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Jack Slim sammelte sein ganzes Augenlicht auf einem Punkte zwischen den Augen San Remos über der Nasenwurzel; er sagte nichts. Er hätte aber auch gar nicht dazu kommen können; denn San Remo faßte plötzlich einen Faden, der in ihm gesponnen wurde, ins Auge und ließ sich wie eine Spinne daran weitergleiten. »Da haben wir ihn. Er ist ein Wunderwerk unserer Zivilisation, er ist legendenhaft – sagen Sie mal, gibt es diesen Mann wirklich oder ist er nur eine literarische Erfindung, ein Wunschsymbol, eine Veranschaulichung von unterdrückter Verbrecherromantik, die sich ins soziale Anstandslose flüchtet?«
»Ich kann Sie beruhigen,« sagte Slim und blickte auf San Remo mit vermehrter Aufmerksamkeit, »er lebt wirklich, er existiert nicht nur im Buch und auf der Leinwand. Er befindet sich zufällig gerade hier – hier, in Oaxa.«
»Soso, ah?« machte San Remo, »welcher Zufall!« Dieser Teil des Gesprächs schien ihm nicht viel zu bedeuten. »Ahm. Ja, was ich sagen wollte – warum befindet er sich denn hier? – Übrigens merkwürdig, daß wir dann von ihm sprechen mußten … Ist etwas vorgefallen?«
»Nein, noch nicht. Vielleicht macht er eine Erholungsreise – vielleicht soll aber etwas hier geschehen. Sie wissen, Steward wird oft durch fingierte Verbrechen harmloserer Art von jenen Orten weggelockt, an denen dann ein wirklich wichtiges, sozusagen öffentliches Verbrechen geschieht. Er ist ja jetzt für Staatsaffären reserviert,« und bei diesen Worten konnte man einen mokanten Zug um Slims Mundwinkel nicht übersehen.
»Man kamt also,« rief San Remo lachend, »wenn man besonders scharfsinnig ist, berechnen, daß, wo Steward auf der Bildfläche erscheint, ein Verbrechen sozusagen bereit liegt. Na, das ist sehr gut. Das ist geradezu unheimlich. Der Mann ist ja sozial gefährlich; man müßte ihn geradezu einsperren – er ist selbst ein Verbrecher. Das Verbrechen geschieht doch seinetwegen, gleichsam als Ablenkungsverbrechen … es ist also auf jeden Fall durch ihn stets ein Verbrechen mehr auf der Welt da, als das natürlicherweise der Fall wäre …«
»Ja, ausgenommen den Fall, daß das fingierte und das eigentliche wichtige Verbrechen zusammenfallen. Der Zweck ist dann natürlich der, Nutzen aus dieser Usance der Ablenkungen zu schlagen, das eigentliche Verbrechen als Köderverbrechen zu maskieren und unter dem Druck einer Gewohnheit die detektivistische Aufmerksamkeit zu spalten und zu schwächen.«
»Unerhört, unerhört, wie abgeschmackt simpel diese höchsten Komplikationen eigentlich bei Steward sind, ich glaube beinahe nicht an diese journalistische Ausgeburt. Sie ist eine Geschmacksverirrung unserer reizbaren mechanischen Zeit. Dieser Steward zieht also, wohin er kommt, wie eine verkehrt laufende Maschine, ein zurückschlagendes Instrument, Verbrechen nach sich, sowie er unter allen Umständen fanatische Hilfsmittel aus der Westentasche hervorholt. Das ist faustdick. Er hat immer Verbrechen auf Lager, sie geschehen förmlich für ihn, um sein scharfsinniges Gehirn zu befriedigen, ihm geistige Emotion zu geben … die Zivilisation scheint für ihn erschaffen, unsere Häuser werden für ihn gebaut« – und San Remos Blick glitt an der Kassa-Wand entlang – »man könnte denken, es sei alles nur für ihn da.«
»Und dünkt Sie das nicht charakteristisch?« frug Jack Slim. »Er ist das Symbol und zugleich die Travestie unserer Zivilisation. Er treibt sie auf die Spitze, ins Lächerliche. In ihm wird sie lächerlich, in der Tat. Als sollte die Farce dazu geschaffen werden, baut man Häuser jetzt so, daß sie seinen spekulativen Kundschafterneigungen entgegenkommen – der verrückte umgekehrte Weg, Ihr Maschinengleichnis stimmt.«
»Vollkommen. Da haben Sie es gleich – ob er nicht am Ende dazu hergekommen ist – wer weiß es, … Teufel noch einmal,« entfuhr es San Remo. »Da ist jetzt die Geheim-Bau-Gesellschaft fallit gegangen und ein neues Syndikat tritt zusammen. Was glauben Sie, Meister, das wird es wohl sein. Seine Freude an Hohlräumen und geheimen Gängen kann sich hier austoben,« – beide Herren lachten laut – »er wird gewiß Mitunternehmer werden. Der Kerl arbeitet auf lange Sicht. Er zentralisiert alle Verbrecher- und Überfallsmöglichkeiten, nichts kann jetzt außerhalb seines Indiziennetzes geschehen – ein verdammtes Gehirn. Ein Kaiser der Materie – ein Rhodes, sagten Sie nicht so …?«
»Ich?« frug Jack Slim, »gar keine Spur. Das ist wieder einmal so ein Fall, sehen Sie. Sie glauben, ich hätte Ihnen den Steward beschert: ich habe, als wir von der Zivilisation sprachen und ich mich dagegen verwahren mußte, wohl an ihn gedacht; und von ihm dachte ich an den Materialismus als Begriff und von da an dessen historischen Herkules, den Cecil Rhodes, und bemerkte zufällig dessen Bild an Ihrer Wand … vielleicht dachte ich an ihn auch nur deshalb, weil ich es vor Augen hatte; kurz Sie bemerkten den Blick und sind logisch denselben Gedankenweg zurückgegangen. So verständigten wir uns beide ohne Worte, nur durch einen Blick, durch zwangsweise vorbereitete Gedankenreihen – hier haben Sie ein Musterbeispiel von gelungener suggerierter Autosuggestion.«
»Fabelhaft!« rief San Remo und stand auf. Er hatte in Gedanken ein Dossier vom Tisch genommen. »Sie haben mich vollkommen überzeugt, Meister, und – befreit!«
»Ich geben Ihnen noch einen Beweis!« sagte Jack Slim. »Sie haben da ein Dossier vom Tisch genommen. Ich weiß, was darin ist.«
»Nun?«
»Es sind die Akten über die Geheim-Bau-Gesellschaft …«
»Donner … Nein – ja, wieso wissen Sie das. Das ist doch Gedankenlesen?«
»Nein. Das ist einfach Schlußvermögen. Ich bemerkte, daß Sie im selben Augenblick, als Sie vom Geheimbau sprachen, mit einer vergeßlichen Geste ihre Finger in diese Haufen von Papier und Kartons steckten, genau auf das fünfte Stück – soeben haben Sie es vollends herausgezogen. Erlauben Sie –« Slim nahm dem überraschten San Remo das Stück aus der Hand und warf einen nur flüchtigen Blick hinein – »stimmt, verzeihen Sie, daß ich so indiskret bin, ich habe nichts Ungebührliches gelesen … es stimmt, Seite 16 ist verschoben, es ist genau die Seite, auf der Ihr eigener Distrikt graphisch dargestellt wird. Ihre Geste war eine Abwehrbewegung. Nun, ist das Gedankenlesen, Suggestion oder bloß Beobachtungsgabe?«
»Sie sagen es!« rief der etwas verlegene San Remo. »Ausgezeichnet. Nun bin ich auf Ihre Seancen neugierig.«
Die Herren wechselten noch einige höfliche Redensarten und Jack Slim verabschiedete sich erst am Haustor von seinem Wirt, der ihn, ihn peinlichst am Arme führend, bis dahin begleitet hatte.
»Auf Wiedersehen!« rief Slim noch, sich zum Gehen wendend, zur Tür zurück, »und, abgemacht, Sie nehmen es nicht übel …«
»Bedienen Sie sich meiner,« versicherte San Remo, »wann immer Sie wollen. Ich überantworte mich Ihrer Loyalität und – Gnade!« Sie sahen sich an, lächelten, oh, sie waren beide entschieden entzückt voneinander. San Remo stand am Portal seines Palais, das geschlossen und nur in Form eines viereckigen lochartigen Ausschnittes aufgeschlitzt war, er winkte freudig mehrere Male dem sich beim Abstieg über die kleine Freitreppe in den Garten hinab verlierenden Jack Slim zu. Dann entschwand Slim in einem lebenden Zaun und schließlich hörte man ein Metallgitter musikalisch einschnappen. San Remo machte noch eine Verbeugung ins Ungefähre, Straßenlärm surrte auf, er zog sich mit nachdenklichem Gesicht durch das Viereck zurück und schloß den Flügel.