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Der Lehmann Heinrich war ein Wohltätigkeitsbub. Und zwar unser Wohltätigkeitsbub. Zu der Zeit nämlich, da ich selber noch ein Bub war, da war es Mode, – ich weiß nicht, ob das jetzt noch ist –, daß jede halbwegs honorige Bürgersfamilie einen Wohltätigkeitsbuben hatte. Über dem tat sich dann plötzlich eine künstliche Sonne auf. Schon eine, die wärmte, aber gleich so, daß der Schweiß ausbrach. Der Schweiß der Wohltätigkeit nämlich.
»Fritz,« hieß es bei mir zu Hause, »Fritz, ist in eurer Klasse einer, der arm und würdig ist?«
Würdig? Was würdig sei, wußte ich nicht recht. Aber arm –?
»Ja,« sagte ich, »der Oskar Lindel, der ist arm.«
»Und würdig?«
»Würdig, glaub ich, ist er auch.«
»Woraus entnimmst du das, Fritz?«
»Weil – weil er zeam ist.«
»Was ist das, ›zeam‹, Fritz?«
»Wenn man – wenn man zum Beispiel dem Lehrer hinten einen Maikäfer 'neinkrabbeln läßt.«
»So – so – nun, dann wollen wir dir nur sagen, daß es nichts ist mit dem Oskar Lindel.«
Dafür war es dann mit dem Heinrich 172 Lehmann was. Den hatte der Lehrer für meine Eltern selber rausgesucht. Und schon am nächsten Tage wurde er unser Wohltätigkeitsbub. Das heißt, er durfte jeden zweiten Mittag zum Essen kommen, und am Sonntag extra. Und meine abgelegten Hosen kriegte er. Und aufs Land wurde er auch mitgenommen in den großen Ferien.
Der Lehmann Heinrich war der blasse Sohn eines Schreiners in der Heustraße. Daß er arm war, sah man weniger an ihm als an seinen Eltern. Verflucht arm waren sie, verflucht arm, sagten die Leute. Und daß er würdig war, erkannte man daran, sagten die Leute, daß er still war und niemals widersprach.
Am wenigsten beim Mittagessen. Auch wenn ihm etwas angeboten wurde, was er gar nicht mochte. Arm und heikel, sagten die Leute, das wäre ja noch schöner. Irgend jemand hatte mir gesagt, daß der Lehmann Heinrich keinen Meerrettich vertragen konnte. Worauf ich der Mutter abends sagte:
»Du, Mama, gell, morgen machst wieder amal 'n Meerrettich?« Und dann freute ich mich bis zum andern Tag fürchterlich darauf, wo der Wohltätigkeitsbub sagen würde:
»Nein, 'n Meerrettich kann ich nicht vertragen.«
Ich weiß schon, daß das nicht edel war. Aber in dem Alter ist kein richtiger Bub edel. Sondern hat von Rechts wegen voller Schalkerei zu stecken, hat irgendeiner von den Dichterfürsten schon gesagt. Auch wenn's ein bissel auf Kosten der sogenannten Seelengüte geht, 173 hat derselbe Dichterfürst hinzugesetzt. Und recht hat er. Denn die Seelengüte, wenn überhaupt eine da ist, die kommt später schon von selber zum Vorschein.
Also haben meine Augen andern Tags beim Mittagessen grad gekugelt vor Neugier, bis die Mutter dem Lehmann Heinrich endlich auch den Meerrettich auf den Teller gab. »Jetzt,« schrie's in mir, »jetzt sagt er endlich einmal Nein, der Wohltätigkeitsbub, jetzt gleich.« Und ich freute mich wie ein Schneekönig über den kommenden Krach.
Aber der Lehmann Heinrich verdrehte nur die Augen und aß den ganzen Meerrettich glatt und sauber von dem Teller. Ich sah's ihm an: jetzt mußte ihm schlecht werden, jetzt gleich. Aber es wurde ihm nicht schlecht. Aber mir wurde es auf ein Haar schlecht dabei, das weiß ich heute noch, weil ich mich weißglühend schämte innerlich. Und ich bekam die Spannung nicht eher los nachher, als bis ich dem Lehmann Heinrich unversehens meinen alten Lederstrumpf geschenkt hatte. Ganz geschwind hab' ich das getan damals, und ich weiß nicht mehr, ob er mir dafür gedankt hat oder nicht. Dafür gedankt, daß ich mein schlechtes Gewissen erleichterte – es ist doch komisch manchmal mit dem Danken. Das war aber rasch vergessen. Denn im Leben eines Buben kommen täglich soviel Dinge vor, daß eins das andere auswischt. Tante Theres zum Beispiel. Tante Theres kam alle Tage nach dem Mittagessen zum Kaffee herauf zu uns und häkelte. Es war ein doppeltes Häkeln. Einmal das Häkeln des Fadens mit der Häkelnadel, 174 dann das Durchhäkeln aller möglichen Leute mit der Zungennadel. Und die Zunge von der Tante Theres, kann ich frei bekennen, hatte einen Widerhaken wie kaum eine Häkelnadel. »Was?« sagte sie zur Mutter, die ein Bündel alte Hosen für den Wohltätigkeitsbub schnürte, »was, die willst du verschenken? Die sind ja noch ganz gut?«
Aber als die Tante Theres fort war, habe ich dann das Bündel doch noch in die Heustraße tragen müssen zum Lehmann Heinrich. Und unterwegs hörte ich immer die Tante Theres neben mir:
»Was? die willst du verschenken? Die sind ja noch ganz gut? Sind ja noch ganz gut . . .«
Auf einmal hatte ich das Paket in einem dunklen Hausgang aufgemacht und eine von den Hosen 'rausgenommen. Die beste, wie ich glaubte. Ich würgte sie unters Hemd hinein. Und den Rest gab ich mit niedergeschlagenen Augen in der Schreinerwerkstatt ab, wo Heinrichs Vater als Geselle arbeitete. Auf der Straße erwischte mich noch Heinrichs Mutter und machte einen umständlichen Dank. Es war mir gar nicht recht wohl dabei. Denn die behaltene Hose suchte sich bei meiner Weste Luft zu machen. Dann erst kam ein Stückel Scham hinterher. Keine allzu große. Denn so lange man halt ein Junge ist, hat man ein fürchterlich scharfes Eigentumsgefühl. Ob das nun Spielsoldaten sind, an denen unsere Kinderherzen hängen, oder alte Hosen, die wir lang getragen und von denen Tante Theres sagte, daß sie noch ganz gut wären, das ist im Grunde völlig gleich. Denn, wie gesagt, die Seelengüte, die die Habsucht 175 überwindet, kommt erst später. Jedenfalls nicht ganz so früh wie die Unannehmlichkeiten, welche aus der Habsucht blühen.
Die Unannehmlichkeit zum Beispiel: wohin mit meiner versteckten Hose? Ich hab' sie in die Schule mitgenommen und unter die Bank geschoben. Da fand sie der Lehrer nach der Stunde. Am Nachmittag lag die Hose aufgewickelt hinter dem Katheder.
»Wem gehört die Hose?« fragte der Lehrer und deutete darauf. Alle schwiegen. Ich auch. Ich verleugnete die Hose. Auch als der Lehrer nochmals fragte und mich scharf dabei ansah, so daß ich rot wurde. Der Lehmann Heinrich neben mir sah es auch. Auf einmal, als der Lehrer zum drittenmal fragte, fast drohend fragte, hob der Lehmann den Finger und sagte: »Mir gehört sie, Herr Lehrer.«
»So – so,« sagte der Lehrer und fuhr fort, mich scharf anzusehen, »so – so, also dem Lehmann Heinrich.« Und dann gab er sie ihm.
Nach dem Unterrichte ging der Lehmann zu mir und sagte: »Gell, die Hose hast du uns auch schenken woll'n, Müller?«
»Woher weißt du das?« stammelte ich.
»Wie's vorhin auf dem Katheder gelegen ist, hat man die zwei roten Buchstaben sehen können, F. M., weißt d'.«
So kam die Hose, die noch ganz gut war, doch noch zu ihrem Ziel. Ich weiß, daß ich dem Lehmann Heinrich an dem Tage auch »ganz gut« war, nein, sehr gut war.
Dann kamen die Ferien. Und unser Wohltätigkeitsbub ging nach Maria Eich mit uns. 176 Das war eine große Lustigkeit zwei Monate lang. Und fast entwickelte sich eine richtige Bubenfreundschaft, eine handfeste, zwischen dem Lehmann Heinrich und mir. Wenn nur nicht am Ende auch noch die Tante Theres gekommen wäre. Von der Tante Theres hörte ich an einem Tage folgende Sätze: »Na, der Bub kann von Glück sagen, daß er zum Landaufenthalt mitgenommen wird.« – »Ich weiß nicht, Wohltätigkeit ist ja ganz nett, aber was zuviel ist, ist zuviel.« – »Jetzt, das muß ich schon sagen, zu meiner Zeit hat's solche Sachen nicht gegeben.«
Es ist ja richtig, daß ich die Tante Theres gar nicht hab' leiden mögen. Aber die Worte von unsern Feinden hängen sich am schärfsten ein. – Und wie die Ferien vorbei waren, und wie wir unsere erste Bubenschlacht wieder hatten in der Stadt, eine Schlacht zwischen »Bayerstraßlern« – ich wohnte in der Bayerstraße – und den »Heustraßlern« – der Lehmann Heinrich wohnte in der Heustraße –, da sagte ich zu unserm Wohltätigkeitsbuben:
»Sag, zu wem hilfst d', wenn's los geht heut nachmittag?«
»Ich wohn halt in der Heustraßen, net?« sagte der Wohltätigkeitsbub.
»Dös hab' ich dich net g'fragt, zu wem hilfst d', hab' ich dich g'fragt!«
»Ja, wenn ich nicht zu die Heustraßler helf, nacha haun mich die ja durch,« sagte er etwas kleinlaut.
»So – und der Landaufenthalt??« sagte ich und ging geschwind heim. So daß ich nicht 177 mehr sehen konnte, was der Lehmann Heinrich für ein Gesicht machte.
Natürlich weiß ich heute, daß das eine Gemeinheit war von mir. An dem moralischen Maßstab der Erwachsenen gemessen, nämlich. Und an dem Meterstab der Jugend abgemessen, war's auch nicht sauber grade, aber man darf nicht vergessen, daß eine Schlacht bevorstand, eine Schlacht zwischen den Bayerstraßlern und den Heustraßlern. Und daß in der Heustraße die größten Buben waren. Einige, die weit über einen Zentner wogen und spucken konnten, spucken, kratzen und beißen, und die sich beim Lehmann seinem Vater breite Holzschwerte zusammengehobelt hatten, wie uns durch Spione mitgeteilt wurde. Und daß die Bayersträßler schon zweimal von den Heusträßlern verprügelt worden waren. All das darf man nicht vergessen. Und wenn wir heute darüber lächeln – für uns Bayersträßler waren diese Dinge damals Lebensfragen – einfach Lebensfragen.
Also gut – es war ein Samstagnachmittag, und unsere Vorposten hatten schon seit einer Viertelstunde gemeldet, daß der Feind anrücke.
»Der Doppler ist auch dabei, der lange,« hieß es.
»Und sein Bruder von der Lateinschule soll auch mittun.«
»Auweh!« sagte einer von uns.
»Was auweh! Nix auweh! An Dreck auweh!« sagte unser Hauptmann, und die Schlacht begann mit wildem Kriegsgeschrei.
»Haut's zua! Haut's zua!« ertönte es von 178 allen Seiten. Hin und her wogte das Kriegsglück. Erbittert hatten wir uns ineinander verfitzt. Die breiten Schwerter blitzten. Einigen Kämpfern wurde der Rock heruntergerissen. Alte, von Mutter sorgsam ausgeflickte Kleiderwunden brachen wieder auf. Es hieß, dem Doppler sein Bruder hätte einem von uns bereits ein Loch in den Kopf geschlagen.
»Blut also!« schrillte es in unsern Knabenherzen, »Blut?!« Da sah ich dicht vor mir den Lehmann Heinrich fechten. Still und ruhig focht er, gar nicht aufgeregt. Wenigstens schien es so. Blaß war er ja. Aber das war er immer. Ich stürzte mich auf ihn. Er sah mich kommen. Es schien, als wollte er dem Kampf ausweichen. Wenigstens machte er einen verlegenen Rückzug. Dabei packte ihn einer von uns an der Seite. Aber mit einem geschickten Boxer legte er ihn auf den Boden. Es war der, der »auweh!« geschrien hatte vorhin.
»Hau zua, hau zua, Müller!« feuerte mich unser Anführer an.
»Der Lehmann g'hört zu uns!« schrie ich.
»Warum denn?« schrie unser Hauptmann.
»Weil er mit uns in'n Landauf–« rief ich, sinnlos vor Schlachtwut.
Weiter kam ich nicht. Der Lehmann war auf mich zugesprungen und – es hat keinen Sinn, die Wahrheit zu verbergen – verhaute mich nach allen Regeln der Kunst.
Und nun kommt das Merkwürdige von der Geschichte: auf Grund dessen verlor er in meinen Jungenaugen die Eigenschaft des Wohltätigkeitsbuben ganz und gar und wurde ein 179 gleichberechtigter Freund um und um. Und wenn ich auch am gleichen Tage noch schäumte vor Wut und Schmerz – am andern Tage gab ich ihm die Hand und war und blieb ihm herzlich gut.
Um so mehr, als wir Bayersträßler an jenem Schlachtentage trotz alledem gewonnen hatten. 180