an viele Dinge die er in Auen gehört und gesehen, und verließ den Ort des Vergnügens.

Als Ludwig am andern Tag wieder kam, entschuldigte sich Andreas mit Unwohlsein. Die Wahrheit zu sagen und mit einem mal die Sache abzubrechen, hatte er noch nicht den Muth. Ludwig nahm die Entschuldigung an, da Andreas wirklich etwas angegriffen aussah. Andreas machte indeß einen einsamen Spaziergang, und that dies täglich die ganze Woche hindurch. Ja den Sonnabend ließ er sich die Mühe nicht verdrießen, zwei Stunden Weges bis auf die bekannte Höhe zu gehen. Wie vor acht Tagen schaute er in das liebliche Thal hinab, der Kirchthurm, die rothen Dächer und Blüthen-Gärten winkten wie damals; aber er darf nicht hinab, er ist sich unklar, weiß selbst nicht was er will. Er hört das Abendgeläut aus der Ferne, er sieht im Geist die Mutter mit den Kindern in der Laube sitzen, der Vater wandelt im einsamen Schattengang. Andreas seufzt und wandert mit der untergehenden Sonne zur Stadt zurück.

Am andern Morgen ging er zur Kirche, und zwar zu einem sogenannten frommen Prediger, er wollte ja prüfen was daran ist, und überdem mußte er sich gestehen, daß die Prediger seiner Partei hier gerade recht langweilig waren, die ihm das Kirchengehen gleich verleidet hatten, und daß überhaupt er und seine rationalistischen Freunde nicht viel vom Kirchengehen hielten.

Der Prediger redete wie sein Oheim, aber mehr mit Geistesschärfe und theologischer Kenntniß, die seiner Lust zum Forschen und Prüfen wohl gewachsen war. Es fiel da manches mahnende Wort in sein Herz, und er mußte sich gestehen, daß es wohl noch etwas Besseres gäbe, als die oberflächliche Geistesträgheit und Selbstgenügsamkeit, in der er sich bis jetzt befunden hatte. Er trug diese Gedanken den stillen Sonntag mit sich herum, er suchte sich einsame Spaziergänge, und auf einem stillen Plätzchen setzte er sich und nahm die Bibel zur Hand. Er las vom Leben und Wesen des Herrn, und es bewegte ihm recht tief das Herz. Es war ihm, als ob er ihn wandeln sähe zwischen den blühenden Fluren, überall Segen und Leben verbreitend. Wenn er nun jetzt zu ihm träte mit aller Sanftmuth und Liebe und aller Kraft und fragte ihn: Willst Du mein Jünger sein? könnte er da wohl widerstehn, müßte er da nicht hinsinken und sagen: Herr ich will! müßte ihm das Herz nicht übergehn in Liebe und Freude und Dankbarkeit?

Und wandelt der Herr nicht noch mitten unter uns? Bittet er nicht noch dringender als je: Willst Du nicht mein Jünger sein? Ja Herr, ich will! sagte Andreas, faltete die Hände und sah auf zum Himmelsblau, das da in ewiger Klarheit und Ruhe über ihm waltete.

Noch an demselben Abende ging er zu dem Prediger, der ihn heut durch seine Predigt so besonders angeregt hatte, und der zugleich Professor an der Universität war, um Collegia bei ihm anzunehmen. Er wollte suchen, wo er die beste Anweisung finden möchte, ein Jünger des Herrn zu werden. Der Mann sah ihm tief in die Augen, und mit solcher Theilnahme und beweglichen Güte, daß er ihm nicht widerstehen konnte und sein ganzes Herz ihm offenbarte. Der Professor nahm dies Vertrauen freundlich auf. Das redliche Forschen nach Wahrheit steht an der Schwelle derselben und sein Segen kann nicht ausbleiben: wer nur anzuklopfen wagt, dem wird auch aufgethan. So etwa sagte er und fügte noch vieles andere hinzu, das in Andreas sehnsüchtiger und fast verzagter Gemüthsstimmung anklang. Er nahm den jungen Mann an sein Herz und war ihm mehr als ein Professor, der für das bezahlte Honorar seine Stunden liest; er ward ihm ein Freund und Führer und Rathgeber in jeder Weise.

Gleich diesen Abend mußte Andreas bei ihm bleiben, um die Bekanntschaft mehrerer junger Leute zu machen, die ein gleiches Streben hatten. Es wurde von geistlichen Dingen gesprochen, Andreas hörte mit durstendem Sinne, und es that ihm fast leid, als bei Tisch und später von harmlosen Gegenständen die Rede war und die jungen Leute in fröhlicher Unbefangenheit mit dem Lehrer verkehrten.

Als sie diesen mit einander verließen, trieb der fröhliche Jugendmuth seine neuen Gefährten noch zu einer Fahrt auf dem Wasser, und Andreas war gern mit dabei. Es war schon ziemlich spät, die letzten Lichtstreifen des Tages verflogen am Horizont, die Sterne und die erste goldene Sichel des Mondes standen am Himmel, leicht schwebte der Kahn auf den Wogen, und die umblühten Ufer glitten von der Dämmerung halb verhüllt langsam Vorüber. Nachtigallen sangen, leichte Nebelbilder zogen von den Wiesen hin über das goldig flimmernde Wasser. Andreas legte sich lang in den Kahn und ließ alles wie einen Traum an sich vorüberziehn.

O wie selig war ihm doch zu Sinne; in solch einem lichten, stillen Glanze hatte er die Welt noch nie gesehen, leise hörte er des Herrn Schritt vorüberrauschen, Wunder der Erde und des Himmels und die des Geistes zogen vorüber seiner ahnenden Seele. Was ist es denn, was im unermeßlichen Blau dort oben brauset? was die schimmernde Welt bewegt? was ists was die Erde hier lieblich sprossen und blühen macht, und in den Menschen den Funken gelegt, der mit Sehnen und Streben und Ringen und Kämpfen zur Gluth gefacht, bis in den Himmel und in die Ewigkeit flammen kann? Ja was ists! Du weißt und fassest es nicht, ahnest es kaum, – spreizest dich aber im kindischen Aberwitz, möchtest mit der spannegroßen Kraft deines Verstandes diese Wunder der Welt umfassen und erklären, ja weiter hinaus noch die Wunder des Geistes und der Ewigkeit. Armer Mensch, der du das Fünklein deines Geistes, das dir übergebene Gottesgut, so als dein Eigenthum betrachten und vergeuden kannst! Wenn der Herr nun Rechenschaft von dem anvertrauten Pfunde fordert? und du sagst: Herr, ich habe damit gespielt und habe es zum eignen Vergnügen meiner Mitgesellen verwendet, das deuchte mir so lieblich und angenehm, auch legte ich Ehre damit ein, so daß ich die Zeit der Rechenschaft darüber ganz vergessen habe. – Ei du ungetreuer Knecht, spricht der Herr, sagte dir die Stimme deines Innern nicht deutlich genug, daß dies Fünklein nicht in träger Ruhe und Selbstgefälligkeit verglimmen soll? – Ja, die Sehnsucht deiner Jugend schon treibt und drängt dich, du sollst kämpfen und ringen, die Tiefen der Geisteswelt mühsam durchdringen, für den Himmel schaffen, nicht zum Vergnügen dieser Welt. Sie geht vorüber wie im Traum. Wehe dir, wenn dir nichts anderes übrig blieb!

Andreas ward in dieser beschaulichen Stimmung durch den fröhlichen Gesang seiner neuen Freunde unterbrochen, ihre frischen jugendlichen Lieder tönten weit über das Wasser dahin. Andreas hörte staunend zu. Es waren ja dieselben Lieder, die er oft mit seinen Freunden gesungen, und doch kamen sie ihm anders vor. Ja weil der Geist, in dem sie gesungen wurden, ein anderer war. Keinen rohen Scherz, keine leichtfertigen Reden hörte er dazwischen fallen, es war ein reiner, fröhlicher, kindlicher Sinn, der seine neuen Freunde erfüllte.

Als er spät allein auf seiner Stube war, und den Tag überdachte, fühlte er, daß es ein reicher für ihn gewesen sei, und als ein getreuer Haushalter sammelte er alles auf im Schreine seines Herzens.

Von jetzt an sah sich Andreas öfter mit den neuen Freunden. Immer wohler fühlte er sich mit ihnen, und ganz von selbst lösete sich das Verhältniß zu den früheren Bekannten. Ludwig machte ihm einst ernste Vorwürfe darüber. Du sollst sehen, Du wirst noch ein Kopfhänger, ein Pietist, so arg wie Dein Onkel in Auen, und Du bist doch ein vernünftiger Mensch und kannst das Treiben und Wesen solcher Leute nicht gut heißen.

Allerdings kann ich das nicht gut heißen, aber ich kann auch die Sachen, die Du von meinem Onkel erzählt hast, kaum mit seinem übrigen Wesen vereinigen. Darum habe ich mir jetzt vorgenommen, ich gehe hin und halte ihm offen sein Sündenregister vor. Er soll mir alles erklären, damit ich endlich weiß, woran ich mit ihm bin.

Einmal den Entschluß, der schon länger in ihm gekämpft, ausgesprochen, machte er sich sogleich auf den Weg.

Es war an einem heißen Sonntags Nachmittage und zwar im Juli, als Andreas nun zum zweiten Mal in die offene Gartenpforte trat. Seit zwei Monaten war er nicht hier gewesen. Weil er sich immer noch unklar, besonders dieser Familie gegenüber, fühlte, hatte er den Besuch von Woche zu Woche hinausgeschoben. Er trat in den Garten, der jetzt schon sommerlich dicht und voller duftender Centifolien war. Der Oheim saß mit der Tante und mit den Kindern in der großen Laube, und alle begrüßten den Ankömmling mit großer Freude. Andreas bemerkte an einigen Worten des Oheims, daß man von seiner angeknüpften Bekanntschaft mit jenem Professor und von seinen neuen Freunden wisse. Es machte ihn verlegen und er hatte nicht eher Ruhe, als bis er beim Oheim die Bitte, ihn allein zu sprechen, angebracht hatte. Der Oheim war sehr erfreut darüber, und bald wanderten beide einen einsamen Weg am Fluß entlang.

Der Oheim hörte ruhig lächelnd Andreas Anklage mit an. – Es freut mich, daß Du so offen mit der Sprache heraustrittst, nahm er darauf das Wort, – ich will Dir gründlich alle Deine Fragen zu beantworten suchen. Allerdings geht hier jetzt niemand zum heiligen Abendmahl, der sich nicht bei mir gemeldet hätte, auch wirst Du keine Tanzmusik in den Gasthöfen hören, und nur als seltene Ausnahme am Sonntage arbeiten sehen. Und ich will Dir nun sagen, auf welche Weise ich das erzwungen habe. Als ich herkam, ward des Sonntags getanzt, gespielt und gelärmt. Es ward durchgearbeitet und vom Kirchengehen war nicht viel die Rede. Selbst zu kommen, um sich zum Abendmahl zu melden, fiel keinem ein. Dienstleute oder sonst Leute, die gerade des Weges hier vorübergingen, mußten die Bestellung übernehmen. Nun meinst Du wohl hätte ich von der Kanzel gegen das Tanzen, Singen und Saufen geeifert, mit allen Teufeln gedroht, wo sie nicht Buße thäten und in meine Kirche kämen? Oder Du meinst, ich hätte die Dienstleute mit dem Beichtgelde fortgeschickt mit der Bedeutung, ein jeder müsse sich selber bei mir zum Abendmahl melden? Nein, so that ich nicht. Ich dachte: hier ist das Land schlecht bestellt, ehe du hier Saamen streuen und Früchte sehen willst, mußt du tüchtig ackern. So predigte ich erst das Evangelium der Liebe, es mußte das Werkzeug sein, die harten Herzen zu erweichen, und zugleich begann ich den Verkehr mit meinen Beichtkindern. Ich besuchte sie oft, sprach mit ihnen von Dingen die ihnen am Herzen lagen, von ihrer Wirthschaft, von ihrer Familie. Ich dachte: die Zeit wird kommen, wo du mit ihnen von Dingen zu reden hast, die dir am meisten am Herzen liegen. Ich mußte erst ihr Vertrauen gewinnen, und ihnen menschlich nahe treten. Es ließ sich übrigens an diese Wirthschafts- und Familiengespräche manch gutes Wort anknüpfen, und den Leuten machte das so in das gewöhnliche Leben hineingreifende Gottes-Wort recht vielen Eindruck. Mit Freuden bemerkte ich, wie ich nach und nach als ihr Freund immer mehr Einfluß über ihre Herzen bekam. Hausväter und Hausmütter bemüheten sich nun, meinen Sinn zu verstehen und ihm zu folgen, sie überwachten ihre Kinder und ihr Gesinde, daß sie nicht zum Tanzen, Spielen und Trinken gingen. Jeden Sonntag Nachmittag besuchte ich mehrere Familien, und es ward ihnen bald eine so große Freude, mich bei sich zu sehen, daß sie in der Erwartung, ich möchte kommen, gar das Haus nicht verließen. Späterhin begleitete mich auch meine Frau auf diesen Besuchen, und sie hatte sich bald durch ihre Theilnahme und Liebe für die Gemeinde die Gegenliebe aller erworben. Wir führten ferner ein, daß die Leute des Sonntags oder Feierabends hin und wieder zu uns kamen, sie wurden von uns freundlich bewirthet und unterhalten, ich erzählte von meinen Reisen, meine Frau erzählte aus ihrem Leben, wir theilten uns gegenseitig die Leiden und Freuden unseres Familienlebens mit, oder ich las ihnen aus einem guten Buche vor, oder bei passender Gelegenheit ein Kapitel aus der Bibel. Und mir und meiner Gemeinde waren diese Sonntags- und Feierabends-Stunden ein Genuß. Ja bald hatte ich die Freude zu sehen, daß selbst jüngere Leute meine Gesellschaft ihren Tanz- und Trinkvergnügen vorzogen. Als ich sie nun so genugsam vorbereitet hatte, trat ich immer mehr mit der Fülle und Kraft des Evangelii hervor, sie waren jetzt willig es aufzunehmen, und der Herr gab seinen Segen dazu. Achtzehn Jahre habe ich mit gleicher Freude die Kanzel betreten, um des Herrn Wort zu verkündigen, und achtzehn Jahre habe ich mit gleicher Freude auf die Weise, wie ich es Dir schilderte, mit meiner Gemeinde gelebt. Das Predigen und das Verrichten der Amtsgeschäfte ist nicht genug, der Prediger muß mit der Gemeinde ein Herz und eine Seele, muß ihr Freund und Rathgeber und Führer sein. Es giebt viele Aemter in der Welt, sie sind alle vom Herrn, wer sie in seinem Sinne vertritt, ist ihm wohlgefällig; aber es giebt ein Amt der Aemter! das ist ein Diener des Herrn sein, für das Höchste zu leben, für die Ewigkeit zu schaffen. Wer den Sinn nicht gefaßt hat, und es wagt sich vor den Altar zu stellen, begeht eine große Sünde. Andreas, ist das nicht ein erschütternder Gedanke: vom Herrn berufen sein, ihm zu dienen? O Andreas, folge der Stimme, und sei ein treuer Hirte, Dein Leben sei dem Herrn geweiht, der Welt gehörst Du nicht mehr an. Ob sie Dich lobt oder tadelt, Dir schmeichelt oder drohet: Du bist ja kein Diener der Welt, willst nicht ihr zu Ehren und zu Gefallen leben, sondern einem höhern Herrn zu Ehren; Dein Haus, Deine Kirche und Deine Gemeinde das ist Deine Welt, und könnt ich Dir die Seligkeit dieser Welt beschreiben! Andreas, entweder oder –

Ich will! sagte Andreas und reichte dem Oheim die Hand. Der Herr wird mich segnen.

Und nun, sagte der Oheim, habe ich kaum Dir noch auf Deine Fragen etwas zu sagen. Du siehst wohl, wenn ich so mit der Gemeinde ein Herz und eine Seele bin, wird sie dem Herrn und mir zu Liebe solche Wünsche erfüllen, von denen ich Dir vorhin sagte. So ists auch mit dem Abendmahl. Sie kommen so gern zu mir, mir ihr Herz auszuschütten, mir ihre Stimmung und ihr Bedürfniß mitzutheilen, und ich kenne sie genau genug, um sie trösten und stärken zu können. – Der Oheim theilte noch manche Züge aus seinem Prediger-Leben mit, und sie waren indessen wieder in die Nähe der Pfarre gekommen. Da nahm sich Andreas ein Herz und sagte:

Eines, Onkel, ist mir noch nicht klar in Eurem Familienleben. Wie könnt ihr es dulden, daß Anna so schnell zum Urtheilen und Richten ist? Bei ihr scheint mir der Vorwurf, den man den Leuten Eurer Richtung macht, nicht ungerecht. Sie erhebt sich gern über andere Menschen, ist immer bereit, zu verwerfen, und spricht wohl im Sinne der Liebe, ohne doch vom Geist der Liebe erfüllt zu sein, denn die Liebe mag gern alles festhalten und sich zu eigen machen, und nicht trennen und von sich weisen.

Der Oheim lächelte. – Meinst Du, daß, wenn sie eine andere Richtung hätte, sie weniger scharf und lieblos sein würde? Nein, ihre lebhafte, herrschsüchtige Natur würde nur noch mehr hervortreten. Warum können bei unserer Richtung nicht auch harte Naturen sein? Wir loben ja das nicht, aber wir können es nicht ändern, weil wir alle schwache Menschen sind. Anna mag an ihrem eignen Herzen die Erfahrung machen, wie weh es thut, hart und lieblos zu sein, sie mag selbst erfahren, wie Eifer am unrechten Orte nur Schaden bringt. Sie hat die Erkenntniß vom Rechten und auch ein gutes Streben, sie wird sich also durchkämpfen. Daß sie von Anfang an so entschieden gegen Dich aufgetreten ist, liegt darin, daß sie Dich für einen argen Rationalisten hielt und noch hält.

Andreas schwieg zu dieser Beschuldigung, und beide traten in den Garten. Die Tante war mit den Kindern und einigen Leuten aus dem Dorfe darin. Andreas verlebte nun einen ähnlichen Sonntag mit ihnen wie den ersten, und wanderte am andern Morgen nach der Universität zurück.

Hier gab er sich immer mehr einem schönen ernsten Leben hin. Er befreundete sich immer mehr mit dem Professor und mit den Commilitonen, und als das Semester zu Ende war, sah er mit dankbaren Blicken darauf zurück; denn ein neues war ihm damit aufgegangen.

Die Michaelisferien hatte er eigentlich versprochen beim Bruder zuzubringen; aber einige Freunde verabredeten eine Reise in sein heimathliches Gebirge, so daß er nur die ersten vierzehn Tage bei dem Bruder sein konnte, von wo die Reisegefährten ihn dann abzuholen versprachen. Kaum waren die Collegia geschlossen, so wanderte er fort nach Winstädt, einem ziemlich großen Dorfe, wo sein Bruder Christian Pfarrer war und wo er seit seiner Jugend fast alle Ferienzeiten verlebt hatte.

Es war ein reiner Augusttag, in den einzelnen Haferfeldern, die noch nicht geschnitten waren, leuchteten blaue Kornblumen und rother Mohn, und in den Obstalleen hingen die Zweige reich an Früchten, als Andreas Winstädt erreichte. Stattlich lag es da an dem Fuße einer Gebirgskette, die ihn mit ihren fernen und nahen Höhen so heimathlich grüßte. Seit Ostern war er nicht hier gewesen, es däuchte ihn aber viel langer, so Vieles und so Bedeutendes hatte er erlebt. Wie viel schöner erschien ihm jetzt die Welt und reicher und glücklicher. Wie sehnte er sich nach dem Bruder, nach der Schwägerin und den Kindern, es war ihm, als hätte er sie noch nie so sehr geliebt.

Mit dem sonnabendlichen Abendläuten trat er auch hier in den Garten, und unwillkürlich dachte er auch hier die Familie, wie in Auen, in feierabendlicher Ruhe versammelt zu finden. Er stand still und mußte sich erst besinnen, daß er nicht in Auen sei.

Eine Magd mit aufgeschürztem Rock, einen Besen in der Hand lief schimpfend hinter zwei kleinen Mädchen her, die lachend ihren Drohungen zu entgehen wußten. Na wartet nur! ich werde es der Mutter sagen! rief die Magd. Sich so voll zu sauen! Wie die Ferken sehen sie aus, diese großen Mädchen. – Mit diesen Worten verließ sie den Garten.

Andreas trat vor und wurde von den Kindern mit lautem Jubel begrüßt. Er fragte nach Vater und Mutter. Der Vater studirt, die Mutter ist im Kränzchen, war die Antwort. Heut zum Sonnabend? fragte Andreas verwundert.

Gerade zum Sonnabend, nahm Agnes, das älteste Mädchen, altklug das Wort. Sieh mal, Sonnabends wird überall rein gemacht, nur drüben bei der Frau Bergräthin, weil die allein ist, dauerts nur einen halben Tag. Da geht die Mutter, die Frau Oberförsterin, und die Frau Amtmann aus Hainau jeden Sonnabend Nachmittag hin.

Der Sonnabend ist ein recht häßlicher Tag! sagte Anna, die jüngere Schwester. Schule haben wir nicht, im Haus wird rein gemacht, die Mutter ist nicht da, man weiß nicht wohin.

Das ist nicht anders, entgegnete Agnes wieder altklug, wenn wir groß sind, gehen wir auch in Kränzchen.

Andreas ging jetzt den Bruder zu begrüßen. Im Hausflur stand die Magd und goß ihm grade einen Eimer Wasser entgegen. Sie entschuldigte sich lachend. – Ach je, wo nun hin mit dem jungen Herrn? In der Wohnstube ists noch nicht abgetrocknet. Gehen Sie in die Studirstube zum Herrn Pastor. – Während Andreas die Treppe hinauf ging, scheuerte sie tüchtig los, und ein anderes Mädchen putzte mit vielem Geräusche die Schlösser.

Christians Freude, den Bruder wieder zu sehn, war unverkennbar, und bald saßen beide Brüder im traulichen Gespräch vertieft. Doch saßen sie so nicht lange, als zwei Knaben, einer von 9 der andere von 13 Jahren in die Thür stürmten. Nachdem sie ihre Freude über des Onkels Wiedersehen bezeugt hatten, fragten sie ungestüm nach der Mutter und stöhnten, als es hieß, sie ist noch nicht zu Hause: Es ist gleich sieben, wir sind so hungrig. Auch Agnes und Anna kamen herbei und stimmten in diese Klagen ein. Der Vater suchte sie erst zu beruhigen; als das nicht half, ward er ärgerlich und schickte sie fort, die Mutter zu holen. Sie kehrten bald zurück und die Mutter mit ihnen, die aber nicht besonderer Laune schien. – Aber Sofie! hörten die beiden Brüder sie ziemlich laut sagen: wie kannst Du die Kinder in solchem Aufzuge zur Bergräthin schicken? – Die Magd dagegen schüttete eine Fluth von Vorwürfen über die ungezogenen Kinder aus, die Mutter wandte sich nun auch zu diesen, hielt ihnen eine lange Strafpredigt und trat noch in großer Aufregung zu ihrem Manne und Schwager ein. Selbst Andreas Willkommen konnte sie nicht von der Sache abbringen. Aber lieber Christian, wandte sie sich bald zu dem Manne, hast Du denn die Kinder nicht fortgehen sehen?

Allerdings, sagte dieser treuherzig, ich habe sie selbst zu Dir geschickt.

Wie kannst Du mir aber das zu Leide thun? Sie sahen doch aus wie aus dem Dreck gezogen! Und die Oberförsterin zieht ihr Minettchen immer übertrieben eigen und kostbar an. Dagegen war es mir wirklich ein Stich durch das Herz, als ich meine Kinder so eintreten sah.

Christian entschuldigte sich mit dem Sonnabend, mit seinen Geschäften und mit Andreas Ankunft, und als das nicht helfen wollte, zog er die Sache in das Spaßhafte, machte Scherze darüber, und sie war gutmüthig genug, darauf einzugehn, und nahm nach einiger Zeit beruhigt den Schlüsselbund in die Hand, um der Kinder Hunger zu stillen und das Abendbrot zu fördern.

Bald saß die Familie um den Tisch. Andreas faltete die Hände, niemand aber bemerkte es. Die Kinder klapperten mit den Löffeln, forderten sich laut dies und jenes, und die Mutter vermahnte sie mit scharfen Worten. Von Beten war nicht die Rede, – ja wo so gebetet wird wie in Auen, da muß ein anderer Geist die Herzen erfüllen. – Als die Kinder satt waren, stand eines nach dem andern auf, sie liefen fort, und kamen wieder, indessen die Eltern von allerhand gleichgiltigen Dingen redeten.

Eben waren auch sie aufgestanden, als der Oberförster, der im Orte wohnte, eintrat. Er begrüßte Andreas als einen alten Bekannten, und bat beide Brüder zu ihm zu kommen. Der Forstmeister war bei ihm, und es lag ihm viel daran, den vierten Mann zum Boston-Spiel zu haben.

Christian entschuldigte sich mit dem Sonnabend, aber der Oberförster nahm das nicht an. Sie werden mir doch damit nicht kommen? Sie alter Praktikus! ich glaube, wenn man es von Ihnen verlangt, machen Sie wohl in zwei Stunden eine Predigt, stellen Sich auf die Kanzel und halten sie ohne Anstoß.

Die Frau Pastorin schmunzelte. – Deswegen könnte er es wohl, sagte sie, aber er vermeidet es gern, des Sonnabends auszugehen.

Kommen Sie mir damit nicht! lachte der Oberförster. Nur nichts von Heuchelei! Wenn Sie der Predigt wegen nicht zu Hause bleiben, möcht ich wissen warum sonst?

Nun es sind doch immer Rücksichten zu nehmen. Gerade den Sonnabend bei Ihnen spielen – sagte der Pastor.

Halten Sie es denn überhaupt für ein Unrecht, bei mir zu spielen?

Nein das nicht.

Dann können Sie als ein vernünftiger und wahrhafter Mensch es auch am Sonnabend nicht für Unrecht halten.

Es wurde hin und her kapitulirt; aber das Ende war, der Pastor ging mit. Andreas blieb zurück, um der Schwägerin Gesellschaft zu leisten, und weil er doch bei der Bostonpartie übrig war, erhielt er leicht vom Oberförster die Erlaubniß.

Andreas saß nun mit der Schwägerin im Garten. Er mußte ihr erzählen, wie es ihm gegangen in dem halben Jahre; aber besonders neugierig war sie, von den Verwandten in Auen zu hören. Er schilderte das Familien-Leben dort, und im Contrast zu dem heutigen Abende unwillkürlich mit sehr warmen Farben. Die Schwägerin fragte, was eigentlich an den vielbesprochenen Urtheilen über des Oheims religiöse Ansichten Wahres sei. Andreas suchte der Antwort auszuweichen, und entgegnete nur, daß an dem Lebenswandel des Oheims und dem Geiste, der das ganze Haus beseele, nichts auszusetzen sei. – Es ist wahr, sagte die Schwägerin von oben herab, daß diese Leute sehr oft ein sehr glückliches Familienleben führen. Warum soll man nicht loben was zu loben ist? – Darauf brachte sie mit solcher Gewandtheit und Verstandesschärfe ihre schönen moralischen Reden hervor, daß Andreas jetzt begreifen konnte, warum er sich früher so von ihr hatte täuschen lassen. Er sagte gar nichts, sah vor sich nieder und dachte an die Tante in Auen, wie verschieden sie von der Schwägerin war. Von der Tante hatte er nie viele moralische Sentenzen gehört, aber ihr ganzes Leben und Wesen war der Ausdruck ihres Innern, es bedurfte keiner Worte, um die Schönheit ihrer innern Welt zu beschreiben. Und der Schwägerin hier war es mit allem Reden nicht möglich, ihrem ungemüthlichen Leben einige Wärme zu verleihen. – Die Moral ist eine gefährliche Sache, besonders für Frauen. Sie ist eine Verbündete des Verstandes und bildet mit diesem eine der Gemüthswelt, die doch einzig und allein ein Frauenleben beglücken kann, entgegengesetzte Welt. Eine Frau kann die erhabensten moralischen Ansichten und Begriffe haben, und ihr Leben bleibt deswegen doch ein unbeseeltes und unbefriedigtes. Dagegen eine andere, vom Gemüthe bewegt, lebt und handelt ohne den Verstand zu fragen, sie wird von einer höhern Macht getrieben, ihr ganzes Leben ist durchglüht von dieser Macht, und sie würde kaum Worte finden können, zu sagen, warum ihr Leben grade ein solches ist, und sein muß.

Andreas verließ mit der Schwägerin den Garten, weil es kühl geworden war. Aber auch im Zimmer blieb er nicht lange, er war müde von der Wanderung, und sehnte sich nach Ruhe. Die Schwägerin war ganz damit einverstanden, und griff nach einem Taschenkalender. Ich lese nun, bis Christian kömmt, sagte sie, und das wird nicht allzu früh sein. Uebrigens, fügte sie hinzu, sind mir diese Abendstunden, wenn die Kinder zu Bett sind, die liebsten. Bei einem guten Buche läßt es sich schon wach bleiben.

Andreas fiel es jetzt erst auf, daß die Kinder, nachdem sie noch im Garten und Hof allein gespielt, zu Bett gegangen waren.

In seiner Stube allein, trat er vor das offene Fenster. Der Vollmond stand am weichen blauen Nachthimmel und hüllte die ruhende Erde in seinen milden Schein. Andreas schaute auf die Kirche, auf die Pfarre, auf das Dorf, es war ihm als ob das alles verwaiset sei, als ob es mit gesenktem Blick in Trauer stände, und eine tiefe Wehmuth durchzitterte sein Herz. Der Pastor sitzt beim Oberförster am Spieltisch, die Frau Pastorin liest im Taschenkalender, und die Kinder, nachdem sie den Tag über den Dienstboten überlassen waren, ruhen ohne Abendsegen und Gute Nacht in ihren Betten. Armer Christian! Du willst ein Diener des Herrn sein? wie kannst du dich so täuschen? Du und dein Haus ihr dienet dem Herrn nicht, es ist nicht geweiht und durchdrungen von seinem Sinn; und niemand kann zween Herren dienen. – Andreas schaute noch lange zum Nachthimmel auf und legte sein Herz und die Wünsche und Bitten, die es hegte, dem Herrn vor.

Als er am andern Morgen sein Zimmer verließ, hörte er lautes Rufen und Schreien der Kinder. Er trat in die Kinderstube und fand dort Mädchen und Knaben im halben Anzug, nach den fehlenden Kleidungsstücken rufend. Die eintretende Magd zankte wider ihre Ungezogenheit und verwies sie zur Geduld. Andreas kam in die Wohnstube, da stand seine Schwägerin in etwas vernachlässigtem Morgenanzuge am Plättbrett und plättete sehr eilig die Sonntagskleider der Kinder. – Die Schelme sind mir heute so früh aufgestanden, sagte sie ärgerlich. Sonst schlafen sie Sonntags lange genug. Nun muß ich mich ordentlich hetzen, um fertig zu werden. – Sie verwies darauf Andreas zu ihrem Manne, um dort den Kaffee zu trinken. Andreas wollte nicht in das Studirzimmer gehen, um den Bruder nicht zu stören, aber die Schwägerin versicherte, das störte den nicht, und der Kaffee wäre für ihn dahin besorgt.

Christian lag auf dem Sofa sehr mißvergnügt. – Bist Du unwohl? fragte Andreas.

Gerade nicht unwohl, aber es ist mir so fatal zu Muthe. Wir haben bis 11 gespielt, und der alte Forstmeister ist unerträglich beim Spielen, ich habe mich über ihn geärgert, konnte darauf nicht einschlafen, und es ist mir jetzt noch etwas wüst im Kopfe.

Und nun predigen? bedauerte Andreas.

Ach das thut nichts! entgegnete der Bruder. Ich lasse lange Lieder singen und fasse mich heute kurz. Das ist den Leuten in der Hitze ganz recht.

Andreas nachdem er gefrühstückt hatte, verließ den Bruder, um, weil es ihm im Hause so wenig sonntäglich war, in Wald und Feld sich zu erbauen. In Gedanken verlieft wanderte er, bis die Glocken zur Kirche riefen. Der Orgelklang und die schönen Lieder erfüllten ihn mit Andacht; nur war es ihm traurig, als er die langen Verse sah, daß er sich sagen mußte: die hat er gewählt, dein Bruder, um den Herrn damit zu betrügen, und sichs bequem zu machen. – Christian trat auf die Kanzel. Er sprach geläufig und mit Pathos, ja er rührte einige Mitglieder zu Thränen, indem er Unglück und Leiden schilderte, die sie grade berührten. Aber Andreas blieb unbewegt davon. Wie leere Spreu verwehten die Worte im Winde, da war auch nicht ein einzig schweres Korn, was in einem Herzen hätte Frucht bringen können.

Als die Kirche aus war und Andreas nach Hause kam, fand er den Bruder in der Wohnstube bei der Frau, und zwar weit vergnügter als den Morgen vor der Predigt. Er lachte Andreas an, rieb sich die Hände und sagte: Die Sache wäre ja gemacht! Heut Morgen war mir hundsföttisch zu Muthe. Und nun, Amalie, – wandte er sich zu seiner Frau, – was hast Du uns für ein Sonntagsvergnügen bereitet?

Amalie reichte zärtlich dem Manne die Hand und sagte, daß sie zum Nachmittag und Abend Oberförsters mit ihrem vielen Besuch eingeladen. Hast Du wohl den Forstmeister gesehen? er war in der Kirche, fügte sie hinzu. Christian bejahte es.

Aber auch unsere Frau Schulzen war in der Kirche, fuhr sie fort. Haben denn die schon getauft?

Freilich, war die Antwort, den Tag, als Du zum Jahrmarkt wärest.

Was die Frau für einen Staat macht! Es ist zum verwundern.

Sie ist reich genug.

Ja, sie bildet sich auch gehörig was darauf ein. Wenn ich ihr begegne, meinst Du, daß sie zuerst grüßt?

Du begegnest ihr aber wohl nicht oft? lachte der Pastor.

Freilich nicht. Und was ich Dich fragen wollte. Ist denn der Müller von der Waldmühle krank gewesen? Der sieht ja jämmerlich aus.

Und recht krank seit vielen Wochen, mitsamt seiner Frau. Ich bin ja auch ein paarmal hingewesen; man kann den Leuten nur nichts helfen.

Auf diese und ähnliche Weise wurde von dem Ehepaar noch mancherlei besprochen. Andreas hörte schweigend zu. War das der Prediger und die Predigerfrau, die so fremd und theilnahmlos von der Gemeinde sprachen? Ja und noch dazu war es sein Bruder, den er bis jetzt für ein Muster von einem Seelsorger gehalten hatte.

Das Mittagsbrot stand auf dem Tische. Die Kinder waren, weil es heute noch mehr wünschenswerthe Sachen gab, noch stürmischer und geräuschvoller als gestern Abend, so daß die Mutter mit manchen scharfen Ermahnungen und Drohungen sich Ruhe verschaffen mußte. Der Vater sah gutmüthig darein, lachte auch wohl über einen unartigen Witz der Kinder. Nach Tische hielt er, um die versäumte Nachtruhe wieder einzuholen, einen längern Mittagsschlaf für nöthig, und ließ darum den Kantor katechesiren. Die Mutter, von den Töchtern unterstützt, bereitete alles mögliche zur Gesellschaft vor, und als Andreas gegen 3 Uhr zu ihnen kam, war das Gesellschaftszimmer allerdings sehr einladend anzusehen: der Kaffeetisch weiß behangen, mit den goldgeränderten Tassen und Kuchentellern besetzt, daneben der Tisch mit Pfeifen und Taback, und Mutter und Kinder noch ganz besonders festlich geschmückt.

Die Gesellschaft kam, und Andreas verlebte nun einen Nachmittag und Abend, wie er sie so oft verlebt hatte. Eine gewisse Behaglichkeit und Bequemlichkeit lag auf allen Gesichtern. Es wurde leichtfertig und nicht leichtfertig gescherzt, gegessen und getrunken und gespielt. Die Kinder entfernten sich müde eines nach dem andern, und die Eltern schlossen diesen Sonntag mit dem Gefühl, außerordentlich liebenswürdige Wirthe gewesen zu sein und den Gästen einen vergnügten Tag bereitet zu haben.

Andreas, ehe er in sein Zimmer ging, trat noch einmal in die Kinderstube, ein Gefühl des Mitleidens und der Theilnahme zog ihn hinein. Der Mond schien so hell in die Fenster, die Kinder lagen im tiefen Schlummer. Es rührte ihn dieser Anblick. Wie seid ihr doch so verwaist, ihr Armen, und so einsam in einem christlichen Pfarrhause! Für euch ist noch kein Heiland geboren, für euch ist kein Vater im Himmel, ihr wißt nichts von seinen heiligen Engeln. Aber der Herr wird euch zu führen wissen, er wird euch an seiner Hand halten und euch erlösen! – Seine Gedanken wurden zum Gebet, und beruhigt und voller Zuversicht legte er sich selbst zur Ruhe.

Die Woche ging nun hin, wie es in einem bewegten Hause gewöhnlich geht. Es wurde gewirthschaftet, gearbeitet, Christian leitete seine kleinen Ernte-Arbeiten, dazwischen wurden Spaziergänge und Besuche gemacht, und Andreas beschäftigte sich viel mit den Kindern, die mit ganzer Seele an dem jugendlichen Onkel hingen, der prächtig mit ihnen zu verkehren wußte.

Am Freitag sagte Amalie zu Andreas: Wie schön, daß Du grade hier bist und morgen des Hainauer Amtmanns Geburtstag und Erntefest mitfeiern kannst. Das ist immer ein gar zu hübscher Tag.

Zum Sonnabend? fragte Andreas.

Ja, damit die Leute am Sonntag ausschlafen können, sagte Amalie klug.

Das ist aber doch für den Sonntag traurig, entgegnete Andreas.

Nun einen Sonntag – das thut ja nichts! warf Amalie ein.

Andreas schwieg. Er hatte sich ja vorgenommen, für diesmal ruhig zu prüfen und nicht einzureden.

Es ist mir allerdings nicht recht, daß ich den Sonntag nicht predigen kann, nahm Christian das Wort.

Das ist wirklich zum ärgern! eiferte Amalie. Für Oberförsters Hauslehrer ist es eine Wohlthat, einmal zu predigen, und Du bist immer so peinlich darin. Du übertreibst die Gewissenhaftigkeit, womit Du Dein Amt versiehst.

Ich lasse mir nicht gern von den Leuten etwas nachreden.

Aber Christian, wem sollte das wohl einfallen? Du bist doch, ohne Schmeichelei gesagt, hier in der Gegend einer der geachtetsten Pastoren. Denke! in Hainau, in Rauhbach, wie treiben es die mit ihrer Pflicht?

Mein Kind, sagte Christian ernst: die Leute nehme ich mir nicht zum Vorbild.

Ist denn am Sonntag nicht Abendmahl, und morgen das Anmelden dazu? fragte Andreas.

Zum Abendmahl bin ich wieder hier, entgegnete Christian.

Und das Anmelden? wiederholte Andreas.

O, unser Mädchen ist ganz ehrlich, sagte Christian, wir können ihr vollkommen trauen. Sie schreibt die Leute auf einen Zettel und liefert das Geld ab.

Auch Agnes kann morgen ruhig im Hause bleiben und die Leute aufschreiben, fügte Amalie hinzu.

Andreas schwieg wieder und staunte, wie sie beide gar keine Ahnung hatten von dem, was er sagen wollte, und wie dem Bruder gar kein Zweifel aufzustoßen schien über das Amt eines Seelsorgers. War denn das das Ganze, sich die halbe Stunde vor den Altar stellen und Brot und Wein austheilen? Es ward ihm ganz bange zu Muthe: wie war es möglich, das Sakrament so zu entwürdigen? Er dachte an den Oheim in Auen, – und Christian ging wohlgemuth zum Erntefest.

So ging der Sonnabend hin, und der Sonntag war wie der vergangene, nur ohne Gesellschaft, weil Christian und Amalie abgespannt und müde waren. Am Montag rüstete sich Andreas zur Gebirgsreise. Es war ihm nicht möglich, länger zu bleiben, in einer einsamen Försterei bei weitläufigen Verwandten wollte er seine Freunde erwarten. Christian und Amalie waren damit einverstanden, daß Andreas die Ferien zu der Gebirgsreise benutzen wollte, und ließen ihn mit leichtem Herzen ziehen.

Andreas Herz war indessen schwer. Er dachte an die Pfarre in Auen und an die in Winstädt. Wie war es nur möglich, daß er früher das alles so mit ansehen konnte? Ja daß er Christian für einen vortrefflichen Seelsorger hielt? Und wurde dieser nicht noch von seinen Freunden und Bekannten dafür gehalten? Er war ein Muster von Pflichttreue, niemand konnte ihm etwas Ungehöriges nachsagen, er lebte glücklich mit seiner Frau, in Frieden mit seiner Gemeinde, war wohlthätig, war gefällig und liebenswürdig in Gesellschaft, und besaß noch viele andere Tugenden, und man sagte von ihm: Es ist ein kluger Mann, ein guter Mann, ein toleranter Mann, es läßt sich mit ihm leben. – So klingt das Urtheil der Welt! Aber wehe, wenn der Herr das Urtheil sprechen wird, wenn das Leben vorüber und für die Ewigkeit davon nichts übrig blieb. Die Gefälligkeit mit der er am Spieltisch sitzt, mit der er seine Gäste unterhält, wird ihm für nichts gerechnet; und wenn er predigt, um den Menschen zu gefallen und ihnen Thränen auszulocken, sie werden ihm für nichts gerechnet; und wenn er äußerlich hin und wieder wohlthut, tolerant ist, und lebt und leben läßt, es wird ihm alles für nichts gerechnet werden; wohl aber der innerliche Tod, zwischen ihm und der Gemeinde, der Tod im Familienleben, und im Verhältniß zu Gott und der Ewigkeit. – Armer Christian! wenn ich dir helfen könnte! Aber ich hoffe es zu Gott wenn ich selbst erst durchgekämpft habe werde ich mit seinem Beistand auch dir helfen.

Nachdem Andreas die schöne Reise vollendet hatte, gab er sich mit allem Ernst und Eifer den Studien hin. Mit frischem Muth und festem Vertrauen verfolgte er sein Ziel, zwar nicht ohne schwere Kämpfe, aber die Macht der Wahrheit zog ihn gewaltig. Die Besuche in Auen waren seine Festtage und besonders das heilige Christfest, das er mit der glücklichen Familie verlebte, war ein heller Stern, der mit ganz wunderbarem Lichte seine Seele füllte.

So war der Winter hingegangen. Ostern reiste er nicht nach Hause. Er wünschte, das Christian und Amalie erst nach Auen kämen, und beide hatten es auch zum Sommer versprochen.

Es war wieder ein schöner Maientag, Andreas wanderte glückselig durch die blühenden Felder und Auen hin. Er hatte seine erste Predigt im Herzen und wollte den Oheim darum bitten, daß er morgen dort predigen dürfe. Auf dem bekannten Hügel saß er wieder unter der Eiche, die goldenen Blättchen leuchteten wie damals, als er zuerst hier saß, der Schlehenbusch blühte, und die Blumen zu seinen Füßen. Er hatte alle Gedanken, die sein Herz beschwerten und doch keinen Frieden brachten, von sich geworfen, er war ein Kind, das da so sicher am Vaterherzen ruht. Er schaute hinauf recht tief in den Frühlingshimmel hinein, es war ihm als wurde er hinangehoben, und er träumte so schön. Das unendliche Blau, mit der Sonne ewigem Gold verbrämt, umwallte ihn so weich und kühl, es wallete hinan bis zu Gott dem Herrn, und zum Heiland und allen Heiligen, und er fühlte ihre Nähe, wie sie segnend ihn bewegte. Und als er da die Augen schloß und nichts weiter fühlte, in des Herrn Kleid gehüllt, lag er wie ein Kind im Arm der Mutter und hätte da mögen süß schlummern und gar nicht erwachen.

Er schlug die Augen wieder auf. O wie schön! O wie schön ist doch auch Deine Welt! Herr, so lange Du willst, will ich darauf leben, und Dir zu Ehren schaffen und arbeiten.

Er stand jetzt auf, schritt durch das Wiesenthal hin nach dem Dorfe, das mit seiner Pfarre und Kirche und seinen stillen Hütten im frischen Maiengrün so lieblich schimmerte. Er trat in die Gartenpforte, der Garten war wieder in voller Blüthe, und jeder Platz, jeder Baum war ihm jetzt lieb. Die Tante mit den Kindern saß in der Fliederlaube, sie begrüßten ihn mit lauter Freude, er aber ging sogleich zum Oheim, der im Schattengang auf und nieder wandelte, und sagte ihm sein Anliegen mit klopfendem Herzen. Der Oheim drückte ihn an das Herz, Thränen im Auge. Der Herr wolle Dich segnen! sagte er und nichts weiter. Er ließ ihn allein und Andreas durfte nun da im Schattengang, die Predigt in der Hand, auf und nieder wandeln.

War es denn nur ein glücklicher Traum daß er hier an des Oheims Stelle wandern durfte? Nein es war Wahrheit. Anna wehrte mit einem bedeutungsvollen Blick auf ihn den Knaben, wenn sie zu laut wurden, die Tante sah still grüßend zu ihm hinüber, und der Küster mit dem Silberhaar trat mit dem Gesangbuch heran und ließ sich die Lieder sagen.

Andreas wandelte lange so auf und ab. Das Abendgeläut klang wieder in tiefen Tönen in den Abend hinein, der Sonne Gold hing an den schwarzen und weißen Kreuzen, und an den Blumen auf dem Gottesacker. Der Oheim, seine beiden Knaben im Arm, schaute andächtig darein, Mutter und Töchter hatten die Hände in den Schooß gelegt, – und Andreas? er schaute auch andächtig darein, das war wohl ein recht andächtiger Abend für ihn. – Als die Familie den Garten verließ, ward er nicht auf sein Zimmer geschickt; er stand bei Anna am Positiv und seine reine Stimme, so aus voller Brust, mußte den Gesang erst vollständig machen.

Am andern Morgen folgte er dem Rufe der Glocken, ganz ohne Angst, er hatte das feste Vertrauen, der Herr würde ihn stärken. Und so war es. Mit voller Jugendgluth legte er sein Bekenntniß ab, weihte er sich heute zum Diener des Herrn. – O Herr Gott, wie ist eine solche Seligkeit nur hier schon möglich? Gehe hin, du Welt mit deinen nichtigen Freuden und eiteln Sorgen, hier ist der Quell des Lebens, der die dürstende Seele stillt, hier wird die rechte Gluth des Herzens angefacht. Ja für einen Herrn will ich leben und athmen und streben mit den Kräften meiner Seele, für den Herrn, der, wenn die Welt mit all ihrem gepriesenen Schimmer verweht ist, bleibt in ewigem Reichthum, in ewigem Glanze und in ewiger Herrlichkeit.

Als Andreas die Kirche verließ, standen noch hin und wieder Leute an den Gräbern, sie grüßten ihn freundlich und ehrfurchtsvoll und sahen dann bedeutungsvoll sich an. Im Garten traf er Onkel und Kinder. Alle umarmten ihn und mochten vor Rührung nicht sprechen.

Doch als die erste Bewegung nun vorüber war, fragte der Oheim: Wo ist nur Anna? ich habe sie nach der Kirche noch nicht gesehen.

Die Tante sagte: Was sie hat; ich weiß es nicht, kann es mir aber wohl denken, – sie ging weinend hinein. Die Thränen aber sollen segensreich für sie sein, sie hat erfahren, daß sie wieder einmal recht hart und lieblos gewesen ist. Unseren Andreas wußte sie nicht scharf genug zu beurtheilen, sie wollte ihn bekehren und war so ungeduldig bei ihrem Werk, daß sie unsere Ruhe und falsche Toleranz, wie sie es nannte, gar nicht begreifen konnte. Andreas Predigt hat sie nun eines anderen belehrt, glaube ich.

Andreas hörte das mit an, und ging dann ungesehen in das Haus. Anna fand er in der Wohnstube am Fenster, ihm den Rücken zugewendet. Er trat leise näher und blieb scheu wieder stehen. Sie wandte sich jetzt zu ihm, ja sie hatte Thränen im Auge. Er reichte ihr die Hand. Da weinte sie noch mehr.

Verzeihe mir, Andreas, sagte sie, ich habe Dir Unrecht gethan, ich will es aber gut machen an Dir und an mir.

Andreas war so glücklich heute, er sah sie so versöhnlich an, und sie gelobten sich Freunde zu sein und sich gegenseitig zu helfen mit wahrem Ernst und wahrer Liebe.

So war nun kein Mißklang mehr in der ganzen Familie. Andreas gehörte dazu. Oft wanderte er nach dem friedlichen Dörfchen und fand dort immer mehr seinen Frieden und sein Glück.


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