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In die Konfirmationsstunde ging sie zu einer Zeit, als sie noch eine Mutter hatte. Aber weil die Mutter krank war, nahm die Grete den Kummer mit in den Unterricht. Und was auch der alte Pfarrer aus der biblischen Geschichte und dem Katechismus lehren mochte – sie hörte es kaum.
»Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott,« ließ der Pfarrer aus dem Katechismus aufsagen. Und dann beschrieb er den Mädchen diesen Gott. Aber soviel neue Züge er dem großen Bild auch geben mochte – für die kleine Grete wurde immer der Kopf der leidenden Mutter daraus.
». . . und du sollst keinen andern Gott neben mir haben,« ging es weiter im Unterricht. Und die Grete nickte traumverloren dem Bilde ihrer Mutter zu: Nein, nein, sie hatte keinen andern Gott, als ihre Mutter.
Und als dann der alte Pfarrer zu der Leidensgeschichte von Jesus Christus kam, war es wieder Gretens Mutter, die da litt. Und den Widerschein davon konnte jeder, der da wollte, auf Gretes Kindergesicht ablesen.
»Geht's dir so nahe?« fragte der alte Pfarrer und streichelte die Grete. Und als diese nickte, war er stolz auf die Wirkung seiner Worte. Nur, 160 daß er eben Jesus meinte und Grete ihre Mutter.
Aber dann sprang der Konfirmationsunterricht über zu der Auferstehung. Und da wollte der Pfarrer fröhliche Gesichter sehen. Und die waren auch da. Von allen Bänken leuchteten sie. Nur Gretes Gesicht blieb ernst und traurig.
»Freust du dich denn nicht über die Auferstehung?« fragte der Pfarrer.
»Die Auferstehung?« sagte Grete schüchtern und sah durch einen Nebel Mutters täglich mehr zerfallendes Gesicht, »ach Gott, Herr Pfarrer, ich glaube an keine Auferstehung mehr.«
Des alten Pfarrers Augen wurden groß. Die ganze Klasse blickte entsetzt auf Grete.
»Du gottloses Mädchen,« wollte der Pfarrer sagen. Aber da kam ihm Grete zuvor.
»Mutter wird nicht mehr auferstehen können, hat der Arzt gesagt,« setzte sie hinzu.
Da verstand es der Pfarrer, und das arme Kind, das in seinem Schmerz immer hohler wurde, dauerte ihn. Und er ging von Ostern wieder zurück in die Leidenszeit, und sagte den Kindern: Wenn sie irgend einen großen oder kleinen Kummer hätten, da gäbe es ein gutes Mittel; singen müßten sie, dann würde vieles wieder gut.
»Vielleicht hat es eine von euch schon einmal versucht?« setzte er hinzu.
In der letzten Bank ging ein Mädchenfinger in die Höhe.
»Ja,« sagte die Hedwig, sie hätte es einmal getan, als sie einen Kummer gehabt habe.
»Einen großen?« fragte der Pfarrer.
161 Die Hedwig besann sich.
»Nein,« bekannte sie, »er war nur mittelgroß.«
Der alte Pfarrer lächelte.
»Und hat's geholfen?« fragte er.
»Jawohl,« nickte die Hedwig.
Was sie denn gesungen habe?
»Ich ging durch einen grasgrünen Wald
Und hörte die Vögelein singen . . .«
»Ja,« sagte der Pfarrer, das sei ein gutes Lied und so eines könne schon helfen. Jetzt ging noch ein Finger in die Höhe. Das war die Emma.
»Ich habe einmal einen Vierer in der Geographie gekriegt,« sagte sie geschwind, »und wie ich dann gesungen habe, hat's auch geholfen.«
»Für die Geographie?« fragte lächelnd der Pfarrer.
»Nein, nur für den Kummer,« sagte Emma frei.
»Und was hast du gesungen?«
»Ich ging durch einen grasgrünen Wald – die Hedwig ist meine Freundin – wir haben die gleichen Lieder, Herr Pfarrer.«
Da läutete es und der Pfarrer schaute fast erschrocken auf seine Uhr. Er hatte heute noch die Jünger von Emmaus durchnehmen wollen. Und eigentlich gehörte das mit dem Singen nicht in den vorgeschriebenen Stoff für den Konfirmationsunterricht. Oder doch? Er besann sich, während es draußen weiter läutete. Dann sagte er zu den aufhorchenden Kindern:
»Jaja, Kinder, das rechte Singen ist fast soviel wie ein Gebet.«
Und dann nickte er der kleinen Grete nochmal extrafreundlich zu.
162 Und dann hatte die Grete das mit dem Singen der kranken Mutter zu Hause erzählt. »Ja,« sagte die Mutter, »der Herr Pfarrer hat ganz recht, das Singen hilft schon – komm, wir wollen mal versuchen, Grete – du mußt fest singen und ich brumme ein wenig dazu – also wie hast du gesagt – Ich ging durch einen grasgrünen Wald und höre die Vögelein singen – nicht?«
Und dann klang es frisch und zuversichtlich im Zimmer von einer Kinderstimme. Und da und dort sang der kurz gewordene Atem der Kranken eine Zeile leise mit. Aber plötzlich brach sie ab und ihr schmaler Kopf rutschte ein wenig tiefer das Kissen hinab. Ohne daß er darum aufgehört hätte zu lächeln. So daß das Kind nicht wußte, daß seine Mutter eben singend gestorben war. Und so daß es das Lied vom grasgrünen Wald immer weiter sang, während der Kummer immer leichter wurde. Und sie hörte erst auf, als die Tante hereinkam und mit einem Blick auf die Tote kreischte, das sei ja entsetzlich, wie das eigene Kind beim Tode der Mutter singen könne . . .
Und dann war Grete im Waisenhaus. Im Waisenhaus hatte das Singen einen schmalen Platz. Nur am Freitag von 11–12 Uhr, wenn auf dem Stundenplan »Singen« stand, wurden die vorgeschriebenen Lieder eingelernt. Aber aus sich selbst quoll kaum ein Lied im Waisenhaus. Die grauen Wände hätten's nicht gelitten. Die grauen Wände des Waisenhauses hatten keinen Durst auf Lieder. Aber manches Scheltwort und manchen stillen Jammer tranken sie begierig.
Da war eine Hausverwalterin, die hatte einen 164 Pik auf Grete. Nichts war ihr recht, was Grete machte. An allem hatte sie zu mäkeln und die Grete zu ducken.
»Stell dich nicht so an wie eine zimperliche Prinzeß,« sagte sie.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Frau Brunner.«
»Immer hältst du den Kopf kerzengerade. Das gehört sich nicht im Waisenhaus. Warte nur, das Leben wird dich schon die rechte Demut lehren.«
»Ich bin doch nicht übermütig, Frau Brunner,« sagte Grete.
»Was, schon wieder eine Widerrede,« und sie schlug ihr mit dem Staubtuch ins Gesicht.
Da blitzten die Augen des Kindes und die junge Brust wogte. Und schon wollte sie etwas Scharfes sagen. Denn sonst hätte sie laut aufweinen müssen. Und das mochte sie nicht in Gegenwart der Frau Brunner. Entweder Zorn oder Weinen, Weinen oder Zorn. Etwas anderes war nicht möglich. War wirklich nichts anderes möglich? ^ Gab es nicht noch ein Drittes? Und siehe, da leuchtete eine Vision in ihrem Jammer: Sie sah sich wieder in der Konfirmationsstunde. Am Katheder stand der Pfarrer. Und jetzt tat er seinen Mund auf und sagte: »Singen müßt ihr, dann wird vieles wieder gut.«
Und schon tat die Waisenhausgrete ihren Mund auf und ging von der Frau Brunner fort den Gang entlang und sang:
»Ich ging durch einen grasgrünen Wald
Und hörte die Vögelein singen,
Sie sangen so jung, sie sangen so alt –«
165 Und je weiter sie mit dem Singen kam, desto fröhlicher wurde der Gesang. Und zuletzt schmetterte er fröhlich durch die langen Gänge, daß die grauen Wände mißbilligend ihre Runzeln unter der Decke zusammenzogen:
»Was soll nur diese Singerei im Waisenhaus?«
Und die Frau Brunner lief mit einem dicken roten Kopf zum Waisenhausvorstand:
»Die Grete sei ein ganz verworfenes Geschöpf,« sagte sie, »was man ihr auch in Güte sage – sie singe einem zum Trotz ins Gesicht.«
Da ließ der Vorstand die Grete kommen:
»Hast du der Frau Brunner ins Gesicht gesungen?«
»Ja, weil sie mich geschl – weil sie mich geärgert hat.«
»Wie kommst du darauf, zu singen?«
»Unser Pfarrer hat gesagt, wenn man einen großen Kummer habe – oder auch einen kleinen – so müsse man singen: das sei fast so gut wie ein Gebet.«
Der Vorstand schüttelte den Kopf.
»Und was hast du gesungen?«
Und da fing die Grete mitten im Amtszimmer des Waisenhauspräsidenten rank und frei zu singen an, daß ihr junger Körper schwang:
»Ich ging durch einen grasgrünen Wald
Und hörte die Vögelein singen,
Sie sangen so jung, sie sangen so alt . . .«
Der Waisenhauspräsident aber hatte sich in seinen Schreibstuhl gesetzt und den Graukopf in die Hand gestützt, so daß man sein Gesicht nicht 166 sehen konnte. Als die erste Strophe fertig gesungen war, keifte die Frau Brunner dazwischen:
»Nun hören Sie mal selbst, Herr Präsident, das hat das ungezogene Ding mir, einer alten Frau angetan und überhaupt –«
Aber der Präsident hob seinen grauen Kopf nicht auf und sagte kein Wort. Da war die Frau Brunner brummend hinausgegangen. Und noch durch die Türe hörte sie die zweite unbekümmerte Strophe:
»O singe nur, singe, Frau Nachtigall!
Wer möchte die Sängerin stören . . .«
Da wußte Frau Brunner: Sie hatte verspielt und die Nachtigall hatte gewonnen. Die Nachtigall in dem grauen Waisenhausgewand da drinnen bei dem Herrn Präsidenten, der immer den aufgestützten Kopf in den Händen vergraben hatte und von vergangenen Zeiten träumte . . .
Und nun war die Grete schon lange nicht mehr im Waisenhaus, sondern draußen in der Welt der Arbeit stand sie fest auf beiden Füßen und schaffte sich ihr Brot. Es war nicht immer leicht, das Alleinstehen in der Welt. Und mancher Kummer kam über sie, leichthin aufgespritzt von Leuten, die auf ein solch elternloses einschichtiges Ding nicht zuviel Rücksicht nehmen. Aber die Grete biß die Zähne zusammen, die jungen. Doch nur einmal oder zweimal. Denn schon beim drittenmal war es ihr eingefallen, daß das gar nicht richtig war. Nicht zusammenbeißen mußte sie die jungen Zähne, sondern auseinandertun zum Singen.
Und so sang sie sich heimlich alles Leid 167 herunter in der Kammer. Und nach jedem Liede war sie wieder frisch. Wie nach einem herrlichen Bade, das allen Jammer und alle Verzagtheit von ihren Gliedern spülte. Und so sang sie sich schon nach wenigen Jahren hinauf in eine gute Stelle als Sekretärin. Und stellte das Singen erst recht nicht ein, wenn sie Ferien bekam. Wenn sie hinauswanderte ins Gebirge und in den Wald. Da war es einmal, daß sie sich müde gesungen hatte über das Gebirge. Wenn nur das Dorf schon da wäre, damit sie hätte rasten können, dachte sie ungeduldig und stolperte über eine Baumwurzel.
»Au!« Da war das Unglück da: Der Fuß verknackst und weit entfernt die Rast. Sie hinkte bekümmert zu einem Stein und setzte sich darauf. Das war doch ärgerlich – nein, der ganze Tag vergällt und – auf einmal fiel's ihr wieder ein: Wenn man einen Kummer habe, einen kleinen oder großen, so müsse man singen. Und halb lächelnd und halb unter Tränen fing sie an:
»Ich ging durch einen grasgrünen Wald –«
Au! Der schlenkernde Fuß war an einen Stein gestoßen.
»Und hörte die Vögelein singen –«
Hm, der Schmerz schien nachzulassen?
»Sie singen so jung, sie singen so alt –«
Vielleicht war's doch nicht so schlimm und sie konnte wieder langsam gehen?
»Die kleinen Vögelein in dem Wald –«
Da ging sie auch schon wieder langsam über den Moosteppich. 168
»Die hör ich so gerne wohl singen!«
kam's von der andern Seite.
Sie schaute erstaunt auf: Da kam schon ein Echo, bevor sie die Zeile noch gesungen hatte!
Es war ein Wanderer, sangesfreudig wie sie, der da in den Weg einbog. Wie dumm! Nun wollte sie aber nichts mehr singen.
»O, singe nur, singe, Frau Nachtigall –«
kam es von den Lippen des unbekümmerten Wandersmannes,
»Es lauschen die Blumen, die Vögel all,
Und wollen die Nachtigall hören.«
Sie sah dem Sänger in das offene Gesicht und kam zu dem Schluß: Hatte sie einmal die keifende Frau Brunner im Waisenhause angesungen, so war es doch sicher bei dem Gesichte dieses Wanderers auch zu wagen. Und ehe sie sich's versah, sangen sie zusammen:
»Nun muß ich wandern, bergauf, bergab;
Die Nachtigall singt in der Ferne.«
Gott sei Dank, daß sie sich nicht vorgestellt hatten. Wie häßlich klänge zwischen diesen Liederzeilen: »Sehr angenehm. Mein Name ist . . . Sie gestatten, Fräulein, daß . . . Sehr angenehm . . . Bitte, ganz meinerseits . . .« Wie wunderbar dagegen jetzt zu zweit im Wald:
»Es wird mir so wohl, so leicht am Stab,
Und wie ich wandre, bergauf, bergab:
Die Nachtigall singt in der Ferne . . .«
Die Ferne war ein Jahr lang. Dann standen die beiden Sänger am Altar. Es war eine 169 kleine Vorstadtkirche. Und außer den beiden war nur noch ein zufällig hereingekommenes altes Weiblein da. Und natürlich, war noch der Pfarrer da. Ein recht alter Pfarrer war es, und er hatte gesagt, das sei vielleicht sein letztes Paar, das er zusammenfüge.
»Jaja, Gretchen, glauben Sie's nur,« setzte er hinzu, »ich war damals schon alt, als Sie zu mir in die Konfirmationsstunde gingen.«
Und jetzt hatte er sie beide zusammengegeben vor dem Altar, und die Ringe waren gewechselt. Jetzt standen sie alle drei ein wenig unschlüssig da. Und das alte Weiblein hinten im Kirchendüster streckte den Hals.
»Ist die Zeremonie vorüber, Herr Pfarrer?« fragte der Bräutigam leise.
»Ja, die vorgeschriebene schon,« gab der alte Pfarrer ebenso leise und freundlich lächelnd zurück, »denn ob ich Ihnen jetzt noch eine kleine Predigt halte, steht bei mir.«
Da faßte sich die Braut ein Herz.
»Ich wüßte schon eine, die ich mir gerne wünschte,« raunte sie, »auch mein Bräutigam, glaube ich – dürfen wir's Ihnen in der Sakristei sagen, Herr Pfarrer?«
Da drehte sich der alte Pfarrer langsam um und ging voraus in die Sakristei.
»Herr Pfarrer,« sagte dort die Braut schnell und ergriff des Priesters Hand, »Herr Pfarrer, Ihre Gretel verdankt Ihnen viel.«
»Nun, und was wäre das?« fragten die jung gebliebenen Augen des Pfarrers.
»Das Lied, Herr Pfarrer, das Singen. Wissen Sie noch, wie Sie damals sagten: Wenn man 170 singe, würde vieles besser, und es sei oft so gut wie ein Gebet, wissen Sie das noch?«
Der Priester nickte.
»Nun, Herr Pfarrer, Sie hatten recht: Das Lied hat mich über alles Ungemach hinweggetragen und hat mich und meinen Bräutigam zusammengeführt.«
Nun nickte auch dieser.
»Und wissen Sie auch noch, Herr Pfarrer, wie das Lied damals geheißen hat?«
»Freilich,« sagte der alte Priester, hob seinen Kopf ein wenig, sah auf die dunkle Decke der Sakristei und begann leise:
»Ich ging durch einen grasgrünen Wald –«
Geschwind warf die Braut dem Bräutigam einen Blick zu: Siehst du, hieß der Blick, diese Predigt habe ich von meinem Pfarrer haben wollen – komm und hilf mir. Ganz sachte fielen da die beiden ein:
»Und höre die Vögelein singen,
Sie singen so jung, sie singen so alt,
Die kleinen Vöglein in dem Wald,
Die hör ich so gerne wohl singen . . .«
Und mit jeder Zeile wurde der Gesang ein wenig lauter. So daß er zuletzt sogar durch die geschlossene Sakristeitüre durchging und an das Ohr der verwunderten Alten schlug, die noch immer hinten im Kirchendüster den Hals reckte und jetzt zu sich sagte:
»Nein jetzt so was – nun hab' ich mich so gefreut auf die Predigt – und nun singen sie gar nur einen – einen Gesangbuchvers in der Sakristei.« 171