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»Bedaure, der Herr Lehrer ist nicht zu Hause,« sagte die alte verrunzelte Haushälterin zu dem großen fremden Herrn und wischte mit ihrer Schürze einen unsichtbaren Staub auf der Klinke der Gangtüre ab.
»Ich bin sein alter Schüler,« sagte der Fremde, der nicht gehen wollte.
»Dann – dann,« sagte das alte Weiblein unsicher, »dann – ich will doch mal fragen – er schläft nämlich immer um diese Zeit – einen Augenblick, bitte.«
Sie verschwand im Halbdunkel des Ganges, kehrte aber bei der Schillerbüste nochmal um.
»Wen darf ich – welchen Namen darf ich –?«
Der große Fremde hatte schon eine Besuchskarte in der Hand. Es war viel Gedrucktes darauf. So lang konnte sein Name nicht sein. Da mußten auch Titel und Würden auf der Karte stehen. Eben tanzte über diese Karte das Flimmerlicht der messingenen Flurglocke, deren Griff noch vom Läuten vorhin hin und herschwankte. Diese tanzenden Lichtkringel schienen sich über die Titel auf der Karte lustig zu machen. Auf einmal hatte der Fremde die Karte wieder eingesteckt.
52 »Sagen Sie, der Schmalhofer Emil sei da,« sagte er geschwind.
Der Fremde saß allein im Besuchszimmer seines alten Lehrers. Er versuchte, das Zimmer vertraut anzusehen, die roten Armpolster auf den Fensterbrettern, die Bilder an den Wänden, den Tisch, die Stühle – aber das Zimmer schüttelte unvertraut den Kopf: »Ich kenne dich nicht.« – »Ich bin doch meinem alten Lehrer sein alter Schüler.« – »Ach, mein Herr hatte Hunderte von alten Schülern, Tausende vielleicht.« – »Aber ich war doch sein Lieblingsschüler.« – »Mein Herr hatte Dutzende von Lieblingsschülern, in jeder Klasse jedes Jahr einen, das macht seit den einundvierzig Jahren, seit er unterrichtet –« – »Aber ich bin doch unter den Dutzenden der Schmalhofer Emil, der –«
Bis hierher war das stumme Gespräch zwischen dem Fremden und dem Zimmer gediehen, als aus dem Nebenzimmer eine sehr langsame Stimme wie von ferne hörbar wurde:
»Wie, sagen Sie, Brigitte, daß er heißt? – Schmal Emil? – wie, Schmalhofer Emil? – warten Sie, warten Sie, Brigitte, – ja ja, jetzt weiß ich's wieder – einen Schmalhofer Emil hatte ich einmal – ganz am Anfang, ja, ganz am Anfang – war damals noch ein junger Lehrer, selbst beinahe ein Schmalhofer Emil – ja, ja, sagen Sie dem Schmalhofer Emil, sein alter Lehrer käme gleich, käme sofort – wie, nicht so laut soll ich sprechen? Er könnte es nebenan hören? – aber das schadet doch nicht, Brigitte, dann brauch ich's ihm nicht noch einmal zu sagen, dem Schmalhofer Emil . . .«
53 Der Fremde im Besuchszimmer lächelte. Er hatte den zerarbeiteten Kopf über die Stuhllehne geneigt und horchte auf die ferne Stimme seines alten Lehrers, der da drinnen nach Schwerhörigenart so laut und langsam sprach. Durch eine dünne Tür von ihm getrennt. Dünn? Ei, dick genug war diese Türe, immerhin so fünfunddreißig Jahre dick. Der Fremde saß noch immer da, mit der Hand am geneigten Ohr, wie einer, der am Meeresstrand sich über einen Felsen beugt nach einer Melodie, die aus einem längst verschlossenen Wellengrabe aufsteigt und nun von fern dahergesegelt kommt . . .
Dann saß er auf dem Sofa seinem alten Lehrer gegenüber. Der hatte keinerlei Willkommensatz gedrechselt. Nur immer angesehen hatte er den Fremden. Und erst nach einer ganzen Weile hatte er nach der Hand des Besuchers gegriffen und langsam und mit unverwandtem Gesicht gesagt:
»Das also ist – das also ist –.« Es war noch ein Fragezeichen in dem Satz. Er vollendete ihn auch nicht. Er suchte in dem fremden Gesicht noch das geistige Faltengewebe ab, an dem sein Unterricht einmal mitgewebt hatte. Aber er fand lauter fremde Knüpfungen, keine, die er geschlungen hatte. Das waren breite Linien des schaffenden Erfolges in der Welt da draußen. Das waren harte Arbeitsmuster, die keine Schule webt. Das waren unzählige Enttäuschungsfältchen, die keine Schule kräuselt. Das waren verwüstete Flächenstücke auf den Wangen, über die die Faust »Ich will!« hinfuhr, bis hinauf auf die angegraute Schläfe – lauter Dinge, die keine 54 Schule und kein Lehrer ins Gesicht von Schülern gräbt.
Jetzt zuckte der Fremde unter dem forschenden Blick des alten Lehrers ein wenig ängstlich mit den Augen. »Das also ist –« hatte der zum dritten Male fragend angesetzt. Und da war es, daß das ängstliche Augenzucken die Leine, die Erkenntnisleine über die fünfunddreißig Jahre hinüberwarf, und daß der alte Lehrer nicht mehr fragte, sondern händeschüttelnd zum vierten Male anhub:
»Ja, ja, das ist noch mein alter Schmalhofer Emil, grüß Sie Gott!«
»Grüß Gott, Herr Lehrer,« sagte der Fremde.
»Sie sind was Tüchtiges geworden da draußen, in den fünfunddreißig Jahren, ich seh' es Ihnen an.«
»Wie man's nimmt, Herr Lehrer. Sie haben mich Bahnen im Orient bauen lassen. Sie haben mich zum Leiter von Gesellschaften gemacht, die deutsche Pionierarbeit im Auslande leisten. Sie –«
»Emil Schmalhofer,« unterbrach ihn der Lehrer, »Sie erzählen dieses ›sie‹, als wären dieses ›sie‹ die Leute, als würde dieses ›sie‹ klein geschrieben.«
»Und wie meinen Sie, Herr Lehrer, daß es geschrieben werden müßte?«
»Groß. Nicht die Leute haben Sie zum Pionier gemacht. Sie selber taten's, Emil Schmalhofer.« Stolz auf seinen alten Schüler schimmerte im Satz.
»Hm, mit dem großgeschriebenen ›Sie‹ mögen Sie vielleicht recht haben, Herr Lehrer,« sagte der Besucher bewegt.
55 »Na also, Schmalhofer Emil,« klopfte ihm der Lehrer auf die Schulter.
»Aber nicht so, wie Sie es meinen, sondern – sondern umgekehrt.«
»Umgekehrt? ›Sie‹ umgekehrt gibt ›Eis‹,« scherzte der Lehrer.
»Eis? Gut, auch das soll gelten, Herr Lehrer. Ich bin heute zu Ihnen gekommen, ein fünfunddreißigjähriges Eis zu schmelzen. Um Ihnen zu sagen, Herr Lehrer, daß ich den Erfolg auf meiner Lebensleiter Ihnen verdanke. So meine ich das ›Sie‹. – Sie haben mich zum Pionier da draußen gemacht –.«
»Ich?« sagte der alte Mann erschrocken, »ich? Sie täuschen sich, Schmalhofer Emil – Sie müssen einem alten Lehrer nach so langer Zeit keine freundlich geschmierten Honigschnitten überreichen – ich weiß ganz genau, daß erst das Lebensfeuer hinter der Schule den Stahl macht – daß so ein ehemaliger Lehrer für Deutsch und Geschichte blutwenig zu der Stahlbereitung beitragen kann und –«
»Herr Lehrer, Sie müssen mir schon den Gefallen tun, meine Worte ernst zu nehmen. Als Leiter einer Auslandsbahn von zehntausend Kilometern ist man kein Schönheitsschwätzer mehr. Da meint man, was man sagt. Da reist man nicht mitten in der Arbeit einen Tag und eine Nacht extra in die vergessene Heimatstadt, um seinen alten Lehrer einen vollgestrichenen Honiglöffel hinzuhalten: ›Bitte, machen Sie den Mund auf, Herr Lehrer.‹«
»Schmalhofer Emil,« jubelte da ein alter Lehrer, »wäre es wirklich möglich, daß ich armes 56 Lehrerlein, ohne es zu wissen, Ihnen – Ihnen –« Er fand die Worte nicht.
»– mir die Türe aufgestoßen haben zu einem steilen Bergweg, jawohl, Herr Lehrer, das ist nicht nur möglich, das ist mehr als möglich, das ist die Wahrheit.«
Der Lehrer war vom Sofa aufgesprungen. Ein Stößlein verbesserter blauer Hefte hatte er achtlos von einem Tisch gewischt. Ans Fenster war er mit den alten Füßen getrippelt. Auf die roten Fensterbrettkissen hatte er von rückwärts seine Arme aufgestützt. Zu wachsen schien er. Der dünnbehaarte Lehrerschädel trommelte vor Erregung an der Fensterscheibe.
»Aber Schmalhofer Emil, bedenken Sie doch nur,« sagte er, mit einem Abendrot auf den alten Wangen, das einem Morgenrot auf Mädchenwangen zum Verwechseln ähnlich war, »bedenken Sie doch nur, Schmalhofer Emil, was könnten die paar deutschen Aufsätzlein für einen Einfluß –?«
»Ich meine nicht den deutschen Aufsatz, Herr Lehrer.«
»Oder was könnte der Lieblingskaiser meines Geschichtsunterrichts, was könnte Barbarossa auf Sie für einen Einfluß –?«
»Es war auch nicht der Barbarossa, Herr Lehrer.«
»Oder der Themistokles –?«
»Auch der Themistokles war's nicht, Herr Lehrer,« wetterte es über des Besuchers Gesicht.
Einen Augenblick schien der Lehrer betroffen. Seine hochgestützten Hände schienen vom roten 57 Fensterpolster herabrutschen zu wollen. Aber dann strafften sie sich wieder:
»Aha, jetzt weiß ich's,« sagte er fast verschmitzt, »jetzt weiß ich's. Der Leonidas, der heldenhafte Leonidas, den ich euch schilderte, der war's, der auch Sie auf Ihrem Weg begleitet hat, und der –«
»Nein, Herr Lehrer, der Leonidas hat mich nicht begleitet. Seien Sie nicht böse, daß ich heute kaum mehr als seinen Namen von ihm weiß, wenn ich auch einen Nebenstrang unserer großen Eisenbahnlinie in sein Land hineingelegt habe –.«
»Wie, die Thermopylen hätten Sie beschient mit Ihrem Eisen?«
»Nicht ganz, Herr Lehrer. Aber ich und mein Eisen sind in dieser Stunde Nebensache. Von Ihnen wollten wir ja sprechen, von Ihrem Eisen, das Sie mir ins Rückgrat eingeschoben haben, und das nicht gebrochen ist bis heute, Herr Lehrer.«
»Von meinem Eisen?« stotterte der alte Lehrer, »ich wüßte wirklich nicht, Herr Direktor, daß –«
»Schmalhofer Emil heiß ich.«
»Ich wüßte wirklich nicht, Schmalhofer Emil, daß in meinem Unterricht jemals die Rede war vom Eisen oder etwas Eisernem.«
»Sie haben recht, Herr Lehrer: Nicht in Ihrem eigentlichen Unterrichte –«
Die aufgestützten Hände rutschten jetzt wirklich vom Fensterpolster herab. Kleiner wurde die Gestalt. Der alte Lehrerschädel trommelte nicht mehr gegen die Scheibe dahinter. Vorüber sank er ein wenig. Kaum sichtbar war der alte Lehrermund, der jetzt murmelte:
58 »Nicht in meinem Unterrichte, Schmalhofer Emil – nicht in meinem Unterrichte?«
»Wenigstens nicht in Ihrem amtlichen Unterrichte, Herr Lehrer.«
»Ach so, Sie meinen, nicht im lehrplanmäßigen,« leuchtete die Lehrerhoffnung bescheidener wieder auf, »Sie meinen sicher eine Randbemerkung, die nicht eigentlich zum Unterricht gehörte, ja, ja, mit solchen unvorgeschriebenen Glossen kann ein Lehrer sein Herz oft mehr aufschließen, als mit einem langen Lehrplan, ach ja, ach ja.«
Jetzt hatte sich auch der Besucher vom Sofa erhoben. Ganz nahe war er seinem Lehrer unters Angesicht getreten. Fest schaute er ihm ins Auge, als er sagte:
»Recht haben Sie. Das von den Erziehern Gewollte, das Lehrplanmäßige, ist nie das Entscheidende für einen Jungen. Entscheidend ist das Ungewollte, selbst das Unbewußte – was einem so herausrutscht – nein, nicht herausrutscht – was plötzlich wie ein Falke in die Luft stößt und den Schüler auf den Schwingen mitnimmt – Kreise ziehend – hoch, höher – weit hinein in den Orient etwa – und sehen Sie, um für ein solches ungewolltes Wort aus Ihrem Mund zu danken, für einen solchen Falken, der einmal von Ihnen in die Luft stieß und den Schmalhofer Emil hochnahm, ohne daß Sie's wußten – deshalb bin ich hergekommen – dieserwegen hat's mich nach fünfunddreißig Jahren plötzlich einmal gepackt: ›Mensch, geh' zu deinem alten Lehrer und danke ihm für jenes gute Wort, bevor's zu spät ist.‹«
Wieder stieg die Mädchenröte in die wächsernen 59 Lehrerwangen. Aber sein Mund ging nicht mehr auf. Er saß jetzt auf einem Stuhl und horchte nur, ein wenig vorgebeugt den Kopf, genau wie vorhin der Schmalhofer Emil selber.
»Nein, nein, Herr Lehrer, es war auch keine Randbemerkung im Unterricht – ich sehe schon, ich muß es kurz zusammenfassen, sonst reden wir noch in einer Stunde aneinander vorbei. Vielleicht wissen Sie noch vom Schmalhofer Emil, daß er eigentlich ein schüchterner Junge war. Jawohl, von Natur aus hatte ich immer Angst – noch heute spüre ich manchmal einen Rest davon in einem ungewissen Augenzwinkern – aber damals saß mir die Ängstlichkeit um und um, die mich nicht herzhaft anfassen ließ, die mir weite Strecken meiner Jugendzeit unrettbar verdorben hat. – Wovor ich ängstlich war, weiß ich selber nicht – vielleicht vor mir selber und den Kräften, die in mir schlummerten – sei's wie's sei, ich hatte alle Klassen durch Angst vor meiner eigenen Courage, bis – bis mich in der letzten Klasse ein Satz von Ihnen wandelte – nein, nein, lassen Sie mich fertig erzählen – es ist jetzt ganz rasch gesagt, wie Sie einmal in einer Geschichtsstunde nicht erschienen sind – wie eine Viertelstunde, eine halbe Stunde in unserer Klasse verging – wie wir unruhig wurden – wie mich die andern aufs Rektorat hinunterschickten – wie ich zaghaft im Vorzimmer des Rektors stand und nicht zu klopfen wagte – wie zwei erregte Stimmen aus dem Rektorzimmer kamen – wie eine Stimme sagte, ich weiß es noch wie heute, weil es wie ein Aufschrei klang: ›Ich habe immer das getan, wovor ich mich gefürchtet 60 habe!‹ – Ha, wie eine Offenbarung traf dieser Satz mein Jungenherz – aus dem Vorzimmer rannte ich, wieder die Treppe hinauf ins Klassenzimmer. Die Klasse lärmte mir entgegen: ›Was ist, was hast gehört?‹ – ›Was ich gehört habe,‹ sagte ich wie geistesabwesend, ›ich habe immer das getan, wovor ich mich gefürchtet habe.‹ – ›Der Schmalhofer Emil ist nicht ganz bei Trost!‹ schrien sie – ich glaube, verprügelt hätten sie mich, wenn nicht plötzlich Sie eingetreten wären, Herr Lehrer, weiß wie der Wandkalk, vom Rektorzimmer kommend – Ihre Geschichtsstunde aufnehmend . . . Was ist Ihnen, Herr Lehrer? Ist Ihnen nicht wohl? – Habe ich täppisch alte Erinnerungen heraufbeschworen, die Ihnen wehe tun? – Reden Sie, reden Sie, Herr Lehrer!«
»Es ist nichts – mir ist nicht gut – das Alter eben, das Alter, Schmalhofer Emil,« versuchte das plötzlich eingefallene Gesicht des alten Lehrers zu lächeln, »seien Sie mir nicht bös, wenn ich – wenn ich –«
»Ich gehe – aber ich darf wiederkommen, – morgen, nicht wahr, wenn Ihnen wieder gut ist – ich habe – ich habe Ihnen ja noch gar nicht richtig gedankt – gedankt für Ihren Satz von damals – für Ihren Edelfalken, der mich hochnahm: ›Ich habe immer das getan, wovor ich mich gefürchtet habe‹ – denn sehen Sie, von da ab tat ich, was ich damals hörte – tat ich immer gerade das, wovor ich mich gefürchtet habe, und bin – und bin ein Pionier geworden, Herr Lehrer – dafür dank' ich Ihnen, Herr Lehrer – nicht bös sein, Herr Lehrer, gelt? – und morgen darf ich wiederkommen . . .«
62 Er kam nicht wieder. Ein Bote suchte ihn im ersten Hotel und brachte ihm ein Brieflein. Zittrig liefen auf dem Briefbogen ein paar Sätze durcheinander:
»Mein lieber Schmalhofer Emil, Sie müssen nicht mehr wiederkommen. Sie haben sich geirrt. Zweimal sogar. Den Satz vom Tun und Fürchten hat in meiner bittersten Stunde der Rektor gesprochen, nicht ich. Sie haben die Stimmen verwechselt. Und auch den Satz selber hörten Sie nicht richtig. Ein ›nicht‹ darin muß in der Rektortür damals stecken geblieben sein. ›Ich habe das getan, wovor ich mich nicht gefürchtet habe,‹ hat damals mein Rektor und mein Feind gesagt. Nehmen Sie's nicht tragisch. Daß Sie ein Falke hochnahm, der aus Ihrer eigenen Brust stieg, nicht aus der Ihres alten Lehrers, ist das schlimmste nicht. ›Entscheidend für einen Jungen‹, sagten Sie, ›ist nicht des Lehrers Lehrplan, sondern ist sein Ungewolltes.‹ Recht haben Sie. Ich bin bescheiden geworden, lieber Pionier; ich bin zufrieden mit dem Ungewollten.
Ihr alter Lehrer.« 63