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Man wird es ja sehen … Aber Steward sah mit einemmal nichts, gar nichts. Er stand vor einer Wand, die sich in Dunst aufwickelte, Stück um Stück. Seine strenglinigen Gedankengebäude gerieten in Fluß.
Die Wand, an die er prallte, war zuerst einmal ein Doppelposten von feisten Schutzleuten, die in blauer Uniform und den doppelt abgeschirmten Korkhelm mit Lederband unters Kinn gestrafft vor dem Palais San Remo lungerten. Ihre Rockschöße waren faltig, sie hatten sich voll Langeweile an die Mauern gerekelt. Steward grüßte und versuchte harmlos zwischen ihnen durchschlüpfend, an das Gitter zu treten. Sie warfen sich, mitten aus einem feixenden Gespräch, urplötzlich in einen dramatischen Eifer geratend, davor. Steward erklärte ihnen sein Wesen, zeigte ein Abzeichen, eine Legitimation, berief sich auf den Posten unten am Eck, Corner Tram-Avenue und 26. Straße, den Schutzmann III/127. Er zeigte sich eingeweiht, betonte des öftern, daß hier der Rayon K 14 sei. Der Schutzmann kam auf ein Signal die Straße herauf. Er schielte Steward unter den Hut, sich schwerfällig sammelnd, und bejahte zögernd die Bekanntschaft. Aber die Wächter des Palais ließen nichts gelten. Es war allen Personen ohne Unterschied der Eintritt verboten. Sie bedauerten verlegen, angesichts der sonnenklaren Beweise, daß sie es mit einem Herrn der Spezial-Abteilung zu tun hatten. Sie dachten nur in ihrer Dienstgrenze, gewöhnliche Schutzleute ohne Finessen, niemals hatten sie mit Geheimen gearbeitet und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Befehl ist Befehl. Der Chef-Kommissär hatte angeordnet, daß außer ihm niemand die Mordstätte betreten dürfe. Das war klar befohlen.
Unbehaglich sahen sie zu, wie Steward längs der Mauer hinlief. Er fraß sich heimlich in ihre Kleinigkeiten hinein, graste den Platz weidlich ab. Ehe sie sichs versahen, hatte er den Fuß in eine Scharte gedrängt und sich auf die Böschung geschwungen. Krampfhaft suchte er einen Auslug wenigstens auf die beiden Fässer, die den Pfad hinterm Torgitter flankierten. Er zog ein winziges Etui heraus, stemmte es vor die Brust, knipste und sprang zur Erleichterung der Polizisten unten wieder ab, die ein wenig grinsen mußten, weil er mit dem Hosenbein am Stacheldraht hängen geblieben war und sich einen Riß zugezogen hatte.
Dann rief er ein Auto, das vorbeischnurrte, an und fuhr davon. Im Auto lagen Flugzettel. Ein Reklameluftschiff mochte sie abgeworfen oder ein Propagandainstitut sie durch Camelots haben verteilen lassen. Die Zettel luden zu der »psychotechnischen Seance Professor Jack Slims mit dem indischen Medium Nitra« ein. Steward nickte, als er es las. Er wußte Bescheid.
Aber das Erlebnis vor der Gesandtenvilla hatte ihn desorientiert. Er griff ins Leere. Soviel galt ihm noch als gewiß, Kovary, der Chef-Kommissär, war sein Gegner … da erinnerte er sich der Haltung San Remos bei ihrer Aussprache und an die diplomatischen Worte. Möglicherweise hatte er nicht einen Polizeichef, sondern einen ganzen Staat zum Feinde? Kovary war von der Regierung angestellt und hatte der Regierung zu gehorchen. Auf der dalmatinischen Gesandtschaft betrachtete man Leute wie Steward als unliebsamen Zuwachs zum Eingeweihtenkreis geheimer Weltpolitik.
Nach dem Abgehen San Remos hatte der Legationssekretär Calomba die vollgültige Vertretung übernommen Eine Chiffrendepesche aus Ragusa ordnete die Unterdrückung des Simpsonfalles an, mit Opferung der ohnehin kompromittierten Gesandtenwitwe. Niemand durfte Einblick haben in die Spionageanhängsel der Affäre.
Steward nickte wieder. Soweit verstand er.
Er legte sich zurecht, welcher Gegensatz zwischen ihm und seinem öffentlichen Nebenbuhler in der Affäre bestand.
Die große Öffentlichkeit, von Kovary und der Presse regaliert, bevorzugte die einfache und objektive Erklärung. Der Gesandte San Remo hatte eine weltbekannte amerikanische Lebedame zur Frau, die ihn – zuletzt – mit einem Landsmann betrog. Dieser, ein Mister Simpson, hochstapelte in halbpolitisch-fundierten Gründungen. Er benützte seine Beziehungen zur Lady, um für asiatische Staaten Spionage zu treiben. Als Herr von San Remo ermordet aufgefunden wurde – wer hatte ein Interesse daran gehabt, die Person des Gesandten aus dem Wege zu schaffen? Man hatte ein genaues Verzeichnis aller der Personen, die an dem Tage aus und ein gegangen waren. Der Hauptzeuge gegen Lady San Remo wurde der Diener Morel, obzwar er sich dagegen mit Erschrecken wehrte, daß seine naiven Feststellungen gegen die Herrin ausgebeutet wurden. Gegen die Lady zeugte noch ein objektiver Tatbestand. Im Zimmer des Gesandten hatte ein Kampf stattgefunden, in den Vormittagsstunden; ein großes Rahmenbild lag zerschmettert und zerfetzt am Boden, eine Säule war umgeworfen; aber noch etwas hatte Kovarys scharfer Blick entdeckt. Am Boden fanden sich die Splitter zu dem ausgebrochenen Auge an Madames Lorgnon.
Die Beweise schlossen sich lückenlos. Zwischen dem Gesandten und seiner Gattin hatte es vormittags, vermutlich wegen des liederlichen und kompromittierenden Lebenswandels der letzten, eine gewalttätige Szene gegeben. Missis Philomenas flagellantes Wesen war bekannt und bezeugt. Der Polizeiarzt hielt sie einer exzessiven Handlung in ihrer Hysterie für fähig und schilderte während des Verhöres ihr Benehmen bei der ersten Indizienaufnahme angesichts der Leiche. Die von dem gewaltigen Seelenkundschafter und Nervenkitzler Kovary zwischen die Daumen genommene Angeklagte fingierte zuerst eine problematische Persönlichkeit, die sie den »Chinesen« nannte. Sie sprach von ihm mit großer Sicherheit und Anschaulichkeit. Aber Kovary wußte ihre elektrische Spannung abzuleiten. Man hatte das Haus durchsucht, hatte von dem Wärter des öffentlichen Zoologischen Gartens die Kuguare entfernen lassen und den Zwinger genau abgeklopft. Von dem Chinesen war keine Spur zu finden. Man hielt die Ergebnisse der Angeklagten vor Augen; Kovary drückte, bis die Wollust aus ihnen beiden spritzte. Da wurde die Lady unsicher, kam mit einer weithergeholten Geschichte aus Nordindien hervor, suchte dem erfundenen Chinesen, der zum tatarischen Bettler wurde, ein Motiv in der Form einer Rachehandlung als Sockel zu unterschieben. Kovary drückte weiter, sie blutete Seele aus, endlich brach sie zusammen; sie leugnete zwar noch immer die Mordtat selbst, aber sie gestand, halb geblendet von Tatsachen, die man ihr vorhielt, und erschüttert in ihrem Erinnerungsvermögen, die Lüge vom Chinesen ein. Solange sie so festhielt, konnte sie nach den humanen Gesetzen nicht verurteilt werden.
Auf diesen restlichen Grad von Gesundheit zählte Steward. Für ihn galt es, einen doppelten Feind zu treffen. Er hatte einen unbekannten geistreichen Gegner, der ihn durch eine unmöglich verwickelte Aufgabe blamieren wollte; und der unbewußte – oder bewußte Helfershelfer dieses Verbrechens aus Witz war der dicke Polizeilümmel mit seiner stupiden suggestiven Gewalt über normale Menschen und seinem öden objektiven Verfahren. Der Auffassung, die dieser der öffentlichen Meinung aufdrängte, stellte Steward, der durch die Methode der Verbrecher auf das Außergewöhnlichste und Schwerste vorbereitet war, ein sublimes seelisches Gewebe, eine Theorie aus Inspiration und somnambulem Erfassen von unwägbaren Motiven gegenüber.
Um die Spuren zu verwickeln, hatten die Verbrecher eine schon bestehende Affäre, den Simpson-Fall, angezapft, sich gleichsam ins seine Leitung eingehakt. Mit dem Fall als solchem hatten sie nichts zu tun. Aber dieser Akt maskierte sie. Sie taten ein übriges, indem sie sich ankündigten; sowohl der Privatdetektiv-Meister in Chicago als auch die offiziellen Polizeistellen in Wien und Oaxa waren alarmiert. Die Verbrecher arrangierten einen Vor-Wirbel, innerhalb dessen Trübungen sie erst recht fischen konnten. Dazu mußten sie mit Zuverlässigkeit über ein Mittel verfügen, das allen anderen Stellen absolut unzugänglich war. Zweitwichtig war für sie, ob dieses Mittel etwas überhaupt Unbekanntes darstellte oder ob es bloß absolut nicht bekannt werden durfte. Das Erste war in diesen Zeiten allgemein bekannten und Wissensgierigen erreichbaren Fortschrittes unwahrscheinlich Wahrscheinlich erschien, daß auf das Mittel ein Tabu gelegt war. Die Gottes- oder Priestermacht, die solches allein vermochte, war die Politik; nur diese hatte mit ihren Veränderungen in alle administrativen Stellen, ins Privat- und Geschäftsleben gleichermaßen eine derart ausgreifende überall gültige Macht. Was sie mit Schweigegebot behaftete, gab es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht. Es war entrückt in die Bereiche der Staatsmajestät.
San Remo hatte es ausgesprochen, worauf solches Tabu stand.
Steward kombinierte hinter diesen Prospekt, der sich vor ihn senkte, sooft er als Nicht-Diplomat an den Schlüssel zu rühren gekommen war.
Darauf gründete Steward seine Theorie des seltsamen Falles.
Ein Mensch von asiatischer Herkunft war durch die geheimen Gänge in die Villa eingedrungen, hatte sich dem Gesandten als der versprochene Wärter empfohlen und, eine Unpäßlichkeit und physische Schwäche des Gesandten, der seiner Vorliebe für asiatische Spezialitäten das gewohnte berufsmäßige Mißtrauen opferte, ausnützend, diesen mit dem nächstbesten Instrument ermordet.
So sauber sich Steward diese Zusammenhänge herauspräpariert hatte, so daß sie der handfesteren Praxis seines Konkurrenten Kovary Paroli bieten konnten, so elastisch und molluskenhaft schlingerte plötzlich diese Welt seiner Vorstellungskraft. Da das Mittel, durch zwei Polizisten behütet, für ihn unzugänglich war, war zwar nicht bewiesen, wie Kovary voraussetzte, daß es umgangen werden dürfte; es war aber auch unbeweisbar, daß es überhaupt da war.
In der Lederschlinge des vorwärtsgeworfenen Autos, jede Speiche eine athletische Kniekehle, hängend, fühlte sich Steward jetzt ermatten. Er atmete schwer unter der Tatsachenwelt, als deren Typus Kovary sich massig und exakt zugreifend auf ihn zu legen drohte; Steward war beinahe geneigt, nachzugeben, seine Phantasie in den Wind zu schlagen und die klassische Leiter der Kovaryschen Berechnungen hinunterzuklimmen. Da erinnerte er sich des »Patentes«. Auf diese Weise hatte der sachliche Tölpel zahllose Existenzen bis zu Lady Philomena gebrochen. Nein, Steward reckte sich, er würde widerstehen.